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Florian J. Schweigert

Insekten essen

Gebrauchsanweisung für ein
Nahrungsmittel der Zukunft

C.H.Beck


Zum Buch

Die Landmasse ist limitiert, die Ozeane sind überfischt. Der Klimawandel hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Nahrungsmittelproduktion. Wir müssen uns ernsthafte Gedanken darüber machen, was wir essen und wie wir es produzieren. Während die Menschen in weniger entwickelten Ländern vielfältige Nahrungsquellen nutzen, unter anderem auch verschiedenste Arten von Insekten, beschränken sie sich in den Industrienationen auf die «westliche Diät»: eine energiereiche, jedoch nährstoffarme Kost, die eher den Gesetzmäßigkeiten des Marktes und der Wirtschaft folgt als biologischen oder ökologischen Prinzipien. Seit 2018 ist der Verkauf von Insekten auch in der EU geregelt. Mittlerweile halten mit ihnen hergestellte Nahrungsmittel auch Einzug in unsere Supermärkte. Ihr Verzehr leistet einen wichtigen Beitrag dazu, den Einfluss von Nahrung auf unsere Umwelt zu verbessern. Das Einzige, was uns im Weg steht, ist die Art und Weise, wie wir Insekten wahrnehmen.

Über den Autor

Florian J. Schweigert ist Ernährungswissenschaftler und Veterinärmediziner. Er ist Professor für Physiologie und Pathophysiologie der Ernährung an der Universität Potsdam.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Insekten und ihr Wert für Natur und Mensch

Die Welt ernähren – eine der größten Herausforderungen der Zukunft

Essen Sie Honig?

Unsere Vorurteile und was dahintersteckt

Von A wie Ameise bis Z wie Zikaden – Lauter Leckereien

Die Novel-Food-Verordnung macht den Weg frei

Die drei großen Pluspunkte der Entomophagie

1. Nährstoffzusammensetzung und ernährungsphysiologischer Wert

2. Ökologische Aspekte der Insektenzucht

3. Ökonomische Aspekte der Insektenzucht

Insektenzucht – der Markt von morgen?

Vorbild en miniature: Grillenfarmen in Thailand

Insektenzucht en gros

Insektenzucht für den Futtermittelbedarf

Insektenindustrie auf dem Vormarsch

Risiken des Verzehrs von Insekten

Biologische Risiken

Chemische Risiken

Allergene Risiken

Risiken durch Verunreinigungen

Die eigene Mehlwurmzucht

Rezepte

Zubereitung

Zubereitung

Zubereitung

Zubereitung

Zubereitung

Schlusswort

FAQs – Häufig gestellte Fragen

Literaturempfehlungen und interessante Internet-Links

Anmerkungen

Bildnachweis

Meiner lieben Frau und
unseren vier wundervollen Kindern

Vorwort

Meine Mutter war der festen Überzeugung, dass Dreck das Immunsystem stimuliert, und so stopfte ich mir als kleines Kind in unserem Garten unter ihren wohlwollenden Blicken auch einmal Gras oder einen Klumpen Erdreich in den Mund. Dabei mag ich wohl auch das eine oder andere Insekt – in welchem Stadium der Morphose auch immer – zu mir genommen haben. Meine erste bewusste Begegnung mit Insekten als Nahrungsmittel ereignete sich im Zusammenhang mit einer Mutprobe. An einem an unserem Haus vorbeiführenden Wasserkanal hatte unsere Kinderclique – zwölf- bis vierzehnjährige Jungens und Mädchen – ein Lager errichtet. Hier hielten wir Rat über Mutproben ab. An eine dieser Mutproben erinnere ich mich noch gut. Einer der Jungen, René, brachte eines Tages Mehlwürmer mit. Gott weiß, woher die kamen, aber als fantasievolle Gruppe überlegten wir, wie wir sie zubereiten könnten und wer sie essen sollte. Schnell kam einer auf die Idee, dass sie sich gut für eine Mutprobe für einen der Jüngsten eigneten, und ich wurde als Opfer auserkoren. Von einer der umliegenden Baustellen, auf denen wir uns verbotenerweise gern herumtrieben, wurde eine alte leere Sardinendose organisiert, um die Mehlwürmer darin über einem kleinen Lagerfeuer zu kochen. Zwar wurde die Dose vorher im Wasser des Kanals ausgewaschen, dennoch verlieh sie dem Mahl eine leichte Fischnote. Alles in allem kein Genuss, wie ich Ihnen verraten kann; von dem wohl ein Dutzend Würmern schaffte ich vielleicht die Hälfte, und mein Bedarf, Insekten zu essen, in welcher Form auch immer, war erst einmal auf Jahre hinaus gedeckt. Mit dieser Erfahrung bin ich vermutlich nicht allein, nicht nur in meiner Generation, denn auch heute sind solche Mutproben noch üblich. Und vielen wird es nicht nach einer Wiederholung verlangen. Dabei sind zahlreiche Insekten, richtig zubereitet, eine regelrechte Delikatesse.

