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Rolf-Bernhard Essig und Gudrun Schury

Schlimme Finger
______________

Eine Kriminalgeschichte
der Künste von Villon bis Beltracchi

 

 

 

 

 

C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

In 16 packenden Essays und drei Überblickskapiteln präsentiert das Buch u.a. den Bildhauer Benvenuto Cellini als kaltblütigen Killer, den Schriftsteller Hans Fallada als Duellanten und Dieb, die Krimi-Autorin Anne Perry als jugendliche Mörderin, den Maler Wolfgang Beltracchi als Fälscher und Betrüger.

Schon seit der Renaissance gibt es die These, der Schritt vom Genie zum Verbrecher sei klein. Der Kreative werde geradezu getrieben, seine Besonderheit maß- und schrankenlos auszuleben. Die Autoren entkräften nicht nur dieses reizvolle, doch haltlose Klischee, sie räumen auch mit biografischen Märchen über die Künstlerverbrecher auf.

Über die Autoren

Dr. Rolf-Bernhard Essig und Gudrun Schury leben als Schriftsteller, Kolumnisten und Entertainer in Bamberg. Von ihnen erschienen zahlreiche unterhaltsame Sachbücher, Artikel für Printmedien und Rundfunkbeiträge. Gudrun Schury veröffentlichte zuletzt Biografien über Wilhelm Busch und Gabriele Münter, Rolf-Bernhard Essig das Sachbuch Ein Meer ist eine See ist ein Ozean.

 

 

Nehmt also zur Kenntnis, dass Männer wie Benvenuto, die in ihrem Beruf einzigartig sind, nicht dem Gesetz unterworfen sein müssen.

Papst Paul III. über Benvenuto Cellini

 

Zwischen Verbrechen und Kultiviertheit besteht kein wesentliches Missverhältnis.

Oscar Wilde

Inhalt

Das Prinzip Cardillac oder: Warum das Thema «Verbrechen und Kunst» seit Neros Zeiten fasziniert. Ein Vorwort

Der Verschollene. Leben und Verschwinden des gesetzlosen Dichters François Villon

Die Wangen des Bildschnitzers.
Veit Stoß und die Nürnberger Gerichtsbarkeit

Mord? Das kann schon mal vorkommen.
Oder öfters. Der Fall Benvenuto Cellini

Liebeszauber und Doppelmord. Das außergewöhnliche Leben des musikalischen Extremisten Carlo Gesualdo

Blutige Signaturen. Die Extravaganzen des Malers Michelangelo Merisi da Caravaggio

Der Dandy mit dem Strychnin:
Thomas Griffiths Wainewright

Die Akte Karl May. Eine Kriminalgeschichte mit beinahe weltpolitischen Dimensionen

Wer einmal aus dem Blechnapf frisst …
Rudolf Ditzen alias Hans Fallada

«Ein guter Attentäter und ein guter Schriftsteller»:
Ernst von Salomon

Zwischenruf: «Der soll doch ein ganz schlimmer Finger gewesen sein …» Was man Künstlern so alles zutraut

Albertine Sarrazin und das gebrochene Sprungbein

Der gefangene Schmetterling: Henri Charrière

Tagebuch eines Diebes. Der Kultdichter Jean Genet

Gar keine himmlische Kreatur. Wie die Schriftstellerin Anne Perry ihren Mord überlebte

«Tränen der Unwissenheit».
Der Mörder und Autor Norio Nagayama

Von Dagobert zum Eulenspiegel: Arno Funke

Gewaltexzesse, brennende Kirchen, Drive-by-Shootings:
Rock-, Metal-, Rap- und Hip-Hop-Musiker

«Mein Beitrag zur Kunst».
Der Fälscher Wolfgang Beltracchi

Anhang

Nachweis der Zitate

Zum Weiterlesen

Personenregister

Register der Straftaten

Bildnachweis

Dank

Das Prinzip Cardillac oder:
Warum das Thema «Verbrechen und Kunst» seit Neros Zeiten fasziniert. Ein Vorwort


 

 

Ihre Finger brauchten sie alle dazu: ob sie mit ihnen schossen oder stahlen, fälschten oder zuschlugen. Die Dichter, Maler und Komponisten, die wir Ihnen vorstellen, bedienten sich nicht nur ihrer Künstlerfinger auf schlimme Weise, sondern sie waren selbst schlimme Finger, manche sogar mehr als das: Kriminelle, Gangster, Ganoven, Banditen, Schwerverbrecher.

Unser Buch hätte auch Das Prinzip Cardillac heißen können, denn in dieser Figur aus E. T. A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi sind Kunst und Verbrechen exemplarisch vereint. Noch viel skrupelloser als eins seiner Vorbilder, Benvenuto Cellini, handelt der Goldschmied Cardillac. Beherrscht von der obsessiven Beziehung zur eigenen Schöpfung, tötet er die Käufer seiner Geschmeide, um wieder in deren Besitz zu gelangen.

Der Kriminelle, dem das letzte Kapitel unseres Buches gewidmet ist, kennt die Erzählung. Auf die Frage: «Stimmt es, dass Sie Ihre eigenen Bilder irgendwann sogar zurückkauften?», antwortete der Maler und Fälscher Wolfgang Beltracchi: «Es gibt eine Geschichte von E. T. A. Hoffmann, die im Paris des 17. Jahrhunderts spielt, über einen Juwelier, der ganz tollen Schmuck macht. Jedes Mal, wenn er ein Schmuckstück verkauft hat, werden die Damen ermordet und verschwindet der Schmuck. Ich habe natürlich die Besitzer der Bilder nicht ermordet, aber ich kann das verstehen. Ich wollte meine Bilder wiederhaben und sie eigentlich auch nie verkaufen.» Ist also Verbrechen im Künstlertum notwendig angelegt, eben weil der Künstler so eng mit seinem Kunstwerk verbunden ist? Das kann jedenfalls nur für den Schöpfer eines singulären Bildwerkes gelten, das nach dem Verkauf vielleicht für immer in einem Safe verschwindet. Literaten und Komponisten dagegen teilen jeden Buchstaben, jede Note, die sie schreiben, mit ihrem Publikum. Literatur muss gelesen, Musik gehört werden, um als Kunst zu existieren. Also werden Schriftsteller und Musiker wenig davon haben, die Käufer ihrer Kunst zu ermorden. Eher schon erfinden sie welche.

