Eine Geschichte
in Porträts
Verlag C.H.Beck
Wolfgang Benz versammelt in diesem Buch exemplarische Lebensläufe deutscher Juden im 20. Jahrhundert. Der Prominente steht neben dem Unbekannten, der Kommunist neben dem Großbürger. Zusammen ergeben diese Porträts ein umfassendes Bild jüdischer Erfahrungen im Schatten nationalsozialistischer Verfolgung und ihrer Wirkungen bis zur Gegenwart.
Es gibt kein kollektives Schicksal. Die Erfahrung der Diskriminierung und Verfolgung als Jude war individuell und hatte viele Facetten, zwischen den Extremen des Genozids und des Überlebens. Das zu verdeutlichen, ist die Absicht dieses Buches. Es zeichnet das Porträt der jüdischen Ärztin, die nach New York emigriert und dort einen rasanten sozialen Abstieg erlebt, ebenso wie den Lebensweg der Berliner Jüdin, die sich der drohenden Vernichtung durch Flucht in den Untergrund entzieht. Die jüdische Diseuse, deren Einfallsreichtum sie die Verfolgungen überstehen lässt, steht neben dem Judenältesten von Theresienstadt, der im Ghetto zugrunde geht. Verfolgt wird die spannende Geschichte des KZ-Überlebenden, der in den 50er Jahren die IG Farben vor Gericht bezwingt, und der Lebensweg des Zionisten, der nach Palästina emigriert und später die deutsche Exilforschung mitbegründet. Ein nach Sibirien deportierter Czernowitzer Jude findet 1992 in der Bundesrepublik eine neue Heimat während eine nach Australien emigrierte Berlinerin als Jüdin in der DDR leben will. Heinz Galinski und Ignatz Bubis werden porträtiert, die nach der Katastrophe das jüdische Leben in Deutschland neu aufgebaut haben, und Michael W. Blumenthal, der es als Emigrant zum US-Finanzminister brachte, steht für eine jüdische Erfolgsgeschichte im 20. Jahrhundert, die es eben auch gegeben hat.
Wolfgang Benz ist Prof. em. der Technischen Universität Berlin, er leitete bis März 2011 das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: Geschichte des Dritten Reiches (2000), Lexikon des Holocaust (Hrsg., 2002), Überleben im Dritten Reich (Hrsg., 2003), Was ist Antisemitismus? (2. Aufl. 2005), Der Ort des Terrors (9 Bde., hrsg. zus. mit Barbara Distel, 2005–2009), Der Holocaust (7. Aufl. 2008), Die 101 wichtigsten Fragen: Das Dritte Reich (2. Aufl. 2008), Die Protokolle der Weisen von Zion (2. Aufl. 2011).
Die jüdische Erfahrung in der deutschen Geschichte
Einleitung
I. Selbstbehauptung und Widerstand
1. Politisches Engagement und Widerstand: Hans Robinsohn
2. Protest gegen den Boykott 1933: Erich Leyens
3. Im Kirchenasyl: Lilly Neumark
4. Suche nach Gerechtigkeit: Willy Vogelsinger
5. «Judenältester» in Theresienstadt: Paul Eppstein
6. Verfolgung und mondäne Existenz: Edith Grötzinger
II. Vertreibung, Flucht, Exil
7. Vom Buchhandelslehrling in Tel Aviv zum Pionier der Exilforschung: Ernst Loewy
8. Eine zerstörte Bühnenkarriere: Richard Duschinsky
9. Illegal nach Palästina: Alfred Heller
10. Das gelebte Unglück des Exils: Hertha Nathorff
III. Nach der Katastrophe
11. «Wir sind gerettet, aber wir sind nicht befreit» Norbert Wollheim und sein Prozess gegen I. G. Farben
12. Streitbarer Moralist: Heinz Galinski
13. Charisma und Resignation: Ignatz Bubis
14. Triumphale Rückkehr: W Michael Blumenthal
15. Eine Jugend in München: Ellen Presser
16. Kontingentflüchtling aus Sibirien: Julius Wolfenhaut
17. «Wie die Lilie auf dem Felde» Ruth Körner
IV. Zeugnis ablegen
18. Der Chronist: Miroslav Kárný
19. Aufklärer und Humanist: Lucien Steinberg
20. Kommunistin oder Jüdin? Salomea Genin
21. Philharmoniker und Zeitzeuge: Hellmut Stern
22. Die Schatten der Vergangenheit: Richard Glazar
Anhang
Anmerkungen
Bildnachweis
Personenregister
Die Debatte, innerhalb und außerhalb des Judentums, ob von «deutschen Juden» oder von «Juden in Deutschland» zu sprechen sei, hat viele Facetten. Der Diskurs wurde um 1870, als die Emanzipation der Juden in Deutschland erreicht schien, anders geführt als in den Jahren nach 1945, jener Zeit, in der Deutschland zum gebannten Land für Juden erklärt war: Wenn der letzte Gerettete aus den Lagern des NS-Systems, gesund und transportfähig gepflegt, in der Lage sein würde, deutschen Boden zu verlassen, sollte nie wieder jüdisches Leben dort stattfinden. In den reichlich sechs Jahrzehnten nach der Shoah hat sich das geändert. Aber jüdisches Leben in Deutschland folgt heute anderen Normen und Überzeugungen als vor dem NS-Regime.
Die kulturelle Identität der deutschen Juden im Zeitalter der Emanzipation, das war die Zeit vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis 1933, war vom Diktat der Assimilation bestimmt. Über die Preisgabe jüdischer religiöser und kultureller Eigenart erhofften jüdische Intellektuelle, die gesellschaftliche Integration erreichen zu können. Die Metapher der «deutsch-jüdischen Symbiose» scheint auf die Verwirklichung des Traumes sozialer und kultureller Gleichstellung hinzudeuten. Tatsächlich wurden die Anstrengungen zur Assimilation aber nicht honoriert. Die jüdische Erfahrung als «Deutsche von Goethes Gnaden» blieb von der Ausgrenzung bestimmt, wie sie sich definitiv in Theresienstadt und Auschwitz manifestierte. Begonnen hatte die leidvolle jüdische Erfahrung in Deutschland aber schon im Ersten Weltkrieg.
Georg Hermann, der Autor des Romans «Jettchen Gebert», in dem das bürgerliche jüdische Milieu der Jahrhundertwende, das an inneren Spannungen reiche Verhältnis zur nichtjüdischen Umwelt geschildert ist, schrieb 1919: «Ob wir wollen oder nicht, wir mussten uns auf unser Judentum besinnen, denn der Krieg und die Grundanschauungen, die mit ihm Hand in Hand gingen, zeigten uns von Jahr zu Jahr mehr und stärker die Wesensfremdheiten, die uns von jenen trennten. Wir haben eine große Enttäuschung am Deutschen erlebt, und wir erleben sie noch heute jede Stunde.»[1] Es war die Enttäuschung des 1871 in Berlin geborenen Erfolgsautors, der sich in erster Linie als Deutscher empfand, allenfalls mit Resten eines aus Pietät bewahrten Judentums. Ernüchtert wurde er im Ersten Weltkrieg, in dem die patriotischen Gefühle der deutschen Juden mit der demütigenden Judenzählung des Jahres 1916 vergolten worden sind.[2] Ermordet wurde der Schriftsteller Georg Hermann 1943 in Auschwitz.