Insekten zu essen ist nicht so abwegig, wie viele bei uns denken mögen. Sie sind in etlichen Regionen der Welt sogar ein wesentlicher und regelmäßiger Bestandteil der Ernährung – nicht aus der Not heraus, sondern weil sie schmecken: Viele Menschen auf dieser Welt essen sie gern und aus freien Stücken. Außerdem haben sie einen hohen Proteingehalt und liefern gehaltvolle Nahrung. Und das bei niedrigen Umweltkosten.

All dies ist bei uns weitestgehend unbekannt, und mit diesem Buch will ich einen Beitrag dazu leisten, über die Chancen und Vorzüge des alltäglichen Insektenverzehrs aufzuklären.

Florian Schweigert

Frühjahr 2020

Einleitung

Die Landmasse ist limitiert, und die Ozeane sind überfischt. Der Klimawandel und der damit im Zusammenhang stehende Wassermangel haben schwerwiegende Auswirkungen auf die Nahrungsmittelproduktion. Schon heute können bereits eine Milliarde Menschen nicht ausreichend ernährt werden und müssen hungern – ungeachtet der Deklaration der Menschenrechte der Vereinten Nationen, die bereits im Jahr 1948 in Artikel 25 Nahrung als primäres Recht aller Menschen verankerte.

Wir – damit meine ich die Menschheit insgesamt – müssen uns ernsthafte Gedanken darüber machen, was wir essen und wie wir es produzieren. Es reicht nicht mehr, die Effizienz zu steigern oder Nahrungsmittelabfälle zu vermindern. Wir müssen neue Wege finden. Grundsätzlich stehen der Gattung Mensch höchst vielfältige Quellen aus dem Tier- und Pflanzenreich zur Verfügung, um den Energie- und Nährstoffbedarf zu decken. Während die Menschen in weniger entwickelten Ländern viele dieser Nahrungsquellen nutzen, unter anderem auch verschiedenste Arten von Insekten, beschränken sie sich in den Industrienationen auf die «westliche Diät»: eine energiereiche, jedoch nährstoffarme Kost, die eher den Gesetzmäßigkeiten des Marktes und der Wirtschaft folgt als biologischen oder ökologischen Prinzipien und die zu einem Verlust an Vielfalt führte. Dieser Trend erreicht infolge der Globalisierung auch die Schwellen- und Entwicklungsländer, wo die Veränderung der Ernährungsmuster nun bereits ebenfalls erste negative Auswirkungen auf die allgemeine Gesundheit zeitigt.

Entomophagie, der Verzehr von Insekten, ist nicht die Lösung aller Probleme, sie ist «nur» eine Teillösung – allerdings eine gewichtige. Sie kann einen bedeutenden Beitrag dazu leisten, die zahlreichen Herausforderungen zu meistern, die im Zusammenhang mit dem Einfluss von Nahrung auf unsere Umwelt stehen. Das Einzige, was uns im Weg steht, ist die Art und Weise, wie wir Insekten wahrnehmen.

