Geschichte, Gesellschaft, Kultur
Verlag C.H.Beck

Im hier vorliegenden Buch hat Ernst Baltrusch versucht, auf der Grundlage des erhaltenen Quellenmaterials Geschichte, Gesellschaft und Kultur des antiken Sparta von 900–146 v. Chr. in lakonischer Kürze, aber wahrheitsgetreu zu beschreiben. Ob dieses Ziel erreicht wurde oder nicht, könnten eigentlich nur die alten Spartaner selbst entscheiden. Wären sie unzufrieden, dürften sie sich nicht beklagen. Sie haben es den Historikern nicht leicht gemacht. Schon Sokrates vermutete, daß sie absichtlich ihre Umwelt über sich täuschen wollten; denn durch die Bekanntmachung ihrer Stärke und Weisheit würden sie andere zu deren Nachahmung herausfordern und damit ihr eigenes Gemeinwesen schwächen.
Den Leser erwartet eine informative und anregende Darstellung des Aufstiegs und Falls einer antiken Großmacht.
Ernst Baltrusch lehrt als Professor für Alte Geschichte an der Freien Universität Berlin. Sein besonderes Interesse gilt dem griechischen Völkerrecht und der Geschichte der Juden in der Antike. Von demselben Autor ist im Verlag C.H.Beck lieferbar: Herodes. König im Heiligen Land (2012).
Meinen
Schwiegereltern
Anni und Lothar Schneider
Vorwort
Einleitung
I. Die Stadtwerdung Spartas und der Mythos Lykurg
II. Die politische und gesellschaftliche Ordnung Spartas
III. Der Aufstieg Spartas zur Hegemonialmacht in Griechenland vom 8. bis 6. Jahrhundert v. Chr.
IV. „Die mächtigste und berühmteste Stadt Griechenlands“: Spartas Hegemonie (490–404 v. Chr.)
V. Leben in Sparta: Erziehung und Lebenslauf eines Spartiaten
VI. Frauen in Sparta
VII. Religion und Recht
VIII. Die spartanische Kultur
IX. Das Instrument der Hegemonie: Der Peloponnesische Bund
X. Herrschaft und Niedergang: Sparta von 404 bis 244 v. Chr.
XI. Reformversuche im Schatten der Großmächte: Sparta von 244 bis 146 v. Chr.
XII. Der Mythos Sparta
Zeittafel
Literaturhinweise
Register
Im hier vorliegenden Buch habe ich versucht, auf der Grundlage des erhaltenen Quellenmaterials Geschichte, Gesellschaft und Kultur des antiken Sparta von 900 bis 146 v. Chr. in lakonischer Kürze, aber wahrheitsgetreu zu beschreiben. Ob dieses Ziel erreicht wurde oder nicht, könnten nur die alten Spartaner selbst entscheiden. Wären sie unzufrieden, dürften sie sich nicht beklagen. Sie haben es uns Historikern nicht leicht gemacht. Schon Sokrates vermutete, daß sie absichtlich ihre Umwelt über sich täuschen wollten; denn durch die Bekanntmachung ihrer Stärke und Weisheit würden sie andere zu deren Nachahmung herausfordern und damit ihr eigenes Gemeinwesen schwächen. Trotzdem hoffe ich, den antiken Spartanern das eine oder andere entlockt zu haben. Bei diesem Unterfangen wurde mir die Unterstützung des Friedrich-Meinecke-Instituts der Freien Universität Berlin, insbesondere des Seminars für Alte Geschichte, zuteil, das durch seine freundliche Kollegialität die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen hat. Meine Hilfskraft Frau Susanne Neumann und meine Sekretärin Frau Beryl Adomako haben alles getan, daß die Vorlage erstellt werden konnte; dafür danke ich ihnen sehr. Dem Beck-Verlag bin ich zu großem Dank für die Aufnahme des Buches in die Beck Wissen-Reihe verpflichtet; seinem Lektor Herrn Dr. Stefan von der Lahr insbesondere für seine Mühe, ein zu langes Manuskript elegant zu kürzen. Meine Frau Dr. Dagmar-Beate Baltrusch war mir eine strenge, aber unverzichtbare Gesprächspartnerin und Korrektur-Leserin. Dafür danke ich ihr ebenso wie meiner Tochter Anna-Victoria, die mit vielen fröhlichen Unterbrechungen meine Arbeit außerordentlich gefördert hat. Meinen Schwiegereltern Anni und Lothar Schneider danke ich für viele kleine und große Wohltaten; unseren „Nothelfern“ sei deshalb dieses Buch in tiefer Verbundenheit zugeeignet.