Die Illusion der jüdischen Integration, spät erworben durch Emanzipation und Assimilation im 19. Jahrhundert, zerbrach mit Hitlers Machtantritt 1933 endgültig. Die Ausgrenzung der Minderheit begann damit, dass die Juden als Fremde stigmatisiert wurden. Mit dem Argument, sie seien anders, von fremder Art, wurden ihnen die Existenzgrundlagen, die bürgerlichen Rechte, das Eigentum genommen, und schließlich sind sie – immer mit der Begründung, sie seien auf eine besondere Weise fremd, nämlich «artfremd», deshalb minderwertig und nicht lebenswürdig – millionenfach ermordet worden.
Ohne die lange Tradition gesellschaftlicher Ausgrenzungen wären die Bemühungen der nationalsozialistischen Propaganda natürlich nicht so rasch und so verhängnisvoll erfolgreich gewesen. Judenfeindschaft manifestierte sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in der Form des modernen Rassenantisemitismus. Modern war er, weil er die religiös motivierte Judenfeindschaft, den Antijudaismus, durch eine wissenschaftlich aufgemachte Rassenideologie fortentwickelte und ersetzte. Judenfeindschaft war, so behaupteten eifernde Schriftsteller und Privatgelehrte als Protagonisten der neuen Lehre vom «modernen Antisemitismus», jetzt scheinbar auf beweisbare Fakten gegründet. Auf «Rasseneigenschaften».[3]
Eugen Dühring, einer der schriftstellernden Berufsantisemiten, brüstete sich in seinem 1881 erstmals erschienenen Bestseller «Die Judenfrage» mit der Erkenntnis, als erster das Problem als rassisches und nicht als religiöses thematisiert zu haben.[4] Er plädierte für die rigorose Ausgrenzung der Juden, und viele taten es ihm nach. Etwa ein Dr. Körber, der davon ausging, dass «das deutsche Volk ein auf seiner geschichtlichen Leistung als Staatsgründer- und Kulturschöpfervolk begründetes Erstgeburtsrecht auf seinen Staat» habe, «dem es seine Sprache und sein Wesen gab und dessen Charakter nur solange deutsch ist, als die Deutschen als Wirtsvolk das Hausrecht besitzen und Fremden bloß ein Fremdenrecht einräumen. Eine Gleichheit, Gleichstellung und Gleichberechtigung zwischen Deutschen und anderen Völkern und Rassen vernichtet das deutsche Gefüge eines deutschen Staates und macht ihn zur internationalen Versicherungsgesellschaft auf Leben und Eigentum für alle Lebewesen, die ein menschliches Antlitz tragen. Volksrechte und Volksgüter, Staatsrechte und Staatsgüter durch den Gleichheitswahn auch an Nichtdeutsche ausliefern, heißt das Vorrecht der Deutschen, in ihrem Staate eine rechtliche Schutzheimat gegen Eroberung durch Fremde zu besitzen, beseitigen und somit diesen Staat als Eroberungsgebiet, als Kolonie für jedes menschliche Lebewesen und jedes Fremdvolk erklären.»[5]
Aus dumpfem Ressentiment waren rassistische und sozialdarwinistische xenophobe Überzeugungen geworden, gestützt durch das Gebäude völkischer Ideologie, die von einer radikalen Minderheit lautstark und aggressiv propagiert wurden. Schlimm war, dass viele, die den neuen Lehren des Rassenantisemitismus kritisch begegneten, doch den alten Vorbehalten anhingen. Der Schriftsteller Jakob Wassermann, 1873 in Fürth geboren, hat in seinem bitteren und pessimistischen Essay «Mein Weg als Deutscher und Jude» den erlebten Mechanismus der Ausgrenzung beschrieben: «Die meinem Judentum geltenden Anfeindungen, die ich in der Kindheit und ersten Jugend erfuhr, gingen mir, wie mich dünkt, nicht besonders nahe, da ich herausfühlte, dass sie weniger die Person als die Gemeinschaft trafen. Ein höhnischer Zuruf von Gassenjungen, ein giftiger Blick, abschätzige Miene, gewisse wiederkehrende Verächtlichkeit, das war alltäglich. Aber ich merkte, dass meine Person, sobald sie außerhalb der Gemeinschaft auftrat, das heißt sobald die Beziehung nicht mehr gewusst wurde, von Sticheleien und Feindseligkeit fast völlig verschont blieb. Mit den Jahren immer mehr. Mein Gesichtstypus bezichtigte mich nicht als Jude, mein Gehaben nicht, mein Idiom nicht. Ich hatte eine gerade Nase und war still und bescheiden. Das klingt als Argument primitiv, aber der diesen Erfahrungen Fernstehende kann schwerlich ermessen, wie primitiv Nichtjuden in der Beurteilung dessen sind, was jüdisch ist, und was sie für jüdisch halten. Wo ihnen nicht das Zerrbild entgegentritt, schweigt ihr Instinkt, und ich habe immer gefunden, dass der Rassenhass, den sie sich einreden oder einreden lassen, von den gröbsten Äußerlichkeiten genährt wird, und dass sie infolgedessen über die wirkliche Gefahr in einer ganz falschen Richtung orientiert sind. Die Gehässigsten waren darin die Stumpfesten.»[6]
Im Militärdienst verdichtete sich die Erfahrung des Fremdseins und Fremdbleibens, trotz äußersten Bemühens um Anpassung, an der verächtlichen Haltung der Offiziere, am steten Argwohn, an den unsichtbaren Grenzen für das Avancement, «weil die bürgerliche Legitimation unter der Rubrik Glaubensbekenntnis die Bezeichnung Jude trug». Aber schlimmer und quälender noch empfand der junge jüdische Einjährig-Freiwillige das Verhalten der Mannschaften: «Zum erstenmal begegnete ich jenem in den Volkskörper gedrungenen dumpfen, starren, fast sprachlosen Hass, von dem der Name Antisemitismus fast nichts aussagt, weil er weder die Art, noch die Quelle, noch die Tiefe, noch das Ziel zu erkennen gibt. Dieser Hass hat Züge des Aberglaubens ebenso wie der freiwilligen Verblendung, der Dämonenfurcht wie der pfäffischen Verstocktheit, der Ranküne des Benachteiligten, Betrogenen ebenso wie der Unwissenheit, der Lüge und Gewissenlosigkeit wie der berechtigten Abwehr, affenhafter Bosheit wie des religiösen Fanatismus. Gier und Neugier sind in ihm, Blutdurst, Angst verführt, verlockt zu werden, Lust am Geheimnis und Niedrigkeit der Selbsteinschätzung. Er ist in solcher Verquickung und Hintergründigkeit ein besonderes deutsches Phänomen. Es ist ein deutscher Hass.»[7]