Der Begriff «Entomophagie» leitet sich von den griechischen Worten entomos (Insekt) und phagein (essen) ab. Häufig wird stattdessen auch der Begriff «Insektivorie» verwendet. Es besteht aber ein wichtiger Unterschied in der Bedeutung: Insektivorie bezeichnet in der Biologie eine Ernährungsweise, die ausschließlich oder ganz wesentlich auf Insekten fußt, wie es bei Igeln oder Maulwürfen der Fall ist, und ist damit vergleichbar mit der Bezeichnung Carnivorie und Herbivorie für eine vor allem auf Fleisch beziehungsweise auf Pflanzen basierende Ernährung.

Entomophagie ist seit Jahrtausenden bekannt. In Asien, Afrika, Australien und Lateinamerika essen über zwei Milliarden Menschen Käfer, Raupen, Bienen, Wespen oder Ameisen. Nicht nur sind Insekten – insbesondere in Entwicklungsländern – eine wichtige Ergänzung zu den kohlenhydratreichen, aber proteinarmen Grundnahrungsmitteln wie Reis, Getreide, Kartoffeln oder Maniok, manche von ihnen gelten als wahre Delikatesse.

Jahre nach meinem fischigen Mehlwurmmahl aus Kindertagen führte mich eine Summer School der Universität Potsdam zu dem Thema, wie wir in 50 Jahren die Welt mit Proteinen und Nährstoffen versorgen werden können, nach Vietnam. Bei einer Veranstaltung an der Universität von Thai Nguyen nördlich von Hanoi waren auch Insekten als Nahrung der Zukunft ein wichtiger Diskussionspunkt. Unser Gastgeber dort lud mein Team und mich für den nächsten Tag zu einem Ausflug an einen malerischen See in der Nähe von Thai Nguyen ein. Zu unserer Überraschung brachte er am nächsten Morgen seine beiden Kinder, sechs und zwölf Jahre alt, mit. Der Grund dafür sei, so erklärte er uns, das Restaurant, in dem wir mittags einkehren würden, was er ihnen bislang aber nicht verraten habe. Als er den beiden daraufhin sagte, wohin wir zum Essen gehen würden, brach bei den Kindern unbändige Freude aus. Ich verstand zwar nichts von dem, was da in der mir fremden Sprache gesprochen wurde, war mir aber sicher, dass nicht der Name McDonald’s gefallen war. Ich fragte nach und erfuhr, dass wir in einem sehr traditionellen Restaurant einkehren würden, in dem es neben klassischen regionalen Speisen eine hervorragende Auswahl an Käfern und Raupen verschiedenster Art gab. Das weckte mein Interesse als Ernährungswissenschaftler, und ich war neugierig und sehr gespannt, was mich wohl erwartete.

