Cover

Hermann Kurzke

LITERATUR LESEN
WIE EIN KENNER

Eine Handreichung
für passionierte Leserinnen
und Leser

C.H.Beck

ZUM BUCH

Kann man Literatur «richtig» lesen und interpretieren? Oder ist die Lektüre eines Romans, eines Gedichts, eines Theaterstücks ein durch und durch subjektives Erlebnis? Der Germanist Hermann Kurzke zeigt in seinem Streifzug durch 800 Jahre deutsche und europäische Literaturgeschichte, dass beides stimmt. Dabei vermittelt er sowohl das Handwerkszeug als auch die Begeisterung, mit denen man großen literarischen Werken begegnen kann. Schillers Wallenstein, Fontanes Effi Briest, Musils Mann ohne Eigenschaften sind weder sperrig noch altmodisch – wenn man sie lesen kann. Und so istdiese Handreichung nicht zuletzteine Verneigung vor dem Reichtum und der Zeitlosigkeit großer Kunst.

ÜBER DEN AUTOR

Hermann Kurzke ist Professor em. für Neuere deutsche Literatur an der Universität Mainz. Einer breiten Leserschaft bekannt ist er durch seine große Biographie Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk (32006). Außerdem sind bei C.H.Beck von ihm u.a. erschienen: Geistliches Wunderhorn (Hrsg., 32009); Unglaubensgespräche (zus. mit Jacques Wirion, 32007) und Georg Büchner. Geschichte eines Genies (22013).

INHALT

1. ANSPANN

Quiribirini

Das «Ich» dieses Buches

Absicht und Anlage

Produktion und Rezeption

Ermittlung und Erprobung eines Analysebestecks

Grenzen der Methodik: Der Mehrwert der Literatur

Modellanalyse: Heinrich von Kleist, Gebet des Zoroaster

Textlage

Textkommentar

Formanalyse: Makrostruktur und Mikrostruktur

Immanente Interpretation

Rezeption

Rhetorik und Poetik

Das System der Rhetorik

Das Gebet des Zoroaster, rhetorisch betrachtet

Regelpoetik und Originalitätsästhetik

Exkurs: Deutsche Literatur und deutsche Identität

Biographische Erkundung: Heinrich von Kleist

Vom Nutzen biographischer Lektüre

Kleist: Lebensüberblick

Die Kant-Krise 1801 und ihre Folgen bis zum Freitod

2. VON MINNESANG BIS PARTYKLANG. GESCHICHTEN VON GEDICHTEN

Lyrik, Dramatik, Epik

Metrum und Reim

Heinrich von Kleist, An die Königin Luise von Preußen (1810)

Textlage

Textkommentar

Formanalyse: Makrostruktur

Formanalyse: Mikrostruktur

Immanente Interpretation

Externe Textzugänge

Exkurs zur Metrik: Anapäst, Trochäus, Daktylus

Der Anapäst

Der Trochäus

Der Daktylus

Neidhart von Reuenthal und Reinmar von Hagenau (13. Jahrhundert)

In dulci jubilo (um 1325)

Textlage und Textkommentar

Formanalyse

Immanente Interpretation: Der Anfang ist das Ende

Wirkungsgeschichte

Matthias Claudius, Der Mond ist aufgegangen (1779)

Textlage

Textkommentar

Formanalyse

Immanente Interpretation

Literaturgeschichte: Abschied von der Aufklärung

Johann Wolfgang von Goethe, Der Zauberlehrling (1797)

Textlage

Textkommentar

Formanalyse

Immanente Interpretation

Rezeption

Novalis, Hymnen an die Nacht (1800)

Textlage

Textkommentar

Formanalyse: Makrostruktur und Mikrostruktur

Immanente Interpretation

Zur Literarhistorie von Nacht und Licht

Joseph von Eichendorff, Das zerbrochne Ringlein (1808)

Textlage

Textkommentar

Makrostruktur und Mikrostruktur

Immanente Interpretation

Clemens Brentano, Ein Becher voll von süßer Huld (1834)

Form und Gehalt

Charles Baudelaire, Bénédiction (1857)

Textlage

Textkommentar und Erstverstehensdurchgang

Zur Form

Immanente Interpretation

Rezeption

Rainer Maria Rilke, Der Panther (1902)

Textkommentar und immanente Interpretation, Form und Inhalt

Paul Celan, Todesfuge (1944/45)

Textlage

Textkommentar

Formanalyse

Immanente Interpretation

Externe Textzugänge

Bertolt Brecht, Der Radwechsel (1953)

Textlage

Textkommentar

Formanalyse: Makrostruktur und Mikrostruktur

Immanente Interpretation

Zur Wirkungsgeschichte

Hans Magnus Enzensberger, Der Untergang der Titanic (1978)

Textlage

Textkommentar

Formanalyse: Makrostruktur und Mikrostruktur

Immanente Interpretation

Zur Wirkungsgeschichte

3. STILTRENNUNG UND DER TOD ALS DEMOKRAT. DRAMEN VON SHAKESPEARE BIS HANDKE

Gelesene und gesehene Dramen

Die drei Einheiten

Die Ständeklausel

Heinrich von Kleist, Prinz Friedrich von Homburg (1811)

Textlage

Textkommentar

Formanalyse: Makrostruktur

Mikrostruktur

Immanente Interpretation

Rezeptionsgeschichte

Dramatik der Renaissance: William Shakespeare, Hamlet (1603)

Wer war Shakespeare?

