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Nadifa Mohamed

Black Mamba Boy

ROMAN

Aus dem Englischen
von Susann Urban

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

Zum Buch

Jemen 1935. Der kleine Jama, ein halb wilder Straßenjunge, streift mit seinen Freunden durch die Gassen Adens auf der Suche nach Nahrung und ein paar Münzen. Als seine Mutter viel zu jung stirbt, begibt er sich, allein und gefährdet, auf eine Odyssee durch das von Kolonialismus und Faschismus verheerte Ostafrika, nach Somaliland, Dschibuti, Eritrea, in den Sudan, bis nach Ägypten, auf der Suche nach seinem geheimnisvollen, nie gesehenen Vater, dann auf der Suche nach Arbeit und einer Grundlage für ein eigenes Leben. Viele Jahre später führt ihn diese abenteuerliche und verzehrende Reise 1947, Jama ist inzwischen Seemann geworden, schließlich nach England. Auf der Grundlage der Erlebnisse ihres Vaters schrieb Nadifa Mohamed diesen schönen, erschütternden und aufwühlenden Roman, ihr Debüt, das in zahlreiche Sprachen übersetzt und mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet wurde.

Über die Autorin

Nadifa Mohamed, 1981 in Hargeisa, Somaliland geboren, kam als Kind mit ihrer Familie nach London und studierte in Oxford Geschichte und Politik. 2014 erschien bei C.H.Beck ihr Roman Der Garten der verlorenen Seelen. Ihr Roman Black Mamba Boy, der zuerst 2010 erschien, stand auf der Longlist des Orange Prize for Fiction und auf der Shortlist des Guardian First Book Award, des Dylan Thomas Award, des John Llewellyn Rhys Prize, des PEN/Open Book Award und gewann den Betty Trask Award. Mohamed wurde von der renommierten Literaturzeitschrift Granta zu den 20 Best of Young British Novelists gezählt.

Über die Übersetzerin

Susann Urban ist, nach einem Studium der Germanistik und der Arbeit als Buchhändlerin, als freie Übersetzerin und Lektorin tätig. Für C.H.Beck übersetzte sie (zusammen mit Ilija Trojanow) den Roman Letzter Mann im Turm von Aravind Adiga (2011) und Nadifa Mohameds Roman Der Garten der verlorenen Seelen (2014).

 

 

 

 

Für

Nadiifo,
Dahabo,
Axmed,
Xasan,
Shidane

und alle anderen,
die wir verloren haben

 

 

 

 

 

Nun gehst du fort und mag dich dein Weg auch führen
Durch stickige Wälder mit Myrrhen dicht an dicht,
Landstriche in Hitze getaucht, erstickend und verdorrt,
Wo man nach Atem ringt, wo kein Windhauch weht –
Möge der Herr doch dich schützen mit einem Schild aus kühlster Luft vor gnadenloser Sonne.

Gabay, Mohammed Abdullah Hassan

 

 

O ihr kleinen Weltvagabunden,

lasst in meinen Liedern eure Fußspuren zurück.

Aus «Verirrte Vögel», Rabindranath Tagore

Aden, Jemen, Oktober 1935

Der Ruf des Muezzins riss Jama aus seinem Traum. Er rappelte sich auf und sah, wie die Sonne über den Tortenkuppeln der Moscheen aufging; die Dächer der lebkuchenfarbenen Wohnblöcke leuchteten zuckergussweiß. Dunkle Vogelsilhouetten schwirrten durch den tintigen Himmel, umkreisten den schwangeren Mond und die letzten verbliebenen Sterne. Jamas Blicke wanderten über Aden – den geschäftigen Industriehafen Steamer Point; Crater, die Altstadt aus Sandstein, deren geschwungene, graubraune Gebäude mit dem Dschebel-Schamsan-Vulkan verschmolzen; die zwischen Bergen und Meer gelegenen Stadtteile Ma’alla und Sheikh Usman, weiß und modern. Holzrauch und Säuglingsgeschrei stiegen auf, und die Frauen, die des Mahnrufs des betagten Muezzins gar nicht bedurften, unterbrachen ihre Frühstücksvorbereitungen für das Morgengebet. Auf dem uralten Minarett hockte ein Geiernest, Abfall schmückte die vorragenden Zweigenden und bedeckte die Nachbarschaft mit seinem Gestank. Fürsorglich verfütterte die Mutter, die kräftigen Flügel ausgebreitet, verrottendes Aas an ihren kreischenden Nachwuchs. Jamas eigene Mutter, Ambaro, stand am Dachrand und sang mit tiefer, melodischer Stimme ein Lied. Sie sang vor und nach der Arbeit, nicht weil sie glücklich war, sondern weil ihr die Lieder einfach aus dem Mund schlüpften, als schnappte ihre junge Seele außerhalb des Körpers Luft, ehe die Plackerei sie wieder einholte.

