Cover

Hubert Wolf

DER UNFEHLBARE

Pius IX. und die Erfindung des
Katholizismus im 19. Jahrhundert

Biographie

C.H.Beck

Zum Buch

Alles sprach dagegen, dass aus dem kleinen Giovanni Maria Mastai Ferretti (1792–1878) etwas wird. Das Buch schildert den erstaunlichen Weg des kränkelnden jungen Adligen aus der Provinz zum mächtigsten und am längsten amtierenden Papst der Geschichte. Als Pius IX. erhob er die Unbefleckte Empfängnis Mariens und seine eigene Unfehlbarkeit zum Dogma. Vor allem aber gelang es ihm, den ganz neu formierten Katholizismus als Hüter uralter Traditionen und als Bollwerk gegen Demokratie und Moderne in Szene zu setzen. Dieses Bild wirkt bis heute weiter. Der renommierte Kirchenhistoriker Hubert Wolf wagt in seiner meisterhaft erzählten Biographie einen Blick hinter die Kulissen.

Nach der Französischen Revolution lag das prächtige, aber jahrhundertelang krumm und schief gewachsene Gebäude des Katholizismus in Trümmern und musste neu errichtet werden. Doch in welchem Stil? Romantisch-mittelalterlich? Oder zeitgemäß-modern? Während die einen noch stritten, bauten die anderen schon neu: Hubert Wolf beschreibt, wie der Katholizismus im Namen erfundener Traditionen ganz auf Rom ausgerichtet wurde. Mit Pius IX. wurde 1846 der richtige Papst für dieses Programm gewählt: Im Bewusstsein eigener Machtvollkommenheit verkündete er das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis Mariens, schottete die Kirche mit dem «Syllabus errorum» von Demokratie und Moderne ab und ließ sich auf dem Ersten Vatikanischen Konzil für unfehlbar erklären. Traditionalistischen Kritikern beschied er kühl: La tradizione sono io, die Tradition bin ich! Als kurz darauf der Kirchenstaat endgültig verloren ging, konnte das die weltweite Verehrung des «Gefangenen im Vatikan» nur noch steigern. Hubert Wolfs Buch macht eindrucksvoll deutlich, wie seither alles mit dem Papst steht – und mit ihm fällt.

Über den Autor

Hubert Wolf ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Münster. Er wurde mit dem Leibniz-Preis der DFG, dem Communicator-Preis, dem Gutenberg-Preis sowie der Ehrendoktorwürde der Universität Bern ausgezeichnet. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. die Bestseller «Die Nonnen von Sant’Ambrogio» (4. Aufl. 2013), «Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte» (2. Aufl. 2015), «Konklave. Die Geheimnisse der Papstwahl» (2. Aufl. 2017) sowie «Zölibat. 16 Thesen» (2. Aufl. 2019).

Inhalt

PROLOG: La tradizione sono io

ERSTES KAPITEL: Generalangriff auf die Tradition – Die Verwirrungen des jungen Gianmaria (1792–1814)

Paris, Jahr 1 der Republik: Beginn einer neuen Zeitrechnung

Senigallia, 1792 nach Christi Geburt:
Alles bleibt beim Alten

Paris, 1789 bis 1796: Kirche und Revolution

Senigallia, 1797: Zwei Welten begegnen sich

Paris, 1799 bis 1806:
Napoleon und das Mysterium der sozialen Ordnung

Senigallia, 1799 bis 1814: Alles gerät aus dem Lot

ZWEITES KAPITEL: Neue Ordnung in alten Bahnen – Vom untauglichen Grafen zum begnadeten Bischof (1815–1840)

Napoleon, Giovanni Maria Mastai Ferretti und ihr Papst

Säkularisation und Säkularisationen

Entscheidung vertagt: Der Wiener Kongress 1815

Entscheidung vertagt: Mastai in Rom 1815

Entscheidung getroffen: Die Wiederherstellung des Kirchenstaats

Entscheidung getroffen: Mastai in Rom 1816

Mission erfüllt: Kirche und Staat in Deutschland

Mission gescheitert: Als Gesandtschaftssekretär in Chile

Bischöfe in Deutschland werden gewählt …

… und ein Bischof in Rom ernannt

Die Julirevolution und Roms Kampf gegen die Gottlosen

Mastais Revolutionspolitik zwischen Spoleto und Imola

DRITTES KAPITEL: Rom oder nicht Rom – Auf der Suche nach dem rettenden Ufer

Das Leichenbegängnis der als tot ausgerufenen Kirche

Ein Katholizismus oder viele Katholizismen?

Zentripetale und zentrifugale Kräfte

Austreten oder katholisch bleiben – aber wie?

Erste Option: Restauration

Zweite Option: Romantik

Dritte Option: Aufklärung

Vierte Option: Staatskirchentum

Fünfte Option: Ultramontanismus

… und Giovanni Maria Mastai Ferretti?

VIERTES KAPITEL: Bischof, Messe, Priesterseminar – Die Erfindung der Tradition von Trient

Die Katze kommt aus dem Sack

Das «tridentinische» Seminar wird erfunden

Dekrete des Konzils von Trient zum Ersten

Mastai, Fehlanzeige

Der «tridentinische» Bischof wird erfunden

Dekrete des Konzils von Trient zum Zweiten

Mastai, der Sache nach

Die «tridentinische» Messe wird erfunden

Der «tridentinische» Einheitskatholizismus

Mastai, zwischen römischem Sein und Schein

FÜNFTES KAPITEL: Der liberale Papst – Geschichte eines Missverständnisses (1846–1858)

Zelanti und Politicanti:
Die Papstwahlen nach der Französischen Revolution

In nur vier Wahlgängen zur Zweidrittelmehrheit

Der Beginn einer neuen Ära?