Ständeklausel, Stilmischung und der Tod als Demokrat

Hamlet: Textlage

Textkommentar: Hamlet als Melancholiker

Formanalyse: Eine fünfaktige Tragödie

Immanente Interpretation

Rezeption: Übersetzungen ins Deutsche

Dramatik der Barockzeit

Bildlichkeit: Allegorie und Symbol

Andreas Gryphius, Ermordete Majestät oder Carolus Stuardus, König von Groß Britannien (1650)

Die Kronen-, Fels- und Palmenallegorie

Zur Rezeptionsgeschichte

Aufklärung, Klassik, Romantik

Gotthold Ephraim Lessing, Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück (1767)

Geschlossene und offene Form des Dramas

Johann Wolfgang von Goethe, Faust (1772–1832) als offenes Drama

Der Standardaufbau des fünfaktigen Dramas

Friedrich Schiller, Wallenstein (1798/99)

Beispiel einer Komödie: Heinrich von Kleist, Der zerbrochne Krug (1811)

Textlage

Textkommentar

Formanalyse

Immanente Interpretation

Offene Form? Georg Büchner, Woyzeck (1836/37, Uraufführung 1913)

Franz Grillparzer, Ein Bruderzwist in Habsburg (1825–1848)

Bertolt Brecht, Die Maßnahme (1930)

Bertolt Brecht, Mutter Courage und ihre Kinder (1941)

Textlage

Textkommentar

Formanalyse

Immanente Interpretation

Rezeption

Carl Zuckmayer, Des Teufels General (1946)

Textlage

Textkommentar

Formanalyse

Immanente Interpretation

Rezeption

Samuel Beckett, Warten auf Godot (1952)

Max Frisch, Andorra (Erstdruck 1961)

Textlage

Textkommentar

Formanalyse

Immanente Interpretation

Rezeption

Peter Handke, Publikumsbeschimpfung
(Uraufführung 1966)

4. ERZÄHLKUNST 1:
DANTE, CERVANTES, STIFTER, FLAUBERT, DOSTOJEWSKI, FONTANE, JOYCE, MANN, GRASS UND ANDERE

Dante, Divina Commedia (fertiggestellt 1321, Erstdruck 1472)

Textlage

Textkommentar

Formanalyse

Immanente Interpretation

Rezeption

Epochen: Mittelalter und Neuzeit, Renaissance

Epos und Roman

Erzähler und ihr Verhältnis zum Erzählten

Erzählfunktionen: auktorial, Ich-Erzählsituation, personal.
Und «der allwissende Erzähler»

Heinrich von Kleist, Das Erdbeben in Chili (1807)

Textlage

Textkommentar

Formanalyse: Makrostruktur

Mikrostruktur: Symbol und Allegorie

Das Erdbeben als Symbol der Revolution

Giovanni Boccaccio, Il Decamerone (um 1350)

Miguel de Cervantes, Don Quijote (1605/15)

Friedrich Schlegel, Lucinde (1799) und die
Liebesreligion der Romantik

Heinrich von Kleist, Michael Kohlhaas (1810)

Textlage

Textkommentar

Formanalyse

Zur immanenten Interpretation

Zur Rezeption

Charles Dickens, Oliver Twist (1838)

Alessandro Manzoni, Die Verlobten (1827/1842)

Adalbert Stifter, Der Nachsommer (1857), Witiko (1867),
Frühwerk und Spätwerk

Der Nachsommer

Witiko

Frühwerk und Spätwerk

Gustave Flaubert, Madame Bovary (1856)

«Große Zeiten» im europäischen Roman

Fjodor M. Dostojewski, Raskolnikow (1866)

Summarisches und zur Textlage

Textkommentar

Formanalyse

Immanente Interpretation

Rezeption und Produktion

Leo Tolstoi, Krieg und Frieden (1868/69)

Realismus und Idealismus

Theodor Fontane, Effi Briest (1896)

Thomas Mann als Erzähler

Thomas Mann, Luischen (1900)

Textlage

Textkommentar

Makrostruktur und Mikrostruktur

Immanente Interpretation

Knut Hamsun, Segen der Erde (1917)

Textlage, Form und immanente Interpretation

Rezeption

James Joyce, Ulysses (1922)

Margaret Mitchell, Vom Winde verweht (1936)

Thomas Mann, Joseph und seine Brüder (1933–1942)

Textlage

Textkommentar: Quellen

Textkommentar: Zur Sinnerzeugungskunst

Zur Formanalyse: Der auktoriale Erzähler

Zur immanenten Interpretation: Einige Personen

Rahel und Lea

Joseph

Die Brüder

Mont-kaw

Potiphar

Die Hunde im Souterrain

Das Ganze, nicht das Gute: Der Gott des Joseph-Romans

Nicht glauben, sondern zitieren

Die Heimsuchung

Sprechen und Schweigen von Gott

Wie Abraham Gott entdeckte

Ironie

John Steinbeck, East of Eden (1952)

Adams Apfel und die Waffen-SS: Günter Grass, Die Blechtrommel (1959) und Aus dem Tagebuch einer Schnecke (1972)

Die Blechtrommel

Die Blechtrommel, nach dem vierfachen Schriftsinn gedeutet

Typologie

Aus dem Tagebuch einer Schnecke

5. ERZÄHLKUNST 2:
STAATSROMAN, UTOPIE UND DYSTOPIE

Daniel Defoe, Robinson Crusoe (1719)

Textlage

Textkommentar und Formanalyse

Immanente Interpretation

Literaturgeschichte

Johann Gottfried Schnabel, Die Insel Felsenburg (1731–1743)

Textlage

Formanalyse: Zur Erzählhaltung

Immanente Interpretation

Gerhart Hauptmann, Die Insel der großen Mutter (1924)

Aldous Huxley, Schöne neue Welt (Brave new world, 1932)

Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel (1943)

George Orwell, Nineteen Eighty-four (1949)

Ray Bradbury, Fahrenheit 451 (1953)

Dmitry Glukhovsky, Metro 2033 (2007)

6. KLEINE GESCHICHTE DES BILDUNGSROMANS

Die blaue Blume

Der Bildungsroman allgemein

Beispiele aus der Geschichte des Bildungsromans

Christoph Martin Wieland, Geschichte des Agathon (1766/67)

Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96)

Novalis, Heinrich von Ofterdingen (1802)

Gustav Freytag, Soll und Haben (1855)

Gottfried Keller, Der grüne Heinrich (1855)

Adalbert Stifter, Der Nachsommer (1857)

Karl May, Winnetou (1878–1880)

Thomas Mann, Der Zauberberg (1924)

Franz Kafka, Der Prozeß (1925)

Joseph Goebbels, Michael (1929)

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (1930–1952)

Textlage und biographische Einordnung

Satire und Bildungsroman

Die Rolle der Mystik

Christa Wolf, Der geteilte Himmel (1963)

Der Bildungsroman heute

7. ABSPANN
WAS IST «KULTUR»?

ANHANG

ANMERKUNGEN

1.
Anspann

2.
Von Minnesang bis Partyklang. Geschichten von Gedichten

3.
Stiltrennung und der Tod als Demokrat. Dramen von Shakespeare bis Handke

4.
Erzählkunst 1: Dante, Cervantes, Stifter, Flaubert, Dostojewski, Fontane, Joyce, Mann, Grass und andere

5.
Erzählkunst 2: Staatsroman, Utopie und Dystopie

6.
Kleine Geschichte des Bildungsromans

7.
Abspann. Was ist «Kultur»?

ZITATNACHWEIS

PERSONEN- UND WERKREGISTER

1.

