Cover

Dieter Henrich

SEIN ODER NICHTS

Erkundungen um Samuel Beckett
und Hölderlin

Verlag C.H.Beck

ZUM BUCH

Samuel Becketts lebenslange, oft nur implizite Bezugnahme auf Hölderlin wird in diesem Buch neu und von Grund aus erschlossen. Der Hölderlin Becketts hat ein ganz anderes Profil als das, welches im 20. Jahrhundert insbesondere von George und Heidegger aufgerichtet worden ist. Überraschenderweise ist es nicht nur ein moderner Hölderlin. Er bleibt zudem seinen bedeutenden philosophischen Anfängen näher, von denen wir auch erst seit drei Jahrzehnten eine genauere Kenntnis haben.

Doch wie lassen sich die Leitworte ‹das Sein› und ‹das Nichts› überhaupt verstehen? Dieter Henrich verbindet zwei ganz verschiedene Erkundungsgänge miteinander, in einer Werkanalyse und im Umriss einer eigenen philosophischen Konzeption. Sie enthält eine Kritik sowohl an den Folgerungen der sprachanalytischen Philosophie wie an Hegels, Heideggers und Sartres Thesen über ‹Sein und Nichts›.

ÜBER DEN AUTOR

Dieter Henrich, geboren 1927, war nach seiner Habilitation ordentlicher Professor in Berlin (ab 1960) und Heidelberg (ab 1965), Gastprofessor u.a. an der Harvard University (1973–1984) und von 1981 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1994 Ordinarius für Philosophie in München. Hölderlin gelten mehrere seiner Veröffentlichungen. Der international renommierte Philosoph ist u.a. Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Sciences und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Friedrich-Hölderlin-Preis (1995), den Hegel-Preis der Stadt Stuttgart (2003), den Internationalen Kant-Preis (2004) sowie den Deutschen Sprachpreis (2006). Bei C.H.Beck ist von ihm lieferbar: Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten (2011).

INHALT

EINLEITUNG

I. «UND DANN – DAS NICHTS»

Übersicht zu den Kapiteln 1 bis 4

1. Die Begegnung als Einsichtsquelle

2. Beckett zitiert Hölderlin

3. «Mnemosyne» und «Krapp’s Last Tape»

4. Grunderfahrungen: Rousseau – Hölderlin – Beckett

II. GRENZGEDANKEN

5. Komplexionen um ‹Sein› und ‹Nichts›

6. ‹Das Nichts› als sprachlicher Ausdruck und Gedankenprogramm

7. Die Genesis des Gedankens ‹das Sein›

8. ‹Das Nichts› – Unbestimmbarkeit und Gehalt

9. Skizze einer Grundlegung

a. Wirklichkeitsbezug im Denken

b. Über einen Vorrang von ‹Sein› oder von ‹Nichts›

c. Ein Einwand gegen die Denkbarkeit von ‹das Nichts›

d. Zeitdiagnose: ‹das Nichts› und der ‹Nihilismus›

e. Zu Jean-Paul Sartre

f. Über die Möglichkeit des Gedankens ‹Ich bin›

10. Zwischenbilanz

III. GEGENLÄUFIGE VERTIEFUNG

11. Kontemplation

12. Hölderlin: ‹Sein› und Lebensgang

13. Trennung im ‹Sein› und der Weg der Dichtung

14. Becketts Erfahrung in Hölderlins Werk

15. Nichts und Form in Beckett

16. Himmelfahrt und Höllensturz eines?

IV. SELBSTSEIN, AMBIVALENZ UND VERGEWISSERUNG

17. Subjektivität oder Ganzheit in der Faktizität des Lebens

18. Spontane, natürliche Metaphysik – disziplinierte Metaphysik

19. Ambivalenz im Selbstverstehen

20. Die philosophische Theorie im bewussten Leben

21. Umwendung der Blickbahn

Fußnoten

EINLEITUNG

Zwei Worte, die ein Problemfeld anzeigen, das die Philosophie seit ihren griechischen Anfängen ins Nachdenken zog, sind im Titel dieses Buches mit den Namen von zwei philosophierenden Dichtern verbunden. Der Titel kündigt zudem ‹Erkundungen› an, die von der Beziehung Samuel Becketts zu Hölderlin ausgehen. Sie zielen aber zugleich auf die Grundfragen, die mit den beiden Worten der Philosophie verbunden sind. Diese Koppelung einer philosophischen Problematik mit den Namen von zwei Dichtern verlangt gleich zu Beginn nach einer Erklärung.

Obwohl die Namen der Dichter nur im Untertitel stehen, geht von ihnen offenbar der Impuls zu einem solchen Gebinde von Erkundungen aus. So wurde ich selbst fast wider Willen in einen komplexen Untersuchungsgang hineingezogen, als ich über die Lektüre der neueren Erinnerungsliteratur zu Samuel Beckett davon erfuhr, dass Beckett Hölderlin nicht nur bewundert hatte. Er hat sein Werk mit Motiven Hölderlins verbunden und den Leitgedanken, unter den er es stellen konnte, nämlich ‹das Nichts›, an ein Gedicht Hölderlins angeschlossen.

Ich hatte schon früh die Tiefenlotung der Selbsterfahrung, die Becketts Texte evozieren, in der Zusammenarbeit mit einem Studententheater und in einer Lebenskrise erfahren. Hölderlin wiederum war nicht nur ein Thema meiner Forschungen zur Entstehung der idealistischen Philosophie gewesen. Seine Gedichte hatten ebenso wie Beckett den Härtetest bestanden, gerade in verdunkelten Perioden des Lebens bedeutsam zu werden. Aber ich hatte nicht die enge Beziehung zwischen den beiden Dichtern wahrgenommen, die mir nun aus Becketts eigenem Umgang mit Hölderlin vor Augen kam. Daraus ergab sich das Motiv, sogar so etwas wie die Verpflichtung dazu, dieser Beziehung nachzudenken und sie möglichst bis auf den Grund zu durchleuchten.