Die Stunde der Wahrheit

Flucht vor der Revolution

Ein Kampf um Rom

Der liberale Papst: Ein Mythos wird gemacht

Der reaktionäre Papst: Der Fall Mortara und der Gegenmythos

SECHSTES KAPITEL: Das Übernatürliche, hier wird’s Ereignis – Das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis Mariens (1854)

Erster Akt: Der 8. Dezember 1854

Gianmaria und die Gottesmutter Maria

Unbefleckt empfangen, theologisch umstritten

Ein Jesuit macht den Weg frei

Arbeit am Dogma

Die Unbefleckte wird sich erkenntlich zeigen

Ein Dogma macht Geschichte

Lourdes und anderswo: Schützenhilfe aus dem Himmel

SIEBTES KAPITEL: Fels in der Brandung – Das ordentliche Lehramt des Papstes und die pesthaften Irrtümer der Zeit (1858–1864)

Eine unglaubliche Anklage

Überirdische Vorgänge in einem römischen Kloster

Als Häretiker verurteilt, vom Papst gebraucht

Die Erfindung des ordentlichen Lehramts

Abrechnung mit alten Feinden

Zweiter Akt: Der 8. Dezember 1864

Voll größter Sorge: Klagelied über die moderne Zeit

Achtzig Sätze: Die Irrtümer unserer Zeit

Ein Weltereignis von nicht zu berechnender Bedeutung

ACHTES KAPITEL: Der Herr des Konzils – Unfehlbarkeit, Gefangenschaft, Tod (1869–1878)

Blitz und Donner über Sankt Peter

Auf dem Weg zum Konzil

Die Unfehlbarkeit kommt auf die Tagesordnung

Dritter Akt: Der 8. Dezember 1869

Wie wird entschieden? Die Geschäftsordnungen

Vom Sinn und Unsinn eines Dogmas

Argumente aus der Heiligen Schrift

Argumente aus der Tradition zum Ersten: Der fehlbare Papst

Argumente aus der Tradition zum Zweiten: Das Konzil von Konstanz

Argumente aus der Tradition zum Dritten: Der Konsens der Bischöfe

Auf der Überholspur zur Unfehlbarkeit

Ein neues Dogma

Eine überraschend unumstrittene Dogmatische Konstitution:
Dei filius

Unfehlbar gefangen

Einheit statt Vielfalt im Kirchenrecht

Kein Recht auf einen eigenen Tod

NEUNTES KAPITEL: Che bello Papa! – Die Erfindung der charismatischen Papstherrschaft

Das Seligsprechungsverfahren für Pius IX.

Beatologie oder Pathologie?

Der Anwalt des Teufels und der Anwalt Gottes

Tradition, Amt, Charisma: Drei Herrschaftstypen

Der Papst auf dem Altar: Die Christificatio Pius’ IX.

EPILOG: Man hat in Rom eine neue Kirche gemacht

Anhang

Dank

Zeittafel zum Leben von Pius IX.

Anmerkungen

Prolog
La tradizione sono io

Erstes Kapitel
Generalangriff auf die Tradition

Zweites Kapitel
Neue Ordnung in alten Bahnen

Drittes Kapitel
Rom oder nicht Rom

Viertes Kapitel
Bischof, Messe, Priesterseminar

Fünftes Kapitel
Der liberale Papst

Sechstes Kapitel
Das Übernatürliche, hier wird’s Ereignis

Siebtes Kapitel
Fels in der Brandung

Achtes Kapitel
Der Herr des Konzils

Neuntes Kapitel
Che bello Papa!

Epilog
Man hat in Rom eine neue Kirche gemacht

Literatur

Quellen

Literatur

Personenregister

Bildnachweis

PROLOG

La tradizione sono io

Am Nachmittag des 18. Juni 1870 kam es im Apostolischen Palast des Vatikans zu einer denkwürdigen Szene.[1] Filippo Maria Kardinal Guidi wurde zu einer Privataudienz bei Pius IX. einbestellt, weil er es wenige Stunden zuvor in der Aula der Petersbasilika bei den Diskussionen über das geplante Unfehlbarkeitsdogma auf dem Ersten Vatikanischen Konzil gewagt hatte, darauf hinzuweisen, dass der Papst aus prinzipiellen Gründen nicht allein Glaubenssätze definieren könne. Die heilige Tradition der Kirche verlange vielmehr eine strikte Rückbindung des Pontifex an das Zeugnis der Gesamtkirche. Daher müsse der Papst, bevor er ein Dogma verkündet, unbedingt den Rat der Bischöfe einholen, «damit er von ihnen erfährt, was der Glaubenssinn der Gesamtkirche ist» und ob die infrage stehende Wahrheit wirklich «immer, überall und von allen geglaubt» worden ist.[2]

Pius IX. war über diese Äußerungen des Dominikanerkardinals, den er bislang für einen treuen Anhänger gehalten hatte, völlig außer sich. Er tobte. Guidi, der das cholerische Temperament Pius’ IX. gut kannte, machte sich daher auf ein «nahes Unwetter» gefasst, als er sich um fünf Uhr nachmittags von seiner Wohnung im Dominikanerkloster Santa Maria sopra Minerva, in der römischen Altstadt neben dem Pantheon gelegen, zum Vatikan auf die andere Seite des Tibers aufmachte.

«Niemals hätte ich geglaubt», so herrschte der Papst den Kardinal gleich zu Beginn der Audienz unmittelbar nach dem obligatorischen Fußkuss an, «dass Eure Eminenz eine Rede zum Wohlgefallen der Opposition halten würde. Wer hat Sie gelehrt, der Sie von mir zum Kardinalat befördert und dabei aus dem Nichts herausgezogen worden sind, von der päpstlichen Unfehlbarkeit in der Weise zu sprechen, wie Sie es getan haben? Also, Ihrer Ansicht nach hängt der Papst von den Bischöfen ab, wenn er ein Dogma formulieren will?» Darauf Kardinal Guidi: «Heiliger Vater, ich bin bereit, zu verteidigen, was ich gesagt habe, denn ich habe nichts gesagt, was nicht mit der Lehre des heiligen Thomas und Bellarmins übereinstimmt.»[3]

Der Bezug auf Thomas von Aquin war damals ein Totschlagargument, galten doch die Aussagen des großen Theologen des Mittelalters gerade in den Augen der von Pius IX. geförderten neuscholastischen Theologie als wahre und damit nicht hinterfragbare Lehre der katholischen Kirche selbst. Das hieß: Wer Thomas folgte, der war auch katholisch. Wer Thomas widersprach, der war nicht mehr katholisch.