ANSPANN

Im Kapitel Anspann werden die Pferde angeschirrt und die Wagen flott gemacht. Einige Voraussetzungen werden geklärt. Außerdem wird ein Analysebesteck vorgestellt, das später immer wieder Anwendung findet.

Quiribirini

«Quiribirini» sollte dieses Buch ursprünglich heißen. Weil das zu rätselhaft war, habe ich davon Abstand genommen, aber ein paar Sätze dazu sollen doch bleiben. Das Wort kommt um 1700 in die Literatur. Es ist eine Zauberformel, hochwirksam, anzuwenden dann, wenn man den Geist eines Werks von seiner Machart trennen will? Seinen Inhalt von seiner Form? Nein, ursprünglich dann, wenn man eine Seele von ihrem Körper trennen und sie zur Verbindung mit einem anderen Körper veranlassen will. Das Wort diene uns – außer dass es das Geheimnisvolle der Literatur markiert, in der so etwas wie «Seelenwanderung» jederzeit möglich ist – dazu, das Europäische, nicht nur Deutsche, «Germanistische» unseres Unternehmens anzudeuten. Seine Zauberkraft helfe uns, die Grenzen der nationalen Philologien zu überwinden! Uns vielzüngig im Internationalen wohl zu fühlen! Nicht nur deutsche, sondern auch europäische Literatur zu erwandern!

«Quiribirini» ist ein Zauberspruch aus Feenmärchen, einer untergegangenen Modegattung der europäischen Unterhaltungsliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts. Zuerst begegnet das Kunstwort in Les illustres fées, einer Sammlung von Feenmärchen, die Louis de Mailly 1698 in Paris herausgegeben hat. Der Untertitel bezeichnet sie als «contes galans» (galante Erzählungen), eine Widmung gilt den Damen («dédié aux dames»). Eines dieser Märchen heißt Le Bien-faisant ou Quiribirini («Der Wohltäter oder Quiribirini»), was auch ironischer übersetzt werden könnte: «Der Gutmensch oder Quiribirini». Den Wohltäter haben die Feen geschickt. Wer «Quiribirini» sagt, soll die Macht haben, «de se transformer en quel animal il voudroit»[1] (sich in jedes gewünschte Tier zu verwandeln). Davon werden wir keinen Gebrauch machen. Aber wir sehen in «Quiribirini» ein Zauberwort, das uns Einlass in die Geheimnisse der Literatur gewährt.

Das «Ich» dieses Buches

Zwar strebt dieses Buch eine gewisse Allgemeingültigkeit an, aber es will gut lesbar sein und das Abschreckende meiden, das wissenschaftliche Bücher manchmal haben. Eines der Gegenmittel scheint zu sein, manchmal (nicht oft!) «ich» zu sagen. Das tut man eigentlich nicht in der Wissenschaft, weil man doch objektiv sein will und nicht subjektiv. Das aber ist oft eine Täuschung. Am stärksten ist der subjektive Faktor in der Auswahl der Bücher, die besprochen werden. Da ich einerseits Bücher von klassischem Rang vorstellen möchte, bringe ich zwar vieles, über dessen Wichtigkeit man sich leicht einig werden wird, ist der Leser andererseits aber davon abhängig, was ich für klassisch halte. Bei Shakespeares Hamlet und Goethes Faust wird da kein Streit aufkommen, aber bei Michael von Joseph Goebbels? Ich behaupte nicht, dass dieses Buch, das ich zufällig in einem Antiquariat aufstöberte, klassisch (im Sinne von erstrangig, vorbildlich) sei, aber ich fand, es sei interessant, einen Blick darauf zu werfen, was ein führender Nationalsozialist, der überdies studierter Literaturwissenschaftler war, zur Unterhaltungsliteratur beigetragen hat.

Es bleibt jedenfalls zuzugeben, dass es bei der Auswahl der Bücher ein subjektives Element gibt. In mancher Hinsicht ist Lesen wie ein Kenner ein Spiegel meiner Bibliothek. Manchmal sage ich auch, wie ich zu einem Buch kam. Ich rede nur über Bücher, die ich auch besitze. Aber ich habe auch versucht, mir irgendwann und irgendwie alles anzuschaffen, was mir wichtig schien oder in meiner Ausbildungs-, Lehr- und Lebenszeit als wichtig galt.

Absicht und Anlage

Für wen ist dieses Druckwerk da, welchem Bedürfnis will es abhelfen? Es will nützen, Literatur zu verstehen. Es will eine Orientierung für Liebhaber der Literatur, für engagierte Leser sein, sowohl für Anfänger als auch für Fortgeschrittene und Bewanderte. Denen will es nicht nur mühsalerleichternd «Stecken und Stab» (Psalm 22,4[2]) sein, sondern eine Lust und ein Vergnügen. Es will ihnen das Lesen von Literatur nicht nur so vergnüglich, sondern auch so ertragreich wie möglich machen.

Literatur gibt viel. Wir sprechen nicht von Gartenbüchern oder Reiseführern, deren Lehren sich leicht erschließen, sondern von derjenigen Literatur, die man die «schöne» nennt, weil sie in der Regel keine praktischen Zwecke verfolgt. Sie gibt nicht nur das Politische und Soziale, sondern auch das Seelische und Innerliche einer Zeit. Sie gibt das Denken, Empfinden und Phantasieren der gebildeten wie der ungebildeten Stände und Schichten, sie gibt Freude und Leid, Liebe und Hass, Festivität und Alltäglichkeit, und sie gibt dieses breite Spektrum in allen europäischen Spielarten, von Gibraltar bis St. Petersburg, von Palermo auf Sizilien bis Tromsö in Nordnorwegen.