Ambaro schüttelte sich die Geister aus dem Haar und legte mit ihrem morgendlichen Selbstgespräch los. «Manche Leute wissen gar nicht, wie viel Arbeit nötig ist, um ihr undankbares Maul zu stopfen, die halten sich wohl für einen suldaan, der sorglos in den Tag hineinleben kann, nichts als Unsinn im Kopf hat, einzig dazu da ist, sich mit anderem Gesindel herumzutreiben. Ich schufte mir doch nicht den Rücken krumm und sehe zu, wie es sich gewisse Jungs mit ihrem dreckigen Hintern auf dem Rücken gemütlich machen – nur über meine Leiche.»

Allmorgendlich wurde Jama von diesen Gedichten der Verachtung, diesen gabays der Unzufriedenheit begrüßt. Unglaubliche, mäandernde Ströme des Vorwurfs flossen über die Lippen seiner Mutter, stießen den mukhadim in der Fabrik, ihren Sohn, lang verschollene Verwandte, Feinde, Männer, Frauen, Somalier, Araber, Inder hinein ins Feuer der Verdammnis.

«Steh auf, du dummer Junge, du glaubst wohl, das ist das Haus deines Vaters? Steh auf, du Idiot, ich muss zur Arbeit.»

Jama blieb träge auf dem Rücken liegen und spielte mit seinem Bauchnabel. «Hör auf, du Schmutzfink, du pulst da noch ein Loch rein.» Ambaro schlüpfte aus einer ihrer ramponierten Ledersandalen und kam auf ihn zu.

Jama unternahm einen Fluchtversuch, aber seine Mutter stürzte sich auf ihn und es regnete schmerzhafte Schläge. «Steh auf! Ich muss zwei Meilen weit zur Arbeit laufen und du machst Sperenzchen beim Aufstehen, gibt’s denn so was!», tobte sie. «Geh mir aus den Augen, du Nichtsnutz, verschwinde!»

In Jamas Augen war Aden schuld daran, dass seine Mutter so wütend war. Er wollte zurück nach Hargeisa, dort würde sein Vater sie mit Liebesliedern besänftigen. Bei Tagesanbruch vermisste Jama seinen Vater am meisten, im klaren Morgenlicht waren seine Erinnerungen besonders deutlich – das Lachen seines Vaters, sein Gesang am Lagerfeuer und die weichen, langgliedrigen Hände, die sich um seine schlossen. Er war sich nicht sicher, ob es sich um echte Erinnerungen handelte oder nur um Traumfetzen, die in sein Wachsein sickerten, doch er hütete diese flüchtigen Bilder sorgsam und hoffte, dass sie nicht wie sein Vater ganz verschwinden würden. Jama erinnerte sich, dass er auf starken Schultern durch die Wüste getragen worden war und wie ein Prinz auf die Welt hinabgeblickt hatte, aber das Gesicht seines Vaters war bereits aus seinem Gedächtnis verschwunden, hinter hartnäckigen Wolken verborgen.

