Warum die Welt
in anderen Sprachen
anders aussieht
Aus dem Englischen von
Martin Pfeiffer
C.H.BECK
Prägt die Sprache die Weltwahrnehmung oder umgekehrt? Und inwieweit sieht die Welt, wenn sie «durch die Brille» einer anderen Sprache gesehen wird, anders aus? Auf höchst unterhaltsame Weise untersucht der israelisch-englische Linguist Guy Deutscher, wie Sprache und Wahrnehmung sich gegenseitig beeinflussen. Der peruanische Regenwaldstamm der Matses etwa denkt nie vom Individuum, sondern immer von der Himmelsrichtung aus. Und die Aborigines der Guugu Yimithirr können nicht sagen, dass jemand links oder rechts von ihnen steht, verfügen aber über einen unschlagbaren Orientierungssinn. Wunderbar anschaulich führt uns Guy Deutscher auf dieser Reise durch Länder und Zeiten die Beziehung zwischen einer Sprache, der Lebenswelt, in der sie gesprochen wird, und dem Denken ihrer Sprecher vor.
Guy Deutscher ist in Tel Aviv aufgewachsen. Er hat in Cambridge Mathematik und Linguistik studiert und dann dort am St. John’s College sowie an den Universitäten in Leiden und Manchester über Sprachstrukturen geforscht. Von ihm liegt bei C.H.Beck außerdem vor: «Die Evolution der Sprache. Wie die Menschheit zu ihrer größten Erfindung kam» (2018).
Für Alma
Einleitung: Sprache, Kultur, Denken
TEIL I
Die Sprache als Spiegel
1. Das weindunkle Meer
2. Das Auge der Seele
3. Naturvölker am Kurfürstendamm
4. Die vor uns unsere Dinge sagten
5. Platon und der makedonische Schweinehirt
TEIL II
Die Sprache als Linse
6. Der mit dem Whorf tanzt
7. Wo die Sonne nicht im Osten aufgeht
8. Sex und Syntax
9. Grün und blau vor Augen
Nachwort: Vergib uns unsere Unwissenheit
Anhang - Farbe: Im Auge des Betrachters
Anmerkungen
Literatur
Bildnachweis
Register
«Vier Sprachen sind es wert, dass man sie auf der Welt gebraucht», sagt der Talmud: «Griechisch für den Gesang, Latein für den Krieg, Syrisch für die Klage und Hebräisch für die gewöhnliche Rede.» Andere Autoritäten urteilten nicht weniger entschieden über die Frage, wozu verschiedene Sprachen gut sind. Karl V., der als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, König von Spanien, Erzherzog von Österreich sowie Herzog von Mailand und Luxemburg den größten Teil des europäischen Kontinents unter seiner Macht hatte und auch mehrerer europäischer Sprachen mächtig war, erklärte einmal: «Ich spreche Spanisch zu Gott, Italienisch zu den Frauen, Französisch zu Männern und Deutsch zu meinem Pferd.»
In der Sprache eines Volkes, so wird oft gesagt, spiegeln sich seine Kultur, seine Seele und seine Denkweisen wider. Die Menschen in tropischen Klimazonen sind so lässig, dass es kein Wunder ist, wenn sie den größten Teil ihrer Konsonanten am Wegesrand fallen lassen. Und man braucht nur die weichen Klänge des Portugiesischen mit der Härte des Spanischen zu vergleichen, um den wesentlichen Unterschied zwischen diesen beiden benachbarten Kulturen zu verstehen. Die Grammatik mancher Sprachen ist einfach nicht logisch genug, um komplexe Ideen auszudrücken. Das Deutsche hingegen ist ein ideales Werkzeug, um die präzisesten philosophischen Tiefgründigkeiten zu formulieren, da es eine besonders ordentliche Sprache ist, und deshalb haben die Deutschen auch einen so ordentlichen Geist. Einige Sprachen kennen noch nicht einmal ein Futur – darum haben ihre Sprecher natürlich auch keinen Begriff von der Zukunft. Den Babyloniern wäre es schwergefallen, die Wendung «Verbrechen und Strafe» zu verstehen, denn ihre Sprache verwendete zur Wiedergabe dieser beiden Begriffe ein und dasselbe Wort. In der schroffen Intonation des Norwegischen kann man die zerklüfteten Fjorde hören, und in Tschaikowskys kummervollen Melodien klingen die dunklen l’s des Russischen an. Das Französische ist ebenso romanisch wie romantisch, das Englische eine anpassungsfähige, ja promiskuitive Sprache, und das Italienische – ah, das Italienische!
Derartige Aperçus lockern so manches Tischgespräch auf, denn nur wenige Themen eignen sich besser zu einer ausführlichen Erörterung als der Charakter verschiedener Sprachen und ihrer Sprecher. Und doch, würde man diese hochfliegenden Bemerkungen aus der Geselligkeit des Esszimmers in die kühle Luft des Studierzimmers überführen, dann würden sie rasch in sich zusammenfallen wie ein Soufflé aus verstiegenen Anekdoten – bestenfalls amüsant und sinnlos, schlimmstenfalls vorurteilsvoll und absurd. Die meisten Ausländer können den Unterschied zwischen dem zerklüfteten Norwegischen und den endlosen Ebenen des Schwedischen überhaupt nicht hören. Die emsigen protestantischen Dänen haben auf ihren eisigen sturmgepeitschten Äckern mehr Konsonanten fallen lassen als alle trägen tropischen Stämme. Und wenn die Deutschen tatsächlich einen systematischen Geist haben, dann kann der Grund hierfür ebenso gut darin liegen, dass ihre außerordentlich launenhafte Muttersprache die Fähigkeit ihres Gehirns erschöpft hat, noch mit irgendwelchen weiteren Unregelmäßigkeiten fertig zu werden. Sprecher jeder beliebigen Sprache können lange Geschichten über Ereignisse in der Zukunft erzählen, die ganz im Präsens gehalten sind («morgen gehe ich …»), ohne dass dadurch ihr Verständnis vom Begriff der Zukunft merklich beeinträchtigt würde.
Keine Sprache – auch nicht die der «primitivsten» Stämme – ist von vornherein ungeeignet, die komplexesten Ideen auszudrücken. Wenn sich eine Sprache schlecht zum Philosophieren zu eignen scheint, dann liegt das einfach am Fehlen eines spezialisierten abstrakten Wortschatzes und vielleicht noch einiger syntaktischer Konstruktionen; die lassen sich jedoch leicht entlehnen, so wie sich sämtliche europäischen Sprachen ihr philosophisches Werkzeug aus dem Lateinischen geholt haben, welches es seinerseits en bloc aus dem Griechischen bezogen hatte. Stünde Sprechern einer Stammessprache der Sinn danach, dann könnten sie heute ohne weiteres ebenso verfahren, und es wäre absolut möglich, in Zulu die Vorzüge des Empirismus beziehungsweise des Rationalismus zu erwägen oder sich auf West-Grönländisch über existentialistische Phänomenologie auszulassen.
