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Matrosen demonstrieren 1917 in Petrograd. Russisches Staatliches Archiv für Film- und Fotodokumente, Krasnogorsk

Stephen A. Smith

Revolution in Russland

Das Zarenreich in der Krise 1890–1928

Aus dem Englischen von
Michael Haupt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

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Der Zabern Verlag ist ein Imprint der WBG.

INHALT

Einleitung

1. Die Wurzeln der Revolution: von den 1880er Jahren bis 1905

2. Von der Reformzeit zum Krieg: 1906–1917

3. Von Februar bis Oktober 1917

4. Bürgerkrieg und Sieg der Bolschewiki

5. Kriegskommunismus

6. Die Neue Ökonomische Politik I: Politik und Wirtschaft

7. Die Neue Ökonomische Politik II: Gesellschaft und Kultur

Schlussbetrachtung

 

Anmerkungen

Danksagung

Register

Bildnachweis

EINLEITUNG

„Die Revolution war eine große Sache!“, fuhr Monsieur Pierre fort und verriet durch diese kühne und herausfordernde Behauptung sein äußerst jugendliches Alter.

„Wie? Revolution und Königsmord sind eine große Sache?“ „Ich rede nicht von Königsmord, ich rede von Ideen.“

„Ja: Ideen von Raub, Mord und Königsmord“, warf eine ironische Stimme erneut ein.

„Das waren zweifellos Auswüchse, aber nicht das eigentlich Wichtige. Wirklich wichtig sind die Menschenrechte, die Befreiung von Vorurteilen und die Gleichheit der Bürger.“

Tolstoi, Krieg und Frieden

Mit diesen wenigen Sätzen aus der Anfangsszene seines Meisterwerks zeigt Tolstoi auf glänzende Weise, wie stark umkämpft die historische Bedeutung der Französischen Revolution im ganzen 19. Jahrhundert und sogar noch im größten Teil des 20. Jahrhunderts war. 1978 erklärte der französische Historiker François Furet kühn: „Die Französische Revolution ist beendet.“ Zwar ist dieses Urteil fragwürdig, doch weist es darauf hin, dass ein geschichtliches Ereignis, welches einmal Leidenschaften auf Leben und Tod herausgefordert hatte, nun nicht mehr in der Lage war, die zeitgenössische Politik zu spalten oder zum Gegenstand tieferen gefühlsmäßigen Engagements zu werden. Ob sich dies auch von der Russischen Revolution anlässlich ihres einhundertsten Jahrestags sagen lässt, mag bezweifelt werden, selbst wenn die politische Gestalt, der sie zum Leben verhalf, vor mehr als einem Vierteljahrhundert aufhörte zu existieren. Noch ist das Echo der Herausforderung, mit dem die Machtergreifung der Bolschewiki im Oktober 1917 dem globalen Kapitalismus den Fehdehandschuh hinwarf, nicht verhallt (indes schwächer geworden), unüberhörbar aber werden die zeitgenössischen westlichen Konzeptionen einer durch die Idee von freien Märkten, Menschenrechten und Demokratie bestimmten Politik in Frage gestellt.

Furet wies darauf hin, dass es etwas anderes war, die Geschichte der Französischen Revolution zu schreiben, als die Geschichte der fränkischen Eroberungen des 5. Jahrhunderts. „Ein Historiker, dessen Studienobjekt die Französische Revolution ist, muss … Farbe bekennen. … Und die Ausrichtung seiner Arbeit steht fest, noch ehe er zu schreiben beginnt: Sie wird bestimmt durch seine Meinung, jene Form von Urteil, wie sie über die Merowinger nicht verlangt wird … Er muss diese Meinung nur aussprechen, und alles ist gesagt, schon ist er Royalist, Liberaler oder Jakobiner.“1 Natürlich gibt es keine Geschichtsschreibung ganz ohne politischen Widerhall: Die historische Interpretation schließt immer das Engagement mit ein. Zudem ist Historiographie selbst Teil der Geschichte und damit ständiger Revision ausgesetzt. Während nur wenige die Russische Revolution so beurteilen würden wie Pierre Besuchow es in Krieg und Frieden mit der Französischen Revolution tat, sollten wir uns daran erinnern, dass erstere 1945 von vielen auf vergleichbare Weise verteidigt worden wäre, nämlich als Grund und Gründung eines Staats, der, ungeachtet aller Fehler und Mängel, erheblich zur Niederringung des Faschismus beigetragen hatte. Furet kann also mit Fug und Recht behaupten, dass es bestimmte geschichtliche Ereignisse und Persönlichkeiten gibt, die besondere Leidenschaften hervorrufen und deren Geschichte zu schreiben ein spezifisch politisches Unternehmen ist. Auch einhundert Jahre danach ist die Russische Revolution noch solch ein Ereignis. Eben darum habe ich mich bemüht, über die Krise der zaristischen Autokratie, das Versagen der parlamentarischen Demokratie 1917 und den Aufstieg der Bolschewiki zur Macht so leidenschaftslos wie möglich zu berichten. Ich habe alles Moralisieren zu vermeiden und mit Sympathie über jene Persönlichkeiten zu schreiben versucht, gegen die ich Abneigung verspürte, während ich umgekehrt diejenigen kritisch beurteilte, zu denen ich positiv eingestellt war. Doch wer von den Lesern mich gleich zu Beginn mit einem Etikett versehen möchte – und ein Leser hat sicher das Recht zu wissen, wo der Autor steht –, sollte mit der Schlussbetrachtung beginnen.

Dieses Buch ist in erster Linie für all jene Leser geschrieben, denen die Thematik noch relativ unbekannt ist, doch hoffe ich, dass es auch für meine akademischen Kollegen einiges von Interesse enthält, da es neuere Forschungen russischer und westlicher Gelehrter zusammenführt und darüber hinaus einige tradierte Interpretationen hinterfragt. Das Buch bietet eine umfassende Darstellung der hauptsächlichen Ereignisse, Entwicklungen und Persönlichkeiten im ehemaligen russischen Imperium vom späten 19. Jahrhundert bis zum Beginn des ersten Fünfjahresplans und der Zwangskollektivierung von 1928/29, als Stalin die sowjetische Bevölkerung einer „Revolution von oben“ aussetzte. Ich möchte die drängenden Fragen beantworten, die Schüler, Studenten und all jene Leser interessieren, die etwas über die Vergangenheit lernen wollen. Warum versagte die zaristische Autokratie? Warum schlug der Versuch, nach der Februarrevolution von 1917 eine parlamentarische Demokratie zu errichten, fehl? Wie konnte es einer kleinen, radikalen sozialistischen Partei gelingen, an die Macht zu kommen und sich in einem grausamen Bürgerkrieg (1918–1921) zu behaupten? Wie kam Stalin an die Macht? Warum setzte er Ende der 1920er Jahre eine brutale Kollektivierungskampagne und die gewaltsame Industrialisierung in Gang? Zur Grundlegung dieser Ereignisse und Prozesse zielt das Buch darauf ab, Einsichten in das Wesen von Macht zu vermitteln, indem es zeigt, wie die Entschlossenheit, Herrschaft auf gewohnte Weise weiterzuführen, zum Zusammenbruch einer ganzen Gesellschaftsordnung führen kann, oder wie diejenigen, die eine bessere Gesellschaft schaffen wollen, durch ihren Willen, um jeden Preis an der Macht zu bleiben, korrumpiert werden.