Das war kurz vor der Jahrhundertwende, zu jener Zeit also, da die Integration der Juden in Deutschland vollendet schien. Rechtlich waren die Juden in Preußen seit 1812 als Staatsbürger anerkannt, dieser Emanzipation folgten aber, ehe der Reichstag des Norddeutschen Bundes 1869 alle Beschränkungen aufhob, erneute Restriktionen. Und die rechtliche Gleichstellung bedeutete nicht, dass die alltäglichen Ausgrenzungen aufgehört hätten. Die Emanzipation der Juden durch die Grundsätze der Französischen Revolution war an die Erwartung ihrer Assimilation geknüpft. Graf Clermont-Tonnerres Plädoyer «Man muß den Juden als Nation alles verweigern und ihnen als Individuen alles gewähren» war zum Programm der Emanzipation auch in Deutschland geworden. Durch kulturelle Assimilation wurde es – zum großen Teil wenigstens – realisiert. Juden waren aber nicht überall erwünscht, es gab Bereiche wie das Militär, die Universität, die akademischen Corporationen, Organisationen der Gesellschaft, in denen auch die Taufe bei jüdischer Herkunft nicht gleiches Recht schuf. Die Tatsache der kulturellen Assimilation verleitete aber auch zum Trugschluss, es habe eine deutschjüdische Symbiose gegeben, die im Rückblick gar zunehmend verklärt wird.[8]
Zweifellos bildete das deutschsprachige Judentum ein, wie Hannah Arendt konstatierte, «durchaus einzigartiges Phänomen auch im Bereich der sonstigen jüdischen Assimilationsgeschichte». Die Annäherung war in Deutschland mindestens im Bereich der gebildeten bürgerlichen Schicht im vorletzten Jahrhundert wohl weiter gediehen als bei vergleichbaren historischen Fällen, wie im Altertum im hellenistischen Alexandrien oder später im maurisch geprägten Spanien. Aber war die kulturelle und geistige Assimilation der deutschsprachigen Juden, wie Gershom Scholem schrieb, nicht doch nur eine «einseitige Liebeserklärung»?[9]
Wenn die Taufe – und dadurch die Preisgabe der eigentlich jüdischen Identität – Vorbedingung der sozialen Anerkennung war, die Türen zu den großen Karrieren in der Regel aber trotzdem verschlossen blieben – Juden als Stabsoffiziere, Universitätsprofessoren, leitende Beamte, Vereinsvorsitzende waren in der wilhelminischen Gesellschaft selten, und die mit jüdischem Geld gegründete Stiftungsuniversität Frankfurt am Main hatte deshalb gerade auch den Zweck, Juden auf Lehrstühle berufen zu können –, dann bleiben Zweifel an der Vollkommenheit der Emanzipation berechtigt.
Hannah Arendt definierte in Anlehnung an Max Weber die Existenz der Juden in Europa als die eines Paria-Volkes; dies sei denjenigen am klarsten zu Bewusstsein gekommen, «an welchen die zweideutige Freiheit der Emanzipation und die noch zweideutigere Gleichheit der Assimilation ausprobiert wurden». In den Emanzipationsländern habe entweder die Möglichkeit bestanden, als Jude der Versuchung dieser törichten Mimikry nachzugeben oder eine Parvenükarriere einzuschlagen. Am schlechtesten freilich seien diejenigen weggekommen, die einen dritten Weg gesucht hätten, nämlich «die frohe Botschaft der Emanzipation so ernst zu nehmen, wie sie nie gemeint gewesen war, und als Juden Menschen zu sein. Dies ‹Mißverständnis› leitete jenen großartigen Prozeß ein, in welchem Juden, denen politische Freiheit und unmittelbare Volksnähe versagt war, sich als Menschen, als Einzelindividuen, in leidenschaftlicher Opposition zu ihrer jüdischen wie nichtjüdischen Umwelt selbst befreiten und in der Einbildungskraft von Kopf und Herz, gleichsam auf eigene Faust, Volksnähe realisierten.»[10] Diese Formulierung im Essay «Die verborgene Tradition», erstmals im Frühjahr 1944 publiziert, enthält die radikale Gegenposition zur Vermutung einer deutsch-jüdischen Symbiose.
Das gravierendste Argument gegen deren angeblich bis zu Hitlers Machterhalt 1933 bestehende Existenz liefert der Antisemitismus, und zwar der alltägliche bürgerliche, nicht der Radau- und Pöbelantisemitismus der Völkischen und Nationalsozialisten. Der bürgerliche – religiös, sozial, ökonomisch motivierte – Antisemitismus, der im Umkreis der Diskussion um die «Judenfrage» begann und im schweigenden Zusehen bei ihrer «Lösung» unter dem nationalsozialistischen Regime endete,[11] wuchs parallel zum Aufblühen jüdischer Freiheit in Deutschland Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Als Antwort auf den Antisemitismus gab es den kurz vor der Jahrhundertwende gegründeten «Verein zur Abwehr des Antisemitismus», eine Organisation mit demokratischen und liberalen Zielen, ohne jüdische Dominanz und mit stetig sinkender Bedeutung, aber schon durch seine Existenz eher ein Argument gegen die Vermutung erfolgreicher Integration der Juden in die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Anfang 1933 hatten noch ganze 20.000 Bürger die Zeitung des Vereins (die «Abwehrblätter») abonniert, und bei der Generalversammlung in Dresden 1932 war festgestellt worden, dass mehr Menschen in Deutschland als jemals zuvor im radikalen Antisemitismus die Lösung sozialer Probleme suchten. Im folgenden Jahr löste sich der Verein in Erkenntnis der Aussichtslosigkeit seines Bemühens auf.[12]
Die Juden in Deutschland bildeten natürlich keine politisch, soziologisch oder auch nur religiös homogene Gruppe, wie es die judenfeindliche Propaganda glauben machen wollte. Von den verschiedenen religiösen Gruppierungen und der den deutschen Juden gemeinsamen Distanz gegenüber dem einwandernden Ostjudentum abgesehen, gab es zwei Hauptrichtungen: die dominierende, die sich im «Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens» repräsentierte, und die Zionisten. Im Gründungsaufruf des Centralvereins hatte es 1893 geheißen, der Verein werde alle Kräfte zur Selbstverteidigung aufrufen, «in dem einzelnen das Bewußtsein unserer unbedingten Gleichberechtigung stärken und in ihm das Gefühl unserer Zusammengehörigkeit mit dem deutschen Volke»[13] nicht verkümmern lassen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden diese Positionen noch energischer vom «Reichsbund jüdischer Frontsoldaten» vertreten. Unterschieden sich die im Centralverein Organisierten in ihren nationalen und kulturellen Hoffnungen und Sehnsüchten in nichts vom nichtjüdischen deutschen Bürgertum, so propagierten die Zionisten das Gegenprogramm zur Assimilation, die Besinnung auf spezifisch jüdische kulturelle Traditionen. Ausgangspunkt war in jedem Falle die Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft.