Würden Grübeleien über Völker und Sprachen nur beim Aperitif zum Besten gegeben, dann könnte man sie als harmlosen, wenn auch unsinnigen Zeitvertreib abtun. Das Thema hat nun aber auch große und gelehrte Geister aller Epochen beschäftigt. Philosophen sämtlicher Richtungen und Nationalitäten sind angetreten, um zu verkünden, dass sich in jeder Sprache die Eigenschaften des Volkes widerspiegeln, welches sie spricht. Im frühen 17. Jahrhundert erklärte der Engländer Francis Bacon, man könne «gewichtige Anzeichen der Geistesverfassung und der Sitten von Menschen und Völkern ihren Sprachen» entnehmen. «Alles bestätigt», stimmte ein Jahrhundert später der Franzose Étienne de Condillac zu, «daß jede Sprache den Charakter des Volkes zum Ausdruck bringt, das sie spricht.» Sein jüngerer Zeitgenosse Johann Gottfried Herder war ebenfalls der Meinung, dass in jede Sprache «der Verstand eines Volks und sein Charakter gepräget» seien. «Thätige Völker», so sagte er, «haben einen Ueberfluß von modis der Verben, feinere Nationen eine Menge Beschaffenheiten der Dinge, die sie zu Abstraktionen erhöhten.» Kurz gesagt, es offenbart sich «der Genius eines Volks nirgend besser als in der Physiognomie seiner Rede». Der Amerikaner Ralph Waldo Emerson fasste all das 1844 zusammen: «Wir erschließen den Geist des Volkes in bedeutendem Maße aus der Sprache, die eine Art Denkmal darstellt, zu dem jedes kraftvolle Individuum im Laufe vieler Jahrhunderte einen Stein beigetragen hat.»
Das Problem bei dieser eindrucksvollen internationalen Eintracht ist nur, dass sie in dem Moment zusammenbricht, in dem die Denker von den allgemeinen Prinzipien dazu übergehen, über die besonderen Vorzüge (oder Mängel) einzelner Sprachen zu reflektieren und sich Gedanken darüber zu machen, was deren Eigenschaften über die Vorzüge (oder Mängel) der jeweiligen Völker aussagen können. Emersons Fazit wurde im Jahre 1889 dem 17jährigen Bertrand Russell als Aufsatzthema gestellt, als dieser in einer Paukschule in London saß und sich auf die Aufnahmeprüfung für das Trinity College in Cambridge vorbereitete. Russell ließ folgende Perlen vom Stapel: «Wir können den Charakter eines Volkes an den Ideen studieren, die seine Sprache am besten zum Ausdruck bringt. Das Französische beispielsweise hat solche Wörter wie ‹spirituel› oder ‹l’esprit›, die sich im Englischen kaum ausdrücken lassen; und daraus ziehen wir ganz zwanglos den Schluss, der sich durch die tatsächliche Beobachtung bestätigen lässt, dass die Franzosen mehr ‹esprit› haben und in höherem Maße ‹spirituel› sind als die Engländer.»
Cicero dagegen zog aus dem Fehlen eines Wortes in einer Sprache genau den entgegengesetzten Schluss. In seiner 55 v. Chr. verfassten Schrift De oratore lässt er sich ausführlich darüber aus, dass dem Griechischen eine Entsprechung zu dem lateinischen Wort ineptus («unverschämt» oder «taktlos») fehlt. Russell hätte hieraus geschlossen, dass die Griechen so untadelige Manieren hätten, dass sie einfach kein Wort zur Bezeichnung eines nicht existierenden Fehlers brauchten. Nicht so Cicero: Für ihn war das Fehlen des Wortes ein Beweis dafür, dass der Fehler unter den Griechen so weit verbreitet war, dass sie ihn nicht einmal wahrnahmen.
Die Sprache der Römer war selbst nicht immer über Tadel erhaben. Etwa zwölf Jahrhunderte nach Cicero gab Dante Alighieri in seinem Werk De vulgari eloquentia einen Überblick über die Dialekte Italiens und erklärte, «daß die Volkssprache, besser der traurige Jargon der Römer, von allen italienischen Volkssprachen die abscheulichste sei; und dies ist nicht verwunderlich, da sie durch Verunstaltung der Sitten und Gebräuche mehr als alle anderen Ekel zu verursachen scheint».
Niemand würde im Traum daran denken, derartige Auffassungen über die französische Sprache zu hegen, die nicht nur romantisch und spirituel ist, sondern natürlich auch das Muster von Logik und Klarheit. Das bezeugen uns keine geringeren Autoritäten als die Franzosen selbst. Im Jahre 1894 teilte der bedeutende Literaturkritiker Ferdinand Brunetière den Mitgliedern der Académie française anlässlich seiner Aufnahme in diese illustre Institution mit, das Französische sei «die logischste, die klarste und durchsichtigste Sprache, die je ein Mensch gesprochen hat». Brunetière berief sich dabei auf das Zeugnis einer langen Reihe von savants, darunter auch Voltaire im 18. Jahrhundert, der behauptet hatte, das einzigartige Genie der französischen Sprache bestehe in seiner Klarheit und Ordnung. Voltaire verdankte diese Einsicht wiederum einer erstaunlichen Entdeckung, die man ein ganzes Jahrhundert früher, genauer gesagt im Jahre 1669, gemacht hatte. Die französischen Grammatiker des 17. Jahrhunderts hatten Jahrzehnte mit dem Versuch verbracht zu verstehen, warum das Französische eine Klarheit besaß, mit der es alle anderen Sprachen der Welt übertraf, und warum – so formulierte es ein Mitglied der Académie – die Klarheit und Präzision dieser Sprache derart war, dass eine bloße Übersetzung den Eindruck eines regelrechten Kommentars erweckte. Schließlich, nach jahrelangen Mühen, war es Louis Le Laboureur, der 1669 herausfand, dass die Antwort die einfachste Sache der Welt war. Seine eingehenden grammatischen Untersuchungen hatten zutage gefördert, dass «wir Franzosen», anders als die Sprecher anderer Sprachen, «in allen unseren Äußerungen genau der Ordnung der Gedanken folgen, welche diejenige der Natur ist». Kein Wunder also, dass das Französische niemals unklar sein kann. Der spätere Denker Antoine de Rivarol formulierte es folgendermaßen: «Was nicht klar ist, mag Englisch, Italienisch, Griechisch oder Latein sein»; aber «ce qui n’est pas clair n’est pas français».
