Verlag C.H.Beck
Der Begriff Hanse bezeichnete seit der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert eine Organisation niederdeutscher Kaufleute und der von ihnen dominierten Städte von der Zuidersee im Westen bis zum Baltikum im Osten und von Visby bis zu der Linie Köln-Erfurt-Krakau. Dieses Buch bietet einen prägnanten Überblick über die Geschichte der Hanse von ihrer Frühphase seit Mitte des 12. Jahrhunderts bis zu ihrem Ende im Jahre 1669. Es zeigt, dass die Hanse kein hierarchisch gegliederter Städtebund war, sondern ein Verbund von Egoisten, die sich zur Durchsetzung ihrer Außenhandelsinteressen zusammenschlossen.
Rolf Hammel-Kiesow, Prof. Dr. phil., leitet seit 1993 die «Forschungsstelle für die Geschichte der Hanse und des Ostseeraumes» in Lübeck. Er ist seit März 2008 Honorarprofessor an der Christian-Albrechts-Universität Kiel und seit 2010 Vorsitzender des Hansischen Geschichtsvereins.
Für Birgit, Lotta, Lasse, Mikkel und Matti
I. Einleitung
1. Was war die Hanse?
2. Neue Tendenzen in der hansischen Geschichtsforschung
Die Frage nach der Verfassung der Hanse
Partikulare Regionen oder hansische Teilräume
Der personengeschichtliche Ansatz
Innenansichten und Außenansichten
Die hansische Spätzeit
Zur Handels- und Wirtschaftsgeschichte der Hanse
II. Wie entstand die Hanse?
1. Drei grundlegende Faktoren
2. Wort und Begriff Hanse
3. Die Entstehung des hansischen Handelssystems
Die civitas Lubeke
Gotland, Novgorod und Riga
Das frühe hansische Handelssystem
Ostsiedlung, Ordensstaat und skandinavische Länder
Das westliche Europa
4. Die frühhansischen Kaufleute und ihre Organisationsformen
Die frühhansischen Kaufleute
Die Fahrtgemeinschaften der niederdeutschen Kaufleute und die universitas mercatorum
Die Niederlassungen im Ausland
Der Aufbau der Einung der niederdeutschen Kaufleute
5. Faktoren der Veränderung
Die «kommerzielle Revolution»
Ratsstandschaft der Fernkaufleute
Städte als Schutzmächte des gemenen kopmans
Lübeck contra Visby
Die Veränderungen der Wirtschaftsstruktur
6. Die Einung der Kaufleute und Städte im 14. Jahrhundert
Die Herausbildung der Kontorgemeinschaften
Der Konflikt mit Flandern und die Erschaffung der dudeschen hense
III. Wie war die Hanse organisiert?
1. Die Verfassung der Hanse
Von den Fahrtgemeinschaften zu den Versammlungen der Ratssendeboten
Die hansisch-niederdeutsche Stadtverfassung
Die hansische Tagfahrt
Die gemeinsame Willensbildung
Die hansische Einung als Aktionsgemeinschaft
«Haupt» und «Häupter»: zur Stellung Lübecks in der Hanse
Die Suche nach einer schlagkräftigeren Verfassung
«Privilegienhanse» und «Lübecker Hanse»
Die Tohopesaten
Bekämpfung innerstädtischer Unruhen
Die hansische Führungsgruppe
Resümee
2. Die Organisation des hansischen Handels
Kollektivhandel, Widerlegung und sendeve
Netzwerke und «Neue Institutionenökonomik»
Neue Gesellschaftstypen
Bargeldloser Zahlungsverkehr
Butenhansische Handelsgesellschaften
Das Gästerecht
Handelssperren und Kriege
IV. Niedergang oder Übergang? Gründe für die Auflösung der Hanse
1. Die Veränderungen des wirtschaftlichen Gefüges in Europa
Die Umstrukturierung der europäischen Wirtschaft und die beginnende Auflösung des hansischen Handelssystems im 15. Jahrhundert
Die wirtschaftliche Lage im 16. Jahrhundert
Veränderungen in der Organisation des hansischen Handels?