Die Diskrepanz war, bei allen Auseinandersetzungen, die in den Zeitungen der beiden Richtungen, der zionistischen «Jüdischen Rundschau» und der «C.V.-Zeitung» geführt wurden, nicht abgrundtief, mindestens beschränkte sie sich bis 1933 auf theoretische Positionen. Thomas Mann, der die Skepsis der assimilierten Juden gegen die Bestrebungen zur jüdischen Siedlung in Palästina teilte, meinte noch im Jahr 1931 in einer Radioansprache: «Es wäre ein Mißverständnis zu glauben, daß der Zionismus eine Massenrückkehr des jüdischen Volkes zu seiner traditionellen Heimstätte verlangt. Eine solche Forderung wäre unsinnig, da die große Mehrheit der Juden in der abendländischen Zivilisation und in der Kultur ihrer verschiedenen Heimatländer viel zu fest verwurzelt ist, als daß sie sich von ihr trennen und sich ins Land ihrer Vorväter wieder eingewöhnen könnte.»[14]
Zwei Jahre später, 1933, wurde das konkrete zionistische Programm für etliche, aber noch keineswegs die Mehrheit der deutschen Juden attraktiver. Die jüdischen Staatsbürger Deutschlands, die sich in ihrer Loyalität zum Vaterland von keinem übertreffen lassen wollten, setzten ihre Hoffnung auf die Legalität der Reichsregierung Hitler, als deren Symbol sie den Reichspräsidenten Hindenburg ansahen, und auf die Verfassung, die in drei Artikeln die Gleichheit aller Deutschen, den Zugang aller Staatsbürger zu öffentlichen Ämtern und die Glaubens- und Gewissensfreiheit zu garantieren schien. Der Traum von der deutschjüdischen Integration war längst ausgeträumt. Am frühesten in den Universitäten: Hier hatten jüdische Professoren unter dem Druck völkisch-nationalistischer Studenten, unterstützt vom deutschnationalen Honoratiorentum in den Fakultäten, ihre Positionen räumen müssen. Dafür stehen schon vor 1933 die Namen von Theodor Lessing (Hannover 1926) oder Emil Julius Gumbel (Heidelberg 1932).[15]
Wie sehr die Ausgrenzung die Integration überwog, zeigt sich an zwei Indizien deutlich: Einmal war die Gegenseitigkeit durch Gleichberechtigung nicht gegeben; ein Teil des Jüdischen musste bei aller Assimilation immer im Ghetto bleiben, das galt für den religiös-spirituellen Bereich auch dann, wenn der deutsche Kaiser zu Besuch in die Synagoge kam und den «Centralverein der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens» seines Wohlwollens versicherte.[16] Und das galt im sozialen Bereich auch für die getauften Juden (denen als Vorbedingung des gesellschaftlichen Aufstiegs die formelle Lösung vom Judentum zugemutet worden war). Man verkehrte mit den Juden geschäftlich und offiziell, aber nicht privat, und wenn doch, dann war es nicht die Regel.
Als Frucht der Assimilation war also den Juden die volle Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nicht gewährt worden. Sie brauchten dafür Ersatz. Trost fand man im ausgedehnten und intensiven Familienleben; es gab Kraft und half die Enttäuschungen und Demütigungen des Alltags durchzustehen. Trost fand man in Bildungsgütern, im gesteigerten Naturempfinden, in Musik und Innerlichkeit und im Bewusstsein, die eigentliche Heimat der Juden sei das Exil. Trost suchte man auch im Patriotismus: Niemand sollte den Juden nachsagen dürfen, sie bemühten sich nicht, die besten, kaisertreuesten, nationalbewusstesten Deutschen überhaupt zu sein. In fassungslosem Entsetzen erkannten viele erst in den Ghettos und Vernichtungslagern im Osten, dass ihre Kriegsauszeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg nicht das Blech wert waren, aus dem sie gestanzt wurden. Aber ihre Träger hatten einst geglaubt, damit soziale Reputation erworben zu haben, und zuletzt noch gehofft, wenigstens das nackte Leben mit diesen Beweisen ihrer Vaterlandsliebe retten zu können.
Der Rückblick eines Mannes, der Mitte der 1930er Jahre nach Palästina auswanderte, enthält die traumatische Jugenderinnerung, dass drei jüdische Gymnasiasten sich oft nur in Begleitung des Lehrers in die Klasse trauten. Das war in München Anfang der zwanziger Jahre. In Perez Harburgers Aufzeichnungen findet sich ein weiteres Indiz zur Situation der Juden in Deutschland: «Wir waren ‹Deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens), wobei das ‹Deutsch› groß und das ‹jüdisch› klein geschrieben wurde. Wir nahmen vorlieb mit formeller Gleichberechtigung, die zumeist mit Assimilation erkauft war: Nur nicht auffallen! Nur nicht das Jüdisch-Eigene herausstellen!»[17]
In Erinnerungen und Reflexionen nichtjüdischer Deutscher, in denen auch die Verfolgung und Vernichtung der Juden thematisiert ist, findet sich eine Fülle von Hinweisen auf jüdische Schulfreunde, Nachbarn, Kollegen usw., aber kaum je eine Erwähnung, dass man außerhalb der Schule, des Amtes, der Geschäftsbeziehung intensiven Kontakt mit ihnen gepflegt hätte. Das aber wäre das Normale bei einer vollständigen Emanzipation der Juden in Deutschland gewesen. So hörte man zwar gemeinsam Wagner und Beethoven im Konzertsaal und in der Oper, besuchte die gleichen Theater, verehrte die gleichen Klassiker, ging aber anschließend getrennter Wege nach Hause und verschloss die Wohnungen. Die Erwähnung privater Kontakte mit Juden hat meist den Charakter der Demonstration, oft den des Alibis, immer den des Außergewöhnlichen, und das ist das entscheidende Kriterium.