In der Zustimmung zu dieser Analyse sind sich jedoch die Intellektuellen aller Länder nicht völlig einig. Nicht minder berühmte Denker – deren Heimat seltsamerweise meist außerhalb von Frankreich liegt – haben abweichende Meinungen geäußert. Der dänische Linguist Otto Jespersen beispielsweise war davon überzeugt, dass das Englische dem Französischen in einer ganzen Reihe von Eigenschaften, darunter auch der Logik, überlegen sei, denn im Gegensatz zum Französischen ist Englisch eine «methodische, kraftvolle, geschäftsmäßige und nüchterne Sprache, die sich nicht viel aus Feinheiten und Eleganz macht, der aber an logischer Folgerichtigkeit gelegen ist». Jespersen kommt zu dem zwanglosen Schluss: «Wie die Sprache, so auch die Nation.»
Noch reichere Kost haben große Geister produziert, wenn es nicht mehr um das Problem ging, wie sich in der Sprache der Charakter ihrer Sprecher widerspiegelt, sondern um die weitaus bedeutendere Frage, wie die Sprache die Denkprozesse ihrer Sprecher beeinflusst. Benjamin Lee Whorf, auf den wir in einem späteren Kapitel noch zurückkommen, nahm eine ganze Generation gefangen mit seiner These, unsere Ordnung der Welt in Gegenstände wie «ein Stein» und Handlungen wie «fallen» sei keine zutreffende Widerspiegelung der Realität, sondern lediglich eine Einteilung, die uns durch die Grammatik europäischer Sprachen aufgezwungen sei. Whorf zufolge erfassen indianische Sprachen, die das Verb und den Gegenstand zu einem einzigen Wort zusammenfassen, das Universum aus einer «monistischen Sicht», und daher würden ihre Sprecher unsere Unterscheidung zwischen Gegenständen und Handlungen einfach nicht verstehen.
Eine Generation später räsonierte George Steiner in seinem 1981 erschienenen Buch Nach Babel, die «Gewohnheit, vorauszudenken und vorauszuplanen, die tief in unsere Syntax eingekerbt ist», unser «Gebrauch futurischer Formen» oder, anders gesagt, die Existenz des Futurs als grammatischer Kategorie sei das, was uns Hoffnung für die Zukunft verleiht, uns vor dem Nihilismus, ja, vor dem Massenselbstmord rettet. «Wäre unser syntaktisches System fragiler», sagte Steiner, «… so könnten wir wohl kaum überdauern.» (Er war ganz offensichtlich von prophetischer Inspiration erfüllt, denn Jahr für Jahr sterben Dutzende von Sprachen aus, die über kein Futur verfügen.)
Und jüngst hat ein Philosoph unser Verständnis der Geschichte des Hauses Tudor revolutioniert, indem er den wahren Grund dafür aufdeckte, dass Heinrich VIII. mit dem Papst brach. Die anglikanische Revolution war, so bewies er, nicht das Ergebnis des verzweifelten Wunsches des Königs nach einem Erben, wie man bislang angenommen hatte, und sie war auch keine zynische Masche, um den Reichtum und die Ländereien der Kirche abzuschöpfen. Die Geburt der anglikanischen Theologie ergab sich vielmehr zwangsläufig aus den Erfordernissen der englischen Sprache: Die englische Grammatik, die auf halbem Wege zwischen Französisch und Deutsch steht, zwang das englische religiöse Denken unerbittlich hin zu einer Position, die auf halbem Wege zwischen dem (französischen) Katholizismus und dem (deutschen) Protestantismus angesiedelt ist.
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Große Denker, so scheint es, haben sich mit Verlautbarungen über Sprache, Kultur und Denken in ihren grandes œuvres nicht immer viel weiter erhoben als kleine Denker über ihr hors d’œuvre. Kann man angesichts eines so wenig reizvollen Menüs von Präzedenzfällen irgendwie darauf hoffen, dieser Diskussion doch noch etwas Appetitliches abzugewinnen? Bleibt, wenn man das Unbegründete und das Uninformierte, das Lächerliche und das Phantastische aussortiert hat, noch etwas Vernünftiges übrig, das sich über die Beziehung zwischen Sprache, Kultur und Denken sagen lässt? Spiegelt die Sprache tatsächlich die Kultur einer Gesellschaft in einem tieferen Sinne wider, jenseits solcher Banalitäten wie der Zahl der Wörter, die sie für Schnee oder für das Scheren von Kamelen besitzt? Und was noch strittiger ist, können verschiedene Sprachen ihre Sprecher zu verschiedenen Gedanken und Wahrnehmungen veranlassen?
Für die meisten seriösen Sprachforscher der Gegenwart ist die Antwort auf alle diese Fragen ein schallendes «Nein». Der unter den zeitgenössischen Linguisten vorherrschenden Auffassung zufolge ist die Sprache in erster Linie ein Instinkt. Mit anderen Worten, die Grundlagen der Sprache sind in unseren Genen codiert und deswegen überall im Menschengeschlecht dieselben. Laut einer berühmten These von Noam Chomsky würde ein Wissenschaftler vom Mars zu dem Schluss gelangen, dass alle Erdlinge Dialekte derselben Sprache sprechen. Im tiefsten Grunde, so die Theorie, teilen alle Sprachen miteinander dieselbe Universalgrammatik, dieselben Grundbegriffe, dasselbe Ausmaß von Systemkomplexität. Die einzig wichtigen oder jedenfalls die einzig untersuchungswürdigen Aspekte der Sprache sind daher diejenigen, in denen sich Sprache als eine Ausdrucksform der angeborenen menschlichen Natur zeigt. Schließlich herrscht heutzutage weitgehende Übereinstimmung darüber, dass, sofern unsere Muttersprache überhaupt einen Einfluss auf die Art und Weise unseres Denkens ausübt, jeglicher derartige Einfluss unwesentlich, ja trivial ist – und dass wir im Grunde alle auf dieselbe Weise denken.
Auf den folgenden Seiten werde ich jedoch versuchen, Sie davon zu überzeugen, wahrscheinlich im Widerspruch zu Ihrer anfänglichen Intuition und mit Sicherheit im Widerspruch zur modischen akademischen Sicht der Gegenwart, dass die Antwort auf die oben angeführten Fragen «Ja» lautet. In diesem Plädoyer für die Kultur werde ich die Auffassung vertreten, dass sich kulturelle Unterschiede auf tiefgreifende Weise in der Sprache widerspiegeln und dass eine wachsende Menge verlässlicher wissenschaftlicher Forschungsarbeiten jetzt solide Beweise dafür liefert, dass unsere Muttersprache die Art und Weise, in der wir denken und die Welt wahrnehmen, beeinflussen kann. Bevor Sie jedoch dieses Buch in der Spinner-Ecke Ihres Bücherregals ablegen, gleich neben die Rezeptbücher der Modediäten vom letzten Jahr und den Beziehungsratgeber Goldfisch – Mensch, gebe ich Ihnen das feierliche Versprechen, dass wir uns nicht in irgendwelchem zwecklosen Gequassel ergehen werden. Wir werden keine monistischen Sichtweisen über Universen stülpen und uns weder auf so hochfliegende Fragen einlassen wie die, welche Sprachen mehr esprit haben, noch auf so unergründliche wie die, welche Kulturen «tiefgründiger» sind. Die Probleme, die uns in diesem Buch beschäftigen werden, sind von ganz anderer Art.