All das sind in Ehren ergraute Themen, aber seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 ist sehr viel Quellenmaterial verfügbar, das ein neues Licht auf die politische und soziale Geschichte dieser Periode wirft. Im Lauf der letzten 25 Jahre haben russische und westliche Historiker dieses Material genutzt, um alte Fragen einer Prüfung zu unterziehen, neue Fragen zu stellen und festgefügte Kategorien zu überdenken. Diese auf Archivmaterial beruhende Forschung will das Buch reflektieren und dem Leser einen Eindruck davon vermitteln, wie die geschichtswissenschaftlichen Interpretationen der Russischen Revolution sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt haben. Zugleich bedenkt es die Tatsache, dass diese Revolution weiterhin ein Thema ist, bei dem die Ansichten und Interpretationen der Historiker weit auseinandergehen. Sein Hauptzweck liegt jedoch darin, dem Leser eine weitgespannte Darstellung vom Zusammenbruch der zaristischen Autokratie und dem Aufstieg einer bolschewistischen Partei zu geben, wobei größere Aufmerksamkeit, als vor dem Zerfall der Sowjetunion möglich war, bestimmten Sachverhalten gewidmet wird: den imperialen und nationalen Dimensionen der Revolution, der Vielschichtigkeit der in den Bürgerkrieg verwickelten Kräfte, den Versuchen gemäßigter Sozialisten und anarchistischer Parteien, der von den Bolschewiki betriebenen Machtmonopolisierung Widerstand entgegenzusetzen, den von der Revolution bewirkten massiven wirtschaftlichen Leiden und Entbehrungen, dem Konflikt zwischen Kirche und Staat sowie den ökonomischen und sozialen Widersprüchen der Sowjetunion während der Phase der Neuen Ökonomischen Politik in den 1920er Jahren.

Bei Revolutionen geht es um den Zusammenbruch von Staaten, um den Wettstreit zwischen rivalisierenden Machtansprüchen und um den Aufbau einer neuen Staatsmacht. Von daher ist die Grundstruktur des Narrativs politischer Provenienz; sie reicht zurück bis zur Phase der Reformen Alexanders II. in den 1860er Jahren und vorwärts in die Zeit des Hochstalinismus der 1930er Jahre. Die Wahl dieses ausgedehnten Zeitrahmens ist dadurch bedingt, dass einige wichtige Entwicklungslinien beleuchtet werden sollen, die den revolutionären Bruch von 1917 überdauerten. Auf grundlegende Weise werden Entwicklungen im Hinblick auf das Zusammenspiel zwischen Zwängen äußerer (Geopolitik und Rivalitäten im internationalen Staatensystem) wie innerer Art (verursacht durch die Aushöhlung gesellschaftlicher Hierarchien mittels rapider wirtschaftlicher Modernisierung) analysiert. Nicht die Revolutionäre schaffen die Revolution – bestenfalls sind sie daran beteiligt, die Legitimität des bestehenden Regimes zu untergraben, indem sie die Vorstellung lancieren, eine bessere Welt sei möglich. Mithin widme ich den politischen Aktivitäten und Argumenten von Revolutionären vor 1917 weniger Aufmerksamkeit, als dies in manchen Standardgeschichtsschreibungen der Fall ist. Lenin selbst wusste genau, dass Revolutionäre erst dann aus der politischen Isolierung ausbrechen und den Versuch unternehmen können, breitere Massen für die Zerstörung der alten Ordnung zu mobilisieren, wenn die bestehende Ordnung von tiefen Krisen gebeutelt wird. Es gilt für praktisch alle sozialistischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts, dass die alte Ordnung nicht durch eine Krise des kapitalistischen Systems ins Wanken geriet, sondern durch den imperialistischen Krieg, weshalb meine Darstellung den Krieg in besonderem Maße berücksichtigt.

Aus Gründen der Einfachheit habe ich bis jetzt die Bezeichnung „Russland“ verwendet, doch berücksichtigt das Buch neuere Forschungen, indem es die Revolution aus eurasischer Perspektive betrachtet und Zentralasien, dem Kaukasus, Sibirien und Fernost größere Aufmerksamkeit widmet als bislang üblich. Die jüngste Geschichtsschreibung der Revolution hat die Themen „Imperium“ und den Aufstieg des Nationalismus in den Fokus gerückt, die von mir entsprechend in die Darstellung einbezogen worden sind. Die Geschichte der Revolution ist der Dreh- und Angelpunkt der Desintegration und schließlichen Reintegration des Imperiums. In ihrem Kampf ums Überleben geriet den Bolschewiki zwischen 1918 und 1920 die Kontrolle über die meisten Gebiete außerhalb des russischen Kernlandes aus den Händen. Das betraf die Ukraine, den Kaukasus, das Baltikum und Zentralasien. Doch indem sie an nationalistische und antikolonialistische Gefühle appellierten, gelang es ihnen schließlich, das Imperium wieder zusammenzufügen. Ausnahmen waren Polen, Finnland, die baltische Küstenregion, die westlichen Gebiete der Ukraine und Weißrusslands sowie Bessarabien. Die politische Macht war in Russland immer in den Hauptstädten konzentriert – alle wichtigen Ereignisse, von denen in diesem Buch die Rede ist, fanden in St. Petersburg oder, nach der Verlagerung der Hauptstadt 1918, in Moskau statt. Die neuere Forschung hat sich aber auch mit den russischen Provinzen beschäftigt und dabei herausgefunden, auf welche Weise die Revolution von lokalen ökologischen, sozioökonomischen und ethnischen Strukturen geprägt wurde, und wie Konflikte in den ländlichen Bezirken und Provinzstädten ihren Ausgang beeinflussten. Um die Vielfalt der revolutionären Geschehnisse zu skizzieren, habe ich Beispiele aus peripheren Provinzen gewählt; damit wollte ich einer Interpretation der Revolution entgegentreten, die sich allzu sehr auf die Geschehnisse in den Hauptstädten konzentriert. Zudem ist seit den 1970er Jahren viel höchst innovative Forschung über die Geschichte der spätimperialen und revolutionären Epoche von Sozial- und, in neuester Zeit, Kulturhistorikern geleistet worden. Auch diese Erkenntnisse haben Eingang in das Buch gefunden.