Umgekehrt betonen jüdische Zeitzeugen rückblickend die engen kulturellen und intellektuellen Bindungen, führen zum Beweis Namen von großen deutsch-jüdischen Schriftstellern an wie Arnold Zweig, Werfel, Kafka, Wassermann, lassen dann aber doch erkennen, dass ihnen die vollkommene Integration, die deutsch-jüdische Synthese, nur eine Hoffnung war, deren Zerbrechen am Ende der Weimarer Republik sie mit Schmerz erfüllte. Das gilt insbesondere auch für diejenigen, die ebenso bewusst in jüdischen Traditionen lebten wie sie die deutsche Kultur enthusiastisch verinnerlicht hatten.[18]
Das Verhältnis zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen war in sozialer (nicht in intellektueller und kultureller) Hinsicht das zwischen Patriziern und Plebejern: Den Juden war mit der Emanzipation das ius commercii, nicht aber das ius conubii – im weitesten Sinne von gesellschaftlicher Gleichberechtigung verstanden (und der Tatsache vieler «Mischehen» durchaus eingedenk) – gewährt worden. Die Juden gehörten bei aller äußeren Gleichstellung nicht ins Sozialgewebe der deutschen Gesellschaft, zumindest nicht der jüdische Mittelstand. Man fühlte sich als deutscher Gymnasiast und deutscher Student, war etwa anerkannt als primus omnium im Gymnasium, gehörte aber sozial irgendwie trotzdem nicht dazu und machte nach dem Studium die Erfahrung, dass man vormittags bei Gericht im Anwaltszimmer Kollege war, aber im Salon des Abends traf man sich nicht. Die Hoffnung des jüdischen Mittelstands blieb – fast immer vergeblich – darauf gerichtet, wie etwa die Familie Rathenau – sie stand für jüdisches Patriziat – in die Gesellschaft aufgenommen zu werden oder gar wie der Verleger Samuel Fischer unter Literaten Hof zu halten.[19]
Der Erste Weltkrieg war zu einem Kristallisationspunkt solcher Hoffnung geworden. «Über das Maß der Pflicht hinaus», wie es in einem Aufruf vom 1. August 1914 geheißen hatte, waren die deutschen Juden bereit gewesen, ihre Kräfte dem Vaterland zu widmen. 100.000 jüdische Soldaten waren in den Krieg gezogen, nicht nur um ihren Patriotismus zu beweisen: «Ich bin als Deutscher ins Feld gezogen, um mein bedrängtes Vaterland zu schützen. Aber auch als Jude, um die volle Gleichberechtigung meiner Glaubensbrüder zu erstreiten», heißt es im Testament eines jüdischen Leutnants.[20] Das jüdische Aufgebot von 100.000 Mann war angesichts ihres Bevölkerungsanteils von etwa 550.000 überdimensional, desgleichen die Zahl der 12.000 Toten. Aber die Opfer waren vergeblich, ebenso die unermüdliche Propaganda des «Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten», der die ganze Weimarer Republik hindurch um Anerkennung des jüdischen Patriotismus warb.[21]
Die Hoffnung auf Würdigung der erbrachten Leistungen, vor allem aber der hohe kulturelle und intellektuelle Assimilationsgrad hinderten dann viele deutsche Juden an der rechtzeitigen Erkenntnis, dass ihre Ausgrenzung bis hin zur physischen Vernichtung beabsichtigt war. Die Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Weimarer Republik brachte für die deutschen Juden den Höhepunkt ihrer kulturellen Assimilation, zugleich aber schon den Beginn der sozialen Dissimilation. Antisemitische Propaganda, die Sündenböcke für die als schmachvoll empfundenen Folgen des Kriegs suchte, deklassierte Kleinbürger mit Zukunftsangst, verletzter deutscher Nationalstolz erkoren «den Juden» zum Schuldigen. Dass man die nationale Zuverlässigkeit der deutschen Juden in Frage stellte, ihnen den Vorwurf doppelter Loyalität («erst Jude, dann Deutscher») machte, zeigte den Wunsch nach Ausgrenzung, der in der Unterstellung einer Kriegserklärung «der Juden» an das deutsche Volk im Frühjahr 1933 anlässlich der Boykott-Aktion vom 1. April einen ersten Höhepunkt hatte.[22]
Dem Boykott als einer Geste der Drohung und Ankündigung folgte einige Tage später das «Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums». Damit war der Weg beschritten, auf dem in fünf Stufen der Ausgrenzung nicht nur die Errungenschaften von Aufklärung und Emanzipation, sondern für zwei Drittel der europäischen Juden auch die physische Existenz vernichtet wurden.[23] Entscheidend in diesem Prozess war die Wechselwirkung von Propaganda und legislativen und administrativen Akten. Schien es, als folgten die Deutschen den brachialen Inszenierungen wie dem Boykott 1933 oder dem Pogrom 1938 eher widerwillig, so wurden Maßnahmen, die mit formaler Legalität ausgestattet waren (wie die Nürnberger Gesetze 1935), akzeptiert, auch wenn sie dazu dienten, den Rassen-Antisemitismus in rohester Form durchzusetzen. Die Formen und die Geschwindigkeit, mit denen die Diskriminierung und Ausgrenzung der Juden betrieben wurde, sind schon für sich genommen wiederum Beweise gegen die Vermutung einer geglückten Integration.
Auf der ersten Stufe – Diffamierung und Deklassierung – erfolgte zwischen Anfang 1933 und Herbst 1935 die Verdrängung der Juden aus öffentlich relevanten Positionen: Ärzte, Juristen, Beamte, Militärs, Hochschullehrer wurden mit gesetzlichen Maßnahmen und mit Hilfe des «Arierparagraphen» ihres Einflusses und ihrer Wirkungsmöglichkeiten beraubt.
Die zweite Stufe war im September 1935 erreicht mit der formalen Entrechtung und rassischen Segregation durch die Nürnberger Gesetze. Juden waren offiziell und juristisch eindeutig nur noch Staatsangehörige zweiter Klasse mit beschränkten Rechten (so verfügte es das «Reichsbürgergesetz»), und sie galten (nach der Bestimmung des «Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre») als minderwertige Rasse, der die Eheschließung und sexueller Verkehr mit «Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes» verboten war. Das war nicht nur die definitive Verweigerung des ius conubii im engeren Sinne des Begriffs, das diente auch der Demütigung und Kriminalisierung der Juden durch den neuen Straftatbestand der «Rassenschande». Das Reichsbürgergesetz mit seinem ebenso lapidar formulierten wie kargen Inhalt war mit Hilfe von 13 Verordnungen bis Herbst 1944 und mit weiteren unzähligen Durchführungsbestimmungen auch das Instrument, den Juden erst die Staatsbürgerrechte, dann die Menschenrechte, schließlich die Menschenwürde und zuletzt das Leben zu nehmen.