Es gibt aber durchaus Verbrechen, die dem Künstler generell näher liegen als einer Verwaltungsangestellten oder einem Schornsteinfeger: Warum sich mit 600 Euro für eine Originalzeichnung zufriedengeben, wenn man doch für eine Salvador-Dalí-Fälschung das Zwanzigfache bekommen kann? Warum mühselig Gedichte zusammenstopseln, wenn man das Plagiat altfranzösischer Lyrik als eigenes Werk ausgeben kann? Warum nächtelang eine Filmmusik komponieren, wenn man sich bei Igor Strawinsky und Arvo Pärt bedienen kann? Warum für Gewinne aus Bilderverkäufen oder Plattenverträgen Abgaben bezahlen, wenn man das Geld in Steueroasen parken kann? Auch geraten Künstler wohl leichter als Busfahrer oder Bäckereifachverkäuferinnen in ein Milieu aus Drogen, Alkohol und Beschaffungskriminalität. Oft suchen sie ja sogar speziell die Erfahrung von Entgrenzung. Für manche Kunstschaffende gehörten und gehören illegale Rauschmittel zum Selbstverständnis, ja unabdingbaren Stimulans ihrer Produktion. Ob Opium-Esser, Absinth-Trinker oder Kokain-Schnupfer, die Liste berühmter Konsumenten ist lang. Trauriges Beispiel für einen unter Drogen- und Alkoholeinfluss zum Täter gewordenen Schriftsteller ist William S. Burroughs. Weil er für sich und seine ebenfalls drogenabhängige Frau Joan Vollmer Geld brauchte, lud er einen Käufer nach Hause ein, um ihm ein paar Waffen zu zeigen. Außerdem anwesend: seine Frau, sein Sohn William junior, zwei Studenten. Alle sind bereits abgefüllt mit Tequila, Whiskey, Gin, als Burroughs die Idee mit dem Wilhelm-Tell-Spiel hat. Joan stellt sich ein Whiskeyglas auf den Kopf, William schießt darauf. Kurz danach stirbt sie im Krankenhaus an der Schussverletzung.

Auch abseits von Totschlag und Drogen bewegen sich Künstler nicht selten am Rand der Legalität. Manche Inszenierer von Happenings müssen notwendig Gesetze übertreten, wenn sie ihre Botschaft unters Volk bringen wollen: «Kunst und Verbrechen», so schrieb ein New Yorker Chefredakteur 2004, «scheinen derzeit ein gutes Paar abzugeben, und mir persönlich gefällt der Einfluss, den sie aufeinander ausüben. […] Es ist unmöglich, all den Streichen und Vergehen nachzugehen, die täglich auf den Straßen, in Galerien und Kunstakademien begangen werden, aber es ist wichtig, ihren kollektiven, zornigen Geist anzuerkennen. Künstler haben Entführungen durchgeführt, haben Bombenattrappen gebastelt oder Bombendrohungen ausgesprochen, Dokumente gefälscht und sich für jemand anderen ausgegeben, öffentliches Eigentum besetzt oder zerstört und im Namen der Kunst so gut wie alles vandalisiert, zweckentfremdet oder entwendet. Uns gefällt das, weil es komisch ist, weil uns situationistische Interventionen im Alltag zum Lachen und zum Nachdenken bringen.»

Handelt es sich bei solchen Aktionen um Erregung öffentlichen Ärgernisses, etwa durch eine Nackt-Performance, um Verstoß gegen das Versammlungsverbot durch einen inszenierten Flashmob oder um Eigentumsdelikte wie das Bemalen besetzter Häuser, mag man lange diskutieren, wo die Kunst aufhört und das Verbrechen beginnt. Die Grenze eindeutig überschritten hat der wegen seiner radikalen Bilder, aber auch wegen seiner Farb-, Blut- und Ausscheidungsorgien bekannte Aktionskünstler Otto Muehl, der in seiner Kunstkommune Minderjährige manipulierte, demütigte, traumatisierte, sexuell missbrauchte und mit Drogen versah, was ihm 1991 eine Verurteilung zu sieben Jahren Haft einbrachte. Auch bei manchen Musikern sind Exzesse, Gewalt und Zerstörung oder der Aufruf zu ihnen unverzichtbarer Teil ihrer Performance, so schon bei Alice Cooper, den Sex Pistols oder Marilyn Manson – wobei die provokanten Äußerungen meist der Bühnensphäre vorbehalten bleiben.

Ganz allgemein ist jeder kreative Kopf, der sich über Normen hinwegsetzt, potenzieller Adressat für Anzeigen wegen Pornografie, Religionsverhöhnung, Beleidigung, Störung des öffentlichen Friedens. Gerade bildende Künstler haben immer wieder den Gesetzesbruch als Teil ihrer künstlerischen Arbeit zelebriert – manchmal ununterscheidbar vom politischen Protest. Die Aufmerksamkeit für ein verbotenes Graffito oder eine Schweineblutschüttung auf offener Straße ist natürlich höher, als wenn man ein Blumenstillleben in eine Galerie hängt. Polizei, Presse und bürgerliche Empörung werden zu Protagonisten der künstlerischen Aktion. Ein hervorragendes Beispiel dafür lieferte 1976 der Künstler Ulay (Frank Uwe Laysiepen): Im Rahmen einer Aktion mit dem Titel Da ist eine kriminelle Berührung in der Kunst stahl er Carl Spitzwegs Gemälde Der arme Poet aus der Berliner Neuen Nationalgalerie, transportierte es im Auto nach Kreuzberg, wo er es in der Wohnung einer türkischen Gastarbeiterfamilie an die Wand hängte, um schließlich dem Museumsdirektor den Aufenthaltsort des Bildes mitzuteilen. Die gesamte Aktion wurde filmisch und fotografisch festgehalten, die Presseberichte waren Teil von ihr. Warum gerade der Arme Poet einen Ausflug in die Türkenwohnung unternahm? «Weil es absolut nicht mein Lieblingsbild war. Und ich wollte es ja auch nicht behalten. […] Natürlich ein sehr romantisches Bild – und eines der Lieblingsbilder von Hitler. 1976 habe ich mich in Kreuzberg aufgehalten, und es war einfach grauenhaft, ein verrottetes, vergammeltes Ghetto, in dem die Türken leben mussten, weil sie nirgendwo anders gern gesehen waren. […] Dagegen wollte ich irgendeine Irritation setzen – wie beispielsweise den Spitzweg auszuleihen.» Kunstraub als Gesellschaftskritik: ein Delikt, das an der Grenze von Kriminalität und Kreativität angesiedelt ist.

Vergehen wie Mord, Desertion oder Urkundenfälschung sind dagegen nicht künstlerspezifisch; sie kommen quer durch alle Gesellschaftsschichten vor, denn sie haben nichts mit dem Berufsstand des Dichters, Malers oder Musikers zu tun. Es gibt reiche und arme Gesetzesbrecher, welche mit großbürgerlichem Hintergrund und welche, die schon als Kinder zu den Underdogs zählten. Etliche fingen als Jugendliche an, krumme Dinger zu drehen, andere waren bei ihren Verbrechen bereits gestandene Männer. So wie allgemein in der Kriminalgeschichte übertrifft auch bei den Künstlern der Anteil männlicher Verbrecher denjenigen der weiblichen bei weitem. Das Missverhältnis ist hier freilich besonders groß, weil es über Jahrhunderte für Frauen kaum möglich war, künstlerisch zu arbeiten, und wenn es doch gelang, wollten sie die seltene Chance natürlich nicht gefährden. Einige Künstler wurden nur einmal straffällig, andere stahlen serienmäßig. Auch die Schwere der Verbrechen hat nichts Spezifisches; sie reicht vom Diebstahl einiger Taschentücher bis zum brutalen Doppelmord. Im Anhang unseres Buches macht das Register der behandelten Straftaten deutlich, dass der Künstler am Vorkommen verbotener Handlungen von A wie Amtsanmaßung bis Z wie Zuhälterei genauso beteiligt ist wie der Rest der Bevölkerung.