Der Geruch nach canjeero drang die dunkle Wendeltreppe herauf; die Islaweynes frühstückten. Früher hatte ZamZam, eine unscheinbare Halbwüchsige, Jama die Reste ihrer Mahlzeiten gebracht, die er auch gegessen hatte, bis er mitbekommen hatte, dass die Jungen der Familie ihn haashishki nannten, Mülleimer. Die Islaweynes waren entfernte Verwandte, die zum Clan seiner Mutter gehörten und die Ambaros Halbbruder gebeten hatten, sie bei sich aufzunehmen, als sie ganz allein nach Aden gekommen war. Sie hatten zugestimmt, aber bald hatte sich herausgestellt, dass sie erwarteten, dass ihre bedu-Verwandte für sie kochen und putzen und der Familie als Dienstmädchen Glanz verleihen sollte. Innerhalb einer Woche hatte Ambaro Arbeit in einer Kaffeefabrik gefunden und damit den Zorn der Islaweynes auf sich gezogen, die nun ihres neuen Statussymbols beraubt waren. Ambaro musste auf dem Dach schlafen und durfte nicht mit ihnen essen, es sei denn, Mr Islaweyne und seine Frau hatten Gäste, dann lächelten sie voller familiärer Großzügigkeit übers ganze Gesicht. «Oh, Ambaro, was meinst du denn nur mit ‹darf ich›? Was uns gehört, gehört auch dir, Schwester!»

Als Ambaro genug gespart hatte, um ihren sechsjährigen Sohn nach Aden nachkommen zu lassen, schäumte Mrs Islaweyne ob der Unannehmlichkeiten vor Wut und untersuchte ihn demonstrativ nach Krankheiten, mit denen er ihre Kinder infizieren könnte. Unterm Klappern ihrer goldenen Armreifen untersuchte sie ihn auf Nissen, Flöhe und Hautkrankheiten; völlig ungeniert hob sie seinen ma’awis hoch, um zu sehen, ob er Würmer hatte. Obwohl Jama ihre medizinische Untersuchung ohne Befund bestanden hatte, starrte sie ihn wütend an, wenn er mit ihren Kindern spielte, und flüsterte ihnen zu, sie sollten nicht allzu vertraulich mit diesem Jungen umgehen, der aus dem Nichts gekommen war. Fünf Jahre später führten Ambaro und Jama noch immer eine geisterhafte Existenz auf dem Dach. Bis auf die Schmutzwäsche, die erst von Ambaro gewaschen, dann von Jama aufgehängt und schließlich in ordentlichen Stapeln zusammengelegt wurde, sah oder hörte die Familie so gut wie nichts von ihnen.

Im Morgengrauen machte sich Ambaro zur Kaffeefabrik auf und kam erst zurück, wenn es bereits dunkel war, sodass Jama den ganzen Tag allein im Haus der Islaweynes verbringen musste, wo er sich nicht willkommen fühlte, oder sich mit den Marktjungen auf der Straße herumtrieb.

Draußen hatte sich der Himmel zu einem wässrigen Türkisblau aufgehellt und allmählich rappelten sich die somalischen Männer auf, die am Straßenrand geschlafen hatten, ihre Afros voller Sand, während Araber Hand in Hand dem Souk zustrebten. Jama ging hinter einer Gruppe Jemeniten her, die große, von Goldfäden durchzogene Turbane und im Gürtel wunderschöne Dolche mit Elfenbeingriffen trugen. Im Vorbeigehen strich er Kamelen, die zum Markt geführt wurden, über die warmen Flanken. Sie bedankten sich mit einem Aufschlag ihrer dichten Wimpern für die Zärtlichkeit und winkten ihm mit schwingenden Schwänzen ein Lebewohl zu. Jungen und Männer schlurften auf ihrem Weg zum Markt – oder diesen verlassend – vorbei, transportierten Gemüse, Obst, Brot und Fleisch in Tüten, in Händen oder auf dem Kopf, trugen knusprige Fladenbrote unterm Arm wie Zeitungen, frisch aus der Druckpresse. Schmetterlinge tanzten, genossen das morgendliche Geflatter, ehe es unerträglich heiß wurde und sie den Tag in klebrigen Blüten verschliefen. Haut und Kleider der Hammals, die ihre Schubkarren durch enge Gassen voller Schlaglöcher schoben, verströmten Weihrauch, jeder Mann in seinen heimischen Duftkokon gehüllt. Gegen die warme Mauer gelehnt, schloss Jama die Augen und stellte sich vor, er säße auf dem Schoß seiner Mutter und spürte die Schwingungen der Lieder, die tief aus ihrem Inneren emporstiegen. Er spürte, dass jemand vor ihm stand, eine kleine Hand fuhr ihm über den Scheitel. Als er die Augen öffnete, grinsten Abdi und Shidane auf ihn hinab. Der neunjährige Abdi mit seinen Zahnlücken war der Onkel des elfjährigen Shidane, der bereits ein gewiefter Gauner war. Abdi streckte Jama ein Brotstück entgegen, das er sofort herunterschlang.