Ein Wort gab das andere. «Nein, das ist nicht wahr», ereiferte sich Pius IX. «Sie haben gesagt, und ich weiß es, dass der Papst verpflichtet ist, für die unfehlbaren Dekrete die Traditionen der Kirchen zu befragen. Nun, das ist ein Irrtum.» Kardinal Guidi: «Es ist wahr, dass ich es gesagt habe, aber es ist kein Irrtum.» Darauf der Papst «erregt»: «Doch, es ist ein Irrtum, denn ich, ich bin die Tradition, ich, ich bin die Kirche!!» – «Io, io sono la tradizione, io, io sono la Chiesa!!»[4]

«Ich, ich bin die Tradition, ich, ich bin die Kirche!!» Mit diesen Worten begründete Pius IX. seinen absoluten Anspruch auf Unfehlbarkeit.

Kardinal Guidi fühlte sich von Pius IX. nicht nur persönlich beleidigt und zu Unrecht abgekanzelt, sondern auch theologisch zum Ketzer sowie zum Feind der Kirche und des Papstes abgestempelt. Dabei hatte er sich bei seinen Ausführungen in der Konzilsaula ausschließlich auf die Tradition der Kirche und speziell auf rechtgläubige katholische Autoritäten berufen. Mehr Orthodoxie, als den heiligen Thomas von Aquin und den bedeutenden Jesuitentheologen Robert Bellarmin als Kronzeugen anzurufen, war in der Tat kaum möglich. Das war dem Papst indes völlig gleichgültig. Wenn die Tradition der Kirche und ihre großen Lehrer gegen seine Ansicht standen, wurden sie einfach ignoriert. Der Papst setzte sich vielmehr selbst an die Stelle der Tradition, ja sogar der Kirche. Entsprechend harsch kanzelte er Guidi ab: «Sie sind meine Kreatur, ohne mich wären Sie noch der obskure Mönch, der Sie gewesen sind, ich habe Sie mit Gnaden und Wohltaten überhäuft – und jetzt gehen Sie in das Lager meiner Feinde und der Feinde der Kirche über und werden zum Häretiker. Sie haben eine Rede gehalten, die verdient, dass Ihre Mitbrüder vom Heiligen Offizium Sie zum Feuer verurteilen.»[5]

Nachdem der Dominikanerkardinal den Audienzsaal verlassen hatte, ließ Pius IX. umgehend seinen Leibarzt rufen. Er hatte sich derart echauffiert, dass er einen Schlaganfall befürchtete. «Dieser Klosterbruder hat mir die Galle hochkommen lassen», rief er aus. Der Doktor fühlte den Puls des Papstes und verordnete zur Beruhigung ein «Abführmittel».[6]

ERSTES KAPITEL

Generalangriff auf die Tradition

Die Verwirrungen des jungen Gianmaria
(1792–1814)

Paris, Jahr 1 der Republik: Beginn einer neuen Zeitrechnung

In Paris, der Capitale der Grande Nation, der Hauptstadt Frankreichs, war mit dem Sieg der Revolution von 1789 eine Tradition an ihr Ende gelangt.[1] Nach Ansicht der revolutionären Chefstrategen war nicht nur das Ancien Régime untergegangen und damit eine ganz neue Zeit von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit angebrochen, sondern auch das Christentum als die bestimmende Macht vernichtet worden. Ein radikaler Neubeginn, der zugleich als die alles entscheidende Wende in der gesamten Menschheitsgeschichte propagiert wurde, sollte nun auch in einer Revolution des Kalenders Ausdruck finden und so im ganz normalen Leben der Menschen Tag für Tag erfahrbar werden. Dabei hatten die Revolutionäre die doppelte Bedeutung des Begriffs «Revolution» vor Augen: einerseits die gewalttätige «Umwälzung» der bestehenden sozialen und politischen Ordnung und andererseits den «Umlauf» eines Planeten um sein Zentralgestirn im astronomischen Sinn.[2] So bestimmt die einmalige «Revolution» der Erde um die Sonne die Dauer eines Jahres.

Der französische Nationalkonvent in Paris beschloss in seiner Sitzung vom 24. November 1793 nach Anhörung des Erziehungsausschusses deshalb einen wahrlich revolutionären Kalender, der die christliche Zeitrechnung vollständig ablösen sollte.[3] Seitdem sich das Christentum im fünften Jahrhundert im Imperium Romanum und darüber hinaus endgültig als Staatsreligion etabliert hatte, begann man die Jahre nicht mehr nach den Regierungsdaten der Kaiser, Könige und anderer Herrscher zu zählen, sondern nach dem Datum der Geburt Christi.[4] Diese wurde jetzt als die große Zäsur der Weltgeschichte interpretiert und trennte die gesamte Weltzeit in zwei grundsätzlich verschiedene heilsgeschichtliche Epochen: in die Zeit vor und in die Zeit nach Christi Geburt. Die Menschwerdung Gottes in Jesus von Nazareth bildete den Wendepunkt der Geschichte schlechthin, mit der Inkarnation begann für die christliche Theologie und Weltdeutung die endgültige göttliche Heilszeit. Deshalb sprach man bei Datumsangaben nach Christi Geburt auch häufig vom «Jahr des Heils». In der Folge mussten alle vorher gültigen Zeitangaben in die christliche Zeitkonzeption umgerechnet werden, weil Christus als der Herr der Zeit galt – was nicht immer ganz einfach war.

Und auch das Jahr selbst bildete die christliche Heilsgeschichte ab und wiederholte von Advent und Weihnachten über Karfreitag, Ostern und Pfingsten bis hin zu Allerheiligen die wichtigsten Ereignisse. Dadurch erhielt das Jahr eine feste christliche Struktur, die in den agrarischen Ablauf bestens integriert war. Die Woche stammte, ohne über eine astronomische Entsprechung wie Monat und Jahr zu verfügen, aus dem jüdischen Kalender mit den sieben Schöpfungstagen des Buches Genesis und war in sechs Arbeitstage und einen Ruhetag, den Sabbat, eingeteilt. Dieser wurde durch den Sonntag als ersten Tag der Woche, den Tag der Auferstehung Jesu, ersetzt. Dadurch war die christliche Botschaft und Weltdeutung im wahrsten Sinn des Wortes Jahr für Jahr und Tag für Tag präsent und bestimmte das Alltagsleben von Christen, aber auch von Menschen, die mit Kirche und Glauben wenig am Hut hatten oder diese sogar bekämpften.