Und trotzdem reizt die Frage: Was ist so anders, wenn ein Künstler Verbrechen begeht? Eine alte Frage. Gerade in Anschluss an Sigmund Freud widmeten sich Psychoanalytiker und Psychiater dem Thema Genie, Irrsinn und Ruhm (so der Titel eines Buches von 1927), unter das für sie auch das Künstlerverbrechen fiel. Die Wissenschaftler kamen zu dem Schluss, dass über den Durchschnitt hinausragende Schöpfergenies sogenannte bionegative Anteile, also Neurosen oder Psychosen, in ihrer Persönlichkeit hätten oder aber ein tragisches Schicksal, was sie besonders empfänglich und geeignet mache für den kreativen Akt: «Ursächliche Quelle des Schaffens ist beim Genialen fast immer das Bionegative, das, im Strom des Werkes fließend, in das Meer des Ruhmes mündet. Fast überall, namentlich aber auf den aus Affekten gespeisten und Affektives vermittelnden Gebieten der Kunst bleibt der begabte ‹Irrsinn› Sieger über das einfache gesunde Talent». Gleichzeitig verdienstvoll und befremdlich wirkt in dem über 700 Seiten dicken Werk der Hauptteil «Pathographien». Ob van Gogh oder Leonardo, de Sade oder Mozart – ihre Lebensläufe werden aufgrund einer erdrückenden Fülle schriftlicher Zeugnisse nach Merkmalen körperlicher und seelischer Krankheiten sowie nach kriminellen Aktivitäten durchsucht. In der notwendigen Verknappung gerät das mitunter unfreiwillig komisch, so wenn es über Paul Verlaine heißt: «Diesem größten Dichter der Symbolisten gelingen manchmal Perlen von Stimmungsgedichten. Sonst Vagabund und Verbrecher.» Oft gleicht die Zusammenstellung von Zitaten aus älterer Sekundärliteratur einem Schreckenskabinett. Ein Dichter wie Oscar Wilde wurde kurzerhand als «entartet» bezeichnet, als «narzißtisch homosexuell», als ein «kriminell Genialer», als «sexuell abnorme, dabei luetisch infizierte, psychisch erheblich bionegative Persönlichkeit». Besonders umfangreich sind die Artikel immer dann, wenn sich Wahrheit und Gerüchte ununterscheidbar mischen. Anders als heutige Historiker, die sich quellenkritisch und relativierend mit dem Phänomen Nero auseinandersetzen, waren sich frühere Autoren ganz sicher: «Geisteskrank … melancholisch … von innerer Angst gequält … rastlos … Komödiant … 24 Mitglieder [seiner Familie] einem gewaltsamen Tod überliefert … Gehörs- und Gesichtshalluzinationen … Epilepsie oder Paranoia … grausame Erotik … Brandstiftung … Schwerst belasteter Bionegativer mit anscheinend psychotischen Zügen.» Die dem Kaiser zugeschriebenen Grausamkeiten lassen sich eben schwer vereinbaren mit seinem Ruf als Schöngeist und Dichter. Dass zwei – oder noch viel mehr – Seelen in einer Brust wohnen, ist so einleuchtend wie schwer zu vermitteln.

Längst wissen wir, dass der Künstler nicht notwendig wahnsinniger ist als … sagen wir: ein Geschäftsführer oder Staatspräsident. Im Gegenteil: Viele Künstler zeichnen sich durch Sensibilität, Moralempfinden, Empathie und einen kritischen Umgang mit den Auswirkungen von Kapitalismus, Intoleranz oder Freiheitsbeschränkung aus. Aber wenn es nicht der Wahnsinn ist, nicht die psychische Krankheit – was bringt dann den Dichter zum Stehlen, den Maler zum Fälschen und den Musiker zum Morden? Das, was auch andere Menschen zum Stehlen, Fälschen oder Morden bringt. Ein plötzlicher Blackout. Geldnot. Die Überwältigung durch Hass, Gier oder Neid. Eifersucht. Egoismus. Eitelkeit.

In der Motivation zur Tat lässt sich selten ein künstlerisches Moment feststellen. Ideen wie diejenige, man könne den Mord als eine schöne Kunst betrachten, wie Thomas de Quincey es formuliert, gehören ins Reich des satirischen Essays. Zwar hat Benvenuto Cellini einen Konkurrenten durch Dolchstoß ausgeschaltet, was als grausamer künstlerischer Akt durchgehen mag, aber all die anderen Mörder, die wir vorstellen, töteten nicht als Künstler, sondern als Menschen. Sie töteten aus Jähzorn, Rache oder verletztem Ehrgefühl (Benvenuto Cellini, Carlo Gesualdo, Michelangelo da Caravaggio), weil sie Geld brauchten (Thomas Griffiths Wainewright, Norio Nagayama) oder verwirrten Idealen folgten (Hans Fallada, Ernst von Salomon, Anne Perry).

Vor der Tat lässt sich der Künstlerverbrecher nicht vom Handwerker- oder Handelsvertreterverbrecher unterscheiden. Jedoch nach der Tat. Ob François Villon seine Ankläger verhöhnt oder ein Chanson auf den Strick macht, an dem er baumeln soll, ob Caravaggio blutige Signaturen in seinen Gemälden hinterlässt, ob Norio Nagayama sich dem Kampf gegen die Todesstrafe verschreibt, ob sich Karl May, Hans Fallada, Albertine Sarrazin, Henri Charrière und Jean Genet literarisch mit dem Knastleben auseinandersetzen, ob Anne Perry sich zeitlebens der Schuldfrage stellt: Bei keinem der von uns vorgestellten Künstler sind Vergehen, Prozess oder Bestrafung ohne künstlerische Bewältigung geblieben.

Dem Gefängnis kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Was macht es mit einem Künstler? Manchen macht es erst zum Künstler. So fingen Richard Savage (Totschläger), Karl May, Albertine Sarrazin, Henri Charrière, Jean Genet, Norio Nagayama, Jack Unterweger (Mörder) und Arno Funke erst hinter Gittern mit dem Schreiben an. Andere hindert es an der Kunst: Wäre Veit Stoß nicht ins Lochgefängnis gekommen, hätte er in jener Zeit weiter an seinen Skulpturen arbeiten können. Wieder anderen – wie Hans Fallada, Albertine Sarrazin und Jean Genet – bietet es die Abgeschiedenheit, die Drogenabstinenz und den geordneten Tagesablauf, die sie zum Schreiben benötigen. Und dann gibt es Künstler, die durch den Aufenthalt in der Zelle geläutert werden, die bereuen und ihr Leben danach auf eine neue Grundlage stellen: Anne Perry, Arno Funke. Für einige Künstler gilt sogar der Satz, dass sie erst durch Verbrechen und Gefängnis zu Ruhm und Geld gelangten. Weder Albertine Sarrazin noch Henri Charrière noch Jean Genet hätten zu Beginn ihrer Karriere ohne derartige Erfahrungen etwas zu erzählen gehabt.