Tatsächlich gehören die Bereiche der Kultur, mit denen wir es zu tun haben werden, auf die erdverbundenste Ebene des Alltagslebens, und die Aspekte der Sprache, die uns begegnen werden, sind in den solidesten Bereichen der Alltagssprache angesiedelt. Es stellt sich nämlich heraus, dass die bedeutsamsten Zusammenhänge zwischen Sprache, Kultur und Denken dort zu finden sind, wo man sie am wenigsten erwartet: an den Stellen, an denen der gesunde Menschenverstand nahelegen würde, dass alle Kulturen und alle Sprachen genau gleich sein sollten.
Die kulturellen Unterschiede auf hoher Ebene, die uns sofort ins Auge fallen – im Musikgeschmack, in sexuellen Sitten, Bekleidungsvorschriften oder Tischmanieren –, sind in gewissem Sinne oberflächlich, eben weil wir sie so deutlich wahrnehmen: Wir wissen, dass Pornographie nur eine Frage der Geographie ist, und wir geben uns keinen Illusionen darüber hin, dass die Völker in aller Welt dieselbe Musik lieben oder ihre Gabeln auf die gleiche Weise halten. Die Kultur kann jedoch tiefere Spuren gerade an Stellen hinterlassen, an denen wir sie nicht als solche erkennen, an denen ihre Konventionen formbaren jungen Geistern so unauslöschlich aufgeprägt worden sind, dass wir sie, wenn wir dann erwachsen sind, für etwas ganz anderes halten.
Wenn jedoch alle diese Aussagen überhaupt einen gewissen Sinn bekommen sollen, müssen wir als erstes den Begriff der Kultur weit über seine normale Verwendungsweise in der Alltagssprache hinaus ausdehnen. Was ist Ihre erste Reaktion, wenn Sie das Wort «Kultur» hören? Goethe? Streichquartette? Den kleinen Finger beim Teetrinken abspreizen? Natürlich hängt die Art und Weise, in der Sie «Kultur» verstehen, weitgehend davon ab, aus welcher Kultur Sie kommen, wie ein rascher Blick durch drei lexikographische Linsen lehren wird:
Culture: cultivation, the state of being cultivated, refinement, the result of cultivation, a type of civilization.
The Chambers Dictionary
[Kultivierung, Kultiviertheit, Verfeinerung, das Ergebnis der Kultivierung, eine Art Zivilisation.]
Kultur: Gesamtheit der geistigen und künstlerischen Errungenschaften einer Gesellschaft.
Störig, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache
Culture: Ensemble des moyens mis en œuvre par l’homme pour augmenter ses connaissances, développer et améliorer les facultés de son esprit, notamment le jugement et le goût.
Atilf, Trésor de la langue française informatisé
[Gesamtheit der Mittel, die der Mensch einsetzt, um seine Kenntnisse zu erweitern sowie seine geistigen Fähigkeiten, vor allem seine Urteilskraft und seinen Geschmack, zu entwickeln und zu verbessern.]
Es gibt kaum etwas, so würde mancher zweifellos behaupten, das eingefleischte Stereotypen über drei große europäische Kulturen besser bestätigen könnte als die Art und Weise, in der sie den Begriff «Kultur» selbst verstehen. Ist die Chambers-Definition nicht der Inbegriff englischen Wesens? Ziemlich amateurhaft in ihrer unverbindlichen Liste von Synonymen, in der höflich alle unbequemen Definitionen vermieden werden. Und was könnte deutscher sein als das deutsche Stichwort? Erbarmungslos gründlich, übermäßig intellektuell, den Begriff mit uncharmanter Präzision auf den Kopf gehauen. Und was das Französische angeht: großsprecherisch, hoffnungslos idealistisch und unbedingt de bon goût.
Wenn jedoch Anthropologen von Kultur sprechen, dann verwenden sie das Wort in einem erheblich anderen Sinn als die hier aufgeführten Definitionen und in einer weit umfassenderen Bedeutung. Der wissenschaftliche Begriff «Kultur» tauchte in Deutschland um die Mitte des 19. Jahrhunderts auf, aber explizit artikuliert wurde er erstmals 1871 von dem englischen Anthropologen Edward Tylor. Dieser begann sein wegweisendes Buch Primitive Culture (dt. Die Anfänge der Cultur) mit der folgenden Definition, die auch heute noch in fast jeder einschlägigen Einführung zitiert wird: «Cultur … im weitesten ethnographischen Sinne ist jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat.» Kultur wird hier als die Gesamtheit der menschlichen Züge verstanden, die nicht das Ergebnis von Instinkt sind, oder, anders gesagt, als Synonym für das Erworbene im Gegensatz zum Angeborenen. Die Kultur umfasst somit alle Aspekte unseres Verhaltens, die sich als gesellschaftliche Konventionen herausgebildet haben und durch Lernen von Generation zu Generation weitergegeben werden. Naturwissenschaftler sprechen manchmal sogar von einer «Schimpansen-Kultur», wenn gewisse Gruppen von Schimpansen Stöcke und Steine auf eine Weise benutzen, die anders ist als die benachbarter Gruppen, und wenn sich zeigen lässt, dass diese Kenntnis nicht durch die Gene, sondern durch Nachahmung vermittelt worden ist.
Die menschliche Kultur läuft normalerweise natürlich auf einiges mehr hinaus als auf den Umgang mit Stöcken und Steinen. Doch der Typ von Kultur, der uns in diesem Buch beschäftigen wird, hat wenig mit hoher Kunst, überragenden intellektuellen Leistungen oder untadeliger Verfeinerung in Manieren und Geschmack zu tun. Im Mittelpunkt werden hier diejenigen alltäglichen kulturellen Züge stehen, die so tief in uns stecken, dass wir sie nicht als solche erkennen. Kurz, die Aspekte der Kultur, die wir hier erkunden werden, sind diejenigen, bei denen sie sich als menschliche Natur verkleidet.
Ist die Sprache einer dieser Aspekte? Ist sie ein Artefakt der Kultur oder ein Vermächtnis der Natur? Wenn wir uns die Sprache als Spiegel vorhalten, was sehen wir in ihr widergespiegelt: die menschliche Natur oder die kulturellen Konventionen unserer Gesellschaft? Dies ist die zentrale Frage des ersten Teils dieses Buches.