Durch Revolutionen soll nicht nur ein neuer Staat geschaffen, sondern auch die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse von Grund auf transformiert werden. Anders als bei einem Militärputsch oder der Machtergreifung durch Diktatoren und Verschwörer schafft der völlige Zusammenbruch staatlicher Organisationsmacht in einer Revolution Raum für die Mobilisierung der Massen. Die Politik wird, mit anderen Worten, den Eliten und staatlichen Institutionen entwunden und zur Sache der Massen in Stadt und Land. So handelt dieses Buch von den Aktivitäten und Zielvorstellungen all jener Bauern, Arbeiter, Soldaten, nicht-russischer ethnischer Gruppen, Frauen und Jugendlichen, die die alte Ordnung stürzten, um eine neue zu errichten. 1905 und 1917 organisierten sich Millionen, um gegen die Unterdrückung vorzugehen. Sie wollten Gerechtigkeit, Gleichheit, politische Rechte erlangen und dem Krieg ein Ende bereiten. Eine Geschichte der Revolution muss also die Geschichte einer ganzen Gesellschaft im Aufruhr sein. Gewiss bilden politische Ereignisse das Fundament dieser Geschichte, doch widme ich sehr viel Aufmerksamkeit den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Veränderungen, die die politische Entwicklung formten, und ebenso geht es mir um die Art und Weise, auf die unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen von diesen Entwicklungen beeinflusst wurden und darauf reagierten.

Viel zu häufig noch findet die Bauernschaft, die große Mehrheit der Bevölkerung, in Darstellungen der Revolution nur marginale Beachtung, obwohl Bauern ihre vorrangigen Triebkräfte und Opfer waren. Sie litten unter der Zarenherrschaft, sie erhoben sich 1905 und 1917 gegen die alte ländliche Ordnung, sie schienen 1917/18 ihre uralten Träume verwirklichen zu können – und mussten dann doch die hauptsächlichen Kosten der sozioökonomischen Modernisierung tragen. Dennoch legten sie im Widerstand gegen die Pläne der Regierung auch eine beträchtliche Gewitztheit an den Tag, bis Stalin Ende der 1920er Jahre die gewaltsame Kollektivierung der Landwirtschaft durchführte. Eine Darstellung der Revolution in sozialgeschichtlicher Perspektive setzt einen Maßstab, anhand dessen die Aktivitäten der Reformer und Revolutionäre beurteilt werden können. Es lässt sich abschätzen, in welchem Maße sie auf drückende wirtschaftliche und soziale Probleme eingingen und wie angemessen und wirksam ihre diesbezüglichen politischen Aktivitäten waren. Letztlich lässt sich die Transformationskraft der Revolution, deren Auswirkungen höchst ungleichmäßig waren, nur an der Tiefe der Umgestaltung der sozialen und ökonomischen Ordnung bemessen.

Im letzten Vierteljahrhundert ist die Kulturgeschichte beträchtlich aufgeblüht, und dieses Buch ist bestrebt, einige ihrer Forschungsergebnisse einzubeziehen, indem es den Einfluss ökonomischer Veränderungen auf eingeschliffene kulturelle Strukturen, die entscheidende Bedeutung von Generationenkonflikten in der Revolution und die Bemühungen der Bolschewiki um die Durchsetzung der von ihnen so genannten „Kulturrevolution“ berücksichtigt. Als (illegitime) Kinder der Aufklärung verstanden sie die Revolution als Element des zivilisatorischen Fortschritts. In diesem Sinne glaubten sie an die Fähigkeit der Wissenschaft, für die Beseitigung des Mangels zu sorgen, und an die Fähigkeit vernünftiger sozialer Organisations- und Denkformen, die „zurückgebliebenen Massen“ von Religion und Aberglauben zu befreien. Die Bolschewiki schufen den ersten Staat in der Geschichte, der eine atheistische Gesellschaft einrichten sollte, und ihr Angriff auf die Kirche war ein Vorhaben, über das wir mittlerweile sehr viel mehr wissen. Insofern widmet sich das Buch dem Zusammenstoß zwischen radikaler kultureller Erneuerung und den überkommenen Glaubensformen und Einstellungen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen besonders im religiösen Bereich. Paradoxerweise konnte sich das Regime nur festigen, indem es mit Glaubensformen und Praktiken, die es anfänglich heftig angegriffen hatte, den Kompromiss suchte oder gar manches davon sich aneignete.

Die Zentenarfeier der beiden Revolutionen von 1917 ereignet sich zu einer Zeit, in der weder die fortgeschrittenen kapitalistischen noch die Schwellenländer viel Sympathie für die Revolution zeigen. Zwar ist hier und da noch von „Revolution“ die Rede, doch handelt es sich dabei, wie Arno Mayer sagt, um „die Feier von ihrem Wesen nach unblutigen Revolutionen für Menschenrechte, Privateigentum und Marktkapitalismus“.2 Man könnte jetzt hinzufügen, dass selbst Revolutionen dieser Art – die „orange“ Revolution in der Ukraine, die Revolutionen in Osteuropa und im Kaukasus oder die „Arabellion“ – all jenen, die radikalen politischen und sozialen Wandel durch den Einsatz von Gewalt und die Mobilisierung von Massen bewirken wollen, nichts gebracht haben. Davon ist die Art und Weise, in der Historiker über vergangene Revolutionen schreiben, nicht unberührt geblieben.3 Im Westen sind Historiker stärker geneigt, 1917 als Initiation einer Gewaltspirale zu sehen, die zu den Schrecken des Stalinismus führte, statt als gescheiterten Versuch, eine bessere Welt zu schaffen. Für sie ist die Mobilisierung von Bauern, Soldaten und Arbeitern eher der Irrationalität und Aggression geschuldet, als der Empörung über Ungerechtigkeit oder dem Verlangen nach Freiheit. Betrachtet man die Oktoberrevolution vor dem Hintergrund des in den letzten hundert Jahren massiv angewachsenen Kapitalismus, scheint sie Russland in eine geschichtliche Sackgasse geführt zu haben: vom Kapitalismus zum Sozialismus und wieder zum Kapitalismus zurück. Betrachtet man sie aus der Perspektive von Wladimir Putins Russland, scheint sie in der politischen Kultur keine große Spur hinterlassen zu haben. Warum also sollte man sich nach einem Jahrhundert noch mit der Revolution beschäftigen?