Schon früher hatte ich dargelegt, in welchem Sinn von Becketts Werk eine Herausforderung an die Philosophie ergeht. Ich wusste von seinen philosophischen Studien und Vorlieben und hatte den philosophischen Motiven nachgespürt, die in seinen Werken zusammen mit dem, was offensichtlich war, ins Spiel kamen. Meine Forschungen zu Hölderlin hatten fast zur gleichen Zeit begonnen. Sie hatten zum Ziel, aus unerschlossenen Quellen die Stellung seiner philosophischen Arbeit in der Geschichte des nachkantischen Denkens und seine Bedeutung für die kritische Weiterbildung von Fichtes Lehre aufzudecken. Aber ich sah keinen Anlass dafür, eine Beziehung von Beckett zu Hölderlins Werk zu vermuten. Stilform und Grundton beider Werke schienen sie geradezu auszuschließen.

Nachdem nun aber klar war, welches Gewicht diese Beziehung für Beckett gehabt hat, musste alsbald das Verhältnis der philosophischen Leitgedanken zu einem Zentralpunkt für neue Überlegungen werden. Hegel hatte ‹Sein› und ‹Nichts› als die allerersten Gedanken überhaupt und als Ausgang der gesamten Geschichte der Philosophie erklärt. Sie traten nun als Leitgedanken der beiden Dichter in eine unerwartete Beziehung zueinander, welche aber die eines ausschließenden Gegensatzes zu sein schien. Denn Hölderlin hatte als Grundorientierung die Voraussetzung eines in sich ungeschiedenen ‹Seins› als Aufhebung aller Trennung begründet. Dagegen nannte Beckett ‹das Nichts› als letzthin einzig Wirkliches, weil es alles, was ist, in seinem ‹Fallen› und im Hingleiten zu einem Enden durchzieht.

So stellte sich nicht nur die Frage, wieso ein Autor, der unter diesem Leitgedanken schrieb, einem anderen nahe sein konnte, für den der Gedanke leitend war, der zu dem seinen im Gegensatz stand. Diese Frage zog sogleich die andere nach sich, die selbst ganz der Philosophie selbst zugehört: Wie sind beide Ausdrücke, deren Bedeutung schon im Alltagsgebrauch zwischen mehreren Allusionen flimmert, überhaupt zu verstehen, und wie ist der Gegensatz zwischen ihnen zu begreifen?

Diese Frage versetzt in die Mitte eines Problemstranges, der gerade die moderne Philosophie von Pascal über Hegel bis zu Heidegger und Sartre durchzieht. Ich war ihm zuvor aus mancherlei Gründen ausgewichen: Ich hatte den Grundsatz von Aristoteles im Sinn, dass ‹sein› in vielerlei Weise gebraucht wird, und war mir dessen bewusst, dass ‹Sein› nicht die Bestimmtheit der Rede von Gott oder der All-Einheit Spinozas erreichen kann. Zudem war klar, dass ‹nichts› gleichfalls in vielerlei Weise gebraucht wird und zudem in eine Paradoxie hineinziehen kann.

Doch es war ebenso klar, dass sich mit diesen Worten Perspektiven für eine Verständigung über das Menschenleben verbinden. Pascal, Kierkegaard, Heidegger und Sartre genügten dafür als Zeugen. Zudem lassen sich die Diagnosen der Moderne als Epoche des ‹Nihilismus› letztlich nur dann verstehen, wenn sich in den Reden vom ‹Nichts› deren Vielfalt über einen inneren Zusammenhang erschließen lässt, in dem sie miteinander verbunden sind.

Für Hegel stand am Anfang der wahren Philosophie die Einsicht, dass ‹Sein› und ‹Nichts› eigentlich ein und dasselbe bedeuten. Für Heidegger, dem sich alles im Versuch erschloss, ‹das Sein› als solches zu denken, verstand es sich von selbst, dass ‹das Nichts› letztlich nur als eine Weise verstanden werden kann, in der ebendies Sein für den Menschen aufgeht. Aber schon der Umgang mit den beiden Dichtern, mit Beckett wie mit Hölderlin, machte deutlich, dass der Gegensatz zwischen beiden Ausdrücken in deren Verstehen nicht zum Verschwinden zu bringen sein wird.

Kurzum: Es war unumgänglich geworden, ein eigenes Konzept zu entfalten, in dem die Rede von ‹Sein› und von ‹Nichts› mit allen ihren Aspekten einen Platz würde finden können. Bücher werden nicht immer nach einem Plan entworfen. Sie können auch, wie in diesem Fall, aus scheinbar geringem Anlass einen Autor dazu nötigen, geschrieben zu werden und dabei weit auszugreifen.

Das Konzept, in das die Verständigung über Samuel Becketts Hölderlin einzufügen war, weist Grundzüge auf, von denen einige hier genannt werden sollen: Der Gegensatz in dem Paar ‹Sein› und ‹Nichts› wird nicht aufgelöst. Er behält mit seiner Forderung nach einer Option zwischen beiden seine Bedeutung für das bewusste Leben der Menschen. Sie ist durch das ‹oder› im Titel des Buches angezeigt. In beiden Ausdrücken artikuliert sich mehr als nur ein allgemeiner Zugang zu einem Gedanken von allem überhaupt. Als solcher sind sie aber auch diesseits aller diskursiven Bildung verständlich und darum dem literarischen Kunstwerk gemäß. Aber er ist auch nur ein erster, niemals ein definitiver Zugang zu einem Abschlussgedanken jenes Überlegens, welches ein ‹Alles› im Blick hat. Insofern muss die Philosophie über den Gegensatz hinausdenken.

In jedem der beiden Glieder des Gegensatzes sind nun aber mehrere Bedeutungszüge zusammengefasst. Das macht einen wesentlichen Teil ihrer Bedeutung für eine vortheoretische Lebenspraxis aus. Doch kann, was scheinbar nur Vieldeutigkeit ist, selbst erst dann verstanden werden, wenn man eine Dynamik in der Kognition und in der Gesamtverständigung des Menschen über sich überschauen kann. Sie wird in einer Skizze entfaltet. Ohne sie bliebe es auch unverständlich, wieso der Paradoxie im Gedanken eines absoluten Nichts doch eine bestimmte Stelle im Prozess der Selbstverständigung des Menschen zukommen kann.