An dieser Stelle sollte sich Widerspruch regen: Wie, diese Leute begehen Verbrechen, nur um dann im Kittchen ihre künstlerische Ader zu entdecken und anschließend einen Haufen Kohle mit der Glorifizierung ihres Ganovenlebens zu verdienen? Dem Vorwurf waren vor allem «Gentlemanverbrecher» wie der Erpresser Arno Funke oder Fälscher wie Elmyr de Hory, Edgar Mrugalla und Wolfgang Beltracchi ausgesetzt, aber auch der als Papillon weltberühmt gewordene Schriftsteller Henri Charrière. Man missgönnte ihnen den Promi-Glamour, denn eigentlich, so die Stammtischmeinung, hätten sie ihr restliches Leben still und bescheiden im Büßerhemd zu verbringen. Doch nicht jede Gefängnisaufzeichnung hat das Zeug zum Bestseller. Dass wir heute Hans Fallada, Albertine Sarrazin oder Norio Nagayama als Literaten begreifen und nicht als Verbrecher, die irgendetwas Autobiografisches niederschrieben, hat natürlich mit der Qualität ihrer Werke zu tun. Dostojewski hätte noch so oft Bankrott machen und sich mit umstürzlerischen Gedanken tragen können, Jack London hätte noch so viele Austernbänke ausrauben und sich als Hobo herumtreiben können – ohne ihre Romane wären beide vergessen.

Umgekehrt ist man gerne bereit, den Schöpfern unvergesslicher Geschichten, unsterblicher Gemälde oder unvergänglicher Melodien ein paar Sünden zu vergeben, ja ihre Werke strikt von ihrem Leben zu trennen. Was kümmert ein Überfall hier, eine Schlägerei dort, wenn am Ende Weltliteratur, Spitzenmusik, Meistermalerei entsteht? Denkt man diesen Gedanken zu Ende, so führt er zu der Schlussfolgerung, ein Künstler sei nicht recht mit irdischen und also auch nicht mit gesetzlichen Maßstäben zu messen. Der Schein seiner Gloriole überstrahle eben jeden Makel. Doch verlangt man damit nicht auch, dass sich Justitia von diesem Licht blenden lasse?

Ob eine weiße Literaturnobelpreisträgerin für das gleiche Vergehen genauso hart bestraft wird wie ein schwarzer Drogendealer, darf bezweifelt werden. Zumindest bei den Prozessbeobachtern wird die Lady einen großen Bonus haben. Wir alle müssen uns fragen, ob wir bei der Beurteilung von Künstlern nicht der alten klassisch-romantischen Vorstellung vom Genie anhängen, das eben, weil es ein Genie ist, sich ungehöriger benehmen darf als der biedere Bürger, der die genialen Schöpfungen dankbar bewundernd in Empfang nimmt – und alles verzeiht.

Eine Menge Namen von Künstlerverbrechern fielen bereits – es wäre noch von vielen weiteren zu berichten. Für unser Buch haben wir diejenigen ausgewählt, deren Biografien überraschend, abenteuerlich oder exemplarisch sind. Nicht selten stießen wir auf Lebensläufe, die uns bekannt vorkamen: erst Gaunereien, dann Gefängnis, dort Anfang der Schriftstellerei. In diesem Fall beschränkten wir uns auf die Dichterkriminellen, deren Werke auch ohne den verbrecherischen Touch literarischen Bestand haben.

Was die bildenden Künstler betrifft, wiesen uns die Studien des Kunsthistorikers Horst Bredekamp auf ein höchst merkwürdiges Phänomen hin. Unter dem Titel Der Künstler als Verbrecher beleuchtet er eine über längere Zeit hinweg gebräuchliche Argumentation: Ein Künstler müsse wegen seiner Einzigartigkeit von der gängigen Rechtspraxis ausgenommen werden. Das Dokument eines Gelehrten von 1634 beweist, dass man sich damals schon auf etwas Übliches berufen konnte: «Ich weiß, daß Künstlern, die in ihrer Kunst ausgezeichnet sind, schwerste Sünden, deren Ungeheuerlichkeit mit höchstem Schrecken verbunden war, vergeben wurden, um ihr vorheriges Verdienst nicht zu vergeuden». In einer aufschlussreichen Konzentration auf die Zeit des 16. und 17. Jahrhunderts im Italien päpstlicher Allmacht und fürstlicher Willkür führt Bredekamp an den Beispielen von Michelangelo, Cellini, Leoni, Cesari und Bernini vor, wie die als begnadet angesehenen Goldschmiede, Maler und Bildhauer Bewunderung, Macht und Reichtum errangen, obwohl sie wegen ihrer Vergehen von unerlaubter Entfernung über Hochverrat, Körperverletzung, Falschmünzerei bis hin zu mehrfachem Mord das Gefängnis, wenn nicht die Hinrichtung verdient hätten. Sie aber wurden in ihrem anerkannten «Anspruch auf Ebenbürtigkeit» von Papst oder Kaiser begnadigt, ja noch belobigt, beschenkt und ausgezeichnet. Denn schließlich hätte der Hof durch Verbannung oder Tod eines herausragenden Künstlers unwiederbringlich Ruhm und Reputation verloren. Außerdem machten der Gnadenakt sowie die behauptete Einzigartigkeit und Gleichrangigkeit aus dem Künstler für immer einen loyalen Diener der Obrigkeit, der sich darauf verlassen konnte, dass er trotz seiner Missetaten weitgehend straffrei bleiben würde – «als wenn es für ihn keine Herren und keine Justiz gebe», wie Berninis Mutter über ihren Sohn klagte, der sich aufführe wie «der Herr der Welt».

Es mutet im Übrigen wie ein Treppenwitz an, dass eben jener Horst Bredekamp, seriöser Erforscher des Künstlerverbrecherphänomens, 2012 in die Schlagzeilen kam, weil er ein paar Jahre zuvor auf eine Fälschung hereingefallen war. Sein spektakulärer Fund von bis dato unbekannten eigenhändigen Zeichnungen Galileo Galileis in einer Ausgabe von dessen astronomischem Werk Sidereus Nuncius stammte in Wahrheit von dem in Sachen Betrug überaus geschickten italienischen Antiquar Marino Massimo De Caro, immerhin unter Hinterlassung einiger verräterischer Fehler, beispielsweise einem «Fleck neben dem Fuß eines P auf der Titelseite».

Die Geschwister Fälschung und Plagiat sind heutzutage weit verbreitet unter den illegalen Handlungen von Künstlern, auch Steuerhinterziehung gehört zur Familie. Noch vor hundert Jahren dagegen hätte man meinen können, Blasphemie, Homosexualität und Kommunismus seien unter Künstlern so verbreitet wie die Schwindsucht unter Dirnen. Ein dramatisch gewandeltes Rechtsverständnis lässt uns heute übersehen oder gar goutieren, weswegen man damals ins Zuchthaus wandern konnte. Aus diesem Grund fehlen etliche Künstler in unserer Zusammenstellung, die man einst als Kriminelle behandelte. Nur weil der katholische Barockkomponist Francis Tregian d. J. sich weigerte, anglikanische Gottesdienste zu besuchen und deswegen seine letzten zehn Jahre im Gefängnis verbrachte, nur weil man den Schriftsteller Oscar Wilde wegen unzüchtiger Handlungen mit männlichen Prostituierten zu zwei Jahren Zuchthaus und Zwangsarbeit verurteilte, nur weil der Zeichner Erich Ohser, der als e. o. plauen die Bildergeschichten von Vater und Sohn unsterblich machte, wegen antinationalsozialistischer Hetze vor den Volksgerichtshof gestellt wurde, sind sie noch keine Künstlerverbrecher. Ihre «Vergehen» spiegeln die Moralvorstellungen und Ideologien vergangener Epochen, die wir zum Glück hinter uns gelassen haben. Freche Texte, «entartete» Musik, gotteslästerliche Malerei oder unpatriotisches Verhalten innerhalb totalitärer Regime erscheinen aus heutiger Sicht eher als Qualitätsmerkmal und Auszeichnung. Der Pluralismus innerhalb der Kunst, der auch einst Verbotenes oder anderswo Geächtetes zulässt, ist ein hohes Gut. Noch 1965 konnte ein selbsternannter «Kunst-Verbrecher»-Entlarver über die Dadaisten schreiben: «ein sonderlicher Haufen von Drückebergern, Deserteuren und Schwindlern aus allen Ländern …, die sich zu einer Front der geistig-ästhetisch-ethisch Defekten zusammenschloß». Man möchte schier selbst defekt werden.