Stadtplan Spartas: aus R. Speich, Peloponnes (Kunst- und Reiseführer mit Landeskunde), Stuttgart/Berlin/Köln 1989 (2. Aufl), S. 278
Um 380 v. Chr. schrieb der athenische Schriftsteller und Spartakenner Xenophon: „Eines Tages dachte ich darüber nach, daß Sparta, wiewohl eine der bevölkerungsärmsten Städte, zur mächtigsten und berühmtesten Stadt Griechenlands geworden ist – und ich wunderte mich darüber, wie dies geschehen konnte. Dann dachte ich an die Einrichtungen der Spartiaten, und ich wunderte mich nicht mehr“ (Der Staat der Lakedaimonier 1,1). So wie Xenophon erging es sowohl vielen Zeitgenossen als auch der Nachwelt. Sie bewunderten die innere Ordnung Spartas, deren Stabilität über Jahrhunderte, das einfache, ernsthafte, jeden überflüssigen Prunk ablehnende, auf Abhärtung, Ausdauer und Tapferkeit ausgerichtete Leben der spartanischen Bürger und priesen dieses als Grundlage des außenpolitischen Erfolges und als Garant der Herrschaft über die Peloponnes und Griechenland: Sparta als Modell für alle anderen. Dieser Verklärung Spartas standen andere Urteile gegenüber, die Kritik, Verachtung und Abscheu ausdrückten: Man sprach von der einseitigen Ausrichtung des gesamten Lebens auf Krieg, von Unmenschlichkeit, von Unterdrückung, von Kulturlosigkeit, ja von Analphabetismus. Sparta provozierte, damals wie heute, und die Faszination, die von dieser kleinen Stadt am Eurotas auf der Peloponnes ausging, hat sich bis in die neueste Zeit erhalten.
Spartas „große Zeit“ währte von ca. 550 bis 371 v. Chr. Heute wird diese Zeit als die Klassische Epoche Griechenlands bezeichnet, der Wiege der europäischen Kultur. Es war die Zeit der griechischen „Aufklärung“, eines Sokrates und Platon, die Blütezeit der attischen Tragödie und Komödie, der Baukunst, der bildenden Kunst, der Geschichtsschreibung; die Demokratie wurde „erfunden“. Die Orte, von denen diese geistige, kulturelle und politische Entwicklung ausging, hießen Milet, Korinth und Athen. Auf einem diametral entgegengesetztem Gebiet lag indessen Spartas Beitrag zum Klassischen Griechenland. Diese freie griechische Stadt lebte nach dem Grundsatz: Der einzelne ist nichts, das Vaterland, die Stadt ist alles. Erziehung, Wirtschaft, Kultur, Religion fügten sich in die Idee des Staates ein – Sparta war der erste totalitäre Staat der Weltgeschichte und damit Vorbild auch für moderne Vertreter dieser Gattung.
Das antike Griechenland deckte einen geographisch größeren Raum als das heutige Griechenland. Neben dem „Mutterland“ (dem heutigen Griechenland) siedelten die Griechen auf den zahlreichen Inseln der Ägäis, am Schwarzen Meer, an den Küstenstreifen Kleinasiens, Afrikas, Siziliens, Südfrankreichs und Spaniens. „Wie Frösche um einen Sumpf“ wohnten Griechen um das gesamte Mittelmeer, so beschrieb Platon (Phaidon 109a) den griechischen Siedlungsraum im 5. Jahrhundert v. Chr. Hinter dieser Ausdehnung der Griechen stand nicht, wie man vermuten könnte, der Eroberungsdrang eines gesamtgriechischen Staates, sondern die Kolonisationspolitik einzelner Städte (poleis) wie Athen, Korinth, Megara oder auch Sparta. Diese poleis, von denen es Hunderte gab, waren politisch autonome Stadtstaaten und bildeten die Grundstruktur der griechischen Staatenwelt. In dieser Umgebung stieg Sparta zur führenden Macht in Griechenland, ja zur Weltmacht auf. Diesen Aufstieg nachzuzeichnen, die politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen Einrichtungen Spartas zu analysieren und die Frage nach der Entstehung und dem Weiterleben des Mythos Sparta zu verfolgen, ist das Thema der folgenden Kapitel.