Die Literaturgeschichte wird zwar manchmal von der Profangeschichte angestoßen, und geschichtliche Personen wie Karl der Große, Rudolf von Habsburg, Napoleon, Hitler oder Stalin wirken ein halbes oder ganzes Jahrhundert oder Jahrtausend nach, aber hauptsächlich ist sie eine Seelengeschichte. Man erfährt aus ihr, was geglaubt wurde. Glauben in diesem Sinne ist nicht Fürwahrhalten theoretischer Sätze aus irgendeiner Dogmatik, sondern meint das Ensemble der handlungsleitenden Gestimmtheiten. Diese können zwar als Theorien zum Bewusstsein kommen. In der Regel bleiben sie aber unbewusst, zwar mächtig, aber dem überlegten Handeln entzogen. Die Literatur zeigt oft, wie sie funktionieren. Sie weiß mal gleich viel, mal weniger, mal mehr, meist aber etwas anderes als die gleichzeitige Philosophie.

Warum lesen wir gern auch Literatur, die Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte alt ist? Sehr vieles von dem, was die Literatur intimgeschichtlich weiß, ist vergessen, aber meistens doch irgendwo in der Seele gespeichert. Auch wenn wir die Eschatologie des Mittelalters nicht kennen, ist Dantes Göttliche Komödie für uns einleuchtend. Auch im Falle, dass wir nicht an ein Leben nach dem Tode zu glauben vermögen, ist uns die Vorstellung davon zugänglich, vielleicht sogar verlockend. Dante malt einen motivreichen, verantwortungsvollen, geselligen und unterhaltsamen Aufenthaltsort der Toten. Dass die Glaubenswelt des Mittelalters untergegangen ist, sollte uns nicht dem Mittelalter gegenüber beunruhigen, aber skeptisch machen gegenüber unserer eigenen Glaubenswelt. Vielleicht wird sie auch untergehen? Vielleicht wird unser Glaube an die Wissenschaft entlarvt werden als Illusion und Narretei eines Zeitalters, das sich «Neuzeit» nannte?

Gleichviel. Jedenfalls bewahrt die Literatur viel von dem, was der Tagesoptik entzogen ist. Sie hat außer dieser eine Nachtoptik. Die Literaturgeschichte zeigt die Tag- und die Nachtseite einer Zeit. Und sie zeigt beide in ihrem geschichtlichen Wandel. Das Studium der Literaturgeschichte macht deshalb nicht nur den Verstand reicher, sondern die gesamte Innerlichkeit. Die Literaturgeschichte eines Landes oder Kulturkreises ist eine Intimgeschichte. Sie ist nicht wie die politische oder soziale Geschichte eine Sammlung von Ereignissen, Entwicklungen, Daten, Fakten und Jahreszahlen, sondern sie zeigt so schwer Greifbares wie die Entwicklung des Geschmacks, also dessen, was als schön und als hässlich empfunden wurde, sowie die Geschichte der Empfindungen: der Ängste und der Sehnsüchte, des Gehassten und des Geliebten, des Realen und des Phantastischen, der Ängste und Befürchtungen, ferner der Lüste und Genüsse, der Ordnung und des Ungeordneten sowie des Bewussten und des Unbewussten, des Sichtbaren wie des Unsichtbaren, des Sicheren und des Verunsichernden, auch des Aufgeräumten und des Chaotischen.

Zwar war ich lange Germanist, aber dieses Buch richtet sich an alle Liebhaber des Lesens, nicht nur an akademische Spezialisten für deutsche Literatur. Es ist sogar ein bisschen skeptisch den Akademikern gegenüber. Warum? Weil die universitäre Germanistik manchmal auch das Lesen behindert. Weil «Wissenschaft» manchmal nicht auf Wiesen, sondern in Wüsten führt. Es gibt eine «Wissenschaft», die im Wege steht, die Barrieren aufrichtet, die spannende Bücher durch Begriffsmonster zu ersetzen sucht, die mit Fachwissen nicht dienen, sondern prahlen will, die nicht erschließt, sondern verschließt, die mit «Bildung» und Belesenheit vor allem renommieren möchte und dem Gelehrtenkreis Unzugehörige hinauszudrängeln versucht. Sie panzert sich mit Wörtern wie Anapher und Epipher, Diegese, Epideiktik, Homoioteleuton, Manichäismus, Paralipomenon, Tetrapodie oder Zeugma.[3] Wahre Wissenschaft aber will keine abweisend verschlossene Festung sein, in der man vor Kritik in Sicherheit ist. Sie will vielmehr Türen und Fenster öffnen, will Luft und Licht einlassen, will die hergebrachten Begriffe des Faches erfrischen und erneuern, will sie stabil aufbauen, verständlich entwickeln sowie handhabbar vorbringen. Dieses Buch will all das tun, will aber keine verbilligte science for pedestrians (Wissenschaft für Fußgänger) sein. Es geht vielmehr davon aus, dass die Fußgänger im Recht sind, wenn sie nachfragen, und dass sie manchmal mehr sehen als diejenigen hoch zu Ross oder tief zu Porsche.

Außerdem will unser Buch die Begriffe stets mit Beispielen beleuchten. Es will einen eisernen Bestand an Literatur sowie Ankerpunkte einer europäischen Literaturgeschichte geben. Es will außer einigen unwichtigen ein halbes Hundert wichtige Bücher der deutschen und der europäischen Literatur (und einige der amerikanischen) vorstellen, manche gründlich erwandern, manche nur streifen, und an ihnen das Begriffsinstrumentarium erproben, variieren sowie verfeinern.

Wir arbeiten, was die Auswahl der Beispiele betrifft, mit drei Ringen. Wir erproben die textanalytische, literaturgeschichtliche und literaturtheoretische Begrifflichkeit immer zuerst an Beispielen aus dem Werk des Heinrich von Kleist. Das ist der erste, der innerste Ring. Wir nehmen Kleist, weil er gut ist und wir dort lyrisch, dramatisch und episch beispielgeeignete Texte finden. Wir erweitern den Textvorrat um qualitativ meist hochwertige Beispiele aus Lyrik, Dramatik und Epik der deutschen Literatur. Das ist der zweite oder mittlere Ring. Wir halten die Beschränkung der Germanistik auf deutsche Literatur für ein nicht mehr gewolltes Erbe des deutschen Nationalismus und wollen mit ausgewählten Beispielen zeigen, dass die europäische Literatur gleich geachtet werden muss, zumal sie wenigstens in Übersetzungen in Deutschland immer präsent war. Deshalb greifen wir auf Grundbestände der englischen, französischen und russischen Literatur sowie auf einzelne Beispiele der spanischen und italienischen zu. Das ist der dritte oder äußere Ring. Im dritten Ring arbeiten wir mit Übersetzungen. Obwohl natürlich immer etwas verloren geht, wenn man sich von der originalen Sprache eines Werks entfernt.