2. Die politische Situation: Territorialisierung und Verrechtlichung
Gefährdung der relativen Autonomie der Hansestädte
Das 16. Jahrhundert: Reformation und Konföderationsnotel
3. Die Lage im Ausland
Kontore und Diplomatie
Die Hanse und die europäischen Mächte
4. Die Hanse und der Westfälische Frieden
Nachwort zur 5. Auflage
Literaturhinweise
Register
Die Hanse ist ein Phänomen, das von den heutigen Deutschen durchweg positiv bewertet wird. Die zahlreichen Firmen- und Betriebsnamen, die vor allem in norddeutschen Städten mit den Epitheta «Hanse» und «hansisch» geschmückt sind, belegen, dass der Begriff für Verlässlichkeit, Vertrauenswürdigkeit, kaufmännische Ehrlichkeit und Ähnliches steht.[*]
Seit dem Zusammenbruch des sowjetischen Machtblocks schmücken die Epitheta «Hanse», «hansisch», «hanseatisch» in zunehmender Zahl Betriebe in ehemaligen Hansestädten des nordöstlichen Europa: in Gdansk (Danzig), Elbląg (Elbing), Riga und Tallinn (Reval), und die Intensivierung der Kontakte der Ostseeanrainerstaaten untereinander und mit den Staaten des übrigen Europa seit Anfang der 1990er Jahre wird häufig mit dem Namen der Hanse und diese wiederum mit der Europäischen Union in Verbindung gebracht. Die positive Bedeutung von «Hanse», «hansisch» und «hanseatisch» ist nicht erst ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde und wird die Hanse durchgehend als Werbeträger verwendet, ungeachtet (oder gerade wegen?) der verschiedenen politisch-ideologischen Interpretationen, denen sie ausgesetzt war: zunächst als Statthalter des Reichs und Vorläufer des deutschen Nationalstaats im Norden; dann, zur Zeit Wilhelms II., als Inbegriff deutscher Flottenherrlichkeit zur See; während des Dritten Reichs als Träger der Ausdehnung des deutschen Lebensraumes nach Osten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – nach einer 180-Grad-Kehrtwende – entweder als Exempel für die «geschichtsbildende Rolle der Volksmassen» bzw. den Klassenkampfcharakter der Geschichte in der DDR-Geschichtsschreibung oder als Vorläufer des Vereinten Europa in der westlichen Welt. Diese ideologischen Vereinnahmungen erfolgten alle auf nahezu der gleichen Quellenlage und zeigen neben dem jeweils tagespolitischen Aspekt, dass Geschichte nicht etwas Feststehendes ist, sondern vom Historiker «gemacht» wird.
Neben dem positiven Hansebild stand (und steht noch ein bisschen) ein sozialkritisches. Es löste in der literarischen Verarbeitung des Stoffes seit Ende des 19. Jahrhunderts allmählich das nationale Pathos ab und hat sich vor allem im Jugendbuch gehalten. Im Kampf der Piraten, der likedeeler (das sind diejenigen, die ihre Beute zu gleichen Teilen teilten), gegen die ausbeuterischen Pfeffersäcke sind die Seeräuber, vor allem Claus Störtebeker, die Rächer der Unterdrückten, und die Hanse verkörpert als Hintergrundfolie das Böse. Bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts war der sozialkritische Ansatz sehr populär. Einer seiner Höhepunkte war zweifellos die dramaturgische Bearbeitung eines Werks über Jürgen Wullenwever, des Romans «Gewitter über Gotland» von Ehm Welk, durch Erwin Piscator an der Berliner Volksbühne im Jahr 1927. In der akademischen Geschichtsschreibung fand sich dieser Ansatz bis 1945 kaum, und – auch dies ein Aspekt des in diesem Fall verordneten sozialkritischen bzw. klassenkämpferischen Ansatzes – die Hansegeschichtsschreibung der DDR gelangte in bemerkenswertem Gegensatz zur offiziellen Parteilinie zu der Erkenntnis, dass von einer Mitwirkung der «plebejischen Schichten» z.B. im sog. sozialrevolutionären Kampf Jürgen Wullenwevers nicht die Rede sein könne.