Das Buch setzt nicht voraus, dass sein Leser diesem philosophischen Gedankengang nachgehen will. Darum ist allen Kapiteln ein Vortext vorangestellt. Er soll es möglich machen, sich jederzeit in der Übersicht über das Ganze zu halten oder sich in sie zurückzubringen – auch wenn das eigene Interesse auf Beckett oder auf Hölderlin allein konzentriert sein sollte. Wer umgekehrt nur den philosophischen Erkundungen nachgehen will, könnte somit auch die Passagen textnaher Interpretation übergehen.

Erkundung› werden alle Überlegungen des Buches genannt – zum kleineren Teil deshalb, weil in ihnen einer zuvor noch gar nicht absehbaren Fragestellung nachgegangen wird. Überwiegend geschieht das jedoch, weil jede Argumentation in einen bestimmten Zusammenhang übergreifenden Interesses gestellt ist. Sie kann deshalb nicht allseitig abwägend verfahren. Ein Text, der ‹Untersuchung› genannt wird, wäre dazu verpflichtet. Vor allem in den philosophischen Kapiteln geht es aber darum, einen Zusammenhang zu erschließen und übersichtlich werden zu lassen – nicht um seine Fundierung und Sicherung gegenüber allen Einwänden, die mit Gewicht gegen ihn geltend zu machen sind.

Die vielfach verschränkte Problemlage hat zu vier Buchteilen geführt, die sich in ihrem Thema und ihrer Verfahrensart grundlegend voneinander unterscheiden. Der erste Teil ist Forschung im engeren Sinn des Wortes, der detektivisches Kombinieren einschließt. Er versucht, aus vielerlei Quellen Samuel Becketts Beziehung zu Hölderlin möglichst umfassend zu erschließen. Dazu gehört, dass Spuren und Nachwirkungen seines Umgangs mit Texten Hölderlins in den eigenen Werken Becketts aufgedeckt werden. Der zweite Buchteil hat sprachanalytische Untersuchungen über die Bedeutung der Ausdrücke ‹sein› und ‹nichts› im Blick. Er nimmt Rücksicht darauf, dass über dieses Verfahren die wichtigsten Argumente dafür gewonnen werden, auf den Gebrauch der Rede von ‹dem Sein› und ‹dem Nichts› zu verzichten, widerspricht aber dieser Schlussfolgerung. Dazu wird der Genesis der Hauptwörter ‹das Sein› und ‹das Nichts› in der deutschen Sprache nachgegangen. Im Hintergrund ist dabei die These leitend, dass schon die Entwicklung der Sprachen selbst von philosophischen Denkaufgaben mitbestimmt ist. Dieser Teil geht dann zum Entwurf einer philosophischen Grundlegung über, die von fern kantischen Motiven folgt. In ihr sollen die Ergebnisse der genetischen Untersuchung, die vorausging, in ihren eigentlichen Zusammenhang gerückt werden. Dem folgt noch eine Reihe von selbständigen Exkursen. In ihnen werden auch Grundfragen aufgebracht, die in dem Begründungsgang selbst beiseitegelassen werden müssen.

Auf die unterschiedliche Weise, in der bedeutende Werke der Philosophiegeschichte im Ganzen des Buches besprochen und kritisiert werden, soll an dieser Stelle eigens hingewiesen werden. Sartres Theorie über Sein und Nichts gilt ein Exkurs im zweiten Buchteil. Auf Heidegger geht der Text selbst wiederholt ein, bevor eine Diagnose von Heideggers Zugang zu dem Thema seiner ‹Seinsfrage› in einem späteren Kapitel entwickelt wird. Die ebenso wichtigen Überlegungen, die Hegels Logik betreffen, sind wegen ihrer besonderen Schwierigkeit ganz in Anmerkungen verwiesen worden.

Der dritte Buchteil wendet sich nunmehr Hölderlins und Becketts Werk jeweils insgesamt zu. Es soll gezeigt werden, wie sich deren Werk unter den Leitgedanken von ‹Sein› und von ‹Nichts› so aufbaut, dass – unangesehen des Gegensatzes zwischen ihnen – die besondere Nähe beider zueinander verständlich wird. Beckett hat sie wahrgenommen, ohne von Hölderlins Eigenständigkeit in der Philosophie und von seinem Leitgedanken etwas wissen zu können. Auf Becketts Werk fällt dabei von einigen seiner Passagen her im Schlussteil des Kapitels noch ein neues, mir selbst besonders bedeutsames Licht. Der vierte Buchteil ist dann ein Erkundungsgang in demjenigen philosophischen Denken, das den eigentlich ganz unpassenden Namen ‹Metaphysik› ererbt hat. In der Philosophie um 1800 ist es grundlegend verwandelt worden – zu einer Gestalt, die für mich noch immer maßgebend ist, die aber heute durchaus nicht mehr zu imitieren ist, sondern eine eigenständige Umsetzung verlangt.

Da ich das Buch ohne jede Hilfe und wechselnd an zwei Orten zu schreiben hatte, wird man in ihm leider einige technische Mängel beobachten. Sie erklären sich oft daraus, dass ich nur noch selten zu den wissenschaftlichen Bibliotheken gelangen konnte. Zwar gibt es für Beckett noch keine Ausgabe, die einen Standard für Verweise so festlegen könnte wie die Große Stuttgarter Ausgabe es für Hölderlin noch immer tut. Aber ich musste in einigen Fällen auf meine eigenen Bücher zurückgreifen, die manchmal nur die deutsche Übersetzung enthalten oder die (wie manche Suhrkamp-Ausgaben) mehrsprachig verfasst sind und die nicht in anderen Sprachräumen zugänglich sein werden. Auch bei der Sekundärliteratur oder bei der erwünschten Einsicht in bisher noch nicht Publiziertes gibt es solche Einschränkungen. Mark Nixon (Reading) hat mir einige wichtige Dokumente und Daten zugänglich gemacht.