Sie liefen zum Strand, über dem sich die schwarze Lava des Dschebel-Schamsan-Vulkans erhob. Marktjungen aller Hautfarben, Glaubensrichtungen und Sprachen versammelten sich am Strand zu Spiel, Bad und Kampf. Sämtliche ansteckenden Krankheiten, Verstümmelungen und Deformierungen waren hier vertreten. «Schalom!», rief Jama Abraham zu, einem schmächtigen jüdischen Jungen, mit dem er früher von Haus zu Haus gezogen war und Blumen verkauft hatte. Abraham winkte und sprang mit Anlauf ins Wasser. Im Sonnenlicht wirkte Shidanes Haar, das durch Mangelernährung blond geworden war, durchsichtig, und als Abdi in die Brandung sprang, wackelte sein Kopf, der für den mickrigen Körper viel zu groß war, hin und her. Diese beiden waschechten Seeteufelchen verbrachten ihre Tage mit Münzentauchen. Da Jama wollte, dass sie ihn mit hinaus aufs Wasser nahmen, suchte er nach angespülten Brettern.

«Haltet nach Schnurstücken Ausschau, damit wir raus aufs Wasser können», rief er den beiden zu.

Jama setzte sich in den mit Seetang übersäten Sand, während Abdi und Shidane die Bretter zu einem provisorischen Floß zusammenbanden. Gemeinsam schoben sie die wacklige Konstruktion in die Wellen. «Bismillah», sagte er leise und klammerte sich krampfhaft fest, als Abdi und Shidane ihn unter mächtigem Gespritze durch das Wasser schoben. Irgendwann wurden die beiden müde und legten sich keuchend neben ihn, die Gesichter der Sonne zugewandt. Jama drehte sich auf den Rücken und lächelte zufrieden; sacht schaukelten sie eingehakt auf den kleinen Wellen dahin, die Wassertropfen auf ihrer Haut glitzerten wie Diamanten.

«Warum lernst du nicht endlich schwimmen, Jama?», fragte Abdi. «Dann kannst du mit uns nach Perlen tauchen. Da unten ist es wunderschön, lauter verschiedene Fische und Korallen und Schiffswracks. Vielleicht findet man sogar mal eine Perle, die ein Vermögen wert ist.»

Als Shidane sein Gewicht verlagerte, drehte sich das Floß mit ihm. «Da unten gibt’s keine Perlen, Abdi, wir haben doch überall gesucht, die sind alle von den Arabern raufgeholt worden. Schaut euch mal diese bescheuerten Jemeniten an, die verdienen so ein Boot nicht», höhnte er. «Wenn wir ’ne Waffe hätten, könnten wir den Idioten alles abnehmen.»

Jama hob den Kopf und sah eine Sambuke, die in den Hafen zurückrauschte und auf deren Deck sich Kisten stapelten. «Dann besorg halt ’ne Waffe», sagte er herausfordernd zu Shidane.

«Ya salam! Glaubst wohl, ich krieg das nicht hin? Mensch, ich kann sogar eine selber machen.»

«Was?» Jama stützte sich auf seine Ellbogen.

«Hast doch gehört, ich kann eine selber machen, ich hab die Soldaten beobachtet, manche von uns sind eben immer auf Draht, immer am Nachdenken. Einer wie ich kriegt so ein ferengi-Ding ganz leicht nachgemacht. Du nimmst ’n Stück hartes Holz, machst ein Loch hindurch, stopfst Schießpulver rein, füllst das eine Ende mit Kieseln, befestigst am anderen ’ne Lunte und dann pustest du Idioten wie die da ins Meer.»

«Viel eher pustest du deinen eigenen versengten futo ins Meer.»

«Lach du nur, du Eidegalle-Esel mit dem Riesengebiss, wenn ich mal der mukhadim bin, kannst du von Glück sagen, wenn du mein Kuli sein darfst.»

«He! Wir könnten als Shifta das Meer unsicher machen, ganz in Gold gekleidet, wallaahi, und beim Anblick unseres Schiffes kriegen alle das Zittern.» Abdi tat, als feuerte er Kugeln auf die Sonne ab.