Zum einen hat sie für die bestehende Ordnung die bis dato radikalste Herausforderung dargestellt, denn die Bolschewiki sahen sich verpfichtet, eine ihrer Anschauung nach auf Ausbeutung, Ungleichheit und Krieg beruhende Gesellschaft durch eine klassen- und staatslose zu ersetzen, die sie „Kommunismus“ nannten. Dieser Kommunismus à la Bolschewiki besitzt zwar im 21. Jahrhundert wenig Anziehungskraft, doch muss das nicht heißen, dass sich seine Reize für alle Zukunft erschöpft haben. So wie die Englische Revolution Schluss machte mit dem gottgegebenen Recht der Könige und die Französische Revolution die Idee eines durch Geburt privilegierten Adels beseitigte, könnte die Auffassung, soziale Hierarchie und sozioökonomische Ungleichheit seien keine Naturgegebenheiten, sich als Erbteil der Russischen Revolution erweisen. Der Kapitalismus hat den Staatssozialismus beerdigt, doch jene Herausforderung bleibt bestehen. Zum anderen ist Russland auch heute noch eine nicht zu vernachlässigende politische Macht, und wenn wir die Kombination aus Angst und Ehrgeiz verstehen wollen, aus der die russische Außenpolitik häufig sich speist, müssen wir ihre Geschichte kennen. Aus langfristiger Geschichtsperspektive gesehen währte der Staatssozialismus nur kurze Zeit, doch hatte die Sowjetunion enormen Einfluss auf die so wechselhafte Geschichte des 20. Jahrhunderts, was sich besonders deutlich im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg zeigt. Zum dritten schließlich können wir aus der Geschichte lernen, und die Geschichte der Russischen Revolution zeigt uns mit großem Nachdruck, wie Machtdurst, Gewaltverherrlichung und die Verachtung von Gesetz und Moral Projekte zugrunde richten können, die mit den hehrsten Idealen begannen.

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Da sich dieses Buch an eine breitere Leserschaft richtet, habe ich mich bemüht, die Anmerkungen auf ein Minimum zu reduzieren. Ich verweise auf die Quellen von Zitaten und Statistiken und ansonsten kurzgefasst auf die relevanten Texte zu einem bestimmten Thema. Hauptsächlich verweisen die Anmerkungen auf die von mir benutzte Literatur und auf einige der spezielleren Werke für den stärker am Detail interessierten Leser.

Wenn ich mich auf innerrussische Ereignisse beziehe, verwende ich bis zum 31. Januar 1918 den Kalender alten Stils, der dann von den Bolschewiki durch den Gregorianischen Kalender ersetzt wurde. Nun verschoben sich die Daten um 13 Tage auf den 14. Februar 1918, wodurch der russische Kalender Anschluss an die moderne Welt fand. Internationale Ereignisse sind jedoch (hauptsächlich in Bezug auf den Ersten Weltkrieg) gemäß dem Gregorianischen Kalender datiert. Die russischen Maße wurden ausnahmslos in metrische Einheiten umgewandelt.4

Karte 1: Der europäische Teil Russlands 1917/18

Karte 2: Die Weiße Armee 1919

Karte 3: Die Sowjetunion 1924

1. DIE WURZELN DER REVOLUTION: VON DEN 1880er JAHREN BIS 1905

Der Zusammenbruch des zaristischen Regimes im Februar 1917 wurzelte in einer durch wirtschaftliche und soziale Modernisierungen hervorgerufenen Krise, die durch den Ersten Weltkrieg noch erheblich verschärft wurde.1 Seit den 1860er und insbesondere den 1890er Jahren war die Autokratie bestrebt, durch die Industrialisierung des Landes und die Modernisierung der Streitkräfte mit den europäischen Mächten mitzuhalten, auch wenn man wusste, dass der Wirtschaftswandel Kräfte freisetzen würde, die die politische Stabilität bedrohten. Aber die Zeit war dem Zarentum nicht günstig gesonnen. Seit dem späten 19. Jahrhundert vergrößerten die führenden Industriestaaten – Deutschland, die USA, Großbritannien und Frankreich – ihren geopolitischen und ökonomischen Einfluss auf massive Weise, wodurch Russland die Zweitrangigkeit drohte. Der energisch vollzogene Wandel auf wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Ebene ließ in Russlands erheblich zurückgebliebener Gesellschaft jedoch neue soziale und politische Kräfte entstehen, die das Fundament der Autokratie untergruben. Industrialisierung, Urbanisierung und Landflucht führten zur Herausbildung neuer Klassen, von denen insbesondere Industriearbeiter, Geschäftsleute und der Mittelklasse angehörende Freiberufler nicht in das vom Landadel beherrschte traditionelle Ständesystem passten. Die Angehörigen dieser neuen Klassen wollten von der Autokratie als Bürger, nicht als Untertanen behandelt werden und forderten, dass ihnen entsprechende Rechte eingeräumt würden. Diese im Zusammenhang mit einem Krieg gegen Japan erhobenen Forderungen führten 1905 zum Ausbruch einer umfassenden Revolution. In diesem Jahr wurde der Zar, Nikolaus II., von einer liberalen Bewegung aus der Mittelklasse, einer militanten Arbeiterbewegung und einer massiven, gegen den Landadel gerichteten Bauernbewegung so unter Druck gesetzt, dass er im Oktobermanifest von 1905 weitgehende politische Reformen ankündigen musste. Nachdem die Ordnung wiederhergestellt war, zog Nikolaus sein Versprechen, eine konstitutionelle Monarchie einzuführen, allerdings wieder zurück.

Im Vorgriff auf das nächste Kapitel sei bemerkt, dass der Zeitraum zwischen 1907 und 1914 (manchmal auch als „Jahre der Reaktion“ bezeichnet) von einem Patt zwischen Duma (dem neuen Parlament) und Regierung sowie einem Abrücken von politischen Reformen gekennzeichnet ist. Zugleich sah sich die Regierung der Kritik von Kräften ausgesetzt, die bislang ihre Stützpfeiler gewesen waren: der Adel und die Russisch-Orthodoxe Kirche, während sich andererseits am Wachstum des Pressewesens, an der Ausbreitung von freiwilligen Gelehrtengesellschaften und einer neuen Konsumentenkultur die Herausbildung einer Zivilgesellschaft zeigte. Obwohl also die Hoffnung auf politische Reformen gedämpft wurde, gab es Anlass zur Annahme, dass in jenen Jahren, da die Bauernschaft sich beruhigte, die Industrie sich nach 1910 neu belebte und die Streitkräfte verstärkt wurden, die Wahrscheinlichkeit einer Revolution sich verringerte. Doch das internationale Umfeld war bedrohlich, und es verschärften sich die Probleme des Umgangs mit einem multinationalen Reich. Ohne den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Juli 1914 hätte sich die Kluft zwischen den breiten Bevölkerungsschichten und den privilegierten Klassen wie auch zwischen Duma und Regierung vielleicht allmählich überbrücken lassen, doch machte der Krieg solchen Hoffnungen ein Ende. Die Anforderungen, die der „totale Krieg“ stellte, setzten Industrie und Landwirtschaft unter unerhörten Druck und vergrößerten die Kluft zwischen den Privilegierten und der übrigen Bevölkerung. Während die politischen Eliten vom Zarenregime maßlos enttäuscht waren, reagierte die Bevölkerung zunehmend unzufrieden auf Lebensmittelmangel und andere Kriegslasten – zwei Faktoren, die die Februarrevolution auslösten und zum Sturz der seit 300 Jahren regierenden Dynastie der Romanows führten.