Wie groß die Anzahl der Anhänger beider Rezeptionsarten in der deutschen Bevölkerung ist, lässt sich nicht feststellen; gemessen an öffentlichen Verlautbarungen überwiegt jedoch die positive, was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass die «Hanse» von den ehemaligen Hansestädten in ganz Europa für die Tourismuswerbung entdeckt wurde. Im Ausland ist die Rezeption verständlicherweise nicht eindeutig. Während in den skandinavischen Ländern lange Zeit die negative Sicht der Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung durch die hansischen Kaufleute überwog (vor allem in den Nachkriegsjahren), hat sich in den baltischen Staaten eine – zumeist auf die gebildete Oberschicht beschränkte – positive Haltung gegenüber der Hanse entwickelt. In der wissenschaftlichen Forschung haben sich – abgesehen von Einzelfragen – die Positionen deutscher und skandinavischer Historiker weitgehend einander angenähert, auch und vor allem was die Rolle der Hanse in Norwegen betrifft.
Die heutige Akzeptanz der Hanse in der Öffentlichkeit beruht jedoch nach wie vor in weiten Teilen auf dem Geschichtsbild, das im 19. und frühen 20. Jahrhundert entworfen wurde und als Teil des bürgerlichen Bildungskanons über Generationen hinweg Schüler und Studenten prägte. Es manifestiert sich in Gemälden von hochbordigen, dreimastigen «Koggen» des 15. Jahrhunderts, die ebenso eindrucksvoll wie falsch sind (der [!] Koggen war ein einmastiger Schiffstyp, der an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert vom Holk abgelöst wurde). Es zeigt sich ebenso in der Vorstellung von einem mächtigen Städtebund, der in der Zeit des Niedergangs des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation die deutsche Sache im Norden Europas zunächst machtvoll vertreten habe, schließlich aber an den Egoismen der einzelnen Mitgliedstädte zugrunde gegangen sei, sowie in Vorstellungen, dass der Niedergang der Hanse durch die Entdeckung Amerikas respektive durch das Ausbleiben der Heringsschwärme vor Schonen verursacht worden wäre, weil aus beiden Gründen der Ostseehandel an Bedeutung verloren habe.
In dieses herkömmliche Bild mischen sich seit den 1970er Jahren Vorstellungen von einer Internationalität der ehemaligen Hanse, die aber schlicht darauf beruhen, dass die staatliche und ethnische Gliederung des heutigen Europa ins späte Mittelalter projiziert wird und somit belgische (Dinant), niederländische (z.B. Kampen, Zwolle), deutsche, schwedische (Visby, Stockholm), polnische (z.B. Danzig/Gdansk, Elbing/Elbląg), russische (Königsberg/Kaliningrad), lettische (Riga) und estnische (Reval/Tallinn, Dorpat/Tartu) Städte als Mitglieder der Hanse betrachtet werden (s. Karte 1). Aufgrund der großen Veränderungen der ethnischen Siedlungsgebiete im östlichen Europa erkennt man nicht mehr, dass allein die niederdeutschen Fernkaufleute dieser Städte der Grund für ihre Mitgliedschaft waren (die einzige Ausnahme ist Dinant). Das entscheidende Kriterium für die Aufnahme eines Kaufmanns in die Hanse war nämlich das Recht, zu dem er geboren war. Die Mitgliedschaft in ihr war folglich sozusagen angeboren: Nur wer von deutschen Eltern geboren war und nach deutschem Recht lebte, außerdem durch das Erlernen des Kaufmannsberufs die Berechtigung zum selbständigen Auslandshandel erworben hatte, konnte in die Hanse aufgenommen werden. Das hat noch nichts mit dem Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts zu tun, sondern mit dem – ethnisch gebundenen – Recht als der grundsätzlichen Kategorie mittelalterlichen Daseins.