Das Restaurant zog sich über einige hundert Meter am Seeufer entlang. Einfache Tische und Bänke, offene Küchen an mehreren Stellen, das war’s. Kein Schnickschnack, kein Chichi. Wir setzten uns und überließen unserem Gastgeber voller Vertrauen die Auswahl der Speisen. Mein Team und ich verstanden natürlich nicht, was geordert wurde, doch da die Kinder schier außer Rand und Band gerieten, mussten es wohl lauter Leckereien sein. Wenige Augenblicke nach der Bestellung kam die Kellnerin mit mehreren schuhkartongroßen hübschen Schachteln an unseren Tisch und reihte sie vor uns auf. Im Deckel der Boxen befand sich eine mit Klarsichtfolie abgedeckte Aussparung, und neugierig warfen wir einen Blick ins Innere. In den Behältnissen hüpften, krabbelten und krochen verschiedenste Raupen und Käfer, die nun von unserem Gastgeber und seinen Kindern «geprüft» wurden, bevor sie in der Küche zubereitet werden würden. Frischer geht es wohl nicht. Keine 20 Minuten später kam eine Unzahl von Schüsseln und Schalen auf den Tisch, und mein Team und ich beäugten neugierig – und zugegebenermaßen etwas skeptisch –, was uns da kredenzt wurde: kross gebratene schwarze Käfer in einer kräftig roten Soße, ein prächtiger Kontrast für das Auge; Seidenwürmer in Ei, farblich nicht sonderlich spannend Ton in Ton; Raupen in einer gelben Soße und zig weitere Varianten. Die Kinder waren nicht mehr zu halten, was man von mir nicht behaupten konnte. Ich muss zugeben, dass es mich trotz meines – damals allerdings vorwiegend wissenschaftlichen – Interesses an Insekten als Nahrungsmittel durchaus Überwindung kostete, die Speisen zu probieren, und ein Seitenblick auf meine Teammitglieder verriet mir, dass es ihnen genauso ging. Doch schon nach den ersten Bissen schwanden meine Vorbehalte. So ungewohnt die Gerichte vor allem in Hinblick auf die Textur waren, so spannend war die Vielfalt an Geschmackserlebnissen: nussige Käfer, fruchtige Maden und dergleichen. Weniger gut mundeten mir die gekochten Sagowürmer, denn wenn man sie zerbiss, entleerte sich eine etwas zähe klebrige Flüssigkeit in den Mund. Nicht unbedingt meine Sache, aber ich mag ja auch nicht jedes deutsche Essen. Alles in allem schmeckte es jedenfalls vorzüglich. Obwohl wir alle kräftig zulangten, blieb am Ende viel übrig, da die Portionen sehr reichhaltig waren. Die Kinder freute es, denn die Reste nahmen sie in einem Doggybag mit nach Hause, sodass auch die Mutter und die Großmutter in den Genuss der Leckereien kamen.

Meine anfängliche Skepsis sowie die Begeisterung der Kinder machten mir klar, dass Essgewohnheiten eigentlich nur eine Frage der frühkindlichen Prägung sind. Und da es mir in dem Restaurant ausgezeichnet geschmeckt hat und ich mich damals schon mit der sogenannten Eiweißlücke in der Welternährung beschäftigte, war es naheliegend, mich eingehend mit Entomophagie auseinanderzusetzen. Heute betrachte ich Insekten nicht mehr als exotisches Nahrungsmittel. Vielmehr sind sie im Lauf meiner Forschungsarbeiten und durch meine Erfahrungen mit der Ernährungssituation in Entwicklungsländern zu einem Teil meiner Nahrungspräferenz geworden. Ich esse sie natürlich nicht täglich, aber ich freue mich jedes Mal über eine Gelegenheit dazu.

Bevölkerungswachstum, Verstädterung und Wohlstand werden in den kommenden Jahrzehnten zu einem steigenden Bedarf an Nahrung im Allgemeinen und an tierischem Eiweiß im Besonderen führen. Mit der herkömmlichen Tierhaltung (Rind, Schwein, Geflügel) wird weder eine globale Ernährungssicherung erreicht werden können, zumal sie bereits jetzt anfängt, an ihre Grenzen stoßen, noch wird sie die Nachfrage nach tierischen Proteinen decken können, die aktuellen Schätzungen zufolge in den nächsten vier Jahrzehnten um 75 Prozent zunehmen wird. Auch der aktuelle Trend hin zur veganen Ernährung in Ländern wie Deutschland wird hier, wenn man die Bevölkerungsrelation zwischen Industrieländern sowie Schwellen- und Entwicklungsländern in Betracht zieht, keinen spürbaren Einfluss haben.