Die katholische Kirche war eben auch die Herrin der Zeit, wie zuletzt Papst Gregor XIII. im Jahr 1582 eindrücklich unter Beweis gestellt hatte. Damals glich er den Julianischen Kalender Caesars wieder an die kosmischen Tatsachen an. Der Papst ließ dazu im Oktober einfach zehn Tage aus, um Sonnenstand und Kalender wieder in Deckung zu bringen. Die orthodoxen Kirchen und die Protestanten lehnten die katholische Kalenderreform ab, weil sie keinem Diktat des Papstes folgen wollten, obwohl sie naturwissenschaftlich schlicht richtig war. Sie brauchten mitunter sogar Jahrhunderte, um sie schließlich doch zu übernehmen. Diese Verzögerung tat aber der Kompetenz von Papst und Kirche über Zeit und Ewigkeit – zumindest in deren eigenem Selbstbewusstsein – keinen Abbruch.[5]

Diese christlich-kirchliche Grundierung von Welt und Zeit musste verschwinden, wenn im revolutionären Frankreich dem verhassten Katholizismus endlich der Garaus gemacht werden sollte – davon waren die Macher der Revolution zutiefst überzeugt. «Die Ära der Franzosen» sollte, wie es im ersten Artikel des einschlägigen Dekrets des Nationalkonvents heißt, an die Stelle der endgültig abgelaufenen Ära Jesu Christi treten und rückwirkend mit dem 22. September 1792, der herbstlichen Tagundnachtgleiche, beginnen.[6] Am Vortag, dem 21. September, war die französische Monarchie abgeschafft und die Republik ausgerufen worden.

Das Jahr wurde in «zwölf gleiche Monate von je dreißig Tagen» eingeteilt. Am Jahresende folgten fünf monatsfreie Tage, die zu Ehren der Sansculotten, die während der heftigsten revolutionären Auseinandersetzungen die radikalen Jakobiner unterstützt hatten, Sansculotiden genannt wurden. Die Siebentagewoche, die zu sehr an die biblische Schöpfungsgeschichte erinnerte, wurde abgeschafft und durch drei Dekaden pro Monat ersetzt. Die Dekadentage hatten keine eigenen Namen mehr, sondern wurden einfach durchnummeriert. Der Décadi als zehnter Tag war als Ruhetag vorgesehen. Auf diese Weise sollte insbesondere der Sonntag als Herrentag verschwinden, an dem die Heilige Messe gefeiert wurde. Die Sonntagspflicht trieb nach wie vor viele Gläubige in die Kirchen und setzte sie nach Meinung der Jakobiner immer weiter der Propaganda der verfluchten Pfarrer aus, die als die schlimmsten Konterrevolutionäre galten. Auf diese Weise hoffte der Nationalkonvent den christlichen Lebensrhythmus, der nicht nur das kirchliche, sondern auch das gesellschaftliche und politische Leben dominierte, endgültig durchbrechen zu können.

Hinter der revolutionären Kalenderreform stand zunächst sicherlich die «aufklärerische Lust am glatt und gleichmäßig Teilbaren», insbesondere «an der Ästhetik des Dezimalsystems».[7] Unterschiedlich lange Monate von dreißig, einunddreißig und achtundzwanzig Tagen Dauer und die Siebentagewoche galten als unlogisch. Vor allem der jährlich wechselnde Termin des Osterfestes – immer am Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond –, von dem wiederum zahlreiche andere christliche Feste und damit auch Termine des öffentlichen Lebens abhingen, war den radikalen Aufklärern ein Gräuel.

Bei den Beratungen im Erziehungsausschuss befeuerten sich aufgeklärter Impetus und radikaler antikirchlicher Affekt gegenseitig, was am Ende den Ausschlag für die Revolution des Kalenders gegeben haben dürfte. Es wurde behauptet, die christliche Zeitrechnung habe über «achtzehn Jahrhunderte lang den Fortschritt des Fanatismus gesichert» und den «skandalösen Triumph von Hochmut, Laster und Dummheit» verursacht. Der Mathematiker und entschiedene Kirchenfeind Charles-Gilbert Romme brachte die Notwendigkeit der radikalen Kalenderreform und den damit verbundenen Beginn einer ganz neuen Epoche so auf den Punkt: «Die alte Zeitrechnung war die Ära der Grausamkeit, der Lüge, der Perfidie und des Sklavengeistes» – die Zeit des Christentums eben. Jetzt schlage die Zeit «ein neues Buch in der Geschichte auf; und in ihren neuen, majestätischen, einfach-gleichmäßigen Ablauf gilt es mit kraftvollem Meißel die Annalen des wiedergeborenen Frankreich einzutragen».[8]

Einen derart massiven Angriff hatte die Kirche seit den Verfolgungen im Römischen Reich nicht mehr erlebt. Vor allem Frankreich hatte über viele Jahrhunderte als älteste und treueste Tochter Roms und des römischen Katholizismus gegolten. Ausgerechnet hier sollte jetzt der Anfang vom Ende der christlichen Zeitrechnung und der katholischen Kirche in Europa und der Welt eingeläutet werden. Eine ganz neue Zeit von Republik statt Kirche, von Vernunft statt Offenbarung, von Wissenschaft statt Glauben, von Demokratie statt Hierarchie, von mündigen Staatsbürgern statt unmündigen Kirchenschafen sollte beginnen. Katholische Kirche und christlicher Glaube sollten keinen Platz mehr haben in der von der Revolution neu geschaffenen Welt.

Für all das stand der neue Kalender. Eine achtzehn Jahrhunderte währende Tradition sollte durch den revolutionären Generalangriff endgültig beendet werden. To be or not to be: Für den Katholizismus ging es ums Ganze. Wie sollte die Kirche auf diese existenzbedrohende Herausforderung reagieren? Konnte sie irgendwie verhindern, dass sich die verunsicherten und verfolgten Gläubigen dem revolutionären Druck beugten und dem Christentum abschworen? Und vor allem: War die Kirche in der Lage, ihnen neue Hoffnung und Identität zu vermitteln?