Damit befinden wir uns aber bereits mitten in der fachlichen Diskussion um das Phänomen Hanse. Geben wir also eine erste Definition, ausgehend von ihrem Erscheinungsbild in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts: Die Hanse war eine Organisation von niederdeutschen Fernkaufleuten einerseits und von rund 70 großen und 100 bis 130 kleinen Städten andererseits, in denen diese Kaufleute das Bürgerrecht hatten. Hansische Kaufleute konnten aber auch aus nichtstädtischen Siedlungen stammen. Diese Organisation verfolgte erstens – das war die Grundlage ihres Entstehens – handelswirtschaftliche Ziele; zweitens aber bemühte man sich seitens der Städte seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert vermehrt um gegenseitige Unterstützung gegen adlige Herrschaftsansprüche. Kennzeichnend für die Hanse war die doppelte Dichotomie von handelswirtschaftlicher und politischer Organisation sowie von Kaufleuten und Städten.
Der Raum, in dem die hansischen Kaufleute zu Hause waren bzw. in dem die Hansestädte lagen, erstreckte sich von der Zuidersee im Westen bis nach Estland und Livland im Osten und von Visby (im 14. Jahrhundert Stockholm) im Norden bis zu der Linie Köln–Erfurt–Breslau–Krakau im Süden (s. Karte 1). Aber nicht alle Städte in diesem Raum waren Hansestädte: Aus dem nördlichen Deutschland seien nur Emden, sämtliche schleswig-holsteinischen Städte außer Kiel, weiter Schwerin genannt und im Osten z.B. Memel (Klaipėda), Viborg und Narva (in denen ebenfalls niederdeutsche Kaufleute das Bürgerrecht hatten).
Diese kaufmännische Organisation und ihre Vorläufer verfolgten über rund ein halbes Jahrtausend von der Mitte des 12. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts ihr Ziel des möglichst gewinnbringenden Handels. Zunächst, im 13. und 14. Jahrhundert, waren sie im nördlichen Europa von Nordwestrussland im Osten bis nach Nordfrankreich, Flandern und England im Westen tätig. Die Grundstruktur dieses Handels bestand im Austausch von Luxusgütern, Rohstoffen, Halbfertigprodukten und Lebensmitteln des Osten und Nordens gegen gewerbliche Fertigprodukte des Westens und Südens. Seit dem späten 14. Jahrhundert wurde der Handel nach Westen und Südwesten über die französische Atlantikküste nach Portugal, Spanien und seit dem späten 16. Jahrhundert auch auf dem Seeweg nach Italien ausgedehnt, im Norden bis Island und im Osten bis nach Moskau. Hansische Handelsprivilegien wurden im Raum zwischen Nordfrankreich, später auch Spanien und Nordwestrussland, erworben. Der eigentlich hansische Handel fand also im nördlichen Europa statt, und er war an Handelsniederlassungen im Ausland gebunden.
Nach Süden hatten die einzelnen hansischen Kaufleute zwar Handelsbeziehungen, als Organisation wurde die Hanse in diesen Regionen jedoch nicht tätig. Der Südhandel war vom 14. bis zum frühen 16. Jahrhundert stark ausgeprägt und reichte auf dem Landweg bis zum Schwarzen Meer und nach Italien, doch scheint er seit Mitte des 16. Jahrhunderts stark nachgelassen zu haben.
Die bedeutendsten Niederlassungen (Kontore) der hansischen Kaufleute lagen in Novgorod in Nordwestrussland, in Bergen in Norwegen, in Brügge in Flandern und in London in England. Ihre Lage kennzeichnet den Ost-West- und West-Ost-Handel zwischen Nord- und Ostsee, der zunächst im gebrochenen Transitverkehr (See- und Landwege) über Lübeck und die anderen wendischen Hansestädte lief (die Städte, die im ehemals slawischen = wendischen Siedlungsgebiet lagen), später über diese Städte und auf dem direkten Seeweg durch den Sund, und bis ins 15. Jahrhundert hinein das wirtschaftliche Rückgrat der Hanse bildete. Neben den vier großen Kontoren gab es jedoch noch zahlreiche kleinere Niederlassungen von Russland bis nach Portugal (s. Karte 1). Alle diese Niederlassungen waren keine Hansestädte, sondern Orte, an denen hansische Kaufleute Niederlassungen und bestimmte Rechte hatten. Rechtliche Grundlage des Handels waren die Privilegien, die die hansischen Kaufleute in den Gastländern erwarben, um einen (relativ) sicheren rechtlichen Rahmen ihres Handels und wirtschaftliche Vorteile gegenüber Konkurrenten zu erreichen. Der Kampf um den Erhalt dieser Privilegien in einer sich wandelnden wirtschaftlichen und staatlichen Welt war der Kern frühhansischer und hansischer Politik von der Mitte des 12. bis ins 17. Jahrhundert.