Dies stellt nicht nur Schwellen- und Entwicklungsländer, sondern auch Industriestaaten vor große Herausforderungen aus ernährungswissenschaftlicher, ökonomischer und ökologischer Sicht. Sich diesen Herausforderungen zu stellen ist denn auch eine zentrale Forderung der Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen – der Food and Agriculture Organization, kurz FAO. Anders formuliert heißt das: Die Suche nach alternativen Eiweißquellen ist zwingend notwendig. Insekten können hier einen wesentlichen Beitrag liefern, denn sie weisen nicht nur einen hohen Gehalt an hochwertigen Proteinen auf, sondern sind darüber hinaus reich an Vitaminen, Mineralstoffen und Fetten.

In den Ländern, in denen Insekten ein regulärer Bestandteil des Speiseplans sind, werden sie vorwiegend opportunistisch – also für den eigenen Bedarf – gesammelt. Ihre schnelle Reproduktionsrate und ihre relativ einfachen Lebensbedingungen haben jedoch das Potenzial, sie in kontrollierter und nachhaltiger ökonomischer Produktion zu züchten. Die im Vergleich zur konventionellen Tierhaltung von beispielsweise Schwein und Rind deutlich geringeren Emissionen von Kohlenstoffdioxid, Stickoxiden und Methan, die deutlich günstigere Futterverwertungseffizienz und der wesentlich geringere Bedarf an Produktionsflächen würden sich langfristig positiv auf die Umwelt auswirken.

Es geht mir nicht darum, dass wir jetzt alle beim nächsten Gartenfest statt Würstchen oder Steaks Grillen auf den Rost schieben, wobei es natürlich jedem unbenommen ist, das einmal auszuprobieren. Insekten als Proteinquelle und als Nahrung (und im Übrigen auch als wertvolles und umweltschonendes Futtermittel) zu nutzen muss nämlich nicht heißen, dass die Tiere als Ganzes verzehrt werden (müssen), obwohl es dabei – wie ich in dem Spezialitätenrestaurant in Vietnam und danach noch bei vielen weiteren Gelegenheiten am eigenen Gaumen feststellen konnte – wahre Leckerbissen zu entdecken gäbe. Es gibt nämlich noch andere Wege, das Protein von Insekten auf den Teller zu bringen.

Bevor es jedoch «ans Eingemachte» geht, möchte ich erst ein paar Worte über den grundsätzlichen Wert von Insekten für die Natur und für den Menschen verlieren und anhand einiger erstaunlicher Eigenschaften klarstellen, dass diese Tiere in ihrer überwältigenden Mehrheit keine Schädlinge, kein Ungeziefer sind, sondern Nützlinge.

Insekten und ihr Wert für Natur und Mensch

Über die letzten 400 Millionen Jahre hat sich eine Vielzahl von Insekten entwickelt, die sich optimal an die jeweiligen Umweltbedingungen angepasst haben. Das Wort «Insekt» leitet sich aus dem lateinischen insectum ab, was «eingeschnitten» bedeutet und sich von der in der Regel deutlich sichtbaren starken Abgrenzung zwischen Kopf, Brust und Hinterleib herleitet. Diese «Einkerbungen» inspirierten im Übrigen den Literaten Philipp von Zesen (1619–​1689), der gegen das Einfließen von Fremdwörtern in die deutsche Sprache ankämpfte, zu seiner Wortschöpfung «Kerbtier», die lange Zeit gebräuchlich war, heute jedoch als veraltet gilt. Der Begriff «Entomologie» (Insektenkunde) geht hingegen auf das altgriechische éntomon = «Insekt» zurück (entémnein = «einschneiden»).