Der bedeutende Historiker des 19. Jahrhunderts, Wassili Kljutschewski, hat einmal bemerkt, das grundlegende Merkmal der russischen Geschichte sei die auf einer grenzenlosen und unwirtlichen Ebene vollzogene Kolonisierung.2 Russland besaß weite Ebenen, eine rückständige Wirtschaft und eine von Armut geplagte Landbevölkerung, aber keine natürlichen Grenzen, weshalb es zu Invasionen geradezu einlud: Im 17. Jahrhundert kamen die Polen, im 18. die Schweden, im 19. die Franzosen. Zwar konnte jede dieser Invasionen zurückgeschlagen werden, doch stiegen jedes Mal die Kosten der Mobilisierung an Menschen und Material, sodass der Staat immer mächtiger, imperialer und autokratischer wurde. Während russische Kolonisten über Steppen und Tundren bis zum Pazifik vordrangen, weitete sich der dynastisch regierte Staat immer weiter nach Süden in die Ukraine und den Kaukasus aus, während im Norden der Sieg über die Schweden zur Einverleibung des Baltikums führte. Im 19. Jahrhundert wurden Polen und Zentralasien dem russischen Reich eingefügt. Bis zur Mitte dieses Jahrhunderts konnte das Zarentum sein ungefüges Kontinentalreich ohne viele Ressourcen im Wesentlichen durch die Kooptierung nicht-russischer Eliten regieren, doch in den 25 Jahren vor der Jahrhundertwende machte sich der imperiale Ehrgeiz der aufstrebenden europäischen Mächte mit der Hilfe von Schwerindustrie, Eisenbahnen, Dampfschiffen und Telegrafen auf die Jagd nach Kolonien, Rohstoffen und Märkten. Dadurch gerieten Russlands Grenzgebiete ebenso unter Druck wie die traditionellen Techniken zaristischer Herrschaft. Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Österreich-Ungarn und Russland suchten durch Bündnisse die Fiktion einer Machtbalance aufrechtzuerhalten, aber im Jahrzehnt vor 1914 wurden die Beziehungen zwischen den Großmächten „ihrem Wesen nach zu einem Glücksspiel mit den dazugehörigen Elementen von Bluff und Poker. … Das Spiel drehte sich vor allem um Berechnungen über die Macht der Konkurrenten und die Bereitschaft und Fähigkeit, ihre Ansprüche mit Gewalt durchzusetzen.“3

Nach dem Sieg über Napoleon 1812 hatte Russland internationales Ansehen genossen, jedoch durch den Krimkrieg (1853–1856) wieder verloren, als Frankreich und Großbritannien sich auf die Seite des Osmanischen Reichs stellten, um Russlands Expansion in den Mittelmeerraum zu verhindern. Angesichts des Pariser Friedens, der Russland das Recht auf eine Kriegsflotte und Landfestungen im und am Schwarzen Meer untersagte, bemerkte Großherzog Konstantin Nikolajewitsch, der zweite Sohn von Zar Nikolaus I.: „Wir können uns nicht länger selbst belügen. Wir sind schwächer und ärmer als die Mächte ersten Ranges, und darüber hinaus nicht nur ärmer an Rohstoffen, sondern auch an geistigen Ressourcen vornehmlich in Sachen Verwaltung.“4 Immerhin führte die Niederlage dazu, dass unter Alexander II. (Reg. 1855–1881) ein umfangreiches Reformprogramm in Gang gesetzt wurde, dessen Höhepunkt die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 bildete. Hinzu kamen Rechtsreformen, wozu die Einführung von Friedensrichtern und, in begrenztem Maße, Geschworenengerichte zählten. Eine Militärreform sah die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die Umgestaltung der Verwaltung und die Einrichtung von Kadettenschulen vor. Von erheblicher Bedeutung war die Schaffung von lokalen Regierungseinrichtungen, den „Semstwos“, sowie von städtischen Dumas. Wären diese Reformen energisch weiterverfolgt worden, hätte das den Ausbruch der Revolution von 1905 weniger wahrscheinlich gemacht. Aber Alexander wurde 1881 von einem Mitglied der terroristischen Organisation Narodnaja Wolja („Volkswille“) ermordet, und sein Sohn und Nachfolger, Alexander III., machte den Liberalisierungskurs rückgängig.

Indes hatten die Reformen Alexanders II. kaum dazu beigetragen, Russlands Niedergang im internationalen Kontext aufzuhalten. Zwar gab es nach dem Sieg über die Türkei im Krieg von 1877/78 Gewinne im Schwarzen Meer sowie an der bulgarischen und kaukasischen Front, doch wurden sie auf dem Berliner Kongress von 1878 erheblich zurückgestutzt, als der deutsche Kanzler Otto von Bismarck das mit russischer Hilfe geschaffene Gebiet eines unabhängigen Bulgarien erheblich verkleinerte und Österreich-Ungarn, Russlands Erzrivale auf dem Balkan, das Recht auf Verwaltung der osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina zusprach. Diese Konzessionen waren der panslawistischen Bewegung in Russland ein Dorn im Auge. Sie forderte die Eroberung von Konstantinopel, der einstmaligen Bastion des orthodoxen Christentums, und die Kontrolle über die Meerenge zwischen dem Schwarzen Meer und den Dardanellen. Bismarcks Regieführung auf dem Kongress verdeutlichte die Bedrohung, die ein erst kürzlich vereinigtes und wirtschaftlich prosperierendes Deutschland für russische Expansionspläne darstellte. Diese Besorgnis führte 1894 zum Bündnis Russlands mit Frankreich, worin sich die Partner zu gegenseitiger Hilfe verpflichteten, sollte einer von ihnen von einem Mitglied des aus Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien bestehenden Dreibundes angegriffen werden. Frankreich sollte bis 1917 Russlands hauptsächlicher Verbündeter bleiben und dabei umfangreiche finanzielle und militärische Hilfe leisten.