Der erste Buchteil entspricht in wesentlichen Teilen einem Aufsatz, den ich zu dem von Friedrich Vollhardt herausgegebenen Sammelband über Hölderlin in der Moderne (Berlin 2014) beigetragen habe. Für einen Austausch über die Bereiche, welche das Buch zum Thema hat, möchte ich vor allem meinen Kollegen Christoph Jamme, Charles Larmore, Ulrich Pothast und Friedrich Vollhardt sowie Rolf Breuer auch hier meinen Dank sagen. Stefan Bollmann und Angelika von der Lahr im Verlag C.H.Beck danke ich für ihre Geduld beim Anwachsen des Buches weit über den geplanten Umfang hinaus und für ihren Rat und eine umfassende Hilfe schon bei der Fertigstellung der Druckvorlage. Neben Stefan Bollmann hat Michael Schwingenschlögl zur Korrektur des Typoskripts vieles beigetragen. Die Autoren, deren Veröffentlichungen für mich von Bedeutung waren, sind in den Anmerkungen genannt.

Ich bitte darum, dieses Buch, das wohl mein letztes dieses Formates sein wird, nicht für eine Zusammenführung oder gar für ein letztes Wort zu allem dem zu nehmen, dem ich in früheren Büchern und Abhandlungen nachgegangen bin. Es hat zwar einen Bezug zu vielem, was mir wesentlich gewesen und geblieben ist. Aber es ist doch das Resultat eines zufälligen Anlasses: des neuen und überraschenden Wissens von Hölderlins Bedeutung für Samuel Becketts Werk.

München, Oktober 2015

Dieter Henrich

I. «UND DANN – DAS NICHTS»

Übersicht zu den Kapiteln 1 bis 4

Es wird zunächst auf das Interesse eingegangen, das die noch neue Kenntnis von Becketts Kenntnis und besonderer Hochschätzung Hölderlins haben kann. Sodann werden die Quellen besprochen, und es wird dargelegt, welche Gedichte Hölderlins für Beckett von lang anhaltender Bedeutung gewesen sind. Dabei muss auf die Geschichte der neueren Hölderlin-Ausgaben eingegangen werden. Nur so kann nämlich verstanden werden, wie Beckett den Text las, der für ihn ein selbständiges Gedicht war, der aber nun als erste Strophe des dreistrophigen Gedichts Mnemosyne gilt. Diese Strophe war für Becketts Krapp’s Last Tape von zentraler Bedeutung.

Um diese Bedeutung tiefer zu erschließen, muss man weiter noch Becketts und Hölderlins Beziehung zu einem Schlüsseltext von Jean-Jacques Rousseau beachten. Dann wird auch verständlich, dass Beckett in einer wichtigen Äußerung an diesen Text Hölderlins, den er auswendig zitieren konnte, den Leitgedanken anschloss, unter den er sein gesamtes eigenes Werk stellen konnte: ‹das Nichts›.

Damit wird deutlich, dass eine Verständigung über Becketts Beziehung zu Hölderlin in eine philosophische Untersuchung über das Verhältnis der Leitgedanken einerseits von Beckett, andererseits von Hölderlin übergehen muss. Denn in der Zeit von Hölderlins philosophischen Anfängen lautet dieser Leitgedanke: ‹das Sein›. So muss es also zunächst einmal scheinen, als könne die Beziehung der beiden philosophierenden Dichter letztlich doch nur die eines direkten Gegensatzes sein. Nach der philosophischen Erkundungsarbeit des zweiten Buchteils ist es dann möglich, zu Hölderlins und Becketts Werk in einer neuen Perspektive zurückzukehren.

1. Die Begegnung als Einsichtsquelle

Ein Buch unter einem Titel zu schreiben, der auf eine Beziehung Becketts zu Hölderlin verweist – daran hätte niemand denken können, bevor das Jahrhundert auf sein Ende zuging, in dem Samuel Beckett gelebt hat. Der Titel zeigt nicht nur an, dass sich Beckett in irgendeine Beziehung zu Hölderlin bringen lässt oder dass er Kenntnis von Hölderlin hatte und gelegentlich auf ihn Bezug nahm.[1] Er setzt voraus, dass Beckett Hölderlin hoch schätzt, dass er ein ihm ganz eigenes Bild von Hölderlin und von seiner Bedeutung hatte, und zudem, dass Beckett Motive, die er in Hölderlin fand, anhaltend und als für ihn selbst wesentlich im Sinn blieben, so dass sie immer wieder in sein eigenes Werk einfließen konnten. Schließlich ist mit dem Titel angezeigt, dass das Nachdenken über die Bedeutung Hölderlins für Samuel Beckett in Probleme hineinzieht, die Anlass zu einer eigenständigen Erkundung von Grundfragen der Philosophie geben.

Die Tatsache der Bedeutung Hölderlins für Samuel Beckett ist den Freunden von Hölderlins Werk wohl noch ganz unbekannt. Selbst in der Literatur zu Beckett, die zu einer eigenen Fachrichtung angewachsen ist, sind die Kenntnisse von ihr sporadisch und fast ausschließlich neueren Datums. Die maßgebliche Beckett-Biographie von James Knowlson, die 1996 erschien, erwähnt Hölderlin nur als ein Beispiel für Becketts ausgedehnte Lektüre fremder Literaturen und deren Wirkung auf Becketts Werk.[2] Inzwischen ist die Zahl publizierter Erinnerungen an Begegnungen mit Beckett kontinuierlich angestiegen. Und seit Knowlson über Becketts Tagebücher von seiner langen Reise durch Deutschland im Jahr 1937 berichtet hat, ist das Interesse an Becketts Beziehung zu dem Land und zu seiner Kultur schnell angewachsen. Die Erinnerungen in englischer, französischer und deutscher Sprache lassen sich nun mit Texten Becketts zusammenführen, in denen Hölderlin erwähnt oder im Hintergrund gegenwärtig gewesen ist.