Das Nationale ist zwar gelegentlich eine sinnvolle Kategorie, aber ein Etwas wie die «Volksseele» gibt es nicht, sie kann sich daher auch nicht aus der Literatur herausmelken lassen. Wo sie angenommen wird, fehlt meistens eine Überlegung, welche soziopsychologischen Bedingungen die Phänomene hervorbringen, die dieser imaginären Seele zugeordnet werden. Wenn man Grimms Märchen für etwas typisch Deutsches hält, hat man sich besser damit zu beschäftigen, dass diese Märchen große Familien bilden und nicht nur häufig französischer Herkunft sind, sondern oft sogar durch große Gebiete der europäischen Literatur mäandern. Besser als die nationale Frage ist die soziale: Was steckt hinter Froschkönig, Rapunzel, Hänsel und Gretel, Der Wolf und die sieben Geißlein an sozialer Realität, was hinter Aschenputtel, Rotkäppchen und Frau Holle? Woher stammen, geographisch gesehen, die Märchen ursprünglich, bezüglich der Welt, die sie abbilden? Und wie verändert sich ihre Rezeption, wenn sie aus der Welt der Bauern und Handwerker gelöst werden und ins lesende Bürgertum wandern? Oder wenn sie als Kinderliteratur benützt werden?

Produktion und Rezeption

Wir betrachten zuerst das Verhältnis von Autor und Leser. Was ist darüber zu sagen, dazu zu fragen? Ein literarisches Kunstwerk braucht, um wirklich zu existieren, immer jemanden, der es liest oder betrachtet, es also in seiner Vorstellung realisiert, es dort inszeniert wie ein Theaterstück und es erlöst aus seinem nur theoretischen Dasein als abstrakte Zeichenmenge in einem Buch oder in einem sonst irgendwo und irgendwie vorhandenen Format, handle es sich um einen Bildschirm, eine Internetseite, eine Datei, ein Plakat, ein Notizheft, einen Blätterstapel, einen Zettel, ein Stenogramm, etwas auswendig Gewusstes, eine steinerne Inschrift, eine Spur im Sand, eine beschriebene Kreidetafel oder was auch immer. Generell unterscheiden wir die Künstlerseite von der Leserseite, trennen die ein Werk Machenden von den es Lesenden, Hörenden oder Sehenden, betrachten die Erzeuger anders als die das Erzeugnis Empfangenden, sehen Produzenten und Produktion anders als Rezipienten und Rezeption.

Dem folgend unterscheiden wir die Produktionsästhetik (alles, was der Künstler oder Produzent an ästhetischen Reizen in sein Werk hineinschafft) sorgfältig von der Rezeptionsästhetik (alles, was der Empfänger, Betrachter oder Rezipient des Kunstwerks an ästhetischen Urteilen oder Vorurteilen hat oder was immer an Reizen er zu empfangen in der Lage ist). Der Rezipient bringt in seiner Innerlichkeit ein Orchester mit, dessen Instrumente aus seinen Lebenserfahrungen bestehen. Mit diesem Orchester führt er innerlich einen Roman auf, den er liest. Ästhetik (von griechisch «aisthesis», Empfindung) ist die Lehre von den Empfindungen, die durch ein Kunstwerk geweckt werden, rezeptionsseitig gesehen. Oder, produktionsseitig gesehen: von den Formen des Kunstwerks und von den Empfindungen, die es wecken soll, die der Autor plant, in erster Linie von den sinnlichen Empfindungen (also vom Gesehenen, Gehörten, Gerochenen, Geschmeckten und Gefühlten), in zweiter Linie erst von den Erkenntnissen, die es erzielt, von den Gedanken und Erinnerungen, die es weckt, von den Kontexten, die es wachruft, und von den tragischen oder komischen Stimmungen, die in diesen Erkenntnissen, Erlebnissen, Gedanken und Kontexten vorkommen und rezeptiv wahrgenommen werden oder, produktionsästhetisch gedacht, wachgerufen werden sollen.

Wir unterscheiden ferner die Produktionspsychologie (was der Künstler an affektiven Wirkungen plant) von der Rezeptionspsychologie (was der Leser lesend, sehend oder hörend zu fühlen oder zu empfinden vermag). Die erstere erforschen wir, indem wir den Autor und seine Absichten untersuchen, die zweite, indem wir den Leser oder die Leserin untersuchen, was viel schwerer ist, weil erstens diese Leser im Plural da sind, weshalb sie sehr verschiedenartig sein können, und weil zweitens die Lektüre eines Buches meistens keine brauchbaren psychologischen Ergebnisprotokolle hinterlässt.

Produktion und Rezeption verhalten sich im Idealfall zueinander wie Partitur und Orchester. Beide passen nicht immer zusammen. Wenn der Rezipient nur einen Kamm zum Blasen hat und man ihm eine Partitur für großes Orchester gibt, wird es nur zu einer kümmerlichen Aufführung kommen. Wenn man Kants Kritik der reinen Vernunft einem zwölfjährigen Grundschüler zu lesen gibt, werden nur Frust oder Fremdheit, Spott oder Spitzfindigkeit, Kopfschütteln oder Kampfeslust die Lektüreergebnisse sein. Oder nehmen wir etwas Positives: Ein Leser, der gerade frisch verliebt ist, wird einen Liebesroman im Theater seiner Innerlichkeit reichlicher in Szene setzen können als ein Leser, der noch nie eine große Liebe erlebt hat. Der eine hat die Instrumente, der andere hat sie nicht.

Aber die Instrumente müssen auch zur Partitur passen. Wenn der Rezipient ein Klavier hat und man ihm Noten für Violine und Cello gibt, kann es aus purem Zufall einige gute Wirkungen geben, aber viele Effekte werden verlorengehen, weil der geplante Klang ein anderer ist als der mögliche. So kommt es, dass ein und dasselbe Kunstwerk bei verschiedenen Rezipienten gegensätzliche und nicht miteinander vergleichbare Wirkungen hervorrufen kann.