Auf der dritten Stufe erfolgte ab Ende 1938 die Zerstörung der ökonomischen Existenz – durch die «Arisierung» der Unternehmen, durch die Besteuerung der Flucht aus Deutschland, durch die Milliardenkontribution nach dem Novemberpogrom, durch die Ausplünderung des verbliebenen wirtschaftlichen Besitzes und die Ausbeutung der jüdischen Arbeitskraft. Nach Kriegsausbruch begann die vierte Stufe – Isolierung und Vertreibung –, als die Juden ihre Wohnungen verloren, auf Hungerration gesetzt wurden und bösartigen Schikanen aller Art ausgesetzt waren, die in Amtsstuben bürokratisch ersonnen und in Wirksamkeit gesetzt wurden wie das Verbot, Haustiere zu halten, auf Parkbänken zu sitzen, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Die letzte Stufe, die der Zerstörung der physischen Existenz, war erreicht mit der Kennzeichnung durch den Judenstern im September 1941, mit den Deportationen, mit dem Mord an den Erschießungsgruben und in Vernichtungslagern in Osteuropa.[24]
Dem schweigenden Entsetzen nach dem Untergang des Mordregimes folgten – teils parallel, teils zeitlich nacheinander – verschiedene Reaktionen auf die Katastrophe. Aus unbewusstem Schuld- und Leidensdruck entstand nach Auschwitz, und zwar wegen Auschwitz, ein neuer Antisemitismus, der sich in verschiedenen Spielarten – als Antizionismus, als Ressentiment gegen Israel, aber auch in den traditionellen Formen – artikuliert.[25] Öffentlich ausagiert werden können antisemitische Aversionen auf deutschem Boden nicht, das verstößt gegen jeden politischen und sozialen Comment, und das ist immerhin ein Fortschritt.
Die entgegengesetzte Reaktion gegen die versteckte Judenfeindschaft besteht im unreflektierten Philosemitismus, dessen Exponenten oft genug ebensowenig Kenntnis haben von jüdischer Kultur und Identität wie von den historischen Fakten. Beide Verhaltensweisen blieben auf jeweils eine Minderheit beschränkt. Die Mehrheit erfasste erstmals Ende der siebziger Jahre ein Erschrecken über den Judenmord als Wirkung der Fernsehserie «Holocaust». Das Fernseherlebnis brachte die Reflexion über das Geschehene in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß in Gang. Der Film «Schindlers Liste» erregte in den 1990er Jahren ähnliche Emotionen, die aber auch aufklärerische Wirkungen zur Folge hatten, nämlich die Erkenntnis über den Mechanismus der Ausgrenzung einer Minderheit bis zur Konsequenz ihrer Vernichtung.
Als bislang späteste Reaktion – entstanden aus der Kombination von philosemitischer Grundhaltung und Trauer über den kulturellen Substanzverlust durch die nationalsozialistische Rassenpolitik – wurde die Legende von der deutsch-jüdischen Symbiose wiederbelebt. Sie ist schon deshalb falsch, weil der Tatbestand allenfalls für die assimilierte Prominenz galt, für Leute wie Samuel Fischer, Walther Rathenau, Albert Einstein oder Bruno Walter, deren Judentum womöglich nur noch dadurch zu definieren war, dass sie trotz allem Ziel antisemitischer Vorwürfe blieben. Nachträglich – nach der Katastrophe des Holocaust – wurden sie dann wieder – als Juden – für die deutsche Kultur reklamiert. Jüdische Viehhändler oder Börsenmakler so zu vereinnahmen, fällt dagegen niemandem ein. Denn die These der Integration bis hin zur «Symbiose» basierte ja darauf, dass bei den Juden nichts Jüdisches mehr in Erscheinung trat, und eben deshalb waren auch prominente Juden in den Augen der Nichtjuden immer nur Deutsche auf Widerruf, also Fremde mit dem Status von Gästen. Glaubte man «jüdische Eigenschaften» bei ihnen zu entdecken, hieß es gleich, je nach Bildungsgrad «aha!» oder – den Fall endgültig abschließend – «Saujud».
Das für die Minderheit in der Regel gerade nur erträgliche Zusammenleben von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen hielt keiner Belastung stand. Lange vor Hitlers Machtantritt hatten die Juden hinlänglich Grund, physische und psychische Gewalt zu fürchten, auch wenn sie vor 1933 noch nicht alltäglich war. Danach aber fand sich bald nicht einmal mehr das Minimum an Solidarität, Rechtsbewusstsein und Anstand, das im sozialen Leben einer so kultivierten Nation wie der deutschen und angesichts des hohen Assimilierungsgrads der deutschen Juden selbstverständlich hätte sein müssen.
Dass es weniger als zwei Jahre brauchte – die Rede ist vom Zeitraum zwischen dem Judenboykott am 1. April 1933 und den Nürnberger Gesetzen vom September 1935 –, um die mühsam erreichte Emanzipation zurückzunehmen und die Grundlagen des Zusammenlebens zu zerstören, ist ein starkes Argument gegen die Vermutung der tatsächlich vollzogenen Integration. Die Mechanik der Ausgrenzung funktionierte in einem gegenüber der Emanzipations- und Integrationsphase unvergleichlich kurzen Zeitraum mit absolutem Erfolg. Die Emanzipationszeit hatte, alle Rückschläge eingerechnet, in Deutschland etwa 120 Jahre gedauert. Die vollständige Ausgrenzung, bis zur Konsequenz der physischen Vernichtung, brauchte keine zehn Jahre.
Es gibt kein kollektives Schicksal. Die Erfahrung der Diskriminierung und Verfolgung als Jude war individuell und hatte viele Facetten, zwischen den Extremen des Tods im Genozid und des Überlebens. Der Versuch der Selbstbehauptung (wie ihn der Kaufmann Erich Leyens unternahm), oder gar Widerstand zu leisten (wie der radikale liberale Demokrat Hans Robinsohn), war nur zu Beginn des NS-Regimes möglich und hatte von allem Anfang an keine Aussicht auf Erfolg. Die rechtzeitige Planung der Emigration (Ernst Loewy als jugendlicher Zionist oder die Familie Stern in der Hoffnung, als Musiker in China zu überleben, oder Alfred Hellers Traum, die Münchner Druckerei nach Palästina zu verlegen) konnte ebenso lebensrettend sein wie das Entkommen im letzten Moment, das der Ärztin Hertha Nathorff gelang oder der Autorin Ruth Körner. Die Existenz nach dem Holocaust ist eine so schwierige Lebensform wie die Flucht in das Exil, die Auswanderung nach Erez Israel, das Überleben im Untergrund, das Geschundenwerden im KZ, die Flucht aus dem Vernichtungslager, die Existenz als jüdische Nachgeborene, deren Lebensentwurf durch die Erfahrung der Elterngeneration geprägt ist.
Wie lebt man in Würde nach der jüdischen Katastrophe? Fern dem Kontinent, auf dem sie geschah, oder wenigstens nicht im Land der Täter, der Denunzianten, Nutznießer, Wegseher und ihrer Nachkommen? Oder bewusst gerade dort, um als Zeitzeuge eine Mission zu erfüllen oder den Neuaufbau jüdischen Lebens zu gestalten? Norbert Wollheim, Heinz Galinski, Ignatz Bubis stehen auf unterschiedliche Weise dafür. Oder dort, weil sich keine andere Möglichkeit ergab, weil das von den Alliierten besetzte Deutschland erste Zuflucht war und Heimat wurde, dadurch den Drang zur Rechtfertigung stimulierte und bestimmte psychologische Folgen für die zweite Generation mit sich brachte? Oder dort, schließlich als «Kontingentflüchtling» wie Julius Wolfenhaut, der mit seiner Familie aus Sibirien nach Regensburg übersiedelte und so die zusammenbrechende Sowjetunion verlassen konnte, weil die Bundesrepublik aus schlechtem Gewissen Chancen für zuwandernde Juden bot?