Jama spürte Wasser auf der Haut. «Jalla, jalla, zurück zum Strand! Die Schnur löst sich!», schrie er, doch da brachen die Latten bereits auseinander.

Abdi und Shidane handelten blitzschnell, packten ihn an den Armen und hielten ihn wie zwei gut dressierte Delfine über Wasser.

Jama marschierte in den Staub und die sengende Hitze hinein und lenkte seine Schritte unwillkürlich zu dem Viertel, in dem die Lagerhäuser standen. Er kickte eine Dose durch die Straßen von Crater, der Stadt im Herzen des Vulkans. Immer wieder blendete ihn das von den Blechdächern der Lagerhäuser reflektierte Sonnenlicht. Eine berauschende Geruchsmischung aus Tee, Kaffee, Weihrauch und Myrrhe zog den Berg hinauf und hüllte ihn ein; ihm wurde ein wenig übel. Beim ersten Lagerhaus sah er, wie Kulis singend und mit nacktem Oberkörper schwere Holzkisten auf Lastwagen luden. Einen Augenblick lang blieb Jama vor Al-Madina Coffee stehen, ging durch den ummauerten Eingang und spähte ins Dunkel. Sonnenlicht fiel in Streifen durch das Blechdach, ließ den Staub aufleuchten, der aufstieg, während die Kaffeebohnen hochgeworfen wurden, damit sich die Silberhäutchen lösten. Eine Mannschaft unterbezahlter Frauen in bunt geblümten somalischen Gewändern beugte sich über Körbe voller Kaffeebohnen, breitete sie auf einem Tuch aus und klaubte die schlechten heraus, ehe der Kaffee dann exportiert wurde. Auf der Suche nach einer Frau mit Windpockennarben, Kupferaugen, goldenen Eckzähnen und kohlrabenschwarzem Haar schlängelte sich Jama zwischen den Arbeiterinnen hindurch. In einer Ecke stöberte er sie schließlich auf, ihr Haar hatte sie mit einem himmelblauen Tuch zurückgebunden und arbeitete ganz für sich. Sie zog seinen Kopf zu sich herab und küsste ihn auf die Wange. Ihre weiche Haut strich über seine.

«Was machst du hier, Goode?», flüsterte Ambaro ihm ins Ohr. «Das ist kein Spielplatz, was willst du?»

Die Beine flamingogleich umeinandergeschlungen, stand Jama vor ihr. «Weiß nicht. Mir ist langweilig … hast du ’n bisschen Kleingeld?» An Geld hatte er überhaupt nicht gedacht, aber zu sagen, dass er sie einfach nur hatte sehen wollen, war ihm peinlich.

«Keleb! Du kommst hierher an meinen Arbeitsplatz und nervst mich wegen Geld? Immer denkst du nur an dich! Dafür soll Allah dich verfluchen, raus jetzt, bevor dich der mukhadim entdeckt!»

Jama machte umgehend kehrt, rannte zur Tür hinaus und versteckte sich hinter dem Lagerhaus, aber Ambaro fand ihn und zog ihn mit ihren abgearbeiteten, trockenen Händen an sich. Ihr Kleid roch nach Weihrauch und Kaffee; seine Tränen durchweichten den Stoff.

«Goode, Goode, bitte, du bist doch ein großer Junge! Was hab ich denn bloß falsch gemacht? Siehst du denn nicht, was für ein Leben ich führe, hast du denn kein Mitleid mit mir?», fragte Ambaro leise. Sie zog ihn an den Armen hoch und zerrte ihn zu einer niedrigen Mauer, von der aus man aufs Meer sehen konnte. «Weißt du, warum ich dich Goode nenne?»

«Nein», log Jama, denn er wollte unbedingt von der Zeit hören, als er noch eine richtige Familie gehabt hatte.