Auf einer gewissen Ebene erscheint es ziemlich eigenartig, diese Frage auch nur zu stellen, denn die Sprache ist eine kulturelle Konvention, die sich als nichts anderes ausgibt denn als eine kulturelle Konvention. Zwischen den Sprachen in aller Welt gibt es große Unterschiede, und jeder weiß, dass die bestimmte Sprache, die ein Kind lernt, nur durch den Zufall der jeweiligen Kultur bedingt ist, in der es aufwächst. Ein kleines Mädchen aus Boston wird heranwachsen und Bostoner Englisch sprechen, weil es zufällig in einer Umgebung mit Bostoner Englisch aufgewachsen ist, und nicht, weil es Bostoner Gene besitzt. Und ein neugeborener Bewohner von Beijing wird schließlich Mandarin-Chinesisch sprechen, weil er in einer Mandarin-Umgebung heranwächst und nicht wegen irgendeiner genetischen Vorabfestlegung. Vertauscht man die Babys, dann wird der Junge aus Beijing schließlich perfektes Bostoner Englisch sprechen und das Mädchen aus Boston perfektes Mandarin. Beweise hierfür wandern millionenfach auf zwei Beinen durch die Welt.
Mehr noch, der augenfälligste Unterschied zwischen Sprachen ist der, dass sie sich für bestimmte Begriffe verschiedene Namen oder Etiketten aussuchen. Und wie jeder weiß, erheben diese Etiketten nicht den Anspruch, irgendetwas anderes zu sein als kulturelle Konventionen. Abgesehen von marginalen Fällen von Lautmalerei wie Kuckuck, in denen der Name doch versucht, den Charakter des Vogels, den es bezeichnet, wiederzugeben, ist die überwältigende Mehrheit der Etiketten willkürlich. Auch wenn die Rose einen anderen Namen trüge, würde sie weiterhin douce, γλυκó, édes, zoet, sladká, sød, hoş, makea, magus, dolce, oder auch süß duften. Die Etiketten sind also klar und deutlich im Bereich jeder einzelnen Kultur angesiedelt und haben fast kein Element von Natur an sich.
Was geschieht nun aber, wenn wir über die oberflächliche Ebene der Etiketten hinweg noch weiter durch den Spiegel der Sprache auf die Begriffe zu blicken versuchen, die hinter den Etiketten lauern? Sind die Begriffe, die hinter den deutschen Namen «Rose» oder «süß» oder «Vogel» oder «Katze» stehen, ebenso willkürlich wie die Namen selbst? Ist die Art und Weise, in der unsere Sprache die Welt in Begriffe aufteilt, ebenfalls nur eine kulturelle Konvention? Oder ist es die Natur, die für uns die unterscheidende Grenze zwischen «Katze» und «Hund», zwischen «Rose» und «Vogel» gezogen hat? Diese Frage kommt Ihnen ziemlich abstrakt vor? Dann unterziehen wir sie doch einem praktischen Test.
Stellen Sie sich vor, sie kramen in einem vergessenen Winkel einer alten Bibliothek und stoßen zufällig auf ein muffiges Manuskript aus dem 18. Jahrhundert, das anscheinend nie jemand aufgeschlagen hat, seit man es hier ablegte. Es trägt den Titel Abenteuer auf der fernen Insel Sift, und es berichtet sehr detailliert von einer geheimnisvollen einsamen Insel, die der Verfasser entdeckt zu haben behauptet. Mit zitternden Händen blättern Sie das Manuskript durch und beginnen, ein Kapitel zu lesen, das den Titel trägt: Ein weiterer Bericht über die Siftische Sprache, worinnen ihre phantastischen Erscheinungen umständlich beschrieben sind.
Während wir bei Tisch saßen, nahm ich mir die Freiheit, nach den Bezeichnungen verschiedener Dinge in ihrer Sprache zu fragen, und diese vornehmen Personen fanden Vergnügen daran, mir zu antworten. Obschon es mein vorrangiges Bemühen war zu lernen, war doch die Schwierigkeit beinahe unüberwindlich, da sich der Gesamtbereich ihrer Gedanken und Meinungen solchen Unterscheidungen, wie sie uns höchst natürlich erscheinen, verschließt. So haben sie etwa in ihrer Sprache kein Wort, mit dem sich unsere Idee von Vogel ausdrücken ließe, und es gibt auch keine Termini, mit denen diese Sprache den Begriff Rose wiedergeben könnte. Denn an ihrer Statt verwendet das Siftische ein Wort, nämlich Vose, welches weiße Rosen und sämtliche Vögel mit Ausnahme von solchen, die eine rote Brust haben, bezeichnet, sowie ein weiteres Wort, nämlich Rogel, das für Vögel mit roter Brust und alle Rosen mit Ausnahme der weißen Verwendung findet.
Mein Gastgeber wurde nach seinem dritten Glas Branntwein immer redseliger und begann, mir eine Fabel vorzutragen, die er aus seinen Kindertagen in Erinnerung hatte: wie die Vose und der Rogel ihr betrübliches Ende fanden. «Ein leuchtend gefiederter Rogel und eine hellstimmige gelbe Vose ließen sich auf einem hohen Ast nieder und begannen zu zwitschern. Sogleich fingen sie an, darüber zu debattieren, wer von den beiden wohl lieblicher sänge. Da sie zu keinem sicheren Schluss zu gelangen vermochten, machte der Rogel den Vorschlag, unter den Blumen im Garten am Fuße des Baums die Ausbünde von Schönheit ausfindig zu machen und sie um ein Urteil zu ersuchen. Sogleich flogen sie hinunter zu einer duftenden Vose und einem knospenden roten Rogel und baten diese demütig um ihre Meinungen. Die gelbe Vose sang mit zarter Stimme, und der Rogel pfiff seine trillernde Arie. Doch ach, weder die Vose noch der Rogel konnten die strömenden Kadenzen der Vose von den tragischen Trillern des Rogels unterscheiden. Groß war der Unmut der stolzen Sangesfreudigen. Zornentflammt fiel der Rogel über den roten Rogel her und entriß ihm seine Blütenblätter, und die gelbe Vose, deren Eitelkeit schwer gekränkt war, stürzte sich mit gleicher Heftigkeit auf die Vose. Und fortan standen beide Schiedsrichter nackt und ihrer Blütenblätter ledig da, die Vose nicht mehr duftend und der Rogel nicht mehr rot.»
Da mein Gastgeber meine Verwirrung gewahr wurde, stimmte er mit nachdrücklich erhobenem Zeigefinger die Moral der Geschichte an: «Und so denke daran: nie sollst du versäumen, einen Rogel von einer Vose zu unterscheiden!» Ich entbot ihm meine aufrichtige Versicherung, dass ich bestrebt sein würde, dies immer zu beherzigen.