Doch fand der Krieg zunächst nicht im Westen, sondern im Osten statt, in der Mandschurei. Am 8. Februar 1904 führte die japanische Kriegsflotte einen Überraschungsangriff auf die vor Port Arthur ankernde russische Flotte durch. Seit den 1850er Jahren war Russland immer weiter gegen chinesisches Territorium vorgerückt, während die China regierende Mandschu- (oder Qing-)Dynastie im Verfall begriffen war. 1860 wurde Wladiwostok gegründet – ein Zeichen für Russlands Absicht, seine Rolle als Hegemonialmacht in Fernost zu festigen, was die Briten als Alarmsignal betrachteten. Japan wiederum hatte mit seiner Modernisierung zu ungefähr der gleichen Zeit begonnen wie Russland unter Alexander II. und konnte mittlerweile große Fortschritte in der Industrialisierung, der Schaffung einer Wehrpflichtigenarmee und einer zentralisierten Bürokratie verzeichnen. Nun blickte es in der gesteigerten Erwartung von Rohstoffen, Märkten und nationalem Prestige nach Korea und der Mandschurei. 1891 konnte der russische Finanzminister Sergej Witte mit der Unterstützung des zukünftigen Zaren, Nikolaus II., den Baubeginn der Transsibirischen Eisenbahn verkünden. Damit sollte zum einen die Umsiedlung von Bauern aus den übervölkerten Schwarzerdeprovinzen von Zentralrussland gefördert und zum anderen die Kontrolle über die fernöstlichen Gebiete gefestigt werden. Nachdem China den Krieg gegen Japan 1894/95 verloren hatte, übte Russland Druck auf die chinesische Regierung aus, um die Erlaubnis für den Bau der Ostchinesischen Eisenbahn zu erhalten. Sie sollte die Transsibirien-Strecke abkürzen, indem sie durch die nördliche innere Mandschurei über Harbin nach Wladiwostok führte. 1898 begann Russland mit dem Bau der Südstrecke, die von Harbin über die Halbinsel Liaodong zum ständig eisfreien Hafen führen sollte, den man in Lüshunkou, bekannt unter dem kolonialen Namen „Port Arthur“ anzulegen begonnen hatte.

Russlands Griff nach der Mandschurei fiel mit Japans Besetzung von Korea zusammen, die nach dem Sieg über China erfolgt war. So gerieten die beiden imperialen Mächte in Konflikt. 1898 verlangte das Marineministerium 200 Millionen zusätzlich zu seinem jährlichen Haushalt von fast 60 Millionen (während das Landwirtschaftsministerium im Jahr 1900 über nur 40,7 Millionen verfügte), um die Überlegenheit seiner Pazifikflotte über die Japaner zu sichern.5 Aber die Japaner hatten nicht vor, dem tatenlos zuzusehen, und griffen Port Arthur im Februar 1904 an. Damit zwangen sie die Russen, eine weitere Flotte nach China zu schicken, die nach einer epischen Fahrt von 18.000 Seemeilen (über 32.000 km) in der Schlacht von Tsushima vernichtend geschlagen wurde. Die Öffentlichkeit war über diese erniedrigende Reihe von Niederlagen empört, was die Opposition gegen das Regime zu einer Zeit, in der immer lautere Forderungen nach sozialen und politischen Reformen hörbar wurden, noch verstärkte.

Wie alle Imperien war auch das russische Reich ein ausgedehntes Konglomerat verschiedener Ethnien – mehr als einhundert an der Zahl – und Konfessionen. Die Volkszählung von 1897 zeigte, dass die Russen sich zwar für die vorherrschende politische, religiöse und kulturelle Kraft hielten, tatsächlich aber in demographischer Hinsicht (wenn man die Ukrainer und Weißrussen ausschließt) eine Minderheit waren, indem sie nur 44 Prozent der Gesamtbevölkerung von 122,6 Millionen Einwohnern ausmachten.6 Das Reich wurde gemäß dem Differenzprinzip regiert: Russen wie Nicht-Russen bestimmte man gemäß sozialem Stand (soslowje), Religion und – bezüglich der Nicht-Russen – anhand der schwer zu übersetzenden Kategorie der inorodzi, der „Personen anderen Ursprungs“, ein Begriff, der ursprünglich nur für die nomadischen und halbnomadischen Stämme Sibiriens galt, allmählich aber auf alle nicht-slawischen Völkerschaften ausgedehnt wurde.7 Die Heterogenität des Reichs zeigte sich auch in den komplexen Überschneidungen ethnischer, religiöser und sozialer Unterteilungen. So waren z.B. die Ukrainer aufgespalten in Ukrainisch- und Russischsprachige, religiös in griechisch-katholisch Gläubige (Uniaten) und Orthodoxe, und diese wiederum standen entweder unter russischer oder, in Galizien, unter österreichischer Herrschaft (und wurden dort „Ruthenen“ genannt).8 Zudem gab es in den neun Provinzen mit ukrainischer Mehrheit jüdische, polnische, deutsche und tatarische Minderheiten.

Als das russische Reich sich über die „grenzenlosen und unwirtlichen Ebenen“ (so Kljutschewski) ausbreitete, sicherte es die innenpolitische Stabilität, indem es nicht-russische Eliten zu Mitregenten der Grenzgebiete machte, eine Vielfalt unterschiedlichster Rechts- und Verwaltungsformen tolerierte und religiöse Unterschiede (insbesondere was den Islam anging) respektierte.9 Als die Grenzgebiete – „Ukraine“ heißt auf Deutsch „Grenzland“ – durch rivalisierende Mächte unter Druck gerieten, wuchs die Sorge um Sicherheit, und die Regierungsbeteiligung von Nicht-Russen in den Grenzgebieten wurde zunehmend als Problem gesehen. Insbesondere seit den 1880er Jahren lancierte der Staat Maßnahmen zur größeren Zentralisierung und Vereinheitlichung der Verwaltung. Eine Dimension dieser Politik der Homogenisierung war die (auf je unterschiedliche Weise betriebene) Russifizierung.