«Als ich mit dir schwanger war, wurde ich ungeheuer dick, mein Bauch stand so weit vor, dass es kaum zu fassen war. Die Leute unkten, dass ein siebzehnjähriges Mädchen, das so ein großes Kind zur Welt bringen musste, bei der Geburt sterben würde, dass du mir die Eingeweide zerreißen würdest, aber ich war glücklich und ganz im Reinen mit mir, denn ich wusste, dass ich ein ganz besonderes Kind erwartete. Mit Kamelen Schritt zu halten ist gar nicht so einfach, also wurde ich immer langsamer. Oft blieb ich hinter der großen Karawane meines Vaters zurück und humpelte mit geschwollenen Knöcheln hinterher, bis ich meine Familie eingeholt hatte. Ungefähr im achten Monat war ich jedoch so erschöpft, dass ich stehen bleiben musste, obwohl ich das letzte Kamel aus den Augen verloren hatte. In dieser Savanne, die Gumburaha Banka heißt, stand eine uralte Akazie, und ich rastete in dem bisschen Schatten, den sie warf. Ich trug den guntiino der Nomaden, und mein Bauch war an den Seiten Sonne und Wind ausgesetzt. Plötzlich spürte ich, wie mir eine Hand sanft den Rücken streichelte und in Richtung Bauchnabel wanderte. Erschreckt sah ich an mir hinab und hoogayeh!, es war keine Hand, sondern eine riesige Mamba, die sich um meinen Bauch wand. Ich hatte Angst, dass sie dich mit ihrem enormen Körper erdrücken würde, daher bewegte ich mich kein Stückchen. Da rührte sie sich auch nicht mehr, schmiegte ihr teufelskluges Gesicht an dich und lauschte deinem Herzschlag. Alle drei waren wir für eine Ewigkeit vereint, bis die Schlange wohl zu einem Entschluss kam, ihre Muskeln anspannte und von meinem Leib herunterglitt. Mit einem Zucken ihres Schwanzes verschwand sie im Sand. Ich wollte dich Goode nennen, Schwarze Mamba, aber mein Vater lachte mich bloß aus; ihm gefiel Jama, denn das war der Name seines besten Freundes. Aber als du aus mir herausgekommen bist mit deiner wunderschönen dunklen Haut, deinem erdigen Geruch, da wusste ich, wie du eigentlich heißen solltest, seitdem ist das mein besonderer Name für dich.»

Die Wärme dieser Worte ließ Jama dahinschmelzen; er spürte in seinen Adern das flüssige Gold der Liebe und schwieg, er wollte den Zauber nicht brechen.

«Ich weiß, dass ich dich hart anfasse, manchmal zu hart», fuhr Ambaro fort, «aber verstehst du, weshalb ich so viel von dir verlange? Manchmal weiß man selber nicht, was gut für einen ist. Ich setze nämlich große Hoffnungen in dich, du bist mein Glückskind, du bist dazu bestimmt, jemand Wichtiges zu werden, Goode. Weißt du, dass man dein Geburtsjahr Jahr des Wurmes nennt? Während der Regenzeit steckten fette Würmer ihre Nase aus der Erde und als sie herauskamen, verschlangen sie das Gras, die Bäume, sogar unsere Strohhäuser, bis sie plötzlich, als sie damit fertig waren, wieder verschwanden. Alle hielten es für ein Zeichen, dass das Ende nahe war, aber die Ältesten sagten, sie hätten so was schon früher mal miterlebt, es sei barako, denn danach regne es reichlich und unsere Kamele würden sich phantastisch vermehren. Kissimee, eine alte Frau, erzählte mir, weil mein Kind mitten in dieser schlimmen Zeit geboren wurde, hätte es Glück über die Maßen, denn es werde unter dem Schutz aller Heiligen geboren und würde die ganze Welt sehen. Ich glaubte ihr, denn niemand hatte je erlebt, dass eine ihrer Prophezeiungen nicht eingetroffen wäre.»

Ihre Worte klangen wunderbar, aber Jama hatte das Gefühl, dass seine Mutter Erwartungsperle um Erwartungsperle auffädelte und ihm die Schlinge locker um den Hals legte, mit der sie ihn eines Tages erwürgen würde. Er schmiegte sich an sie, sie schlang die goldbraunen Arme um seinen Mahagonirücken und strich ihm über die spitzen Rückenwirbel.

«Lass uns nach Hargeisa zurückgehen, hooyo

«Machen wir eines Tages, wenn wir genügend Geld haben.» Sie küsste ihn auf den Kopf. Aus einem Knoten unten in ihrem Kleid holte sie eine Paisamünze und gab sie Jama. «Bis später auf dem Dach.»