Schließlich sei noch eine heikle Frage angesprochen: Sollte man in einer Kriminalgeschichte der Künste Männern ein Forum geben, deren Verbrechen ihre künstlerische Leistung in einen Schatten stellt, der schwärzer nicht gedacht werden kann? Bekanntlich begann Adolf Hitler als Maler, bekanntlich versuchten sich die Diktatoren Stalin und Mao als Lyriker; weniger bekannt ist, dass Joseph Goebbels einen viel gelesenen Roman mit dem Titel Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern schrieb, und auch der polnische Rechtsnationalist Eligiusz Niewiadomski, der 1922 Präsident Narutowicz erschoss, war eigentlich Maler und Illustrator. Wir haben entschieden: Diese Personen sollen nicht mit dem Wort «Künstler» zusammen in einem Satz genannt werden, selbst wenn er auch noch das Wort «Verbrecher» enthält.

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François Villon: Le Testament, Illustration in der Erstausgabe, Paris 1489

Der Verschollene. Leben und Verschwinden des gesetzlosen Dichters François Villon


 

 

«François Villon war armer Leute Kind», so beginnt Bertolt Brechts Gedicht Vom François Villon. Es gibt kaum einen Dichter, bei dem sich Wahrheiten, Gerüchte und Zuschreibungen derart vermischen wie bei diesem spätmittelalterlichen Verbrecherkünstler, von dem jeder schon mal was gehört hat: irgendwas mit Vagant und irgendwas mit Laster. Das mit «armer Leute Kind» mag stimmen, kann aber auch genauso Legende sein wie vieles andere. Weil man nur wenige Einzelheiten aus Villons Leben kennt, müssen meist seine Gedichte herhalten, um die biografischen Lücken zu schließen. Doch wo kämen wir hin, identifizierten wir jedes gedichtete «Ich» mit dem Dichter dieses Ich! Wenn Villon in seiner Ballade von der dicken Margot, die im Bordell angesiedelt ist, schreibt: «Mein Stock weiß da gleich Rat,/bläut ihrer Nase meine Handschrift ein», dann kann man nicht daraus schließen, der historische Villon habe eine Dirne verprügelt. Es scheint halt zu ihm zu passen.

Stattdessen gilt es, sich auf diejenigen Quellen zu beschränken, die zumindest die kriminelle Karriere des genialen Lyrikers dokumentieren. Gäbe es keine Gerichtsakten, wüssten wir so gut wie nichts über sein Leben. Auch Geburtsname, -ort und -datum sind nur erschlossen. Man geht davon aus, dass ein gewisser François de Montcorbier oder auch François de Loges irgendwann im Frühjahr oder Sommer 1431 in Paris das Licht der Welt erblickte, früh den Vater verlor und in der Obhut des Kaplans Guillaume de Villon (also aus dem Ort Villon gebürtig) aufwuchs. Man weiß, dass er 1449 den Grad des Bakkalaureus erlangte und 1452 denjenigen eines Magister Artium an der Theologischen Fakultät. Somit unterstand er der Kirche. Man schließt aus zwei Gnadengesuchen, dass sich der junge Gelehrte seit 1456 Villon nannte, denn das eine Gesuch unterschrieb er mit «Françoys de Monterbier», das andere mit «François des Loges, genannt auch de Villon». Mit seinem ersten Gesetzesverstoß werden die Zeugnisse dichter. Sowohl das Opfer wie die Art der Tat sind bekannt: Bei einer Rauferei am 5. Juni 1455 wird der Priester Philippe Chermoye (oder Sermoise) vor der Pariser Kirche Saint-Benoît-le-Bétourné schwer verletzt. Zwischen ihm und Villon war es zu einem Streit gekommen, der Kleriker verwundete Villon mit einem Dolch an der Lippe, dieser wehrte sich mit einem Pflasterstein, traf Chermoye am Kopf. Während Villon sich unter dem Namen «Michel Mouton» (Michael Schaf) von einem Bader verarzten ließ, starb der Priester am nächsten Tag im Krankenhaus. Zuvor hatte er seinem Angreifer noch verziehen.

Villon zog es vor, die Stadt zu verlassen, setzte jedoch vorher die beiden oben genannten Gnadengesuche an den König auf. Nach einem halben Jahr wurden sie positiv beantwortet, und Villon kehrte nach Paris zurück. Allerdings nicht, um ab jetzt das Leben eines Gelehrten oder Predigers zu führen. Zusammen mit vier früheren Kommilitonen, die zwar ebenfalls einen universitären Abschluss – drei davon einen theologischen – hatten, aber auch wegen Eigentumsdelikten vorbestraft waren, setzte er um Weihnachten des Jahres 1456 herum einen Einbruch beim Collège de Navarre, einem Kolleggebäude der Pariser Universität, ins Werk. Beute: 500 Goldtaler. Mit seinem Anteil verschwand Villon Richtung Angers, fast 300 km südwestlich von Paris gelegen. Im darauffolgenden Frühjahr war das Geld verbraucht und zudem die Beteiligung des flüchtigen Villon am Einbruch aufgedeckt.

Es könnte sein, dass eine großzügige Geste des Herzogs und Dichters Charles d’Orléans aus Anlass der Geburt seiner Tochter im Dezember 1457 Villon vor einer strengen Bestrafung bewahrte. Jedenfalls bezieht man ein langes Huldigungsgedicht an die am 19. Dezember 1457 geborene Marie d’Orléans darauf, in dem ein Ich erklärt, es wäre schon ein toter Mann, wäre nicht Marie erschienen. Demütig endet der Lobpreis in einem Rollenklischee des 26-jährigen Gesetzesbrechers: «Votre pauvre écolier François – Euer armer Scholar François». Auch ein ebenfalls damals entstandener Zyklus von vierzig Strophen, das sogenannte Legat oder Kleine Testament, ist voller solcher Maskierungen. Mal ist der Protagonist ein Liebeskranker, mal ein fahrender Ritter, mal ein großzügiger Herr, mal ein frommer Beter, mal ein fluchender Knecht, mal ein Lateinschwätzer … und immer ein Schalk voller anzüglicher Sprüche. Der hat nichts Besseres zu tun als diesem und jenem lauter treffende Dinge zu vermachen wie Peitschenhiebe, Spinnweben, fremde Gelder oder ein «Bündel Stroh … für seine Liebestätigkeit,/zwar gäb es andre Tätigkeiten,/doch weiß er da nicht so Bescheid.»