Nachdem 1863 der polnische Aufstand niedergeschlagen worden war, entstand ein starker Drang zur Durchsetzung von russischer Sprache und Kultur, der sich besonders heftig in den westlichen Grenzregionen und den baltischen Küstengebieten äußerte. 1881 wurde die Verwendung des Ukrainischen in den Schulen und 1888 in allen öffentlichen Institutionen verboten. Durch die Ausbreitung von russischer Sprache und orthodoxem Glauben sollten Ukrainer, Weißrussen, Litauer und andere Ethnien in die russische Leitkultur integriert werden. Polen und Juden jedoch galten als russischen Werten besonders abgeneigt und wurden daher bis 1917 rechtlich stark diskriminiert. Zugleich gab es in der Regierung Kräfte, die einsahen, dass eine allzu rücksichtslose Russifizierung in Bereichen wie Bildung oder Beschäftigung gegenteilige Effekte haben könnte. In anderen Regionen wurde denn auch die Russifizierung weniger aggressiv betrieben: In den Wolga- und Uralprovinzen etwa sollte durch die stärkere Hervorhebung russischer Sprache, Kultur und Institutionen eine panmuslimische Identität aufgebrochen, aber keine kulturelle Assimilierung betrieben werden.10 In Zentralasien jedoch blieb die Herrschaftsweise eindeutig kolonial. Von Mitte der 1860er bis Mitte der 1880er Jahre kamen in mehreren mit aller Härte geführten Feldzügen Ländereien bis südlich von Fergana unter russische Herrschaft, wobei die Khanate Buchara und Chiwa als Protektorate noch einen Hauch von Unabhängigkeit behielten. Auch im Kaukasus wurden die Bergvölker mit brutaler Gewalt unterworfen, während die offizielle Feindschaft gegenüber dem Islam wuchs. Auch hier also herrschte der klassische Kolonialismus, bei dem regierungsseitig betont wurde, das „russische Element“ sei für die Kolonisierung nicht so „zivilisierter“ Völker unerlässlich.11

Trotz solcher Eroberungspolitik neigen Historiker, aufgrund der unterschiedlichen Formen der Herrschaft über die nicht-russischen Völker, nicht mehr dazu, mit Lenin das Zarenreich als „Gefängnis der Nationen“ zu sehen (wie er es vor der Revolution nannte). Stattdessen verweisen sie darauf, dass es beides gegeben habe: Akkomodation wie auch Unterdrückung.12 Dieses Differenzierungsverfahren gestattete der zaristischen Regierung eine beträchtliche Flexibilität bei der Ausübung von Herrschaft, indem sie unterschiedlichen Gruppen unterschiedliche Privilegien und Verpflichtungen zuweisen konnte. Doch gab es gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine sichtbare Verschiebung: Nun begriff man das Reich eher als nationales denn als dynastisches Gebilde, wobei ethnische Kategorien sich gegenüber ständischen und konfessionellen durchsetzten. Tatsächlich verwendete die Volkszählung von 1897 zum ersten Mal (und eher vorsichtig) die politisch heikle Kategorie der „Nationalität“.13 Offiziellerseits zog man immer noch die rechtliche Kategorie inorodzi vor, doch hatte der Terminus mittlerweile einen Beiklang von kultureller Andersheit und mithin, zumindest aus Sicht des staatlich definierten „russischen Elements“, eine Konnotation von Bedrohung für die Integrität des russischen Staats. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Imperium also eine instabile Mixtur aus einem dynastisch-aristokratischen Reich (was der Schweizer Historiker Andreas Kappeler eine „Hausmacht“ [i. O. dt.] nennt), einem national vereinheitlichenden Staat und einem Kolonialregime (vor allem bezogen auf Zentralasien und den Nordkaukasus).14 Dennoch definierte Russland sich bis 1917 als rossiiskaja, d.h. als Staat, der alle Völker der zu Russland gehörenden Gebiete umfasste, nicht aber als russkaja, d.h. als russisch in ethnischer Hinsicht.15

In den Grenzregionen wuchs der Nationalismus. Er würde sich bei der Revolution von 1905 als weiterer destablisierender Faktor erweisen, der den Fortbestand der Autokratie gefährdete. Die nationalistische Herausforderung war zum Teil eine Reaktion auf die Russifizierungspolitik – das galt besonders für Polen und die Ukraine. In grundsätzlicherer Hinsicht war es eine Reaktion auf die Modernisierung; in ihr bekundete sich die Entstehung von städtischen, gebildeten Eliten in den nicht-russischen Gebieten als Antwort auf die Erfahrungen moderner Kommunikation, Expansion der Märkte und politischer Beschränkung. Hierin fand die wachsende Überzeugung urbaner (und einiger ländlicher) Intellektueller und Angehöriger der Mittelschichten ihren Ausdruck, dass nicht-russische Völker aufgrund gemeinsamer Geschichte, Sprache und kultureller oder religiöser Praktiken das Recht hätten, sich von Fremdherrschaft zu befreien und einen Staat zu schaffen, der als Repräsentant einer bestimmten ethnischen Gemeinschaft autonom war und über ein eigenes Territorium verfügte. Dennoch war der nicht-russische Nationalismus bis zum Ersten Weltkrieg kein vorrangiger Faktor für die Schwächung des russischen Reichs.16

Autokratie und Orthodoxie

Nikolaus II. bestieg 1894 den Thron. Er war ein zurückhaltender, ruhiger Mann, dessen Leben um Frau und Familie kreiste. Seine Tagebücher enthalten kaum etwas über Staatsangelegenheiten; man liest lakonische Bemerkungen über das Familienleben, seinen gesundheitlichen Zustand, die Jagd oder das Wetter.17 Nikolaus war davon überzeugt, dass Gott persönlich ihm die autokratische Macht verliehen habe, und er widerstand mit Nachdruck allen Versuchen, diese Macht durch Gesetzgebung oder Verfassung einzuschränken. Selbst nach der Verkündung des Oktobermanifests hieß es im Artikel eins des Grundgesetzes von 1906: „Der Kaiser von ganz Russland ist ein autokratischer und uneingeschränkter Monarch. Seiner obersten Autorität nicht nur aus Furcht, sondern dem Gewissen folgend zu gehorchen, ist Gottes eigenstes Gebot.“18 Nikolaus sah sich selbst als Vater, dessen Pflicht es war, sein Volk zu schützen. Einer gebildeten, aufgeklärten Gesellschaft stand er ablehnend gegenüber; stattdessen suchte er die Monarchie erneut zu sakralisieren. In seiner Vorstellung war er mit dem russischen Volk auf mystische Weise durch den Glauben und eine gemeinsame Geschichte verbunden. Immer stärker wurde sein Verlangen nach spiritueller Führung durch heilige Männer wie Grigori Rasputin, einen von der Bevölkerung verehrten Geistheiler, der ab 1906 am Zarenhof außerordentlichen Einfluss genoss. Die Regierungsbürokratie lehnte Nikolaus aus prinzipiellen Gründen ab, und seine Minister, die nicht mehr dem Adel oder dem Militär entstammten, hatten es schwer, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Das ganze System benötigte als Koordinator eine starke Führungspersönlichkeit, doch hatte Nikolaus nicht einmal ein eigenes Sekretariat zur Gewichtung der Probleme, die zu bewältigen waren.