Wofür halten Sie dieses kostbare Dokument? Für ein bisher nicht entdecktes Tagebuch eines frühen Forschungsreisenden oder für eine verlorene Fortsetzung von Gullivers Reisen? Wenn Sie sich für Belletristik entscheiden, dann wahrscheinlich deshalb, weil Ihnen Ihr gesunder Menschenverstand sagt, dass die Art und Weise, in der das Siftische angeblich Begriffe unterscheidet, prinzipiell unwahrscheinlich ist und dass es ganz offensichtlich unnatürlich ist, Vögel mit roter Brust und nichtweiße Rosen zu einem einzigen Begriff, Rogel, zusammenzufassen und andere Vögel zusammen mit weißen Rosen in dem Begriff Vose unterzubringen. Und wenn die im Siftischen getroffene Unterscheidung zwischen Rogel und Vose unnatürlich ist, dann muss die deutsche Unterscheidung zwischen Vogel und Rose irgendwie natürlich sein.
Der gesunde Menschenverstand legt also nahe, dass Sprachen zwar Etiketten nach Lust und Laune vergeben können, dass sie aber die Begriffe, die hinter den Etiketten stehen, nicht ebenso launenhaft behandeln können. Sprachen können nicht willkürlich bestimmte Mengen von Gegenständen zu Gruppen zusammenfassen, denn gleich und gleich gesellt sich gern unter ein und demselben Etikett. Jede Sprache muss die Welt auf eine Weise kategorisieren, die Dinge zusammenführt, welche sich in Wirklichkeit – oder zumindest in unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit – ähneln. Demnach ist es natürlich, wenn verschiedene Sorten von Vögeln als ein zusammenhängender Begriff benannt werden, aber es ist unnatürlich, eine willkürlich ausgewählte Menge von Vögeln und eine willkürlich ausgewählte Menge von Rosen unter ein und demselben Etikett zusammenzufassen.
Tatsächlich bestätigt selbst eine oberflächliche Beobachtung des Spracherwerbs bei Kindern, dass Begriffe wie «Vogel» oder «Katze» oder «Hund» etwas Natürliches an sich haben. Kinder stellen fast alle möglichen (und viele unmögliche) Fragen. Haben Sie aber je gehört, dass ein Kind fragte: «Mama, ist das eine Katze oder ein Hund?» Zermartern Sie sich das Hirn und wühlen Sie in Ihren Erinnerungen so intensiv, wie Sie können, Sie werden sich kaum erinnern, dass ein Kind je sagte: «Wie weiß ich, ob das ein Vogel ist oder eine Rose?» Zwar muss man Kindern immer die Etiketten für solche Begriffe in der jeweiligen Sprache ihrer Gesellschaft beibringen, aber sie brauchen keine Anweisungen, wie sie zwischen den Begriffen selbst unterscheiden sollen. Ein Kleinkind braucht nur ein paar Bilder einer Katze in einem Bilderbuch zu sehen, und wenn es dann das nächste Mal eine echte Katze sieht, mag sie auch gelblichbraun sein und nicht getigert, mag sie auch einen buschigeren Pelz und einen kürzeren Schwanz haben, mag ihr auch ein Auge und ein Hinterbein fehlen, so wird es doch erkennen, dass das eine Katze ist und nicht ein Hund, ein Vogel oder eine Rose. Das instinktive kindliche Verständnis derartiger Begriffe zeigt, dass das menschliche Gehirn von Haus aus mit leistungsfähigen Algorithmen zur Erkennung von Mustern ausgerüstet ist, um ähnliche Objekte zu Gruppen zusammenzufassen. Begriffe wie Katze oder Vogel müssen also irgendwie dieser angeborenen Fähigkeit zur Kategorisierung der Welt entsprechen.
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Einstweilen sieht es demnach so aus, als seien wir zu einer einfachen Antwort auf die Frage gelangt, ob Sprache die Kultur oder die Natur widerspiegelt. Wir haben eine ordentliche Karte gezeichnet und die Sprache in zwei getrennte Territorien unterteilt: in den Bereich der Etiketten und das Land der Begriffe. In den Etiketten spiegelt sich die Kultur mit ihren Konventionen wider, in den Begriffen dagegen die Natur. Jeder Kultur steht es frei, Begriffe nach Belieben mit Etiketten zu versehen, aber die Begriffe hinter diesen Etiketten folgen dem Diktat der Natur.
Für diese Einteilung spricht eine ganze Menge. Sie ist klar, einfach und elegant, sie ist intellektuell und emotional befriedigend, und nicht zuletzt hat sie einen ehrwürdigen Stammbaum, der bis zu Aristoteles zurückreicht, der im 4. Jahrhundert v. Chr. schrieb, zwar seien die Sprachlaute bei verschiedenen Völkern unterschiedlich, die Begriffe selbst jedoch – oder die «seelischen Widerfahrnisse», wie er sie nannte –, seien bei allen Menschen dieselben.
Gibt es etwa irgendwelche Einwände, die gegen diese Verkartung sprechen? Nur einen: sie hat kaum irgendwelche Ähnlichkeit mit der Realität. Die säuberliche Grenze, die wir gerade abgesteckt haben, mag ein hübsches Stück Wunschkartographie sein, aber leider stellt sie die Machtverhältnisse auf dem Boden keineswegs zutreffend dar. Denn in der Praxis kontrolliert die Kultur nicht nur die Etiketten, sondern unternimmt auch ständig Ausfälle über die Grenze in die Zone, die der angestammte Bereich der Natur sein sollte. Zwar mag die Unterscheidung zwischen manchen Begriffen wie etwa «Katze» und «Hund» von der Natur so eindeutig vorgezeichnet sein, dass sie gegen Übergriffe der Kultur weitgehend immun ist, aber kulturellen Konventionen gelingt es doch, sich in die inneren Angelegenheiten zahlreicher anderer Begriffe einzumischen – und das in einer Weise, die manchmal im Widerspruch zum gesunden Menschenverstand steht. Wie tief die Kultur tatsächlich in das Land der Begriffe eindringt und wie schwierig es sein kann, mit dieser Sachlage zu Rande zu kommen, wird in den folgenden Kapiteln noch klarer werden. Vorläufig können wir aber hier mit einer raschen Erkundungstour zu einigen Festungen der Kultur jenseits der Grenze beginnen.
Betrachten wir zunächst das Gebiet der Abstraktionen. Was passiert, wenn wir uns von einfachen physischen Objekten wie Katzen oder Vögeln oder Rosen entfernen und zu abstrakten Begriffen wie «Sieg», «Fairness» oder «Schadenfreude» übergehen? Sind solche Begriffe auch von der Natur bestimmt worden?