Wie François Villon die Zeit bis 1462 verbrachte, weiß man nicht genau, man versucht nur, den Verlauf seiner Wanderungen zu rekonstruieren: möglicherweise von Angers nach Saint-Généroux, dann nach Bourges, Blois, Orléans, schließlich Moulins. Das wäre alles in allem ein Zickzackkurs von über 700 Kilometern. Weiterhin nimmt man an, dass Villon einerseits Verbindung zu vornehmen Personen an den Höfen von Blois, Orléans und Moulins hatte, andererseits zur Organisation der «Coquillards».

Wenn eine Gruppe die Coquille, also die Muschel, im Namen führt, denkt man zuerst einmal an Jakobspilger. Seit dem Frühmittelalter tragen diese zum Zeichen ihrer Pilgerschaft an Hut oder Gewand die Muschel, Attribut des heiligen Jakobus. Anders als ihre frommen Brüder auf dem Weg nach Santiago de Compostela benannten die Coquillards sich aber nach einer zwischen «Schürzenjäger» und «vagabundierender Abenteurer» changierenden Nebenbedeutung des Wortes. Im Jahr 1455 landeten 27 von den insgesamt wahrscheinlich fast 500 Mitgliedern der berüchtigten Verbrecherorganisation der Coquillards in Dijon vor Gericht, wo man sie wegen verschiedener Verbrechen wie Mord, Raub, Einbruch, Diebstahl, Betrug anklagte und etliche hart bestrafte, manche mit dem Tod.

Schon damals wurde die Sondersprache, in der die Gauner miteinander redeten, «Jargon» genannt, vergleichbar etwa dem Rotwelsch. Sie enthält außer Verballhornungen und Sinnverdrehungen Ausdrücke aus dem Lateinischen, aus Fremdsprachen, dem Altfranzösischen, der Studentensprache. Elf von Villons Balladen sind in diesem Jargon verfasst, was natürlich Fragen nach seiner Nähe zu den Coquillards aufwirft: Wer eine Sprache so beherrscht, dass er in ihr dichten kann, muss mehr als eine flüchtige Berührung mit dem Milieu gehabt haben. Ein paar Zeilen aus der zweiten seiner Gaunerballaden, ausdrücklich gerichtet an die «Coquillars» [sic] selbst, lauten im Original so:

Prince, erriere de Ruel

Et n’eussiez vous denier ne pluc,

Qu’au giffle ne laissez la pel

Pour l’amboureux qui rompt le suc.

Man hat versucht, das im Deutschen nachzuahmen:

Fockt, Proscherprinzen, schiebes von Ruel!

Wer roofig, sonder Daul da filoutiert,

Der läßt darob den Kobis samt dem Fell,

Vom Dallinger wird er am Dolm geschniert.

Verzichtet man auf solch lautmalende Bandensprache, entsteht eine zwar verständliche, dafür aber wenig farbige Übersetzung:

Ihr Herrn, schlagt niemals einen tot,

so teures Geld bringt euch kein Glück,

und kein Appell hilft in der Not,

der Henker bricht euch das Genick.

Dokumentiert ist dann wieder für den Sommer 1461 ein Gefängnisaufenthalt Villons im Zuchthaus von Meung-sur-Loire. Vermutlich hatte er mit seinem Lebenswandel sowie seinen satirischen und unanständigen Reimen Thibaut d’Aussigny, den Bischof von Orléans, so tief verärgert, dass der ihn einsperren ließ. Villon sollte sich später auf jene Art rächen, die ihn bis heute berühmt macht: mit einem Spottgedicht. In seiner Anklage gegen den Bischof Thibaut d’Aussigny heißt es:

Mir ist er Bischof nicht noch Herr,

er sprach mir auch kein Lehen zu,

ihm schuld ich weder Treu noch Ehr,

bin nicht sein Hirsch noch seine Kuh.

Den Sommer saß ich in der Zelle

Bei Wasser und bei trocken Brot,

karg oder larg, es war die Hölle:

Gott zahl ihm heim, was er mir bot.

[…]

Was er mir schuf an Grausamkeit,

mehr als ich je beschreiben kann,

zahl heim der Gott der Ewigkeit

in gleicher Münze diesem Mann.

Die Kirche sagt und hält uns an,

den Feind zu schließen ins Gebet.

Ich sag: «Was er mir angetan

An Qual und Schmach, bei Gott es steht!»

Aus dem Gefängnis befreite am 2. Oktober 1461 den Autor eine Amnestie des frisch gekrönten Königs Ludwig XI., der auf der Durchreise in Meung-sur-Loire Halt machte. In einem Gedicht zollt Villon ihm, «dem ich verdanke Leib und Seele,/der auftat meine Kerkertür», dafür Dank: «Ich wünsche wahrlich ihm nur Gutes/und nach dem Tod das Paradies.» Von Meung-sur-Loire soll François Villon an den Hof von Herzog Jean II. de Bourbon in Moulins zurückgekehrt sein, dann irgendwohin in die Nähe von Paris gewandert. In dieser Zeit ist wohl sein teils parodistischer Gedichtzyklus des sogenannten Großen Testaments entstanden.

Dessen Balladen und Rondeaus in insgesamt 2023 Versen kreisen um die Themen Himmel und Hölle, Eros und Verbrechen, Gerechtigkeit und Vergänglichkeit, Entlarvung und Reue, Weisheit und Torheit, Klage und Anklage, Untreue und Verrat, Armut und Tod, schließlich – gemäß dem Titel – um sein Erbe. Das besteht allerdings nicht aus materiellen Dingen, sondern aus satirisch ausgeschmückten Pseudogütern wie einem gezinkten Kartenspiel, sechs Wolfsköpfen, einem Hosenfutter, einem Strauß aus Weidenruten, ein paar Gänseknochen, einer Wunderbrille, einem Tränenschälchen – und seinen Gedichten wie demjenigen über die Frauen von einst mit dem sicherlich berühmtesten Refrain von allen, unsterblich geworden in der gesungenen Interpretation durch Georges Brassens: «Mais où sont les neiges d’antan? – Doch wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?»

Mitte 1462 machte man Villon doch noch den Prozess wegen des damaligen Einbruchdiebstahls im Collège de Navarre und bestrafte ihn mit Festungshaft im Châtelet von Paris. Auch diese Strafe musste er nicht ganz absitzen, denn die Theologische Fakultät, deren Absolvent er ja war, erreichte – gegen Zahlung von 120 Goldtalern durch den Täter innerhalb von drei Jahren – seine Entlassung am 7. November 1462. Tja, «François Villon als Protektionskind, das ist wirklich das exakte Gegenteil von dem, was zum Mythos geworden ist.»

Den Begnadigten scheint freilich das Leben in Freiheit erneut zum Umgang mit jähzornigen Kumpanen verleitet zu haben. Zusammen mit ihnen wird er Ende 1462 in eine Schlägerei verwickelt, bei der Magister François Ferrebouc, päpstlicher Notar, verletzt wird. Das Urteil im kurzen Prozess lautet: Tod am Galgen. Wieder sitzt Villon im Châtelet, ja wird dort angeblich gefoltert. Wohl während er auf seine Hinrichtung wartet, schreibt er den berühmten Vierzeiler Je suis François, in dem er den Galgenstrick vor sich sieht; von ihm «wird mein Hals erfahren, was mein Arsch wiegt – Saura mon col que mon cul poise».

Im selben Geiste formuliert er seine eigene Grabschrift in Balladenform:

Hier seht ihr uns gehängt, acht oder neun,

und unser Fleisch, das wir zu gut ernährten,

ist längst zernagt, verfault, wird Erde werden,

und das Gerippe wird zu Staub verfallen.