Sparta liegt im Süden der griechischen Halbinsel „Insel des Pelops“, der Peloponnes, in Lakonien, einer Ebene des Flusses Eurotas (ca. 200 m über dem Meeresspiegel), der in Arkadien entspringt und in den Lakonischen Meerbusen einmündet. Eingerahmt ist diese Ebene von zwei Gebirgsketten, dem Taygetos im Westen (höchste Erhebung: 2407 m) und dem Parnon im Osten (1937 m); im Norden Spartas beginnt das arkadische Hochland (Skiritis), 46 km südlich liegt das Meer. In Spartas unmittelbarer Nachbarschaft lagen im Westen Messenien, im Norden Arkadien und im Nordosten die Stadt Argos. Die Eurotasebene war fruchtbar. Angebaut wurde in erster Linie Gerste, aber auch Weizen und Oliven; darüber hinaus wurde Viehzucht betrieben. Sparta glich einer natürlich gesicherten Festung, die auch ohne Stadtmauer Schutz vor unliebsamem Besuch oder militärischen Angriffen bot. Die geographische Lage erklärt ebenso wie das den Zeitgenossen geheimnisvolle, von außen nie wirklich ergründbare Wesen der Spartaner und ihrer Gesellschaft zu einem nicht geringen Teil den Erfolg Spartas. Der heute gebräuchliche Name für die Stadt ist Sparta („die Gesäte“, „die Verstreute“), die Zeitgenossen aber sprachen häufiger von Lakedaimon. Sie bezogen damit auch Lakonien, das Sparta umgebende Land, in den Staatsbegriff mit ein. Die offizielle Bezeichnung des spartanischen Staates dagegen, wie sie in Dokumenten (z.B. Verträgen) erscheint, lautete „die Lakedaimonier“. Die Bewohner Spartas gehörten zum Stamm der Dorier, der sich von anderen Griechenstämmen wie den Ionern oder Äolern durch seinen Dialekt, aber auch durch besondere politische und soziale Institutionen unterschied. Dorier siedelten im Süden der Peloponnes, an der Südwestküste Kleinasiens und auf Kreta.
Die Gründung Spartas durch die Dorier liegt verborgen im Dunkel der Geschichte. Sie gehört in die „Dark Ages“ (ca. 1050 bis 800 v. Chr.). Homers Ilias, das früheste literarische Zeugnis der Europäischen Geschichte, berichtet von Menelaos und Helena, dem vordorischen Königspaar des, wie Homer aufgrund der Lage Spartas zwischen zwei Gebirgszügen schreibt, „hohlen Lakedaimon“. Menelaos und Helena hatten entscheidenden Anteil am Trojanischen Krieg, den die Griechen unter Führung von Agamemnon, dem Bruder des Menelaos und König von Mykene, gegen das kleinasiatische Troja zehn Jahre lang führte. Homer schrieb vermutlich im 8. Jahrhundert v. Chr. über eine Zeit, die 500 Jahre zurücklag und an die man keine Erinnerung hatte, die über Heldengesänge und vielleicht übriggebliebene Ruinen oder Bronzewaffen hinausging. Irgendwann zwischen dem Trojanischen Krieg und der vermuteten Abfassungszeit der homerischen Epen muß das dorische Sparta gegründet worden sein.
Zwischen dem Trojanischen Krieg und der Homerischen Zeit hatten große Veränderungen in allen Bereichen Griechenland ein ganz neues Gesicht gegeben: Prachtvolle Königspaläste wie diejenigen in Mykene und Tiryns und eine hochentwickelte, auf diese Paläste ausgerichtete Wirtschaft, Bürokratie und Schrift waren verschwunden. Ein starker Bevölkerungsrückgang, neue, bescheidenere Siedlungsformen, eine schriftlose Kultur und wohl auch Armut als Charakteristika dieses „dunklen Zeitalters“ traten an ihre Stelle. Die Ursachen für diesen Prozeß werden noch immer lebhaft und kontrovers diskutiert. Die wahrscheinlichste Erklärung ist die, daß die „Mykenische“ Kultur (benannt