Denn das Orchester, mit dem der Leser etwa einen Roman spielt, besteht nicht aus Musikinstrumenten, sondern aus dem vieltönigen Ensemble von Empfindungen, Wahrnehmungsroutinen, Gestimmtheiten und Schlussfolgerungen, das dieser Leser aus seiner Lebenserfahrung gewonnen hat und vielgestaltig vorrätig hält. Darunter sind ästhetische Urteile wie Klänge, Bilder, Filme, Farben, Formen, Stimmungen, Abläufe und Wortfolgen, alles jeweils in einem ganzen Spektrum von schön bis hässlich oder komisch bis tragisch oder wohlsortiert bis chaotisch vorhanden. Darunter sind ferner moralische Urteile von sittlich vorbildlich bis verboten oder verwerflich, religiöse Urteile von gottgefällig bis teuflisch, pragmatische Urteile von hilfreich bis nachteilig, politische Urteile von reaktionär bis fortschrittlich, medizinische Urteile von gesund bis krank und so weiter. Das alles bildet insgesamt ein tragikomisches Instrumentarium, mit dem im Kopf Literatur zur Aufführung kommt. Ein gutes Kunstwerk wird stets mehrere dieser Spektren bedienen und benötigen, wenigstens sie irgendwie beschäftigen. Es spielt sozusagen auf der Klaviatur des Lebens. Ein schlechtes Kunstwerk kann durch eine gute Rezeption gerettet werden. Ein gutes Kunstwerk kann in einer schlechten Rezeption untergehen, ja: scheitern, wenn das Orchester des jeweiligen Lebens die Instrumente, Routinen und Tonfolgen nicht zur Verfügung hat, die zu einer angemessenen Realisation dieses Kunstwerks nötig sind. Ein gutes Kunstwerk kann aber gegen seine Vernichtung in einer schlechten Rezeption auch Widerstand leisten. Es kann Seiten entblättern, die man ihm vorher nicht angesehen hat. Es kann überraschende und unerwartete Kontexte ansprechen oder zur Verfügung stellen, die dazu führen, dass eine vorher ungeahnte und zumeist auch ungeplante Wirkung erzielt wird. Es kann sogar Ersatz für realiter nicht Erlebtes bieten, indem es solches wirksam beschreibt. Ein Kunstwerk ist dann eine Art Lebenssimulator. Man kann in ihm wahrnehmen, wie einer Ehebrecherin oder einem Mörder zumute ist: Man kann, indem man Madame Bovary oder Raskolnikow liest, auf den Ehebruch und den Mord verzichten.

Ermittlung und Erprobung eines Analysebestecks

Wie gehen wir vor, wenn ein neuer, uns bisher unbekannter Text vor uns liegt? Wir stellen im Folgenden die Fragen vor, die man dann üblicherweise stellt, geben ihnen eine Ordnung und eine Reihenfolge, in der man sie sinnvoll behandeln kann. Manchmal, wenn gute Gründe vorliegen, wird man die Reihenfolge auch ändern. Manchmal, wenn man annehmen darf, dass die Antworten unergiebig sein werden, kann man auch Fragen weglassen.

Wir werden dieses Fragenschema an einem Beispieltext durchspielen – Kleists Gebet des Zoroaster. Wenn dieser Text jemandem weltfremd, wildfremd oder exotisch vorkommt, ist das ganz normal und in Ordnung, denn wir beginnen nicht mit etwas Eingängigem und Gefälligem, sondern mit etwas Fremdartigem, Dunklem und Abweisendem. Wir werden es erschließen und das Fremdartige vertraut, das Dunkle hell, das Abweisende zugänglich machen, so dass sich der Lohn der Mühe von selbst einstellt. Unser Schema ordnet die Fragen, die man einem Text zu stellen pflegt, in fünf Gruppen an.

I. Die erste Gruppe von Fragen, wir überschreiben sie mit Textlage, will zunächst einmal wissen: Was haben wir vor uns? Sie erkundet das vorliegende Material und seinen Fundort, fragt ganz allgemein nach dem auf diesem Material befindlichen Zeichenbestand, seiner Art und seiner Herkunft. Was habe ich eigentlich vor mir und wie ist es bis zu mir gekommen? Handelt es sich um eine Handschrift oder einen Druck, um ein Buch (in erster oder in zehnter, veränderter Auflage?) oder einen Zeitungsartikel, um zu ertastende Blindenschrift, um ein geritztes Täfelchen oder um ein Tondokument, kommt es aus dem Radio, kenne ich es aus dem Theater oder handelt es sich um eine Schallplatte, was ist die Quelle, wer ist der Autor, was wissen wir über diesen? Wo haben wir das jeweilige Dokument her, wie, wann und warum entstand es, wie kam es zu uns, hat es sich irgendwann oder irgendwo irgendwie verändert, gab es Zwischenstufen, gab es andere Fassungen, welche Fassung liegt vor uns, wie gestaltete sich die Überlieferung? Gibt es eine Fußnote oder ein Vorwort, die darüber aufklären? Was lässt sich aus der Stellung und dem ursprünglichen Fundort des Texts schließen? Auch über den Autor sollte man hier schon das Nötigste sagen. Das Nötigste: Man sollte im Umfeld der «Textlage» bleiben. Darüber hinausgehende literarhistorische Informationen zum Autor gehören, wenn sie nicht vorweg gegeben werden, zum Teil in den zweiten, zum Teil in den fünften Punkt unseres Analyseschemas, doch können dem jeweiligen Aspekt entsprechende Informationen, die den Autor betreffen, im Einzelfall auch in den Punkten eins, drei und vier unseres Schemas richtig untergebracht sein.

II. Die zweite Gruppe ist der Textkommentar. Was muss ich an historischen und biographischen Umständen rund um den Text realisieren, um ihn richtig zu verstehen? Sind Fremdtexte (Zitate oder Quellen) eingebaut und was muss ich über sie wissen? In welche Situation ist der Text ursprünglich hineingesprochen? Gibt es in ihm unbekannte, einer Erläuterung bedürftige Namen und Begriffe? Wo finde ich die benötigten Informationen? Gibt es eine kommentierte Ausgabe, worin alles zum Verstehen Erforderliche steht? Oder reicht ein großes Konversationslexikon? Oder Wikipedia? Oder muss ich selbst ins Unbekannte vordringen? Dann muss ich alle erreichbaren Informationen zum Autor und seinem Wollen zusammentragen.