In diesem Buch wird der Versuch gewagt, deutsche und jüdische Geschichte im Jahrhundert des Holocaust in 22 Porträts darzustellen. Die handelnden Personen sind unter bestimmten Gesichtspunkten ausgewählt, sie stehen für Aspekte jüdischen Lebens, sind insofern idealtypische und paradigmatische Persönlichkeiten, aber sie sind ebenso als Individuen in ihrer Einmaligkeit respektiert und gewürdigt. Das trifft für den kommunistischen Schneider Willy Vogelsinger zu, der öfter im Elend lebte als im Glück, das gilt für W Michael Blumenthal, den Grandseigneur, dem die Welt zu Füßen liegt, nicht minder als für Hellmut Stern, den charmanten Geiger, oder Salomea Genin, die zeitlebens auf der Suche nach ihrer Identität ist. Die Protagonisten verkörpern außer ihrer Unverwechselbarkeit – die darzustellen, eines der Ziele der Porträts ist – das Exil, jüdische Behauptung in der Verfolgung, Flucht und Rückkehr, die Existenz im KZ oder einem anderen NS-Zwangslager, das Leben im Untergrund oder Weiterleben nach dem Inferno.
Die meisten Helden dieses Buches sind nicht mehr unter uns. Ihre Biographien sind aber nicht aus Archiven rekonstruiert. Mit zwei Ausnahmen – Lilly Neumark, die in vielen Verstecken die NS-Zeit in Deutschland überlebte, und Paul Eppstein, der tragischen Gestalt des «Judenältesten» in Theresienstadt – habe ich mit allen intensive Kontakte gehabt. Nicht nur Ruth Körner und Richard Glazar haben mir lange Jahre der Freundschaft geschenkt. Ein guter Freund war auch der liebenswürdige Franzose Lucien Steinberg, herzlich verbunden fühlte ich mich mit Miroslav Kárný dem großen Historiker des verfolgten Judentums der böhmischen Länder. Sie sind in diesem Buch vertreten wie der Amerikaner österreichischer Herkunft Richard Duschinsky und Julius Wolfenhaut, der als Österreicher in Czernowitz geboren wurde, als Rumäne aufwuchs, die längste Zeit seines Lebens Bürger der Sowjetunion war und als Deutscher sein Leben beschloss.
Der Titel «Deutsche Juden im 20. Jahrhundert» reklamiert nicht eine Nationalität, die durch den Pass dokumentiert, dann durch Aberkennung und Wiedergewinn, durch Vertreibung oder Einbürgerung aufs Höchste relativiert wäre. Das Adjektiv «deutsch» zeigt nur an, dass alle geschilderten jüdischen Schicksale ohne ihren Bezug zu Deutschland sich nicht so gefügt hätten, wie sie sich im Saeculum der Shoah ergaben. Deutsche Politik vom Wilhelminischen Kaiserreich, der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus, unter alliierter Herrschaft, in den beiden Folgestaaten des Deutschen Reiches bis zur Gegenwart der Bundesrepublik bildet den Bezugsrahmen, in dem diese Geschichte in Porträts die wesentlichen Aspekte jüdischen Lebens, jüdischer Erfahrung zeigen will.
Das Buch maßt sich nicht an, einen Beitrag zu jüdischen Identitätsdebatten nach der Shoah leisten zu wollen. Es will aber beitragen zum Verständnis deutscher und jüdischer Geschichte, indem es die Lebensläufe von Juden beschreibt, die Deutsche waren, die Deutsche sind, die nicht über ihre Staatsangehörigkeit zu definieren sind, aber über ihre Zugehörigkeit zum Judentum und ihr Verhältnis zu deutscher Kultur. Norbert Wollheim hat um den Wiederaufbau jüdischen Lebens (und für das Ingangkommen der Entschädigung für erzwungene Arbeit) einzigartige Verdienste, Ignatz Bubis setzte mit seiner Vision der Normalisierung des deutsch-jüdischen Dialogs Maßstäbe für alle seine Nachfolger. Jüdischer Prominenz zu huldigen, gehört aber auch nicht zu den Absichten dieses Buches. Jüdische Schicksale vor dem Vergessen zu bewahren, war mein Anliegen, deshalb vor allem sind die Porträts der Diseuse Edith Grötzinger, des Schneiders Willy Vogelsinger, des Unternehmers Erich Leyens, des Kaufmanns Hans Robinsohn und aller anderen entstanden!
Dieses Buch schließt an frühere Arbeiten des Verfassers zur deutschjüdischen Geschichte an: «Die Juden in Deutschland 1933–1945» (1988), «Das Exil der kleinen Leute» (1991), «Überleben im Dritten Reich» (2003). Wegen meines Anteils an einigen Episoden und Entwicklungen, die in diesem Buch geschildert werden, war es nicht immer möglich, in der Distanz des objektiven Beobachters zu bleiben. Angesichts der Nähe zu vielen der Porträtierten war das auch nicht beabsichtigt. In einigen wenigen Fällen habe ich auf eigene Texte zurückgegriffen, die in früheren Zusammenhängen – etwa bei der Edition der Erinnerungen von Erich Leyens, Willy Vogelsinger, Edith Grötzinger, Alfred Heller, Hertha Nathorff – entstanden sind. Für wirkungsvolle Hilfe danke ich Christine Brückner (Bildredaktion, Register, Koordination), Ingeborg Medaris (Manuskript), den Mitarbeitern des Zentrums für Antisemitismusforschung (Recherchen), den Protagonisten des Buches bzw. deren Angehörigen und Freunden (Informationen, Fotos), Lektorat und Herstellern des Verlages. Gewidmet ist dieses Buch allen, die ich porträtieren durfte.
Die Brüder Max und Leo Robinsohn waren 1892 aus Posen nach Hamburg gekommen und hatten dort am Neuen Wall in bester Innenstadtlage einen Manufakturwarenladen eröffnet. Das Geschäft entwickelte sich, florierte, wurde als Modehaus für Damen und Kinder zur ersten Adresse. Auf drei Grundstücken präsentierte sich das Haus 1932 zum 40-jährigen Jubiläum. 700 Mitarbeiter hatte der Familienbetrieb. Am 2. März 1897 war in Hamburg als Sohn des älteren der beiden Gründer Hans Robinsohn zur Welt gekommen. Kindheit und Jugend prägte das liberale jüdische Elternhaus. Zum Studium der Rechtswissenschaft und Nationalökonomie ging Hans nach Berlin, München, Göttingen und schloss es mit der Promotion in Hamburg ab. 1922 heiratete er eine Dänin, im gleichen Jahr trat er in die Firma ein. 1925 erhielt er Prokura, seit 1933 war er Mitinhaber.