Ich kannte einmal jemanden, der gerne sagte: «The Germans have no mind.» Damit meinte er, dass die deutsche Sprache kein Wort für das englische mind hat, und in gewissem Sinne hatte er recht: Das Deutsche hat keinen einheitlichen Begriff mit einem einheitlichen Etikett, der genau die Skala der Bedeutungen des englischen Begriffs mind abdeckt. Wenn Sie ein zweisprachiges Wörterbuch fragen, wie man mind ins Deutsche übersetzen soll, dann wird das Wörterbuch geduldig erklären, dass das vom Kontext abhängt. Es wird Ihnen eine Liste von Möglichkeiten anbieten, die etwa folgendermaßen aussieht:
Verstand (he’s got the mind of a four-year-old! – er hat den Verstand eines Vierjährigen!)
Geist (a fine mind – ein großer Geist)
Seele (frame of mind – seelische Verfassung)
Denkweise (to the Victorian mind – nach viktorianischer Denkweise)
Kopf (I can’t get that song out of my mind – das Lied geht mir nicht aus dem Kopf)
Gedächtnis (to put someone out of one’s mind – jemanden aus seinem Gedächtnis streichen)
Gedanken (to read somebody’s mind – die Gedanken von jemandem lesen)
Meinung (to be of the same mind – der gleichen Meinung sein)
Willen (it’s a question of mind over matter – das ist eine reine Willensfrage)
Wenn die Deutschen keinen mind haben, dann haben die Engländer keinen Geist. Oder mit anderen Worten, die englische Sprache hat keinen einheitlichen Begriff, der genau die Skala der Bedeutungen des deutschen Wortes «Geist» abdeckt. Wiederum würde ein Wörterbuch eine lange Liste verschiedener englischer Wörter bieten, die als Übersetzungen in Frage kommen, so beispielsweise:
mind (der menschliche Geist – the human mind)
wit (er sprühte vor Geist – he was as witty as could be)
intellect (kleine Geister – people of limited intellect)
spirit (der Geist der Zeit – the spirit of the times)
brain (seinen Geist anstrengen – to use one’s brain)
genius (der Geist einer Sprache – the genius of a language)
thought (Geistesgeschichte – history of thought)
Demnach können Begriffe wie mind oder «Geist» nicht ebenso natürlich sein wie «Rose» oder «Vogel», sonst wären sie in allen Sprachen identisch. Schon im 17. Jahrhundert erkannte John Locke, dass es auf dem Gebiet der abstrakten Begriffe jeder Sprache gestattet ist, sich ihre Begriffe – oder «spezifischen Ideen», wie er sie nannte – auf ihre eigene Weise zurechtzuschneiden. In seinem 1690 erschienenen Versuch über den menschlichen Verstand bewies er dies mit der Überlegung, man könne «in einer Sprache zahlreiche Wörter finden, für die es in einer anderen keine entsprechenden gibt. Dies zeigt deutlich, daß die Bewohner eines Landes durch Sitten und Lebensweise veranlaßt worden sind, gewisse komplexe Ideen zu bilden und ihnen Namen zu geben, die andere niemals zu spezifischen Ideen zusammenfaßten.»
Das erste Zugeständnis der Natur an die Kultur mag vielleicht nicht allzu weh getan haben, denn selbst wenn die säuberlich gezogene Grenzlinie zwischen Kultur und Natur etwas verschoben werden muss, steht doch der Gedanke, dass bei der Festlegung der Form abstrakter Begriffe kulturelle Konventionen beteiligt sind, nicht ernstlich im Widerspruch zu unseren Grundüberzeugungen. Hätte der Reisebericht aus dem 18. Jahrhundert nicht die Geschichte über die siftischen Begriffe Vose und Rogel enthalten, sondern wäre darin berichtet worden, das Siftische habe keinen einheitlichen Begriff als Entsprechung zum urdeutschen Wort «fair» und stattdessen gebrauche diese Sprache in manchen Kontexten «gerecht» und in anderen «freundlich», dann hätte das unseren gesunden Menschenverstand schließlich kaum veranlasst, auf die Barrikaden zu gehen.
Es wird jedoch rasch ungemütlicher, wenn sich herausstellt, dass die Kultur nicht nur in den Bereich der Abstraktionen eingreift, sondern auch in die einfachsten Begriffe der Alltagssprache. Nehmen wir Pronomina wie «ich», «du» oder «wir». Könnte es etwas geben, das elementarer oder natürlicher wäre als sie? Selbstverständlich wird niemand, der von der Existenz fremder Sprachen weiß, die Etiketten für derartige Begriffe als von der Natur diktiert betrachten. Aber es erscheint unvorstellbar, dass eine Sprache nicht über die Begriffe hinter den Etiketten verfügt. Nehmen wir beispielsweise an, Sie blättern weiter in dem erwähnten Reisebericht und stoßen auf die Behauptung, das Siftische habe kein Wort, das dem deutschen «wir» entspricht. Stattdessen hat das Siftische, so behauptet der Autor, drei verschiedene Pronomina: kita mit der Bedeutung «wir beide, ich und du», tayo mit der Bedeutung «ich und du und noch jemand anderes» und schließlich kami mit der Bedeutung «ich und jemand anderes, aber nicht du». Der Autor erzählt, wie amüsiert die Einwohner von Sift reagierten, als sie erfuhren, dass das Deutsche für diese drei völlig verschiedenen Begriffe nur ein einziges kleines Wort, ein winziges «wir», gebraucht. Das siftische System, das unser verstiegener Autor erfunden hat, mögen Sie nun als blöden Witz abtun. Die Sprecher des Tagalog auf den Philippinen wären da allerdings anderer Meinung, denn genau so sprechen sie.
Die Belastung für unseren gesunden Menschenverstand fängt jedoch gerade erst an. Man könnte doch erwarten, dass wenigstens die Begriffe, die einfache materielle Objekte bezeichnen, allesamt in die Domäne der Natur fallen. Solange wir uns auf Katzen, Hunde und Vögel beschränken, wird diese Erwartung tatsächlich weitgehend erfüllt, weil diese Tiere von Natur aus eine so charakteristische Form haben. In dem Moment aber, in dem die Natur bei ihrer Abgrenzung die leisesten Zweifel erkennen lässt, schlägt die Kultur schnurstracks zu. Sehen wir uns beispielsweise die Teile des menschlichen Körpers an. Unter den einfachen materiellen Dingen, die von größter Bedeutung für unser Leben sind, lässt sich kaum etwas Einfacheres oder Materielleres finden als Hände und Zehen und Finger und Hälse. Und doch sind viele dieser angeblich verschiedenen Körperteile von der Natur nicht mit großer Entschiedenheit abgegrenzt worden. Der Arm und die Hand beispielsweise hängen im Körper so zusammen, wie die Kontinente Asien und Europa aneinander hängen – haben wir es da in Wirklichkeit mit einem Ding zu tun, oder mit zweien? Wie sich herausstellt, hängt die Antwort auf diese Frage von der Kultur ab, in der man aufgewachsen ist. Es gibt viele Sprachen, meine Muttersprache inbegriffen, welche die Hand und den Arm als einen einzigen Begriff behandeln und für beide das gleiche Etikett verwenden. Wenn Ihnen ein Hebräischsprecher erklärt, als Kind habe er eine Spritze in die Hand bekommen, dann kommt das nicht daher, dass seine Ärzte Sadisten waren. Er denkt einfach in einer Sprache, die diese Unterscheidung nicht automatisch macht, und daher denkt er nicht daran, für jenen speziellen Teil der Hand, den das Deutsche kurioserweise hartnäckig «Arm» nennt, einen besonderen Namen zu gebrauchen.