Entsprechend der Klassifikation des Naturforschers Carl von Linné (1707–​1778) zählt die Klasse der Insekten zum Stamm der Gliederfüßer (Arthropoden). Etwa eine Million Arten wurden bislang beschrieben, doch nach Schätzungen gibt es etwa fünfmal so viele, denn vor allem in den tropischen Regenwäldern vermutet man noch unzählige unentdeckte Arten. Allein die bislang bekannten Insekten machen 60 Prozent aller beschriebenen Tierarten aus, womit sie die artenreichste Klasse sind: Von den 30 Ordnungen sind am zahlreichsten und am weitesten verbreitet die Käfer (Scheidenflügler/Coleoptera), die Schmetterlinge, zu denen auch die Motten zählen (Schuppenflügler/Lepidoptera), die Fliegen (Zweiflügler/Diptera), die Bienen, die Ameisen und Wespen (Hautflügler/Hymenoptera), die Heuschrecken einschließlich der Grillen (Geradflügler/Orthoptera) und die Pflanzenläuse, Zikaden und Wanzen (Schnabelkerfen/Hemiptera).

Wie viele Vertreter dieser Tierklasse es gibt, entzieht sich unserer Kenntnis, aber geschätzt kommen auf jeden der derzeit rund 7,7 Milliarden Menschen über eine Milliarde Insekten. Das heißt: 7,7 Milliarden Menschen × 1 Milliarde Insekten = … eine Zahl, vor der mein Taschenrechner kapituliert. Von den derzeit bekannten Insektenarten sind im Übrigen nur etwa 5000 für Ernten, Umwelt oder den Menschen schädlich. Man muss sich dieses Verhältnis einmal vor Augen führen: 5000 zu 1.000.000!

Insekten sind von zentraler Bedeutung für unsere Natur, zum Beispiel für die Fortpflanzung von Pflanzen. 90 Prozent aller Blütenpflanzen und – für uns Menschen weit wichtiger – 75 Prozent aller Getreidearten sind auf Bestäuber angewiesen. Und 98 Prozent der Bestäuber sind Insekten! Auch wenn wir zurzeit unser Augenmerk vor allem auf die Honigbiene und auf die Bedeutung ihres Sterbens für die Bestäubung richten, müssen wir uns klar darüber sein, dass Hunderte andere Insektenarten wie Hummeln und Fliegen ebenfalls einen ganz wesentlichen Beitrag zur Bestäubung leisten.

Insekten spielen auch eine große Rolle beim Abbau von «biologischem Abfall». Larven, Fliegen, Ameisen und andere zerlegen organische Stoffe wie umgestürzte Bäume, Tierkadaver oder Dung bis zu einer Größe, dass sich Pilze und Bakterien davon ernähren können. Der Abbau von Kadavern innerhalb weniger Tage bis Wochen führt nicht nur zu einer Verbesserung des Nährstoffkreislaufs, sondern verringert auch das Risiko, dass schädliche Mikroorganismen (Pathogene) auftreten und sich so Krankheiten verbreiten. In der Forensik sind die Arten und die Anzahl von Insekten, die man an einer Leiche vorfindet, ein wichtiges Indiz für den Todeszeitpunkt beziehungsweise dafür, wie lange eine Leiche bereits an ihrem Fundort liegt.

Exkurs: Insekten als Helfer der Kriminalisten

Krimiliebhaber werden nicht nur in einen spannenden Handlungsverlauf gesogen, sondern erleben auch die Faszination der facettenreichen technischen Möglichkeiten, den Tathergang zu rekonstruieren und den Täter zu überführen. Hochempfindliche Labormethoden der Biochemie und der Molekularbiologie oder physikalische Messmethoden haben einen großen Anteil daran. Häufig bringt aber erst die forensische Entomologie, also die Insektenkunde im Dienst der Aufklärung kriminalistischer und rechtsmedizinischer Fragen, die entscheidenden Hinweise.