Senigallia, 1792 nach Christi Geburt:
Alles bleibt beim Alten

Senigallia, abseits der großen geistigen Ströme und politischen Entwicklungen in den Marken zwischen Rimini und Ancona an der adriatischen Küste Italiens gelegen, hatte damals gerade einmal achtzehntausend Einwohner.[9] Die Stadt besaß wie jede anständige italienische Stadt einen Bischofssitz und gehörte seit vielen Jahrhunderten zum Kirchenstaat, dem weltlichen Herrschaftsgebiet des Papstes. Dieser machte zu dieser Zeit immerhin ein Drittel der italienischen Halbinsel aus und lag wie ein Sperrriegel zwischen den spanisch dominierten Gebieten im Süden und den österreichischen Territorien wie der Toskana, der Lombardei und Venetien in Norditalien. Eine der achtzig Diözesen war Senigallia mit rund sechzigtausend Katholiken.[10] Die Stadt selbst war einer der wichtigsten Umschlagplätze für Waren aller Art im Kirchenstaat. Die Marktfreiheit führte dazu, dass Ende des achtzehnten Jahrhunderts Schiffe aus mehr als fünfzig Herkunftsorten im Hafen anlegten, um Handel in großem Stil zu treiben. Güter aus Russland und Norwegen, aus Dalmatien, Griechenland und dem Osmanischen Reich wurden hier umgeschlagen. Nürnberger Kaufleute unterhielten in Senigallia sogar eine feste Handelsniederlassung. Die wirtschaftliche Dynamik, der freie Handel und die Begegnung von Menschen aus aller Herren Länder mit ganz unterschiedlichen Sitten, Gebräuchen und religiösen Überzeugungen standen in einer Spannung zum konservativen Grundzug des politischen und religiösen Lebens in der Bischofsstadt. Einige wenige adelige Familien bildeten hier ein oligarchisches System und teilten die Ämter in Stadt und Bistum mehr oder weniger unter sich auf.

Senigallia, an der adriatischen Küste gelegen, war ein bedeutender Handelsplatz. Die regelmäßig stattfindende «Grande Fiera», die große Messe, spielte dabei eine wichtige Rolle.

In Senigallia war aus katholischer Sicht 1792 die Welt noch in Ordnung. Von revolutionären Wirren war an diesem Ort am Rande des Kirchenstaats kaum etwas zu spüren. Die Französische Revolution schien eine rein französische Angelegenheit zu sein. Eine selbstverständliche barocke katholische Frömmigkeit prägte das Leben der Gläubigen, die weltliche Herrschaft des Papstes über die Marken und die Stadt selbst war unbestritten.

Eine der bedeutenderen Familien dieser Oligarchie, die seit Generationen im Rat der Stadt, in der Bürgermiliz, aber auch im Domkapitel der Bischofskirche eine wichtige Rolle spielte, waren die Mastai Ferretti.[11] Sie besaßen seit Ende des sechzehnten Jahrhunderts in Senigallia einen Palazzo und – wie es für eine halbwegs begüterte Familie üblich war – einige Kilometer entfernt in Roncotelli eine Villa auf dem Land. Die Mastai führten seit Beginn des achtzehnten Jahrhunderts den Grafentitel und gehörten damit zum italienischen Provinzadel. Vielleicht waren sie daher so peinlich darauf bedacht, ihre Rolle an der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide der Stadt zu erhalten und gleichzeitig vom Freihandel finanziell zu profitieren, nach dem Motto: kirchlich und politisch streng konservativ, aber wirtschaftlich liberal.

Die Familie Mastai Ferretti war eine der führenden Familien Senigallias und besaß hier seit Ende des sechzehnten Jahrhunderts einen Palazzo.

In diese Familie hinein wurde am 13. Mai 1792, einem Sonntagmorgen, gegen sechs Uhr als neuntes und letztes Kind des Grafen Girolamo Mastai Ferretti und seiner Ehefrau Caterina Solazzi di Fano ein Sohn geboren.[12] Die beiden waren seit 1780 verheiratet und hatten bereits drei Söhne, Gabriele, geboren 1781, Giuseppe 1782 und Gaetano 1783, sowie fünf Töchter, Maria Virginia, geboren 1785, Maria Teresia 1786, Maria Isabella 1787, Maria Tecla 1788 und Virginia Margherita 1790, die alle mit Ausnahme von Maria Virginia, die bereits als Kleinkind starb, ein höheres Lebensalter erreichten.[13] Der jüngste Mastai Ferretti wurde, wie damals üblich, noch am Tag seiner Geburt auf den Namen Giovanni Maria Giovanni Battista Pietro Pellegrino Isidoro getauft, da ein nicht getauftes Kind im Fall seines Todes nach der Lehre der Kirche keine Chance hatte, in den Himmel zu kommen. Die Taufe spendete ein Bruder des Vaters, der Kanoniker Andrea Mastai, der später Bischof des Nachbarbistums Pesaro werden sollte.[14]

Der Taufbucheintrag springt ins Auge. Das gerade wenige Stunden alte Kleinkind wurde mit dem Titel «Illustrissimo Signore» – was wohl am besten mit «Hochwohlgeborener Herr» zu übersetzen sein dürfte – unter Nummer 38 der Täuflinge im Jahre des Herrn 1792 aufgeführt.[15] Dieser hochtrabende Titel wirkt heute für ein wenige Stunden altes Baby etwas lächerlich. Er zeigt aber, dass die althergebrachten Traditionen und vor allem das Standesdenken des Ancien Régime in Senigallia noch ungebrochen funktionierten. Von Liberté, Egalité, Fraternité und einer neuen Zeit war hier nichts zu spüren. «Die Macht der Gewohnheit und der Automatismus» führten dem Schreiber der Taufmatrikel, dem Kanoniker Pietro Venturi, offenbar die Feder.[16]

Der Taufbucheintrag des kleinen Giovanni Maria zeigt aber auch noch etwas anderes. Es sind nämlich keine Taufpaten eingetragen, die man sicher aus der Familie oder verwandten Adeligen der Stadt ausgewählt hätte. Stattdessen war die Hebamme Girolama Moroni, die das Kind auch entbunden hatte, Taufzeugin. Das spricht für eine Nottaufe unmittelbar nach seiner Geburt im Palazzo der Familie, die offenbar nicht ohne Komplikationen verlaufen war. Ob Giovanni Maria zu früh auf die Welt gekommen war oder ob sich sein Zustand allgemein als so besorgniserregend darstellte, dass sein Onkel ihn in aller Eile mit Taufwasser besprengte, steht dahin.[17]

Contessa Caterina Solazzi di Fano, die Mutter Pius’ IX.