nach einer der Palaststätten auf der Peloponnes) um 1200 durch Plünderungszüge fremder Völker zerstört wurde und daß im Gefolge dieser Zerstörung neue Stämme von Norden nach Griechenland einwanderten, sich ansiedelten und dabei die noch ansässige Bevölkerung vertrieben oder auch versklavten. Ein solcher Einwanderungsschub erfaßte auch die Peloponnes. Er wird als „Dorische Wanderung“ bezeichnet. Die einwandernden Dorier waren jedoch nicht identisch mit den Zerstörern der mykenischen Kultur und sie drangen auch nicht als geschlossener Verband ein, wie wir es von den germanischen Stämmen der Völkerwanderungszeit kennen. Vielmehr kamen sie in kleineren Gruppen allmählich von Nordwestgriechenland her auf die Peloponnes und gründeten dort Kolonien. Wohl erst im Laufe des 10. Jahrhunderts v. Chr. gelangten die Dorier auch in die südlichen Regionen der Halbinsel, nach Lakonien, wo sie etwa um 900 vier Dörfer in der Eurotas-Ebene zu einer Stadt, nämlich Sparta, vereinigten und die dortige Bevölkerung in den sozialen Status von Unfreien (Heloten) herabdrückten. Die Tatsache, daß Sparta immer zwei Könige gleichzeitig hatte, läßt vermuten, daß sich in Sparta zwei Wanderungszüge vereinigt haben, von denen sich der eine in den Eurotas-nahen Dörfern Limnai und Kynosura, der andere in den westlichen Dörfern Mesoa und Pitane niederließ. Alle dorischen Stämme waren in drei Abteilungen, sogenannte Phylen, gegliedert, die auch in späterer Zeit in der Einteilung des spartanischen Heeres eine Rolle spielten (Dymanen, Hylleer, Pamphyler); das ist heute allerdings umstritten. Der Drang der Dorier nach Süden wurde zunächst durch eine unzerstörte Festung aus mykenischer Zeit, Amyklai, aufgehalten. Archäologen haben dort viele Gegenstände aus der „vorspartanischen“ Zeit zutage gefördert. Erst am Ende des 8. Jahrhunderts gelang es den Spartanern unter ihrem König Teleklos, Amyklai zu erobern und als fünftes Dorf in den Staatsverband einzugliedern; eine Sonderstellung nahm Amyklai aufgrund seiner geographischen Entfernung (ca. 6 km) und späten Eingliederung in den spartanischen Staatsverband immer ein.
Die heutige, etwas weiter südlich als das antike Sparta gelegene Stadt ist klein (1834 neu gegründet, ca. 11.000 Einwohner), und auch die frühere war von Anfang an mit wenig Bürgern gesegnet. In der Frühzeit soll sie nicht mehr als 8000, im 3. Jahrhundert v. Chr. gar weniger als 1000 waffenfähige Vollbürger gehabt haben, so daß eine Gesamtbevölkerung von nicht mehr als 20.000–30.000 anzunehmen ist. Nicht abzuschätzen ist allerdings die Zahl der Umwohner (Periöken) und Unfreien (Heloten). Die moderne Archäologie, die die Stätten des antiken Sparta freizulegen versucht, kritisiert jetzt, was der bedeutendste Historiker der Antike, Thukydides, bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. formulierte: „Wenn heute die Stadt der Lakedaimonier verlassen würde, und es blieben nur Heiligtümer und die Grundmauern der Gebäude übrig, wären die Nachkommen späterer Zeiten hinsichtlich der Macht und des Ruhmes der Spartaner sehr ungläubig“ (I, 10). Diesen Eindruck könnte man heute in der Tat gewinnen: Heiligtümer und eine für griechische Verhältnisse eher atypische Akropolis wurden ausgegraben, aber es fehlen kostbare Tempel und mächtige Gebäude, so daß sich die Bedeutung des antiken Sparta aus den materiellen Überresten allein nicht erschließen läßt.