Damit erweitert sich das Spektrum von Hölderlins Gegenwart im zwanzigsten Jahrhundert überraschend und gewichtig zugleich. Denn der Hölderlin Becketts hat ein ganz anderes Profil als das, welches uns von Stefan George, Norbert Hellingrath und Martin Heidegger aufgerichtet worden ist. Geht man von dem Dichter aus, der in Georges Wirkungsbereich zu seiner wirklichen Größe allererst befreit werden sollte, so muss eine nahe Beziehung auf ihn im Werk Becketts als geradezu ausgeschlossen erscheinen. Becketts Hölderlin kann nicht der des hohen Frohlockens der vaterländischen Gesänge, der Dichter des Dichtertums und der Übersetzer pindarischer Form in eine verwandelte abendländische Zukunft sein. Beckett musste in Hölderlins Werk solche Züge gewahren und hervorheben, in denen sein eigenes Verstehen von Grundzügen des Wirklichen, von menschlichem Geschick und von moderner Kunst vorausgenommen und eindrücklich zur Sprache gebracht ist.

Nun wird kaum ein Dichter deutscher Sprache von Rang im zwanzigsten Jahrhundert an Hölderlin einfach nur vorbeigegangen sein. Von Trakl, von Celan und auch von Rilke wurde Hölderlin zwar in der Folge von Hellingraths editorischer Meisterleistung, aber doch in einer Weise wahrgenommen, die sich von Georges und von Heideggers Aufnahme und Anschluss an die Hymnendichtung Hölderlins mehr oder weniger weit entfernt hielt.[3] Keiner von ihnen hat zwischen seiner Wahrnehmung Hölderlins und der Formgebung der eigenen Werke eine Verbindung von solcher Nähe sehen können, wie dies von Beckett bezeugt ist. Die neueste britische Erforschung der Genese von Becketts Verständnis von Dichtung hat sogar eine Begründung für die These geben können, dass Becketts Berührung durch Hölderlins späte Gedichte von Bedeutung dafür war, dass er auf den Weg zu der Werkform finden konnte, die ihn berühmt gemacht hat.[4]

Nun besteht zwischen Beckett und Hölderlin gerade auch in Beziehung auf die Philosophie eine Verwandtschaft. Beckett konnte sie wohl wahrnehmen, von ihrer Eigenart aber keine Kenntnis haben. Denn Hölderlins Philosophieren war samt dessen Quellen zu Becketts Lebenszeit noch kaum bekannt. Beiden ist aber gemeinsam, dass sie zu ihrem Eigenen in der Kunstproduktion erst gelangten, nachdem sie eine Zeit nachhaltigen Umgangs mit der Philosophie durchlebt hatten. Bei Beckett war dies ein anhaltendes Studium philosophischer Werke, dessen Intensität von der eigenen Erwartung der Bedeutung für seine Welterfahrung und deren Vertiefung gesteuert gewesen ist. Seine Lektüre lag folglich auch weitab von den Präferenzen seiner Umgebung und seiner Freunde. Seine Studien haben nirgends die Grenze hin zu eigenständiger theoretischer Arbeit überschritten. Dagegen hatte Hölderlin in den Erkundungen der Frühzeit der nachkantischen ‹idealistischen› Philosophie eine wichtige Rolle gespielt.[5] Unangesehen dieser Differenz zeichnet sich in den poetischen und literarischen Texten beider ein philosophischer Untergrund deutlich ab. Der Wunsch, Klarheit über ihn zu gewinnen, kann aus dem Studium der Texte beider als so dringlich hervorgehen wie bei kaum einem anderen Werk großer Dichtung.

Beckett hat nicht versucht, diesen Untergrund in Hölderlins Werk aufzuspüren und sich deutlich zu machen. Die Hinweise auf eine philosophische Position, der Hölderlin zugerechnet werden könne, die er in seinem Lehrbuch zur Geschichte der Deutschen Literatur finden konnte, hat er ignoriert.[6] Wohl aber hat er Passagen aus Hölderlins Gedichten (und auch aus dem Hyperion) mit den Einsichten verbunden, die für ihn selbst erschließende Bedeutung hatten. Dadurch hat er Hölderlin noch mehr, als dies über einen Versuch textnaher Interpretation hätte geschehen können, mit dem in Verbindung gebracht, was er aus eigenem Nachdenken gewonnen hatte. Dieses Nachdenken hatte aber doch einen philosophischen Bildungsgang durchlaufen und ist mit ihm, der doch nie als Philosoph gelten wollte, auch immer verbunden geblieben.

Davon unabhängig, und doch damit verbunden, war Becketts Hochschätzung von Hölderlin als Dichter – in der Formgebung und sprachlichen Fügung ebenso wie in der Verdichtung human-bedeutsamen sprachlichen Ausdrucks. So hat er über die Wandlung seiner eigenen Ansicht von poetischer Formgebung hinweg in Hölderlin kraft jeweils anderer Facetten seines Werkes eine Art von Weggenossen sehen können.[7]

Es bedarf der Erwähnung, dass Beckett Literatur und die romanischen Sprachen studierte. Wollte man ihn in seinen früheren Jahren einer Profession zurechnen, so wäre es die des Fremdsprachenlektors und des Literatur- und Kunstkritikers gewesen. Solche Personen sind oft zugleich auch Lyriker oder literarische Autoren. Beckett kam mehrfach auch nach Deutschland, um eine Cousine, in die er verliebt war, und deren Familie zu besuchen. Ihr Vater war Kunsthändler in Kassel.[8] So konnte sich seine Kenntnis der deutschen Literatur, die sich aus dem nahen Umfeld seiner Studien ergab, leicht durch persönliche Erfahrungen erweitern. Mit etwa dreißig Jahren lernte er Deutsch im Selbststudium bis hin zum flüssigen Schreiben in dieser Sprache. Schon früh muss er mit Hölderlin-Texten bekannt geworden sein – über das wenige hinaus, was Robertsons Lehrbuch ihm bot. Einer der für ihn wichtigsten Texte Hölderlins, die er lebenslang im Sinn hatte, muss ihm schon früh geläufig gewesen sein.[9] Aus Robertson konnte er aber auch über Hölderlins Krankheit erfahren. Das Wissen vom Lebensschicksal des Dichters muss, wie für viele der Späteren, auch für Beckett die Aufmerksamkeit auf Hölderlin und die Beglaubigung seiner Bedeutung als Dichter gestärkt haben.