Die Mitglieder der Hanse hatten die verschiedensten fürstlichen Herren. Lübeck, Dortmund, Goslar, Nordhausen und Mühlhausen in Thüringen unterstanden als Reichsstädte nur dem König (gegen Ende der Hansezeit kurzfristig auch Herford), seit 1475 auch Köln (das das Privileg allerdings in seinem Archiv verschwinden ließ, um nicht zu Zahlungen an das Reich herangezogen zu werden). Die Freie Stadt Bremen erreichte diesen Status erst 1741, und Hamburg war seit 1618 von Reichs wegen Reichsstadt, wurde aber erst 1768 vom dänischen König als solche anerkannt. Alle übrigen Städte lagen auf dem Gebiet verschiedener weltlicher und geistlicher Fürsten und standen unter den verschiedensten Formen adliger Herrschaft. Dennoch waren sie in der Lage, eine bisweilen kartellartige Organisation zu bilden, die sich in einigen extremen Ausnahmefällen sogar zu gemeinsamer Kriegsführung (von Teilen der Hanse, nie des gesamten Verbandes) entschloss.
In dem halben Jahrtausend zwischen ca. 1150 und ca. 1700 vollzogen sich grundlegende Veränderungen im politischen und wirtschaftlichen System Europas, innerhalb dessen die hansischen Kaufleute ihre Ziele verfolgten. Um erfolgreich zu bleiben, mussten Kaufleute und Städte die Struktur ihres Handels und ihrer politischen Organisation diesen sich verändernden Bedingungen anpassen. Die Organisationsform der hansischen Kaufleute und Städte war somit nicht statisch, sondern ein Ergebnis der jeweils zeitgenössischen rechtlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen und Opportunitäten sowie der Bedeutung der Städte und ihres Fernhandels.
Im Folgenden sollen die großen Entwicklungslinien der hansischen Geschichte in der Beantwortung von drei Kernfragen dargestellt werden: «Wie entstand die Hanse?», «Wie war die Hanse organisiert?» und «Niedergang oder Übergang? Gründe für die Auflösung der Hanse».
Zum Forschungsstand: Das im 19. und frühen 20. Jahrhundert entstandene Bild von der Hanse hat sich seit den 1960er Jahren stark verändert. Fortschritte in der Forschung haben zu neuen Fragestellungen geführt als auch alte Fragestellungen neu beantwortet. Diese Fortschritte der Forschung beruhen nicht nur auf einem Erkenntniszugewinn innerhalb der Wissenschaft, sondern auch auf einer gegenüber den ersten zwei Dritteln des 20. Jahrhunderts stark veränderten Lebenswelt. Die Auflösung der bürgerlich-industriellen Lebensform, die allenthalben in Europa zu beobachten ist, hat ein neues Verständnis der Vergangenheit zur Folge. Die tiefgreifenden Wandlungen im europäischen Staatensystem (Aufgabe nationaler Hoheitsrechte), die wirtschaftliche Globalisierung und die Veränderungen des Alltagslebens (die Auflösung der Familie als der zentralen gesellschaftlichen Organisationsform) führen zu einem ganz anderen Blick auf die Vergangenheit, als ihn der Bildungsbürger des Wilhelminischen Zeitalters bis zum Dritten Reich und darüber hinaus hatte, als das heute in der Öffentlichkeit noch weitgehend gültige Hansebild entstand. Daher ist die Rekonstruktion des hansischen Verbandes, die heutige Historiker vornehmen, sehr verschieden von der Vorstellung des mächtigen Städtebundes, die eingangs erwähnt wurde.