III. Die dritte Gruppe ist die Formanalyse. Wie ist der Text gemacht? Was ist er der Gattung oder Textsorte nach: ein Roman, ein Schauspiel, ein Gedicht, ein Leitartikel, eine Rezension, ein Merkzettel, ein Notizblatt, eine Grabinschrift, ein Comic oder ein Witz? Je nach dem, was gattungsmäßig der Fall ist, ergeben sich andere Folgefragen. Die Gattungs- oder Textsortenfrage sucht nach der Struktur im großen Ganzen, man nennt sie Makrostruktur. Ihr zugeordnet ist die nächste Frage. Welche literarischen Mittel nutzt der Text im Einzelnen, um diese Gattung oder Textsorte zu realisieren oder zu inszenieren? Das ist die Frage nach der Mikrostruktur, der Struktur im Kleinen und Einzelnen. Wie ist sein Aufbau, wie sein Stil, seine Bildlichkeit und sein Vokabular, welche ist (bei einem epischen Text) seine Erzählhaltung, welches sind (bei einem lyrischen Text) seine Versfüße und welches ist seine Metrik? Nützlich in der Lyrik (und nur manchmal auch in der Epik oder der Dramatik) ist oft die Frage nach der Kommunikationssituation: Wer spricht eigentlich zu wem? Oder (bei einer fiktiven Erzählsituation) wer scheint zu wem zu sprechen? Gibt es (bei einem dramatischen Text) ein System bei der Verteilung auf Rollen, und welches Gewicht kommt den jeweiligen Rollen zu? Besteht die Kommunikationssituation real oder ist sie irgendwie gespielt? Falls gespielt: welchen Sinn hat dieses Spiel?

IV. Die vierte Gruppe bezeichnen wir als immanente Interpretation. Sie fragt nicht mehr nach dem Wie, sondern nach dem Was. Nicht mehr nach der Form, sondern nach ihrer Beziehung zum Inhalt, fragt, im Dienst welches inhaltlichen Wollens die Form sowie die Sachverhalte der Gruppen 1 und 2 stehen (gemeint ist 1. die Überlieferung, die gesehen wird 2. in Bezug auf die historischen Umstände), und wie 3. sowie 4. die Form dem Inhalt nützt (oder, in seltenen Fällen, ihm auch schadet). Die Form ist wichtig, wenngleich sie dem ungeschulten Textbetrachter meist unbewusst bleibt, er sie jedenfalls bewusst kaum wahrzunehmen pflegt und sich über sie zu äußern meist nicht in der Lage ist. Obwohl ihre Wirkung drastisch ist: Wenn die Form zum Beispiel eine Gießkanne ist, nimmt der Inhalt, sofern flüssig, unweigerlich Gießkannenform an, handle es sich um Wasser oder Sand, Wein oder Essig, Pudding, Milch oder Benzin.

Die Form entscheidet über die Wertigkeit des Inhalts. Wenn mir ein Karl-Marx-Porträt zu eigen ist, macht es einen Unterschied, ob das Bild im Wohnzimmer über dem Sofa oder im Abtritt über dem Klosett hängt. Der Inhalt (Marx) ist gleichgeblieben, aber die Form der Aufhängung ist jeweils anders (Wohnzimmer oder Klosett). Sie entscheidet über die Interpretation: Die Wohnzimmeraufhängung verehrt den Vater des wissenschaftlichen Sozialismus, während die Abtrittsaufhängung ironische Distanz zu ihm erkennen lässt.

Wenn die Beziehung von Inhalt und Form geklärt ist, dann ist die textanalytische Hauptaufgabe gelöst und der Text immanent (aus seinen eigenen Voraussetzungen) erschlossen. Das muss man erst einmal können. Oft wird das inhaltliche Wollen eines Textes vorher schon gestreift. Es muss spätestens in der immanenten Interpretation zur Hauptsache werden. Man hat also das Verhältnis von «Form» und «Inhalt» zu klären, dann ist die Hauptarbeit vollbracht. Wenn das so einfach wäre! Die Form: das ist zwar manchmal leicht, aber schnell stößt man auf die Geschichte der Formen und erkennt, dass eine Ballade bei Brecht etwas anderes ist als bei Schiller, eine Komödie bei Dürrenmatt etwas anderes als bei Gryphius, eine Novelle bei Goethe etwas anderes als bei Boccaccio. Kurzum: Die Formen sind nicht gleichbleibende Gefäße für historisch wechselnde Inhalte, sondern wandeln sich ebenfalls von Epoche zu Epoche sowie von Autor zu Autor. So dass wir in der Formanalyse kein dem historischen Wandel entzogenes Analysebesteck haben, sondern nur ein diesem Wandel unterworfenes Werkzeug.

Von der Seite der Inhalte ist die Sache erst recht nicht zu greifen, denn für deren Verständnis ist man erst recht auf die Geschichte angewiesen. Mit überzeitlichen Wahrheiten ist da nicht zu rechnen. So dass als Grundgefühl des Literaturwissenschaftlers festzuhalten ist: Er schwimmt in einem Meer des Unwissens, sowohl, was die Formen, als auch, was die Inhalte angeht. Aber Schwimmen kann man üben, und: Je mehr man form- und inhaltsgeschichtlich erschwommen hat, desto tiefer erschließen sich die Texte der jeweiligen Zeiten.