Die spätere hagiographische Geschichtsschreibung sollte die Nottaufe weitgehend verschweigen, weil sie für einen künftigen Heiligen wohl nicht angemessen erschien. Immerhin wurde eine schwierige Geburt konzediert, aus der die fromme Mutter selbstredend entsprechende Konsequenzen gezogen haben soll: Caterina weihte den Jungen umgehend aus Dankbarkeit für ihre Hilfe der Jungfrau Maria. Jedenfalls fühlte sich Giovanni Maria von Kindesbeinen an und Zeit seines Lebens unter den besonderen Schutz der Gottesmutter gestellt und brachte ihr eine intensive Verehrung entgegen.[18]

Conte Girolamo Mastai Ferretti, der Vater Pius’ IX.

Während seiner Kinderjahre soll Giovanni Marias Mutter einen großen Einfluss auf ihn ausgeübt haben. Mit seinem Vater verbrachte er, wie damals für Kinder seines Standes nicht außergewöhnlich, nur wenig Zeit. Ob aber das fromme Klischeebild von der Mutter eines künftigen Papstes und Heiligen, die natürlich nicht nur «überaus religiös», sondern auch eine enthusiastische Marienverehrerin mit einem Hang zu mystischen Erfahrungen gewesen sein musste, der Wirklichkeit entspricht, steht dahin.[19] Carlo Falconi sieht in der Contessa Caterina Solazzi di Fano im Gegenteil eine «eiserne Frau», der jeglicher Hang zu Mystik und spiritueller und religiöser Übersteigerung abgegangen sei.[20]

Die Kinder aus adeligen und großbürgerlichen Familien wurden an der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert ohnehin von Ammen und Kindermädchen großgezogen. Das war auch bei Giovanni Maria der Fall. Seine Amme Marianna Chiarini war in Kindertagen seine wichtigste Bezugsperson, die Mutter scheint sich – wie bei Damen ihres Standes üblich – nicht über Gebühr um ihren jüngsten Sprössling gekümmert zu haben. Auf die übliche distanzierte Erziehung seiner Zeit und seines Standes reagierte der spätere Papst wahrscheinlich mit einem gesteigerten Liebesbedürfnis und einer großen Abhängigkeit von seinem unmittelbaren Umfeld.

Wie dem auch immer sei: Für die katholische Kirche sollte an eben jenem Sonntag, dem 13. Mai 1792 Anno Domini, eine neue Zeit anbrechen und von da ausgehend der Katholizismus neu «erfunden» werden. Im langen neunzehnten Jahrhundert, das die Geschichtsschreibung von der Französischen Revolution 1789 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918 dauern lässt, sollte die katholische Kirche eine neue, ganz auf den Papst in Rom zentrierte Identität erhalten.[21] Denn der kleine «Illustrissimo Signore» Giovanni Maria Mastai Ferretti bestieg im Jahr 1846 als Pius IX. den Stuhl Petri und wurde 1870 der erste unfehlbare Papst der Kirchengeschichte. Als erster Nachfolger des Apostelfürsten Petrus verfügte er über einen unbeschränkten Jurisdiktionsprimat über die ganze Weltkirche. Die römisch-katholische Kirche, wie wir sie heute kennen, ist ohne Giovanni Maria Mastai Ferretti kaum vorstellbar. Man könnte sogar sagen, dieser Vicarius Christi hat die Kirche Jesu Christi neu gegründet. Aber bis dahin war es noch ein weiter und nicht unbedingt geradliniger Weg, und 1792 konnte dies niemand voraussehen.

Von den Vorgängen im Paris des Jahres 1789 hatte man in Senigallia zwar gehört, aber man schien das Ganze wie auch anderswo in Europa für eine innerfranzösische Angelegenheit zu halten. Erst als eine Reihe von Priestern und Ordensleuten, die vor den Verfolgungen aus Frankreich geflohen waren, nach Senigallia kamen und als Augenzeugen und Betroffene von der Französischen Revolution und ihren Schrecken berichteten, fanden sie zahlreiche interessierte Zuhörer. Dadurch wurden die Pariser Zustände an der Adria bekannt – freilich aus der Perspektive von Opfern der Revolution.[22] Da rund achtzig Prozent der Einwohner Senigallias Ende des achtzehnten Jahrhunderts weder lesen noch schreiben konnten und für sie Gazetten und andere Druckschriften als Informationsquellen ausschieden, kam der «propaganda orale», den unterschiedlich gefärbten mündlichen Berichten und Predigten, zentrale Bedeutung für die Wahrnehmung der revolutionären Ideen und Vorgänge in Paris zu.[23]

Die Geistlichen hatten Schreckliches erlebt. Die Schilderung der Hinrichtung zweier adeliger Damen – Mutter und Tochter – und der Schwierigkeit, ihnen auf dem Weg zum Schafott die Sterbesakramente spenden zu können, dürfte typisch sein. «Plötzlich bezog sich der Himmel, fern grollte der Donner … Es wehte nun ein heftiger Wind, das Gewitter entlud sich. Schnell aufeinander folgten die Blitze, die Donnerschläge. Es begann zu regnen. Ein Wolkenbruch.» Für Abbé Carrichon ging die Welt unter, der Himmel machte deutlich, was er von der Terreur der Jakobiner hielt. Die Delinquenten wurden, begleitet von einer johlenden Menschenmenge, auf rumpelnden Karren zum Richtplatz geführt. Der Geistliche versuchte, mit den Wagen Schritt zu halten und den adeligen Damen, wie er es versprochen hatte, die sakramentale Lossprechung zu erteilen.

«Als der Karren langsamer fuhr, blieb ich stehen, wandte mich ihm zu und machte Madame de Noailles ein Zeichen, das sie sofort verstand: ‹Mama, Monsieur Carrichon will uns die Absolution erteilen.› Sogleich senkten sie die Köpfe, mit einem Ausdruck von Reue, Freude und Rührung, der mich erbaute. Ich hob die Hand, ließ den Kopf bedeckt und sprach sehr deutlich und mit übernatürlicher Konzentration die ganze Formel der Absolution und die Worte, die ihr folgten. … Von diesem Augenblick an beruhigte sich das Gewitter, der Regen ließ nach; es schien nur niedergegangen zu sein, um die Erfüllung des von beiden Seiten so sehnlich gehegten Wunsches möglich zu machen. Ich segnete Gott, und auch sie taten es. Ihr Gesicht drückte nur noch Zufriedenheit, Abgeklärtheit, Freude aus.»