Ich werde im Folgenden allenfalls indirekt zu den Untersuchungen beitragen, welche dem Stellenwert von Becketts Hölderlin-Lektüren innerhalb seines eigenen Entwicklungsganges gelten. Der Konzentrationspunkt des Folgenden ist vielmehr die Bemühung darum, in Beziehung auf jene Texte Hölderlins, die für Beckett von nachhaltiger Bedeutung waren, deren Wahrnehmung und den Grund ihrer Hochschätzung durch Beckett zu verdeutlichen. Dabei muss auch auf den eigenen Zusammenhang dieser Texte in Hölderlins Werk geachtet werden, soweit dies eben für die Verständigung über Becketts Wahrnehmung unerlässlich ist.

2. Beckett zitiert Hölderlin

Beckett hat Hölderlins Namen in einigen Texten erwähnt, die er publizierte oder die er mit dem Ziel der Veröffentlichung niederschrieb. Seit Beckett, kurz bevor er vierzig Jahre alt wurde, aufgegangen war, welchen Weg als Autor er als den ihm ganz eigenen einzuschlagen hatte,[10] sind gelehrte Splitter samt der Erwähnung von historischen Personen aus seinen Werken verschwunden. Zeugnisse für seine Beziehung zu Hölderlin sind nun aus den Texten selbst, im Übrigen auch aus Briefen, aus Interviews und den Berichten über Gespräche zu entnehmen. An deren Seite sind als ergiebige Dokumente inzwischen viele Berichte über Begegnungen mit Beckett oder von einer Freundschaft mit ihm getreten. In ihnen sind, oft in großer Übereinstimmung miteinander, Äußerungen Becketts über Hölderlin und über sein Verhältnis zu ihm enthalten.

Zu Beginn sollen nun diese Quellen und mit ihnen die wichtigsten Passagen in Hölderlins Werk, die Beckett selbst gern zitierte, in eine erste Übersicht gebracht werden. Danach soll das Bild, das Beckett von Hölderlins Werk und von seiner Bedeutung hatte, in Beziehung auf drei dieser Passagen deutlich gemacht werden. Es bedarf kaum der Anmerkung, dass sich dies alles immer auch im Vorfeld einer Verständigung über Beckett selbst vollziehen muss.[11]

1.) In Becketts erstem, von ihm selbst nicht veröffentlichtem Roman Dream of Fair to Middling Women[12] ist der ‹arme Hölderlin› erwähnt, und zwar mit zweifachem Verweis auf den Text, der in der Großen Stuttgarter Ausgabe nun die Anfangsstrophe der dritten Fassung von Hölderlins Hymne Mnemosyne ausmacht.[13] Der Bezug ergibt sich aus einer Art inneren Monologs der Hauptperson des Romans, die über ein eigenes mögliches Buchprojekt räsoniert, in dem sich, wie oft in bedeutender Kunst, ein Auseinanderbrechen vollziehen wird. Diese «zerschürfende Dünung der Kunst» – so heißt es in einer Periode, die adäquate Ausdrücke für den Sachverhalt sucht und die Kandidaten dafür überhäuft – mag sogar (und hier lässt Beckett seinen Belacqua aus dem Beginn der ersten Strophe von Mnemosyne zitieren) «zur Not» des «armen Hölderlins alles hineingeht, Schlangen gleich sein. SCHLANGEN GLEICH!» Was da als ein ‹désuni› hervorgeht, wird von Beckett auch mit einem Wort aus einer anderen Zeile der Strophe Hölderlins, die lautet

Und immer ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht,

als das «Ungebund» bezeichnet. Beckett hat das deutsche Wort in den englischen Text hineingesetzt. Der ist allerdings ohnedies mit Splittern von allerlei Lektüren und Sprachkenntnissen überfrachtet. Dennoch erscheint die Erwähnung von Hölderlin auch in einem solchen Zusammenhang noch als hervorgehoben – und dies in Assoziationen zur literarischen Form eines Buches, von dem der Hauptakteur sagt: «Das Erleben meines Lesers soll sich zwischen den Ausdrücken ereignen, im Schweigen, übermittelt in den Pausen, nicht den Worten der Aussage.»[14]

Beckett hatte in einem Notizbuch, das als Dream-Notebook veröffentlich ist,[15] die drei ersten Zeilen dieser Strophe notiert, unter Ausschluss der Schlusswendung, der dritten Zeile («Schlangen gleich»), die er dann aber in den Text des Romans einfügte. Hier folgen die drei Zeilen, die bei Beckett zwischen Notebook und Romantext getrennt sind:

  Reif sind, in Feuer getaucht, gekochet

Die Frücht und auf der Erde geprüfet und ein Gesez ist

Daß alles hineingeht, Schlangen gleich,

Alle diese Umstände, samt dem Hinweis auf Hölderlin als des ‹armen›, machen es wahrscheinlich, dass Beckett zu dieser frühen Zeit nicht nur irgendein Textfragment von Hölderlin unter die Augen gekommen war, sondern dass ihm zumindest der Text der gesamten Strophe vorlag. Wie und aus welcher Ausgabe er ihm zugänglich war – lange bevor er selbst eine solche Ausgabe besaß –, lässt sich nicht ausmachen. Ob bei seinen Verwandtenbesuchen in Kassel oder auf den Bibliotheken, die er benutzte – er hatte genügend Gelegenheiten, Hölderlin-Texte in die Hand zu bekommen. Die Strophe ist auch so bedeutungsgeladen und reich an gnomischen Sätzen Hölderlins, die inzwischen bekannt sind und weithin auch aufgenommen werden, dass man sich leicht vorstellen kann, er sei schon zu so viel früherer Zeit in einem Gespräch auf den Vers aufmerksam geworden. In der Folge wird sich noch zeigen, dass die Frage, welche Textedition ihm vorlag, durchaus einiges Gewicht hat. Denn die Strophe schließt mit Zeilen, die für Beckett über lange Jahre besondere Bedeutung erhalten sollten.