Die Rekonstruktion der Gründung Spartas fußt auf den Errungenschaften der modernen Geschichtswissenschaft, d.h. auf der systematischen Auswertung literarischer Werke aus späterer Zeit, archäologischer Funde sowie sprachwissenschaftlicher Analysen der verschiedenen Dialekte. Die Spartaner der historischen Zeit hatten diese Möglichkeiten nicht, etwas über ihre Herkunft in Erfahrung zu bringen. Diese war ihnen daher ein noch größeres Rätsel als uns – es gab ja kein schriftliches Zeugnis vor dem 8. Jahrhundert, das ihnen Auskunft darüber hätte geben können. Erinnerung wurde tradiert durch Erzählungen und Gesänge über herausragende Taten großer Helden. Durch das Fehlen der Schrift, mit der man die Erinnerung hätte festschreiben können, kam es zu ständig veränderten und neuen Deutungen und legendenhaften Verklärungen der Überlieferung. So ist auch die Einwanderung der Dorier von den Spartanern selbst in einem für sie erheblich günstigeren Sinne umgedeutet worden. Nicht gewalttätige Eindringlinge seien sie gewesen, sondern im Gegenteil, die Dorier hätten mit ihrer Einwanderung nur dem Recht Geltung verschafft: Die Nachkommen des ursprünglichen „Besitzers“ der Peloponnes, Herakles (ein Sohn des Göttervaters Zeus), seien nach ihrer Vertreibung zusammen mit den Doriern „zurückgekehrt“, hätten sich also nur das zurückgeholt, was ihnen Zeus selbst gegeben habe. Einer der frühesten Zeugen aus Sparta, der Dichter Tyrtaios, schrieb Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr.: „Denn Zeus selbst … gab diese Stadt den Herakliden (den Nachfahren des Herakles), mit denen wir das windige Erineos verließen und zur weiten Peloponnes kamen“ (frg. 1a). Tyrtaios deutet die dorische Wanderung genial um als eine legitime (Wieder-)Inbesitznahme eines von Zeus zugewiesenen Erbteils und entzieht damit Zweifeln den Boden, die an der Rechtmäßigkeit der dorischen Präsenz in Sparta unter den Nachbarn aufgekommen sein könnten. Die Spartaner hatten Erfolg mit dieser Legitimation – niemand warf ihnen später vor, unrechtmäßig ihre Position auf der Peloponnes erworben zu haben. Selbst ein Kritiker aller Mythen wie Thukydides sprach von der „Rückkehr der Herakliden“ auf die Peloponnes als einer geschichtlichen Tatsache. Die spartanischen Könige führten dieser Legende zufolge ihre Herkunft und mit der Herkunft zugleich auch ihre Berechtigung zur Herrschaft auf Herakles zurück. Auf diese Weise war ein Bogen zwischen dem mykenischen, von Homer beschriebenen Sparta und dem historischen, dorischen Sparta geschlagen, Kontinuität hergestellt und gleichzeitig die Rechtmäßigkeit und Gottgefälligkeit der spartanischen Ansprüche auf die Peloponnes betont.
Ein Mythos diente auch zur Rechtfertigung und zur Erklärung der Entstehung der viel gerühmten politischen, sozialen, wirtschaftlichen und militärischen Ordnung Spartas. Spätestens seit der Mitte des 5. Jahrhunderts wird diese Ordnung auf einen Gesetzgeber mit Namen Lykurg zurückgeführt, dessen Neugestaltung aller Lebensbereiche verantwortlich für die Stabilität der spartanischen Verfassung gewesen sei. Eunomia, das heißt: Wohl-Ordnung, nannte man sein verfassungsgebendes Werk. Auch andere griechische Städte rühmten sich großer Gesetzgeber, wie etwa Athen sich Solons rühmte, aber Lykurg war für Sparta noch bedeutender, gleichsam die Quelle seines gesamten Lebens, wiewohl er keinerlei Spuren einer nachprüfbaren Existenz hinterlassen hat. Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr. versuchte es Plutarch, immerhin einer der belesensten Autoren seiner Zeit, die ihm verfügbaren Informationen über Lykurg zu sammeln und in eine „Biographie“ einzubringen. Dieses Unterfangen scheiterte, denn, so lauten die Anfangssätze des Werkes: „Über Lykurg den Gesetzgeber ist generell nichts zu sagen, was nicht umstritten wäre, insoweit als seine Herkunft, seine Reisen, sein Ende und vor allem seine Tätigkeit als Gesetzgeber und Staatsmann unterschiedliche Darstellungen fanden. Am wenigsten aber kann über die Zeit, in der er gelebt hat, Übereinstimmung erzielt werden“. Diesem Eingeständnis zum Trotz berichtet Plutarch von Lykurgs Herkunft aus einer der beiden spartanischen Königsfamilien, daß er sogar König gewesen sei, daß er in alle Welt, z.B. nach Kreta, Asien und Ägypten gereist sei, um sich für seine Neuordnung inspirieren zu lassen, von seiner Befragung des Orakels von Delphi, von seinen Helfern und Kritikern in Sparta, von seiner letzten Lebensphase, ganz so, als ob all das verbürgt und nachprüfbar gewesen wäre. Diese „Biographie“ dient Plutarch als Folie, auf der er die spartanische Ordnung, die Lykurg geschaffen haben soll, beschreiben kann. All diese Geschichten jedoch eignen sich nicht dazu, den historischen Hergang der Gesetzgebung und schon gar nicht das Leben Lykurgs zu rekonstruieren. Aber sie sind wichtig für die Legitimation der Ordnung im Bewußtsein der Spartaner. Lykurg erscheint als ein Mittler zwischen dem Gott Apollon von Delphi und den Spartanern. Dadurch, daß sein Gesetzgebungswerk in der Legende durch das Orakel von Delphi abgesichert wurde, wurde ihm ein göttlicher Ursprung verschafft. Der Sinn dieser göttlichen Herleitung liegt auf der Hand: Jeder, der diesen „Vertrag“ (griechisch: rhetra) zwischen Göttern und Menschen in Sparta übertreten wollte, machte sich zum gottlosen Frevler. Eine bessere Garantie für den Bestand einer Verfassung kann man sich kaum denken – vorausgesetzt, die Menschen waren gottesfürchtig. Daß die Spartaner in besonderem Maße religiös waren, werden wir noch sehen. Die Ordnung des Lykurg hatte jedenfalls dauerhaften Bestand; noch im 3. Jahrhundert beriefen sich Könige in Sparta auf Lykurg, wenn sie die Verhältnisse in ihrem Sinne verändern wollten – selbst wenn diese Reformen gar nicht durch das lykurgische System gedeckt wurden.