Auf dem Richtplatz angekommen, wo die «Opferung» stattfinden sollte, nahm Abbé Carrichon mit Ekel die «laute Freude, die abscheulichen Witze der Zuschauer» wahr. «Der Henker und seine Knechte stiegen hinauf und ordneten alles an. Der oberste zog einen blutroten Mantel über seine Kleider. … Besonders der große Knecht war der Gegenstand der Bewunderung und des Lobes der Kannibalen, wegen seiner Tüchtigkeit und Besonnenheit, wie sie sagten. Als alles geregelt war, stieg der alte Mann mithilfe der Henker hinauf. Der Henkermeister packte ihn am linken Arm, der große Knecht am rechten, der zweite bei den Beinen; im Nu lag er auf dem Bauch, der Kopf wurde abgeschlagen und der völlig bekleidete Körper sofort in einen riesigen Sturzkarren geworfen, wo alles im Blut schwamm; und so ging es immer weiter. Welche entsetzliche Schlächterei! … Madame d’Ayen stieg als zehnte hinauf. Wie froh sie schien, vor ihrer Tochter sterben zu können, und wie zufrieden die Tochter, der Mutter nicht vorausgehen zu müssen! Der Henker riss ihr die Haube ab. … Wie rührend, diese ganz in Weiß gekleidete junge Frau zu sehen! Sie erschien viel jünger, als sie in Wirklichkeit war. Sie bot sich dar wie ein sanftes, zartes Lamm, das man schlachten will. Ich glaubte, dem Martyrium einer der heiligen Frauen oder Jungfrauen beizuwohnen, die auf den Bildern von Correggio und Domenico dargestellt sind. Was bei ihrer Mutter passierte, geschah auch bei ihr. … Und ach! Wie viel rotes Blut schoss aus Kopf und Hals! … Aber sie ist ja jetzt selig! schrie ich innerlich, als man den Körper in den furchtbaren Sarg warf.»[24]

Paris, 1789 bis 1796: Kirche und Revolution

Von einem prinzipiellen Gegensatz zwischen der Französischen Revolution und der katholischen Kirche konnte ursprünglich jedoch nicht die Rede sein.[25] Denn bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die Geschehnisse von 1789 ohne die Beteiligung von Kirchenvertretern nicht denkbar gewesen wären. Nach Ansicht mancher Forscher haben reformkatholische Kreise gerade in Frankreich die zentralen Ideen der Revolution wie Menschenrechte und Demokratie sogar vorgedacht. Ohne Kirche hätte es letztlich keine Revolution gegeben.

Am Vorabend von 1789 schien die Position der katholischen Kirche in Frankreich trotz einer sich bereits im Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts anbahnenden Entchristlichungsbewegung – vor allem unter den Intellektuellen – weitgehend unangetastet zu sein. Der Katholizismus war nach wie vor Staatsreligion. Der Klerus, der neben einhundertfünfunddreißig Bischöfen rund fünfzigtausend Priester im Pfarrdienst, achtzehntausend Stiftsherren und fünfundzwanzigtausend Ordensmänner umfasste, bildete in der feudalen Gesellschaft einen eigenen Stand: bezeichnenderweise den ersten. Geistliche konnten nicht vor ein weltliches Gericht gestellt werden, gleichgültig welches Verbrechen sie sich hatten zuschulden kommen lassen. Ihre Vergehen wurden ausschließlich von geistlichen Richtern untersucht. Der geistliche Stand besaß außerdem rund ein Zehntel des Grund und Bodens in Frankreich. Den zweiten Stand bildeten die Adeligen, den dritten Bürger und Bauern.

Vor allem der erste Stand bildete jedoch keineswegs eine in sich geschlossene Einheit. Vielmehr spiegelten sich die Probleme und sozialen Verwerfungen der gesamten französischen Gesellschaft der damaligen Zeit in den Auseinandersetzungen innerhalb dieses Standes wider. Einen guten Einblick in die vorrevolutionäre Situation des Klerus geben die sogenannten Beschwerdehefte, die der König im Vorfeld der Einberufung der Generalstände 1788 angefordert hatte.

Die Mehrzahl der nichtgeistlichen Autoren der Cahiers de Doléances sprach sich für den Fortbestand des Katholizismus als Staatsreligion aus, vor allem, weil sie mit der praktischen Arbeit der Seelsorgegeistlichkeit vor Ort weitgehend zufrieden waren.[26] Heftige Kritik erfuhr dagegen der zurückgezogen hinter Klostermauern lebende kontemplative Ordensklerus, der als nutzlos angesehen wurde, weil er für die einfachen Gläubigen nichts brachte. Die klerikalen Steuerprivilegien sollten abgeschafft und die Erträge des Zehnten künftig sozial-caritativ eingesetzt werden.

Der niedere Klerus klagte in seinen Beschwerdeheften fast durchgängig über eine weitverbreitete Tyrannei der Bischöfe und forderte Versammlungsfreiheit für die Pfarrer sowie eine angemessene Alterssicherung. Landpfarrer und Vikare waren weitgehend verarmt, weil die kirchlichen Abgaben meist direkt an den Bischof gingen, der nur sehr wenig an den Seelsorgeklerus weitergab. Nicht zuletzt deshalb entwickelten sich die wöchentlichen Dekanatskonferenzen der einfachen Geistlichkeit mehr und mehr von frommen Gebetsveranstaltungen zu politischen Treffen und gerieten dadurch immer stärker in eine Opposition zu den meist adeligen Bischöfen. Die Probleme der städtischen Unterschichten und der Bauern auf dem Land, die zu wichtigen Akteuren der Revolution werden sollten, waren im Wesentlichen auch die Probleme der Vertreter des niederen Klerus.