Die m. E. wichtigsten Neuansätze in der hansischen Geschichtsforschung sind folgende:
Die Frage nach der Verfassung der Hanse Tiefgreifende Veränderungen haben sich im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Struktur und damit die Organisation der Hanse ergeben. Verfassung ist ja kein rein rechtlicher (heute oft als langweilig empfundener) Bereich. Die Verfassung eines Verbandes entscheidet über seine Handlungsfähigkeit, auch über seine Akzeptanz nach außen. Die Beschäftigung mit der Verfassung der Hanse deckt sowohl das Innenverhältnis der Hanse zwischen dem einzelnen Kaufmann und der hansischen Organisation wie das zwischen der einzelnen Mitgliedstadt und der Hanse auf und damit auch die Funktion der Ratssendeboten. Im Außenverhältnis zeigt sie die Beziehungen zwischen Hanse und Territorialherren, zwischen Hanse einerseits und Kaiser und Reich andererseits sowie zwischen der Hanse und den Herrschern der Zielländer des hansischen Handels.
Die politik- und verfassungsgeschichtlich ausgerichteten Historiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts machten aus der Hanse einen Bund mit hierarchisch gegliederten Zuständigkeitsbereichen. Diese Interpretation wurde von der historisch-materialistischen Geschichtsforschung der DDR wiederaufgenommen (H. Wernicke), während in der BRD Ahasver von Brandt die Hanse als eine bloß handelswirtschaftliche Interessengemeinschaft bezeichnete, «die jeweils nur insoweit existierte, und im Einzelfalle handlungsfähig war, als sich die Interessen der Einzelstädte oder einzelner Bürgerschaften tatsächlich deckten».
Diese Definition der Hanse prägte die bundesrepublikanische Geschichtsforschung bis in die 1990er Jahre, als Ernst Pitz zeigte, dass bereits die zeitgenössischen Auseinandersetzungen um die Hanse seit dem 15. Jahrhundert, besonders aber die neuzeitliche Geschichtsforschung die Verfassung der Hanse nur an Maßstäben des römischen, des gemeinen Rechts maßen. Er erkennt nun eine mehrstufige «Einung von Individuen und entweder von personalen oder auch ortsbezogenen Teilverbänden» als verfassungsrechtliche Grundlage der Hanse.
Partikulare Regionen oder hansische Teilräume Die Bedeutung der regionalen Verbände innerhalb der Hanse, z.B. der süderseeischen, westfälischen, niedersächsischen, preußischen, livländischen Städte und auch der einzelnen Städte für sich, wird grundlegend neu bewertet. Einer Interpretation der Hanse als hierarchisch konzipierter und von gemeinsamen Interessen geprägter Bund musste jedes regionale Sonderinteresse als Verrat an der hansischen Sache erscheinen. Das Diktum Fritz Rörigs vom Ganzen, das eher da gewesen sei als seine Teile, hat die hansische Geschichtsforschung auf diesem Gebiet über Jahrzehnte blockiert. Heute sieht man diese Regionen als partikulare, eigenständige Verbände, deren regionale oder einzelstädtische Interessen älter und den spezifisch hansischen eigentlich durchweg übergeordnet waren. Daher ist die sog. travezentrische, d.h. alles von der Position Lübecks aus bewertende Sicht, die das Bild von der Hanse fast völlig beherrschte, immer stärker von einer Sicht ersetzt worden, die die zwei «Hansen», die in der einen dudeschen hense steckten, deutlich herausarbeitete und den einzelnen Regionen eine weitaus höhere Bedeutung zumisst. Die beiden «Hansen» aber waren die handelsbezogene, ältere, die ihren Kern in den Auslandsniederlassungen hatte, und die politische, jüngere, in der vor allem Lübeck versuchte, die – lockere – Einung der Städte zu einem Städtebund umzugestalten.
Die Forschung, die nicht mehr induktiv vom Ganzen der Hanse her, sondern eher deduktiv von den einzelnen Städten und den einzelnen Regionen aus deren Stellung in der Hanse bemisst, kommt denn auch – soweit schon aufgearbeitet – zu einem stark abgestuften Bild hansischer Identität und Intensität in den rund 200 Städten, die eine Mitgliedschaft in der Hanse geltend machten bzw. für die sie geltend gemacht wurde (dazu unten mehr). Als Faustregel kann gelten, dass die Intensität hansischer Interessen mit zunehmender Entfernung von der Küste nachließ. Während in den Seestädten der hansische, der privilegiengestützte Auslandshandel der wirtschaftlich dominierende Faktor war, blieb er in den binnenländischen Städten z.B. Westfalens oder des Niederrheins nur ein Wirtschaftssektor neben anderen, neben einem wirtschaftlich starken Binnenhandel und den produzierenden Gewerben u.a.