[…]

Der Regen laugt uns aus und wäscht den Flaus,

die Sonne hat uns mählich schwarz gedörrt,

die Augen hackten Krähn und Elstern aus,

sie haben Bart und Brauen ausgezerrt.

Zu keiner Zeit sind wir hier ungestört,

von welcher Seite auch die Winde wehen,

wir Fingerhüte uns mit ihnen drehen,

zerpickt,

zerlocht von Schnäbeln und von Krallen.

Doch noch einmal kommt der Dichter davon: Aufgrund eines Gnadengesuchs an den Obersten Gerichtshof (Cour du Parlement) wird das Todesurteil am 5. Januar 1463 zwar nicht aufgehoben, aber umgewandelt «angesichts des schlimmen Lebenswandels besagten Villons» in eine zehnjährige Verbannung aus Stadt und Landkreis. Das humoristische Gedicht Dank und Bittschrift an den Gerichtshof stammt sicher aus dieser Zeit:

Ihr meine Zähne, aus dem Mund mir springet

und lobt und preist und rühmt und danket laut,

wie Orgel, Glocken und Trompeten singet,

denn beinah hättet ihr schon ausgekaut,

und ihr auch, denen es vorm Tode graut,

Milz, Leber, Lunge, jedes Atemholen,

und du mein Leib, du wüstester der Tollen,

wie Bär und Schwein im Sumpfgenist, dem schlechten,

dankt dem Gericht, es möge euch nicht grollen:

du Engelsschwester, Mutter der Gerechten!

O Fürst, gewährt mir Aufschub für drei Tage,

damit den Meinen Lebewohl ich sage,

vielleicht, daß sie an Reisegeld auch dächten,

sag fiat, o Gericht, sieh meine Lage,

du Engelsschwester, Mutter der Gerechten!

Der Aufschub von drei Tagen wurde damals vermutlich wirklich gewährt. Am 8. Januar 1463 ist es so weit: Villon verlässt Paris – und Villon verlässt unser Gesichtsfeld. Wohin er von dort aus ging, ob er seinen Unterhalt von da an legal oder illegal finanzierte, wie lange er noch lebte, ob er je heiratete, ob er Kinder zeugte, ob er am Ende der zehn Jahre nach Paris zurückging – all das ist unbekannt.

Kein Wunder, dass man seitdem versucht hat, den gesammelten Werken Villons seine Biografie abzulauschen. Aber Legenden, Meditationen, Balladen und Spottverse sind kein Tagebuch. Sicherlich fand das eine oder andere Erlebnis, die eine oder andere Person Eingang in seine Dichtungen, aber sie wurden überformt, den Erfordernissen der Gattung angepasst. Wie bei allen Texten haben wir es bei Villons Lyrik mit einer Mischung zu tun, in seinem Fall einer Mischung aus Rhetorik, Gelehrsamkeit, Lebenswirklichkeit, Utopie, Satire, Hohn, Provokation, Anklage, Ausdruck von Begehren, Furcht, Schmerz, Religiosität, Zynismus – und noch viel mehr, was der Leser herauslesen mag.

Nachdem die unmittelbare Verbreitung seiner Werke mündlich und in handschriftlichen Kopien erfolgt war, gab es schon 1489 die erste gedruckte Ausgabe der Villon’schen Gedichte. Sie blieben legendär wegen ihrer Derbheit und Gewitztheit, ihrer Wahrsprüche und Pointen. Richtig wiederentdeckt wurden sie aber erst in der Romantik, dann von Bertolt Brecht (der Villon, übersetzt von K. L. Ammer, in seiner Dreigroschenoper beklaute) und schließlich von den Chansonniers und Schauspielern bis hin zu Klaus Kinski. Er ist verantwortlich für das weit verbreitete Bild vom Erdbeermund-lüsternen, bürgerschreckenden, lasterhaften, trink- und sangesfreudigen, antiautoritären Vagabunden Villon. Es hat allerdings kaum etwas zu tun mit dem Original, denn Kinski bot einen Cocktail dar aus völlig freien, dazu metrisch ignoranten Villon-Nachdichtungen und Villon-Fälschungen, beide aus der Feder von Paul Zech stammend und auf das Jahr 1931 zurückgehend – ein «erbärmlich eindimensionaler Villon», wie es inzwischen heißen darf.

Bis heute beschäftigen also Leben und Dichten des François Villon die Übersetzer, die Interpreten, die Kollegen. Dass seine Verse so frech, seine Taten so ehrlos und seine weiteren Schicksale so unbekannt waren, brachte eine ganze Bibliothek von Editionen, Essays, Aufsätzen, Romanen, Nachdichtungen, Biografien, Theaterstücken und Booklets hervor. Zu den originellsten Annäherungen gehört immer noch das anfangs zitierte Brecht-Gedicht mit hörbaren Anklängen an Villon:

Er konnte nicht an Gottes Tischen

zechen Und aus dem Himmel floß ihm niemals Segen.

Er mußte Menschen mit dem Messer stechen

Und seinen Hals in ihre Schlinge legen.

Drum lud er ein, daß man am Arsch ihn leckte

Wenn er beim Fressen war und es ihm schmeckte.

[…]

François Villon starb auf der Flucht vorm Loch

Vor sie ihn fingen, schnell, im Strauch, aus List –

Doch seine freche Seele lebt wohl noch

Lang wie dies Liedlein, das unsterblich ist.

Als er die viere streckte und verreckte

Da fand er spät und schwer, daß auch dies Strecken schmeckte.

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Veit Stoß: Erzengel Gabriel aus dem Englischen Gruß, Detail, Nürnberg, St. Lorenz

Die Wangen des Bildschnitzers.
Veit Stoß und die Nürnberger Gerichtsbarkeit


 

 

An der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert in Polen und Deutschland Kunst zu schaffen, hieß vor allem: religiöse Kunst. Fast sämtliche bekannten Werke des Holz- und Steinbildhauers, Malers und Kupferstechers Veit Stoß haben christliche Motive zum Thema: göttliche Gestalten, Heilige, Geschichten aus der Bibel. Seine Auftraggeber waren Kirchen, Klöster, fromme Privatleute. Auch er selbst verstand sich fraglos als gläubiger Christ und ehrsames Kirchenmitglied. Und doch war Veit Stoß ein Gesetzesbrecher, dem seine Straftat buchstäblich ins Gesicht geschrieben stand.

Er, von dem man bis heute nicht weiß, wann genau er in Horb am Neckar zwischen ca. 1440 und ca. 1450 geboren wurde, wird erst urkundlich greifbar, als er sein Nürnberger Bürgerrecht 1477 gegen dasjenige von Krakau eintauscht. Er muss exzellente Lehrmeister gehabt haben, er muss bereits weithin gerühmte Holzfiguren geschaffen haben, denn der Auftrag für den Hochaltar der Krakauer Marienkirche geht an einen virtuosen Könner. Zwölf Jahre lang wird er an dem insgesamt 16 Meter hohen, figurenreichen Flügelaltar aus bemaltem und vergoldetem Lindenholz arbeiten, der ihm Ehre, Reichtum und gute Verbindungen einbringt. Nicht nur mit Holz weiß er umzugehen, für Kruzifixe und Grabmäler arbeitet er in Stein; beim Grabmal für König Kasimir IV. Jagiello in der Krakauer Kathedrale ist es ein lebhaft gemusterter Rotmarmor.