2.) Die Strophe Hölderlins, von der soeben zu handeln war, ist in Robertsons Hölderlin-Darstellung nicht enthalten. In seinem Roman Watt, den Beckett während des Krieges in Frankreich in seiner Muttersprache schrieb, ist dagegen auf Hyperions Schicksalslied angespielt, also auf einen Text, der vollständig Robertsons Darstellung zu entnehmen war. Beckett kannte das Gedicht auswendig und hat es bei vielen Gelegenheiten auf Deutsch vorgetragen. Wahrscheinlich prägte er es sich unabhängig von seiner Lektüre des Hyperion ein, die für die Zeit nach 1937 bezeugt ist. Es gibt keine Hinweise darauf, dass er sich über die Stellung des ‹Liedes› in der Komposition des gesamten Hyperion Gedanken gemacht hat. Obwohl es kraft seiner lyrischen Form im Text des Hyperion eine Sonderstellung hat, ist in ihm nicht etwa die Quintessenz von Hyperions Einsicht auf dem Wege in sein Eremitendasein zu sehen.[16] Aber in ihm ist die Erkenntnis eines Grundzugs im Leben der Menschen ausgesprochen, die Beckett bis in den Wortlaut hinein als wahr und ihm selbst vertraut erfahren hat. Die letzte der drei Strophen spricht diese Einsicht aus:

Doch uns ist gegeben,

            Auf keiner Stätte zu ruhn,

                  Es schwinden, es fallen

                        Die leidenden Menschen

                              Blindlings von einer

                                    Stunde zur andern,

                                          Wie Wasser von Klippe

                                                Zu Klippe geworfen,

                                                      Jahr lang ins Ungewisse hinab.

In Watt hat Beckett in Hölderlins Text, dessen Sinn nicht ungemäß, das ‹Jahr lang› der letzten Zeile zu ‹endlos› verändert.[17] ‹Schwinden› und ‹fallen› sind Worte, die Becketts eigener Sprache über das Geschick des Menschen zugehören. Beckett konnte auch wissen, dass Hyperions Schicksalslied zum lyrischen Bildungskanon der Deutschen gehört. Wenn er es also auswendig zitierte, so konnte er auf mehr Verstehen rechnen als bei anderen Gedichten Hölderlins, die ihm ebenso vertraut waren und die ihm noch bedeutender, auch bedeutsamer für ihn selbst erschienen sind.

Ein Bericht besonderer Art steht im Zusammenhang mit Becketts Regiearbeit in Stuttgart. Bei einem Essen «aller Beteiligten» mit dem Intendanten des Senders kam es zunächst nur zu einem stockenden Gespräch. Schließlich kam man «über Goethes Lieblingswein, den ‹Eschendorfer Lump›, aber auf Hölderlin zu sprechen». Beckett rezitierte in Deutsch lange Passagen dieses von ihm besonders geschätzten Dichters. Er rezitierte auch Hyperions Schicksalslied und gewann gegen den Gastgeber eine Wette über den Wortlaut von dessen erster Zeile. Am nächsten Tag wurde Beckett vom Intendanten zum Hölderlin-Turm in Tübingen gefahren. Zudem überreichte ihm der Intendant «eine große Hölderlin-Ausgabe». Beckett schrieb, als er nach Paris zurückgekehrt war, an den Intendanten: «I think with emotion of your many kindnesses to me in Stuttgart, of which not least the visit to Tübingen …»[18] Ein anderer Bericht will es, dass Beckett auch dort «ergriffen» das Schicksalslied «in wunderbarem Deutsch» gesprochen haben soll – dann also in einer direkten Beziehung auf das Lebensschicksal seines Dichters.[19]

3.) Noch vor dem Entstehen von Watt hat Beckett in einem kritischen Essay zu Gedichten von Denis Devlin auf Hölderlin und auf dessen spätes Gedicht Der Spaziergang Bezug genommen.[20] Er schreibt einem Gedicht von Devlin «the distinction of a late Poem by Hölderlin» zu, aus dem er die Zeile zitiert «Ihr lieblichen Bilder im Thale». Seine Hochschätzung begründet er mit der Wiederholung einer Zeile in dem Gedicht Devlins und aus der «außerordentlichen Evokation des Ungesagten durch das Gesagte».[21]

Der Hinweis auf Hölderlin geschah 1938, also kurz nachdem eine Ausgabe von Hölderlin in Becketts Besitz war.[22] Aus ihr hat er wohl dies Gedicht kennengelernt. Es ist gut bezeugt, dass seine Hochschätzung so weit ging, dass er ein eigenes vierzeiliges Gedicht, das 1937 entstand, nämlich Dieppe, auf Hölderlins Vorbild zurückführte.

Beckett ergänzt seinen Verweis auf Der Spaziergang mit dem Zitat in Deutsch einer Zeile («Ihr lieblichen Bilder im Thale») des Gedichts als Beispiel. Dies Zitat macht deutlich, von welcher Passage in Hölderlins Gedicht Becketts Dieppe angeregt worden ist. Hier folgen die vier Zeilen aus Der Spaziergang, gefolgt von Becketts Gedicht in seiner eigenen Übersetzung ins Englische:

Ihr lieblichen Bilder im Thale,

Zum Beispiel Gärten und Baum,

Und dann der Steg der schmale,

Der Bach zu sehen kaum,

  DIEPPE[23]

again the last ebb

the dead shingle

the turning then the steps

towards the lighted town

Beckett hatte keine umfassende Kenntnis von Hölderlins Werk. Er hatte viel von ihm gelesen, hatte sich aber nur auf wenige seiner Gedichte wirklich konzentriert. Von einer Hochschätzung etwa der Oden, deren Kunstform Hölderlin auf einen Gipfel geführt hat, findet sich keine Spur. Dennoch kann Beckett der Absturz aus der dichterischen Höhenlage nicht entgangen sein, der in den Turmgedichten vollzogen ist und der zu ihrem scheinbar kindlich-kunstlosen Ton und zur Unbeholfenheit schon ihrer grammatischen Mittel geführt hat. Aber Beckett hat selbst gesagt, was ihn dennoch in solchen Gedichten wie Der Spaziergang berührte: Gerade aus diesen Zügen spricht die Distanz zur Welt und die Mühe, die auf jedem Schritt in ihr lastet. Gerade in der Schwäche der Worte liegt zugleich die Kraft, das von ihnen Ungesagte und nicht mehr Sagbare hervortreten zu lassen. In dem scheinbar nur aufzählenden ‹und dann› spürt Beckett die immer wieder erfahrene, vergebliche Last der Umwendung des Lebens im Dämmerlicht zu einem Ziel ohne jedes Versprechen. Elmar Tophoven hat Dieppe, wohl wie immer in Zusammenarbeit mit Beckett selbst oder zumindest mit seiner Zustimmung, mit solchem Hintergrund eindrucksvoll ins Deutsche übersetzt:[24]