So waren es zwei Mythen – der über die Rückkehr der Herakliden und der über den Gesetzgeber Lykurg –, die Spartas Entstehung und seine Ordnung erklären und rechtfertigen sollten und die diese Funktion im Bewußtsein der Spartaner, ja aller Griechen auch vollkommen erfüllten. Sie sorgten dafür, daß die lykurgische Ordnung menschlichem Zugriff lange Zeit entzogen bleib und damit stabil bleiben konnte. Dem Glauben an diese Mythen als eine Art Grundgesetz können wir zwei für die spartanische Mentalität charakteristische Züge entnehmen: Eine ausgeprägte Religiosität und ein starrer Konservativismus. Die Verbindung dieser beiden Eigenschaften bewahrte Sparta lange Zeit vor politischen Krisen, wie sie andere Städte durchmachen mußten, gleichzeitig ist sie aber auch dafür verantwortlich, daß die geistige und kulturelle Blüte der klassischen Zeit Griechenlands nahezu spurlos an Sparta vorüberging.
Bevor wir Spartas Geschichte von den dunklen Gründerzeiten in das dem Betrachter etwas deutlicher vor Augen liegende Zeitalter der messenischen Kriege und der beginnenden Herrschaft über die Peloponnes, also bis an das Ende des 6. Jahrhunderts begleiten, wollen wir einen Blick auf die soziale und politische Ordnung dieser Stadt werfen, so wie sie Lykurg zugeschrieben wurde und wird. Auf diese Weise ist es möglich, sich in einem systematischen Überblick die Besonderheiten der spartanischen Ordnung und die ihr innewohnenden Gefahren zu vergegenwärtigen, bevor dann die historischen Entstehungsbedingungen analysiert werden.
Zum Verständnis der spartanischen Geschichte ist die Kenntnis der politischen und gesellschaftlichen Ordnung Lakoniens unerläßlich. Das folgende Kapitel wird diese deshalb in einem systematischen Überblick präsentieren. Dabei gilt es zu bedenken, daß Spartas Ordnung nicht in einem einzigen Akt geworden ist. Ihre Ausbildung vollzog sich vielmehr über mehrere Jahrhunderte, wobei entscheidende Faktoren waren: die Stammesorganisation der Dorier, die Unterwerfung der ansässigen Bevölkerung, die ständigen Kriege gegen die Nachbarn, Bevölkerungswachstum und soziale Krisen – alles zusammen trug zur Ausbildung des „historischen“ Sparta, wie es seit 500 v. Chr. vor unser Auge tritt, bei.
Die Griechen lebten in der archaischen und klassischen Zeit bis auf wenige, besonders im Norden und Westen gelegene stammesherrschaftlich organisierte Ausnahmen (Ätoler, Makedonen), in Städten, den poleis. Diese Stadtstaaten waren grundsätzlich verschieden von den Städten der Kulturen des Alten Orients oder Ägyptens; wenn überhaupt, können sie bestenfalls mit den Städten der seefahrenden Phönizier wie Tyros oder Sidon verglichen werden. Das Polisgebiet umfaßte neben dem Siedlungszentrum auch die landwirtschaftlichen Nutzflächen, die die Einwohner mit dem Lebensnotwendigen versorgten. Jede Polis hatte eine Akropolis (Bergburg), einen Versammlungs- und Marktplatz (agora)