Der Krakauer Bürger Veit Stoß wird hofiert und von den Steuern befreit, er bekommt bedeutende Aufträge und fungiert als Sachverständiger. Doch er hat auch Ärger. 1485 will die Schneiderzunft jene Leuchter nicht bezahlen, die sie bei ihm bestellt hat. Den Prozess gewinnt der Bildhauer. Elf Jahre später liegt die Schuld dann auf seiner Seite: Das bei ihm in Auftrag gegebene Grabmal für Bischof Czeslaw Kuroswencki führt er nicht aus, zahlt lieber die deswegen verhängte Geldstrafe und setzt sich nach Nürnberg ab. Die Metropole von Kunst, Kultur, Wissenschaft, Handwerk, Handel und bald auch der Reformation wird ab da für ihn zum künstlerischen wie geschäftlichen Segen – und zum Fluch.

Nürnberg war in den Jahren um 1500 eine der wichtigsten deutschen Städte. Als Reichsstadt unterstand sie direkt dem König beziehungsweise Kaiser, war also reichsunmittelbar. Jeder Herrscher hielt sich mindestens einmal über längere Zeit in der Nürnberger Burg auf. In der Stadt wurden viele Reichstage abgehalten, hier wurden seit 1424 die Reichskleinodien aufbewahrt und die dazu gehörenden Reliquien einmal im Jahr in sogenannten Heiltumsweisungen dem Volk zur Verehrung gezeigt. Nicht nur beherbergte Nürnberg eine Vielzahl bedeutender Kunstförderer und Gelehrter wie Hieronymus Münzer, Hartmann Schedel, Sebald Schreyer, Lorenz Beheim, Anton Tucher, Caritas und Willibald Pirckheimer oder Christoph Scheurl, die Stadt war auch ein frühes industrielles Zentrum. Zahlreiche Mühlen dienten dem Textil-, Leder- und Schmiedehandwerk sowie der Papierherstellung. Bis ins Kleinste spezialisierte metallverarbeitende Handwerker genossen großes Ansehen und wurden durch regulierende Maßnahmen in der Stadt gehalten. Der neu erfundene Buchdruck ermöglichte die rationalisierte Herstellung von Flugblättern, Fastnachtsschwänken, Klassiker-Übersetzungen, Bibeln oder der Schedelschen Weltchronik, dem bedeutendsten illustrierten Werk seiner Zeit, das 1493 in der Nürnberger Offizin von Anton Koberger erschien. Zu jener Zeit entstand auch der Spruch «Nürnberger Hand [später: Tand] geht in alle Land», denn die Handwerkserzeugnisse – von Kannen über Kämme und Knöpfe bis hin zu Kompassen – waren überall begehrt und wurden massenhaft exportiert.

Nicht zuletzt war Nürnberg die Stadt der Künste. Zur gleichen Zeit wie Veit Stoß lebten hier Michael Wolgemut, Peter Vischer, Adam Kraft, Albrecht Dürer, Hans von Kulmbach und Peter Flötner. Die Stein- und Holzbildhauerei brachte ebenso Meisterwerke hervor wie Metallguss, Instrumentenbau, Goldschmiedehandwerk, Malerei, Holzschnitt, Kupferstich, Schriftkunst und Buchillustration. Der erste uns bekannte Globus aus Leinen, Pergament und Papier entstand hier ab 1492. Wohlhabende Mäzene gaben Werke in Auftrag oder stifteten Kapellen, Altäre, Kruzifixe, Grabdenkmäler.

In diesem vielversprechenden Zentrum also lässt sich Veit Stoß 1496 erneut nieder. Der inzwischen Verwitwete heiratet ein Jahr später wieder, kauft ein repräsentatives Haus (das durch die Judenvertreibung frei geworden ist), mehrt seinen Besitz. Um die Jahrhundertwende entstehen in seiner Werkstatt unter anderem die Sandsteinreliefs der Volckamerschen Gedächtnisstiftung und ein Hl. Andreas in St. Sebald, ein Kruzifix für die Burgkapelle, eine Bestattung der hl. Katharina aus Lindenholz, zwei steinerne Hausmadonnen.

Weit über 2000 Gulden wird sein Vermögen inzwischen wohl betragen, auch dank einer nach längerem Prozess zugesprochenen Erbschaft seiner Frau sowie aufgrund von spekulativen Investitionen. Es sind 1265 Gulden, die Veit Stoß schließlich am 25. Mai 1500 bei dem Nürnberger Tuchhändler Hanns Starzedel anlegen kann. Das scheint eine sichere Sache zu sein, denn Stoßens Gewährsmann, der Händler Jakob Baner, hat dazu geraten. Was Stoß nicht ahnt: Der Vorschlag zielt einzig darauf ab, Starzedels Kasse zu füllen, damit dieser wiederum seine Schulden an Baner zurückzahlen kann. Das System funktioniert natürlich nicht; Starzedel geht bald darauf bankrott und flieht aus Nürnberg. Da man ihn demnach nicht belangen kann, reicht Stoß Klage gegen seinen Ratgeber Baner ein – nicht anders als heutige Bankkunden ihre Berater wegen deren Anlagetipps verklagen, wenn sie hohe Verluste nach sich ziehen. Heute wie damals empfiehlt es sich allerdings, schriftliche Beweise zu sammeln. Veit Stoß hat keine. Im zeitigen Frühjahr 1503 versucht er, der Gerechtigkeit etwas auf die Sprünge zu helfen: Er fälscht die Unterschrift Jakob Baners auf einem Schuldschein, den dieser nie ausgestellt hat. So meint er, den Prozess gegen Baner – auf Erstattung von 1121 Gulden der bei Starzedel investierten und nun verlorenen Summe – gewinnen zu können.

Wie Veit Stoß später gesteht, hat er bei dieser Fälschung beträchtliche kriminelle Energie aufgewendet. Um den Schuldbrief authentisch aussehen zu lassen, fälscht er nicht nur Baners Signatur, sondern auch dessen Siegel, das er von einem früheren Dokument mithilfe einer Matrix abformt: «Vnd des Boners [sic] Sigel, so auf seinen Reuersbrief [Reversbrief = Verpflichtungserklärung] uber zweihundert gulden lautendt gewest were, mit einem weichen leymm [Lehm] abgetruckt, das darnach härtt lassen werden vnd hab ein wachs darauff getruckt, auch furtter den neugeschriben brieff damit gesigelt; die form hab er alsbald, da er den brieff gesigelt gehabt, zerslagen». Obwohl der gefälschte Schuldschein dessen angeblichen Verfasser selbst fast überzeugt, bringt der lang dauernde Prozess doch die Wahrheit ans Licht, nicht zuletzt, weil sich Veit Stoß der Gerichtsbarkeit entzieht: Er sucht Asyl im Karmeliterkloster, in dem sein Sohn Andreas als Mönch lebt. Einen nun von Baner angebotenen Vergleich nimmt er von dort aus an, ja, er gibt schriftlich zu, sich bei der Urheberschaft des Schuldbriefs «geirrt» zu haben. Dieses Geständnis zusammen mit der Flucht ins Kloster zwingt die Justiz trotz des Vergleichs zum Handeln.