Hans Robinsohn war auch ein politischer Mensch. Im Dezember 1918 war er der links-liberalen Deutschen Demokratischen Partei beigetreten, jener politischen Gruppierung, die entschieden für die Weimarer Republik eintrat, darüber aber im Laufe der Jahre an Wählergunst einbüßte und dahinschmolz. 1922 bis 1930 war Hans Robinsohn Mitglied des Parteivorstands in Hamburg.[1]1930 trennte er sich von der DDP: Als die Partei ihr Heil im Bündnis mit Arthur Mahrauns Jungdeutschem Orden suchte und mit dem rechtslastigen Bund zur Deutschen Staatspartei fusionierte, verließ er sie. Bis dahin hatte er erfolgreich dazu beigetragen, dass der Hamburger Landesverband immer links orientiert war.
Der junge Unternehmer und Vater zweier Kinder, die 1925 und 1927 geboren wurden, war auch überparteilich engagiert: Am 3. Oktober 1924 hatten sieben junge Männer, politisch ambitioniert und als Linke in der DDP oder der SPD verankert, den Klub vom 3. Oktober gegründet. Er hatte mit Absicht keinen Namen, aber ein Programm, nämlich die Stärkung von Demokratie und Rechtsstaat im entschiedenen Bekenntnis zur Weimarer Republik. Zu den Gründern des Klubs gehörten Gustav Dahrendorf und Theodor Haubach, damals junge SPD-Politiker in Hamburg, später prominent im Widerstand gegen den NS-Staat. Ferner zählten dazu der Historiker Alfred Vagts, der Journalist Egon Bandmann, der Studienrat Heinrich Landahl, jüngstes Mitglied der Hamburger Bürgerschaft für die DDP, der Jurist Ernst Strassmann, der 1925 Landgerichtsrat in Berlin wurde. Mit ihm war Hans Robinsohn befreundet.
Hans Robinsohn, 1979 im Hammerpark in Hamburg
Der Klub, der sich als Arbeitsgruppe republikanischer, aktiv demokratischer junger Politiker definierte, die in ihren Parteien tätig waren und als Freundeskreis in sie hineinwirken wollten, hatte elitäre Züge und entbehrte nicht einer konspirativen Note. Grundsätzlich wurden die Vorträge und Diskussionen in teuren Lokalen veranstaltet. Die Gruppe wollte klein bleiben und hatte mit Absicht den farblosen Namen gewählt, «um von vornherein alles Theoretisch-Programmatische, das erfahrungsgemäß untaugliche Leute anzieht und zu unfruchtbarer Diskutiererei führt, vom Klub fernzuhalten».[2] Der «Linken» in Deutschland sollten neue Kräfte, neue «Führer» zuwachsen; sie sollten im Klub vom 3. Oktober ihre «Kräfte üben und sammeln können», um den Demokraten, den Sozialdemokraten und dem Zentrum nach dem Motto «men not measures» neue Impulse zu geben.[3]
Einfluss und Wirkung des Klubs blieben überwiegend auf Hamburg beschränkt. Den spektakulärsten Erfolg erlebten die Mitglieder 1926, als sie ein im Reichsministerium des Innern geplantes Ausführungsgesetz zum Artikel 48 der Reichsverfassung verhinderten. Auf diskreten Wegen war der Gesetzentwurf in den Klub gelangt, einige Mitglieder unterzogen ihn in einem Memorandum fundamentaler Kritik. Entwurf und Memorandum wurden auf einer Pressekonferenz in Berlin präsentiert. Alle Nachrichtenbüros und die großen Zeitungen waren vertreten und berichteten. Die öffentliche Entrüstung war beträchtlich, das Reichsministerium des Innern musste dementieren. Das Gesetz, das den militärischen Behörden größere Machtbefugnisse gebracht hätte, kam nicht zustande.[4]
Der Klub, der in seinen besten Zeiten knapp 100 Mitglieder hatte – unter ihnen einflussreiche Leute wie Hans Podeyn und Herbert Ruscheweyh von der Hamburger SPD oder der Korrespondent der «Frankfurter Zeitung» Hans-Georg Pauls –, hielt auf die Dauer den Friktionen des parteipolitischen Engagements der Mitglieder nicht stand. Ab 1928 entzweite der Streit um den Panzerkreuzer A auch die Klubmitglieder. Die SPD hatte im Reichstagswahlkampf heftig gegen das Schiff protestiert, musste seinem Bau nach gewonnener Wahl im Kabinett dann aber doch zustimmen. Parteidisziplin und Klubidee gerieten hier in einen unlösbaren Konflikt.
Ernst Strassmann und Hans Robinsohn waren nach dem 30. Januar 1933 als kompromisslose Demokraten zur Anpassung an die Verhältnisse nicht bereit. Schon im Frühjahr 1934 verständigten sich der Berliner Landgerichtsrat und der Hamburger Geschäftsmann darüber. Sie waren seit 1919 befreundet, beide besaßen ein ausgesprochen politisches Temperament. Mit ungewöhnlicher Zivilcourage, auch mit Kampfeslust ausgestattet, waren sie entschlossen, den 1919 begonnenen Widerstand, der sich zunächst gegen die Restaurationstendenz der ersten Republik gerichtet hatte, auch gegen den Nationalsozialismus fortzusetzen. Bei aller Neigung (und Notwendigkeit) zur konspirativen Tätigkeit lehnten sie gewaltsame, schnelle, vordergründige Aktionen ab. Sie verstanden sich unbedingt als Bürger, sie waren nicht bereit, mit den Nationalsozialisten bei der Vernichtung von Wertvorstellungen in Konkurrenz zu treten, auch nicht im Kampf gegen deren Tyrannei.[5]
Die Aktivitäten des Strassmann-Kreises – wie die Gruppe um Robinsohn und Strassmann nachträglich am einfachsten zu benennen ist, selbst hatte sie sich nie einen Namen gegeben – bestanden zunächst in der Sammlung, Sichtung und Weitergabe von Material gegen das NS-Regime.[6] Außerdem bemühten sich Strassmann und Robinsohn um den Aufbau einer Gruppe von Vertrauensleuten. Die Kontakte aus der Zeit des Oktoberklubs bildeten den Grundstock. Aus ehemaligen Mitgliedern und Gästen und ihnen politisch Nahestehenden wurde so allmählich ein Netz geknüpft, das schließlich etwa 60 vertrauenswürdige Personen im ganzen Reichsgebiet umfasste. Es waren überwiegend Linksliberale. Schwerpunkte waren zunächst Berlin und Norddeutschland.
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