Nikolaus II., Alexandra und Familie

Ungeachtet seiner vielfältig demonstrierten militärischen und administrativen Macht war der zaristische Staat strukturell schwach, wenngleich nicht ineffektiv. Die zentralistische Regierung verfügte über begrenzte Ressourcen an Material und Menschen, die Steuererträge waren gering, die Verwaltung nicht ausreichend besetzt und durch unklare Rechtsverhältnisse und Kompetenzbereiche sowie durch Korruption und Streit über Weisungsbefugnisse beeinträchtigt. Insbesondere unter Alexander II. (aber auch sonst im 19. Jahrhundert) hatte sich die Einsicht durchgesetzt, dass eine durchgreifende Verwaltungsreform notwendig sei, um die ständig wachsenden Anforderungen an die Regierung bewältigen und im Wettlauf mit konkurrierenden Mächten mithalten zu können. Es wurden Sonderkommissionen eingerichtet, die verwaltungstechnische Unfähigkeit, Korruption und fehlende Koordination zwischen Ministerien untersuchten. Berge von bedrucktem Papier wurden erzeugt, Projekte ins Leben gerufen und Gesetze verabschiedet. Alles verlief im Sande. Die zwei herausragendsten Minister unter Nikolaus II., Finanzminister Sergej Witte und Innenminister Pjotr Stolypin, waren von der Notwendigkeit einer Verwaltungsreform überzeugt. Witte glaubte, dass eine von Gesetzesherrschaft und rationaler Verwaltung geleitete Autokratie in der Lage sei, die Wirtschaft zu modernisieren und die soziale Stabilität zu gewährleisten. Stolypin wiederum hoffte nach der Revolution von 1905, dass der Monarch seine Autorität wiedererlangen und zugleich mit der neuen Duma zusammenarbeiten könne. Die „alte, polizeilich geregelte Ordnung“ sei, so erklärte er zuversichtlich, vorbei.19

Bisweilen ist die Autokratie einem Polizeistaat gleichgesetzt worden.20 Sicherlich war die Polizei rastlos damit beschäftigt, organisierte politische Opposition und öffentlichen Dissens zu unterdrücken. Wer in den Verdacht geriet, „aufrührerisch“ zu sein, hatte Gefängnishaft oder Verbannung nach Sibirien zu erwarten. Die Geheimpolizei des Zaren (die „Ochrana“) fing Briefe ab und schleuste Agenten in öffentliche Institutionen und Fabriken ein, wo sie regelmäßig Berichte über ungewöhnliche Aktivitäten und abweichende Meinungen verfassten. Auch die revolutionären Parteien waren mit Geheimagenten durchsetzt, während Hausmeister, Droschkenkutscher und andere geeignete Personen das Tun und Treiben der Bürger ausspionierten. Es gab ein straffes Zensurwesen (das jedoch nach der Revolution von 1905 verfiel) und energische, wenngleich nicht besonders wirkungsvolle Versuche, die Verbreitung radikaler Schriften zu verhindern. Ein eindeutiger Hinweis darauf, dass die Autokratie ein Polizeistaat war, ließe sich in der Tatsache erblicken, dass große Gebiete des Reichs per Notstandsverordnung regiert wurden: Am Vorabend der Revolution von 1905 galt in 70 Prozent der Regionen der Ausnahmezustand, und obwohl es während der Jahre der Reaktion einen Rückgang gab, befanden sich 1912 noch 2,3 Millionen Einwohner unter Kriegsrecht und 63,3 Millionen waren irgendeiner Form von „verstärkten Schutzmaßnahmen“ ausgesetzt.21

Mit Hilfe der Notstandsgesetze konnten Provinzgouverneure zur Aufrechterhaltung der Ordnung ihnen geeignet erscheinende Maßnahmen ergreifen. Allerdings will, wie der Historiker Peter Waldron bemerkt, die Delegierung solcher Machtbefugnis an die Gouverneure nicht recht zum Zentralismus passen, den man mit einem Polizeistaat in Verbindung bringt.22 Überdies ist augenfällig, wie schwach die Polizeikräfte tatsächlich waren: Bis in die 1890er Jahre waren sie unterhalb der Ebene der Verwaltungsbezirke die einzigen Repräsentanten der Regierung, doch musste um 1900 ein einzelner Landkonstabler mit der Unterstützung von ein paar Polizeibeamten niederen Ranges bis zu 2,6 Quadratkilometer und zwischen 50.000 und 100.000 Einwohner überwachen.23 Da Polizisten sehr viel kostenträchtiger waren als Soldaten, ließ das Regime gefährlichere Aufruhrversuche durch die Armee niederschlagen. Insofern war die Regierungsgewalt im zaristischen Russland zu wenig durchschlagskräftig und die Bürokratie zu schwächlich, als dass von einem Polizeistaat à la Stalin gesprochen werden könnte.24

Mithin war der Einfluss des Zentralstaats in den Provinzen eher begrenzt. Ein Viertel der Regierungsausgaben kam der Verwaltung zugute (aber mehr als ein Drittel dem Militär), doch reichte die Macht des Zentrums nur bis zu den Toren der 89 Provinzhauptstädte, in denen die Gouverneure ihren Amtssitz hatten. Sie waren persönliche Repräsentanten des Zaren, unterstanden dem Innenministerium und genossen umfangreiche Machtbefugnisse.25 Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 sollte der Adel in den ländlichen Gebieten mit Hilfe der neuen Institution „Semstwo“ die Ordnung aufrechterhalten, doch hatte die Zentralregierung nur wenig Möglichkeiten zu garantieren, dass dies auch auf eine ihr genehme Weise geschah. Obwohl die Semstwos von Vertretern der verschiedenen Stände gewählt wurden, besaß der Adel die Vorherrschaft (74 Prozent der Mitglieder der Semstwos waren Adlige, obwohl der Adel nur 1,3 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte).26 Die Semstwos übernahmen einen weitgefassten Aufgabenbereich lokaler Regierungsfunktionen, so z.B. Erziehung und Bildung, Gesundheitsfürsorge, Landwirtschaft, tierärztliche Versorgung, Straßenbau usw. Allerdings gab es sie nur auf der Ebene der Provinzen und Bezirke, nicht aber auf der untersten Ebene städtischer Verwaltung. Ihre Blütezeit erfuhren sie in den Jahren bis zur Revolution von 1905, als sie auf politische Reformen drängten, doch erweiterten und professionalisierten sie ihre Funktionen bis 1918, wobei zwischen 1905 und 1914 ihr Haushalt um das Doppelte und die Anzahl der Beschäftigten um 150 Prozent zunahm. Nun war die Selbstverwaltung unterhalb der Provinzebene auch in Städten und Dörfern aktiv.

Auf der dörflichen Ebene hatte die Versammlung der Haushaltsvorstände, der sogenannte skod27