Bei der Bestimmung der Zusammensetzung der Generalstände im Jahr 1789 erhielten alle katholischen Geistlichen mit Ausnahme der Vikare dasselbe Wahlrecht. Für den ersten Stand ergab sich folgende Sitzverteilung: Von den zweihunderteinundneunzig Sitzen fielen zweihundertacht auf Pfarrer, fünfundvierzig auf Bischöfe, zwanzig auf Äbte, zwölf auf Kanoniker und sechs auf Generalvikare – ein klarer Wahlsieg des niederen Klerus. Die Forderung nach einer Abstimmung nach Köpfen statt nach Ständen, die der dritte Stand erhob, lehnte der Klerus zunächst ab. Der dritte Stand war zwar von drei- auf sechshundert Köpfe verdoppelt worden, was aber bei einer nach Ständen getrennten Abstimmung allenfalls von kosmetischer Bedeutung war.

Am 13. Juni 1789 schlossen sich jedoch drei Pfarrer aus dem ersten dem dritten Stand an. Als sich der dritte Stand am 17. Juni schließlich zur Nationalversammlung erklärte, entschieden sich am 19. Juni weitere einhundertneunundvierzig Mitglieder des ersten Standes zum Übertritt in den dritten Stand. Dadurch verhalfen die katholischen Kleriker der parlamentarischen Revolution zum Durchbruch.

Doch schon in der Anfangsphase der Revolution von 1789 bis 1792, die auch als «Reformwerk der Konstituante» bezeichnet wird, verloren die Geistlichen rasch all ihre Privilegien.[27] Das bedeutete vor allem den Verzicht auf den Zehnten und die Preisgabe von Steuer- und Gerichtsimmunitäten. Damit hörte der Klerus auf, als eigener Stand zu existieren: Fortan gab es in Frankreich nur noch Bürger. Auch die katholische Kirche war nicht länger exklusive Staatskirche, denn die Angehörigen aller nichtkatholischen Religionsgemeinschaften erhielten neben der Kultfreiheit auch die zivilrechtliche Gleichstellung und den freien Zugang zu allen öffentlichen Ämtern. Dazu kam die Emanzipation der Juden. Um einen drohenden Staatsbankrott abzuwenden, wurden an der Jahreswende 1789/90 zudem alle Kirchengüter verstaatlicht und versteigert. Allerdings brachte diese Maßnahme nicht den erhofften Erfolg, da das Papiergeld, das zur Beschleunigung des Verkaufs eingeführt wurde, rasch seinen Wert verlor.

Ein entscheidender Schritt auf dem Weg der Revolution war die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789. In «Gegenwart und unter dem Schutz des höchsten Wesens» erklärte die Nationalversammlung siebzehn Grundrechte für verbindlich. In Satz 1 hieß es: «Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.» Satz 3 proklamierte: «Der Ursprung aller Souveränität liegt seinem Wesen nach beim Volk.» Und Satz 10 stellte fest: «Niemand soll wegen seiner Ansichten, auch nicht wegen der religiösen, beunruhigt werden.» Zentral ist Satz 11: «Die freie Mitteilung der Gedanken und Meinungen ist eines der kostbarsten Rechte des Menschen.»[28] Ein gewisser Transzendenzbezug ist zwar noch zu erkennen, weil vom «Schutz des höchsten Wesens», dem «Être suprême» die Rede ist, Gott als Ursprung und Quelle des Rechts – wie das nach klassisch-katholischer Vorstellung unverzichtbar war – kommt dagegen nicht mehr vor. Naturrecht und göttliches Recht wurden durch Volkssouveränität ersetzt.

Im Februar 1790 wurden alle Orden und Klöster aufgehoben, weil die Ordensgelübde Armut, Keuschheit und Gehorsam als den Grund- und Menschenrechten widersprechend angesehen wurden. Mit dem Vorwurf der «schwelgerischen und liederlichen Lebensweise» der Mönche und Nonnen wurde ein ganzer Stand pauschal diskreditiert.[29]

Der Katholizismus konnte seine Stellung als französische Staatsreligion nicht halten, was den revolutionären Vorstellungen von der Freiheit der religiösen Bekenntnisse entsprach. Eine Autonomie, die ihr nach ebendiesen Prinzipien eigentlich zustand, erhielt die katholische Kirche aber auch nicht. Hatte im Ancien Régime im Grunde das Prinzip gegolten, dass der Staat ein Teil der Kirche sei, stellte die Nationalversammlung diesen Grundsatz auf den Kopf und erklärte die katholische Kirche zu einem Teil des französischen Staats, die diesem zu dienen hatte. Die Argumentation lief darauf hinaus, zwischen Dogma und Disziplin, also zwischen Glaubenssätzen und der äußeren Organisation der Kirche zu unterscheiden. Der Staat habe deshalb das Recht und sogar die Pflicht, die kirchlichen Institutionen wie alle anderen gesellschaftlichen Einrichtungen im Sinne der Revolution zu kontrollieren und zu reformieren.

So kam es schließlich zur berühmt-berüchtigten «Zivilkonstitution des Klerus» vom 24. August 1790.[30] Nach dem Vorbild der «Urkirche» der ersten drei Jahrhunderte sollten im Sinne des aufgeklärten Utilitarismus nur die «nützlichen» Kirchenstellen erhalten bleiben. Da staatliche und kirchliche Einheiten geographisch deckungsgleich sein sollten, wurden die Diözesangrenzen den Grenzen der Départements angepasst und die einhundertfünfunddreißig historisch gewachsenen und teils bis in die römische Zeit zurückreichenden Diözesen Frankreichs auf dreiundachtzig reduziert. Alle geistlichen Ämter sollten durch Wahl in staatlichen Gremien mit einfacher Stimmenmehrheit besetzt werden. Die Bischöfe wurden durch die Départementswähler, die Pfarrer durch die Mitglieder des Gemeindedistrikts bestimmt. Bei kirchlichen Stellenbesetzungen durften alle Bürger mit abstimmen, weshalb auch Protestanten und Juden an der Besetzung katholischer Pfarreien beteiligt waren. Alle Bischöfe und Pfarrer hatten einen feierlichen Eid auf die französische Verfassung zu leisten. Im Gegenzug standen die Geistlichen als Staatsbeamte auf der Gehaltsliste der Französischen Republik.

Alles kam nun darauf an, ob der Papst die Zivilkonstitution des Klerus und die Erklärung der Menschenrechte akzeptieren würde oder nicht.[31