Dass «Hand» und «Arm» in der einen Sprache verschiedene Dinge sind, in der anderen aber ein und dasselbe, ist besonders für Kinder schwer zu begreifen. Meine Tochter ist mit Englisch und Hebräisch aufgewachsen, und nachdem sie gelernt hatte, dass das hebräische Wort yad «Hand» bedeutet, gab es eine ziemlich lange Phase, in der sie lauthals protestierte, wenn ich das Wort yad für den Arm gebrauchte, selbst wenn wir Hebräisch sprachen. Sie deutete dann auf den Arm und erklärte mir auf hebräisch und in unwilligem Ton: ze lo yad (das nicht «yad»), ze arm (das «Arm»)!
Es gibt auch Sprachen, die für «Hand» und «Finger» das gleiche Wort verwenden, und man findet sogar Sprachen wie etwa das Hawaiische, die mit einem einzigen Begriff für die drei getrennten deutschen Körperteile «Arm», «Hand» und «Finger» auskommen. Damit aber nicht der Eindruck entsteht, dass man bis nach Hawaii fahren muss, um nennenswerte Unterschiede bei der Abgrenzung von Körperteilen zu finden, betrachten Sie das folgende Beispiel: Wie übersetzen Sie «Hals» ins Englische? Wie Ihnen jedes Schulkind sagen wird, lautet die Antwort natürlich neck. Bedeutet das also, dass ein Engländer, wenn er unter pain in the neck leidet, Halsschmerzen hat? Keineswegs. Pain in the neck bedeutet «Schmerzen im Nacken». Was sagt dann aber ein Englischsprecher, wenn er tatsächlich Halsschmerzen hat? Natürlich sore throat. Verwirrt? Das Problem liegt darin, dass das Englische und das Deutsche die Röhre zwischen Kopf und Schultern auf ganz unterschiedliche Weise in getrennte Begriffe aufteilen. Das Englische beharrt darauf, das Innere dieser Röhre (throat, also «Kehle») und das Äußere (neck) als zwei völlig verschiedene Begriffe zu behandeln, und Englischsprecher kämen nicht im Traum auf die Idee, das Wort neck für das Innere zu verwenden, so wie es die Deutschen mit dem Wort «Hals» tun. Andererseits machen die Engländer nicht gewohnheitsmäßig einen Unterschied zwischen dem vorderen und dem hinteren Teil der (Außenseite dieser) Röhre, und so wird im Englischen das Wort neck routinemäßig sowohl für «Hals» als auch für «Nacken» verwendet.
Allmählich fühlen sich die Zugeständnisse der Natur an die Kultur etwas widerstrebender an. Während es einen kaum aus der Fassung bringt, dass abstrakte Begriffe wie mind oder «Geist» kulturabhängig sind, geraten wir an die Grenzen der Kuschelecke, wenn wir uns vorstellen, dass Pronomina wie «wir» oder Körperteile wie «Hand» oder «Hals» alle von bestimmten kulturellen Konventionen unserer Gesellschaft abhängig sind. Wenn aber die Ausfälle der Kultur in das Reich der Begriffe langsam unangenehm werden, dann sind das dennoch nicht mehr als Nadelstiche im Vergleich zu den Schmerzen, welche die Einmischung der Kultur in dem Bereich verursacht, der uns im ersten Teil dieses Buches beschäftigen wird. Auf diesem Feld der Sprache haben die Übergriffe der Kultur auf das Land der Begriffe den schlichten Alltagsverstand so sehr beleidigt, ja empört, dass die Verteidiger der Natur jahrzehntelang im Einsatz waren, um bis zu ihrem letzten Tintentropfen für die Verteidigung ihrer Sache zu kämpfen. Infolgedessen stand diese Enklave im Mittelpunkt eines hundertfünfzigjährigen Krieges zwischen den Vertretern der Natur und denen der Kultur, und dieser Konflikt zeigt keine Anzeichen des Abebbens. Dieses Schlachtfeld ist die Sprache der Farbe.
Warum sollte ausgerechnet die Farbe im Zentrum so heftiger Auseinandersetzungen stehen? Vielleicht deshalb, weil sich die Kultur, wenn sie in einen so tief verwurzelten und anscheinend instinktiven Bereich der Wahrnehmung eingreift, erfolgreicher als Natur tarnt als in jedem anderen Bereich der Sprache. Der Unterschied zwischen Gelb und Rot oder zwischen Grün und Blau scheint nichts an sich zu haben, was auch nur im Entferntesten abstrakt, theoretisch, philosophisch, hypothetisch oder sonstwie -isch wäre. Und da Farben an der Basis der Wahrnehmung angesiedelt sind, wäre doch anzunehmen, dass die Farbbegriffe die Domäne der Natur sind. Gleichwohl ist die Natur beim Abstecken der Grenzen im Farbspektrum ziemlich sorglos verfahren. Die Farben bilden ein Kontinuum: Grün wird nicht an einem bestimmten Punkt zu Blau, sondern es geht allmählich in Blau über, und dazwischen liegen Millionen von Schattierungen von Grünlichblau, Türkis und Aquamarin. Wenn wir jedoch über Farben sprechen, dann versehen wir diesen bunten Streifen mit klaren Grenzen: Wir sagen «gelb», «grün», «blau» und so weiter. Ist aber die bestimmte Art und Weise, in der wir den Farbraum unterteilen, ein Diktat der Natur? Sind die Begriffe «gelb» oder «grün» universale Konstanten des Menschengeschlechts, die durch den biologischen Aufbau des Auges und des Gehirns festgelegt sind? Oder handelt es sich dabei um willkürliche kulturelle Konventionen? Hätten sich die Grenzen auch anders ziehen lassen? Und wer kommt überhaupt auf so abstruse hypothetische Fragen?
Nun trifft es sich, dass die Kontroverse um die Farbbegriffe nicht durch irgendwelche abstrakten philosophischen Grübeleien heraufbeschworen