Eng mit den bisher angesprochenen Fragen verbunden ist das Problem, inwieweit die Anordnung der überlieferten Quellen in der Edition der «Hanserezesse» und die dort verwendete Begrifflichkeit das inzwischen überholte Geschichtsbild der Herausgeber aus der zweiten Hälfte des 19. und dem Beginn des 20. Jh.s fortschreibt. Vor allem die jungen HansehistorikerInnen haben sich in den «Internationalen Doktorandenworkshops zur Hansehistoriographie» damit (A. Huang/U.Kypta) und mit der städtischen Überlieferung zur Selbst- und Fremdwahrnehmung der Kaufleute (N.Nolden) auseinandergesetzt. Der derzeitige Stand der Diskussion ist, dass die Hanse in einem langen Prozess aus der lockeren Zusammenarbeit regionaler Städtebünde unter maßgeblichem Einfluss der Seestädte entstanden sei und erst seit 1379/80 als festere Institution bezeichnet werden könne (C.Jahnke).
Der personengeschichtliche Ansatz Die unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessenlagen der Städte beeinflussten die Beschlussfassung auf den Hansetagen, da die Bürgermeister und Ratsherren, die als Ratssendeboten ihre Stadt auf hansischen Versammlungen vertraten, sowohl die Interessen der Gesamtgemeinde im Auge haben, aber auch als Vertreter des gemenen kopmans tätig sein mussten und somit eine bisweilen schwer zu vereinbarende Doppelfunktion innehatten.
In Bezug auf diese hansische Führungsgruppe hat die prosopographische (= personengeschichtliche) Forschung in den letzten zwei Jahrzehnten Hervorragendes geleistet. Der Ansatz ist ebenso einfach wie fruchtbar: Man versucht «über die Handlungsträger hansischen Handels und hansischer Politik und deren individuelle Lebensschicksale auf soziologische Gemeinsamkeiten und kollektive Identitäten zu schließen» (B. Fahlbusch), um das Funktionieren des hansischen Verbandes zu erklären. Bezogen auf alle am hansischen Handel beteiligten Kaufleute wurde dieser Ansatz erfolgreich weitergeführt durch die Erforschung sozialer und ökonomischer Netzwerke bei den Ratssendeboten (D. Poeck), in Kontorsgemeinschaften (M. Burkhardt; J. Wubs-Mrozewicz), Bruderschaften (C.Jahnke) und auf der Grundlage kaufmännischer Korrespondenz und Buchführung (S. Selzer, U. Ewert).
Innenansichten und Außenansichten Der vierte Forschungsansatz, den ich hervorheben möchte, betrifft die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Hanse. Schon lange war bekannt, dass die Hanse in den Chroniken der Städte, die zu ihr gehörten, nur sehr selten genannt wird. Sie spielte im städtischen Selbstverständnis des Spätmittelalters folglich nicht die Rolle, die ihr die deutsche Geschichtswissenschaft im Nachhinein zumaß. Auch die hansischen Kaufleute im Ausland wurden fast nie als solche bezeichnet, sondern als osterlinge o.ä. Der Begriff «Hanse» selbst kam nahezu ausschließlich im diplomatischen Verkehr seit der Mitte des 14. Jahrhunderts ins Spiel. Der «hansische Handel», dessen Gedeihen Zweck und Ziel aller Bemühungen war, wurde im Ausland folglich in erster Linie nicht als «hansisch» wahrgenommen, sondern als Handel von Kaufleuten, die aus dem Osten kamen und mit ihren jeweiligen Heimatstädten in Zusammenhang gebracht wurden. Auch hier war die städtische und regionale Komponente die Grundlage, über die der geographische Sammelbegriff osterlinge gelegt wurde, der erst im diplomatischen Verkehr durch den Begriff «Hanse» ersetzt oder überhöht wurde.
Die hansische Spätzeit