V. Als fünfte Gruppe werden provisorisch zusammengefasst alle nicht immanenten, alle den Horizont des einzelnen Texts übergreifenden Fragestellungen und Zugangsarten. Hierhin gehören insbesondere literarhistorische Fragestellungen, die zum Beispiel produktionsästhetisch nach dem Platz des Textes innerhalb der Gattungsgeschichte seiner Textsorte fragen, oder rezeptionsästhetisch den Platz des Textes innerhalb der Geschmacksgeschichte seines Publikums erkunden. Hierhin gehören ferner literatursoziologische und literaturpsychologische Fragestellungen nach der gesellschaftlichen Zugehörigkeit und der privaten Gefühlslage des Lesers oder des Lesepublikums, ferner nach der sozialen Herkunft und dem Ich des Autors sowie nach den jeweiligen Rezeptionsinstrumentarien. Hierhin gehören last but not least Fragen nach der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Textes und, in diesem Rahmen, Fragen nach seiner gegenwärtigen Aussage und seinem gegenwärtigen Publikum: Was bedeutet der Text, sei er auch Jahrzehnte oder Jahrhunderte alt, heute literarisch, ästhetisch, historisch, philologisch, psychologisch, philosophisch, ethisch und religiös, im Unterschied zum Damals seines ersten Auftretens? Und woher kommt der Unterschied?

Grenzen der Methodik: Der Mehrwert der Literatur

In der Regel wird man mit diesen fünf Punkten das Wichtigste erfassen. Wir werden deshalb meistens nach diesen fünf Punkten gliedern. Da wir nicht beliebig viel Platz haben, werden wir nicht immer alle fünf Punkte behandeln, sondern oft nur die ergiebigsten. Wir müssen wissen, dass große Literatur auch deshalb groß ist, weil sie keinerlei Vorerwartung erfüllt und keinem Schematismus folgt. Weil sie nämlich originell ist, das heißt, dass sie nicht nur neue Antworten hat, sondern auch neue Fragen stellt und damit jedes Analyseschema fragwürdig werden lässt. Häufig erfindet sie eine neue, vorher nie dagewesene Form (Nr. 3 unseres Schemas), wodurch es möglich wird, auch inhaltlich (Nr. 4 unseres Schemas) etwas völlig Neues zu sagen. Wenn der Autor nichts darüber hat verlauten lassen, wird die Originalität im Textkommentar (Nr. 2 unseres Schemas) nicht greifbar, wohl aber in 3. oder 4. Manchmal erzeugt sie Besonderheiten der Textlage (Nr. 1), meistens auch solche der Rezeption (Nr. 5).

Weil man erkennen soll, was «neu» ist an einem Werk, darf man nicht zugestellt sein von Vorerwartungen, deren Erfüllung man dann auf Gedeih und Verderb sucht. Eine allzu ausgeprägte Analysemethodik kann die Literatur nämlich auch entwerten. Als wäre Literatur nur Ergebnis der Anwendung eines Werkzeugkastens! Es besteht dann die Gefahr, dass einer oder eine meint, die Kenntnis des Werkzeugkastens erübrige die Kenntnis der Literatur. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts will Literatur eben ein Mehr, ein Surplus haben gegenüber jedweder Vorerwartung. Literatur, die nicht originell ist, sondern berechenbares Resultat eines Werkzeugkastens, disqualifiziert sich dann. Sie ist unfrei, weil berechenbar. Literatur aber will frei sein, neu sein, ins Unbekannte vordringen, will nicht Ergebnis einer vorhersehbaren Operation sein, nicht erwartbar und konventionell, sondern neu und frisch, eben: originell!

Modellanalyse: Heinrich von Kleist, Gebet des Zoroaster

Wir lesen ruhig und konzentriert, so dass wir ihm nahe kommen und auch sein Originelles erfassen, den folgenden Text, an dem wir unser Analyseschema nicht nur exemplarisch durchspielen, sondern auch erfahren wollen, inwiefern der Text jenen Mehrwert hat: einen Klang, eine Melodie, eine Schwingung und eine Stimmung, einen Ernst, einen Witz und eine Leidenschaft.

Gebet des Zoroaster

(Aus einer indischen Handschrift, von einem Reisenden in den Ruinen von Palmyra gefunden)

Gott, mein Vater im Himmel! Du hast dem Menschen ein so freies, herrliches und üppiges Leben bestimmt. Kräfte unendlicher Art, göttliche und thierische, spielen in seiner Brust zusammen, um ihn zum König der Erde zu machen. Gleichwohl, von unsichtbaren Geistern überwältigt, liegt er, auf verwundernswürdige und unbegreifliche Weise, in Ketten und Banden; das Höchste, von Irrtum geblendet, läßt er zur Seite liegen, und wandelt, wie mit Blindheit geschlagen, unter Jämmerlichkeiten und Nichtigkeiten umher. Ja, er gefällt sich in seinem Zustand; und wenn die Vorwelt nicht wäre und die göttlichen Lieder, die von ihr Kunde geben, so würden wir gar nicht mehr ahnden, von welchen Gipfeln, o Herr! der Mensch um sich schauen kann. Nun lässest du es, von Zeit zu Zeit, niederfallen, wie Schuppen, von dem Auge eines deiner Knechte, den du dir erwählt, daß er die Thorheiten und Irrtümer seiner Gattung überschaue; ihn rüstest du mit dem Köcher der Rede, daß er, furchtlos und liebreich, mitten unter sie trete, und sie mit Pfeilen, bald schärfer, bald leiser, aus der wunderlichen Schlafsucht, in welcher sie befangen liegen, wecke. Auch mich, o Herr, hast du, in deiner Weisheit, mich wenig Würdigen, zu diesem Geschäft erkoren; und ich schicke mich zu meinem Beruf an. Durchdringe mich ganz, vom Scheitel zur Sohle, mit dem Gefühl des Elends, in welchem dies Zeitalter darniederliegt, und mit der Einsicht in alle Erbärmlichkeiten, Halbheiten, Unwahrhaftigkeiten und Gleisnereien, von denen es die Folge ist. Stähle mich mit Kraft, den Bogen des Urtheils rüstig zu spannen, und, in der Wahl der Geschosse, mit Besonnenheit und Klugheit, auf daß ich jedem, wie es ihm zukommt, begegne: den Verderblichen und Unheilbaren, dir zum Ruhm, niederwerfe, den Lasterhaften schrecke, den Irrenden warne, den Thoren, mit dem bloßen Geräusch der Spitze über sein Haupt hin, necke. Und einen Kranz auch lehre mich winden, womit ich, auf meine Weise, den, der dir wohlgefällig ist, kröne! Über alles aber, o Herr, möge Liebe wachen zu dir, ohne welche nichts, auch das Geringfügigste nicht, gelingt: auf daß dein Reich verherrlicht und erweitert werde, durch alle Räume und alle Zeiten, Amen!

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