und wieder das letzte Verebben

das tote Geschiebe

die Umkehr und dann die Schritte

nach den alten Lichtern

Becketts Hochschätzung von Hölderlin gerade in dessen spätesten Entwürfen und in den Gedichten der Zeit der Krankheit ist vielfach bezeugt.[25] Sie hat mit einer Wendung in Becketts Gedanken über Kunst noch zugenommen, die ihn nunmehr das Gewicht eines Kunstwerks nach dem Grad und der Art seines Scheiterns bemessen ließ. Charles Juilet berichtet von einem Gespräch aus dem Jahre 1977, dass Beckett die Gedichte der Wahnsinnszeit besonders schätzte, dass ihm aber ganze Seiten von Hölderlin auch wenig bedeuten konnten.[26] Dem Bericht von Patrick Bowles aus viel früherer Zeit (1955) ist bereits zu entnehmen: Hölderlins «only successes are the points where his poems go on, falter, stammer, and then admit failure». Wohl mit dem Kontrast entweder zu den frühen Gedichten oder auch zu den ersten Hymnen nach 1800 fuhr er fort: «When he tried to abandon the spurious magnificence» «he was most successful».[27] Bei einer anderen Gelegenheit übersetzte Beckett ihm ein ‹sehr langes› Hölderlin-Gedicht, in dem «ruin and failure» dominieren, spontan aus der Erinnerung an den deutschen Text heraus, als ob er einen in Englisch geschriebenen Text rezitiere.[28]

Nur noch von einem der späten Gedichte Hölderlins wissen wir, dass Beckett mit ihm vertraut war: Die Titanen.[29] Anne Atik, die Frau des Malerfreundes Avigdor Arikha, berichtet, seine Anfangsstrophe habe zu den Texten gehört, die Beckett und Arikha gemeinsam immer wieder rezitiert haben – und zwar im Stehen. Über die Anfangszeilen

Nicht ist es aber

Die Zeit. …

«hielten sich die beiden ekstatisch» als über ein «ungrammatisches Wunder» auf.[30]

Es ist nicht notwendig anzunehmen, dass Arikha das Gedicht erst durch Beckett kennenlernte. Eine «gemeinsame Liebe zur deutschen Literatur»[31]

Man versteht leicht, dass der Romanautor Beckett spätestens dann, als er selbst eine Hölderlin-Ausgabe besaß, den Hyperion lesen wollte – zumal er Hyperions Schicksalslied schon seit langem zu zitieren wusste. Aus den Anstreichungen und Marginalien in der Insel-Ausgabe aus Becketts Besitz lässt sich nun auch erkennen, was ihm in Hölderlins Roman und auch in einigen der früheren Gedichte, die kurz vor und nach 1800 entstanden, bemerkenswert war.[32] In den inneren Einband ist das Erwerbungsdatum «SB 24/12/37» eingetragen.[33] Beckett hat das Bändchen zu einer selektiven Lektüre, nicht aber so genutzt, dass sich von ihm allein und den Spuren seiner Nutzung her seine Hochschätzung und seine genaue Kenntnis einiger der späteren Gedichte erklären lassen. Für die Art der Aufmerksamkeit, mit der er in dem Band las, mögen hier Anstreichungen zu den beiden letzten Zeilen des Geburtstagsgedichts An Landauer erwähnt sein:[34]

Das Fest verhallt, und jedes gehet morgen

Auf schmaler Erde seinen Gang.

Beckett hat die Zeilen angestrichen und das ‹schmaler› zudem unterstrichen: Beckett war also aufmerksam auf alle Spuren von Last und Fall des Erdenlebens in Hölderlins Werk.

Die Annotationen im Hyperion sind von ähnlicher Art. Ich sollte in diesem Text, der noch vor ihrer Veröffentlichung abgeschlossen wird, nicht weiter auf sie eingehen. Becketts Lektüre mit dem Bleistift in der Hand ist über das erste Buch nicht hinausgekommen. Obwohl es möglich ist, dass er sich später noch an die eine oder andere der angestrichenen Stellen erinnerte, hat doch keine von ihnen das Gewicht und die Aufschlusskraft, die dem Nachdruck entsprechen, mit dem Beckett Hyperions Schicksalslied, Der Spaziergang und die Anfangszeilen der Strophe «Reif sind, in Feuer getaucht …» auch nach vielen Jahrzehnten noch zitieren und rezitieren konnte. Ob Beckett Hyperion in seiner Ausgabe gleich nach deren Erwerb las und annotierte, ist nicht auszumachen. Doch berichtet er in einem Brief vom Juni 1939,[35] dass er Hölderlin gelesen habe und dass es ein «deprimierender Gedanke» sei, Hyperion möchte eine notwendige Voraussetzung sein «to the Freie Rhythmen» und «the terrific fragments of the Spätzeit».[36] Da die beiden Obertitel, die er hier auf Deutsch nennt, denen nach Zinkernagel in seiner Insel-Ausgabe entsprechen, liegt die Annahme nahe, dass er Hölderlin zumindest erneut in seiner Ausgabe gelesen hat. In dem Brieftext verwendet er übrigens, an den Briefempfänger gewandt, auf Deutsch die Schlusswendung des letzten Briefes im zweiten Buch von Hyperion: «Nächstens mehr.»[37] Da in seiner eigenen Ausgabe das zweite Buch nicht annotiert ist, kann man also davon ausgehen, dass sich seine Kenntnis von Hölderlins Romantext – auch sofern sie sich aus dem Lesen in seiner eigenen Ausgabe ergab – nicht auf das erste Buch beschränkte.