Die klassischen Merkmale, anhand derer der Todeszeitpunkt eines Opfers ermittelt wird, wie Abfall der Körpertemperatur, Leichenstarre und Leichenflecken, sind nach zwei bis drei Tagen nicht mehr auswertbar. Da kommen sogenannte nekrophage (wörtlich «leichenfressende») Insekten ins Spiel, denn aus dem Umstand, welche Insekten sich in welcher Anzahl an einer Leiche gütlich tun, können wertvolle Rückschlüsse gezogen werden. Schmeißfliegen sind dabei sozusagen die Spürhunde: Sie registrieren den Tod bereits zu einem Zeitpunkt, an dem wir Menschen ihn noch nicht wahrnehmen können, und legen dann ihre Eier auf der Leiche beziehungsweise vorzugsweise in Körperöffnungen ab, zum Beispiel in der Nase oder in einer Wunde. Da der Entwicklungszyklus der Schmeißfliege bekannt ist, kann aus dem Entwicklungsstadium auf den Zeitpunkt des Eintritts des Todes geschlossen werden: Aus den Eiern entwickeln sich rasch, oft innerhalb eines Tages, Larven, die den Leichnam als Nahrungsquelle nutzen. Die Larven häuten sich zweimal, durchlaufen also drei Wachstumsstadien, bevor sie die Leiche schließlich verlassen, um sich zu verpuppen. Je nach Umgebungstemperatur – in geringerem Maß spielt auch die Umgebungsfeuchtigkeit eine Rolle – dauert der Zyklus von der Eiablage über die Larve bis zur Puppe beispielsweise fast 40 Tage bei einer Umgebungstemperatur von 15 °C und nur acht Tage bei 35 °C.

Eine Vielzahl weiterer nekrophager Insekten besiedeln eine Leiche und sind somit nützliche Helfer. Sie unterscheiden sich häufig darin, dass sie verschiedene Verwesungszustände bevorzugen. Die Käsefliege etwa legt ihre Eier erst ab, wenn die Leiche sich in einem fortgeschrittenen Stadium der Verwesung befindet, und der Speckkäfer mag es, wenn die Leiche bereits auszutrocknen beginnt. So ergibt sich mit zunehmender Zeit eine sehr typische Leichenfauna. Aus der Zusammensetzung dieser Fauna und dem Entwicklungsstadium der einzelnen Arten können Anhaltspunkte auch über größere Zeiträume ermittelt werden. Wichtig für die Untersuchungen ist eine genaue Bestimmung der vorgefundenen Insektenarten. Das mag einfach erscheinen, ist es aber nicht. Es gibt nur wenige Spezialisten, die verschiedene Entwicklungsstadien einer Art zuordnen können. Neben der morphologischen Struktur des Insekts, also Form und Gestalt, helfen heute auch DNA-Analysen. Für viele der an Leichen vorzufindenden Insektenarten gibt es genetische Sequenzdatenbanken, die die Bestimmung sehr erleichtern und die Aussagegenauigkeit verbessern.

Die Besiedlung der Leiche durch bestimmte Insektenarten kann auch Hinweise darauf geben, ob der Fundort der Leiche identisch ist mit dem Tatort. So finden sich auf Wohnungsleichen in der Regel keine Insekten, die in Wäldern vorkommen. Fundortspezifische Insekten am Täter oder an dessen Kleidung können außerdem zur Überführung genutzt werden. Damit nicht genug, kann aus dem Kropfinhalt einer Made das DNA-Profil ihres «Futters» erstellt werden. Auf diesem Weg kann man zum Beispiel ein Auto, in dem «verdächtige» Maden gefunden wurden, als Transportmittel einer Leiche identifizieren.

Mit der Nahrung nehmen die Maden unweigerlich auch die Gifte, Drogen oder Medikamente auf, die der Verstorbene zu Lebzeiten zu sich genommen hat. Manchmal reichern sich diese Stoffe in den Maden einfach nur an, manchmal haben sie aber auch einen direkten Einfluss auf deren Entwicklung. In jedem Fall aber kann eine toxikologische Untersuchung nekrophager Insekten Hinweise liefern, ob ein Toter beispielsweise an einer Überdosis an Drogen starb. Und dies unter Umständen sogar noch viele Jahre später, denn die Puppenhülle etwa, die nach dem Abstreifen aushärtet und in der solche Substanzen eingelagert werden, ist äußerst witterungsbeständig und bleibt oft über Jahre hinweg am Fundort erhalten.