«Ja, hooyo.» Jama stand auf und wandte sich um zum Gehen. Seine Mutter griff nach seiner Hand und sah zu ihm hoch. «Gott schütze dich, Goode.»

Mrs Islaweyne hatte ein Problem mit ihrem unerwünschten Hausgast und sie gab sich keine Mühe, das zu verbergen, vielmehr stürzte sie sich in der Abwesenheit der Mutter auf ihr Junges. Nach einigen langatmigen, zuckersüßen Befragungen wurde ihr klar, dass Jama niemals schlecht über Ambaro reden oder dunkle Geheimnisse verraten würde, und so fuhr sie ihre eigene Kritik auf. «Was für eine Mutter lässt ihr Kind den ganzen Tag lang auf der Straße herumstromern?» oder «Es überrascht mich nicht, dass Somalier einen schlechten Ruf haben, so wie sich manche Neuankömmlinge anziehen, nackte Arme bis dorthinauf, und an der Seite quellen die Euter raus.» Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit, und Ambaro und Jama machten sich hinter ihrem Rücken über sie lustig. Sah Ambaro, dass Mrs Islaweyne sich den nikaab ums Gesicht schlang, zog sie eine Augenbraue hoch und sang mit bittersüßer Stimme: «Dhegdheer, Dhegdheero, yaa ku daawaan? Hexe, ach Hexe, wer soll dich bewundern?»

Dhegdheer war eine eigenartige Frau, eitel, stets von Kopf bis Fuß eingeölt, die Augenbrauen breit mit Kajal aufgemalt, auf der Wange einen großen, behaarten Leberfleck, der in einen üppigen Schnurrbart überging, mit kurzen, gedrungenen Gliedern und geschwollenen Füßen, die sie in Schuhe zwängte, die sich Ambaro niemals würde leisten können. Manchmal tauchte Dhegdheer auf ihrem Dach auf, funkelte sie grundlos wütend an, nur um ihr Revier zu markieren. War sie wieder nach unten gegangen, ahmte Jama ihren Watschelgang und den Silberblick äußerst gekonnt nach. «Fick dich doch selbst, Hexe!», schrie er, wenn sie sich außer Hörweite befand.

«Das Einzige, was diese Frau so richtig gut kann, ist Kinder zu kriegen. Sie muss eine Schnellstraße zwischen ihren Beinen haben, sie kriegt Zweier- und Dreierwürfe, als wäre sie ein Straßenköter», pflegte Ambaro zu sagen, und sie hatte recht. Jama hatte acht Kinder gezählt, aber hinter jeder Tür schienen noch mehr zu schlafen oder zu weinen. Die älteren Islaweyne-Jungen gingen auf die Schule und schwatzten selbst zu Hause auf Arabisch. Jama hatte sich das raue Arabisch der Straße angeeignet, über das sie sich lustig machten; in langsamem Tonfall, als wären sie schwachköpfig, ahmten sie seine Grammatikfehler und seine Gossensprache nach. Obwohl ZamZam kein besonders reizvolles Mädchen war, hatte Dhegdheer ihr Auge auf die reichen Somalier geworfen, die aus Berbera Vieh importierten. Sie wollte, dass ihre Tochter wie eine zarte Blume wirkte, die in hoch kultivierter Umgebung gezüchtet worden war. Jama hörte, wie sich Dhegdheer ihrem Mann gegenüber beschwerte, dass Ambaro und ihr Streunerjunge die Ehre der Familie ruinierten. «Wie sollen wir denn zur Oberschicht gehören, wenn solche Leute in unserem Haus wohnen?»

Mr Islaweyne grunzte und verscheuchte sie mit einem Wedeln der Hand, aber Jama war klar, dass sein Platz im Haus gefährdet war. Je mehr Zeit er auf der Straße verbrachte, um Dhegdheer und ihren Söhnen aus dem Weg zu gehen, desto häufiger verpetzten sie ihn.

«Kinsi sagt, sie hat gesehen, wie er im Souk gestohlen hat.»

«Khadar von nebenan sagt, dass er am mukhbazar ‹Zum Kamel› rumhängt und mit den Haschischrauchern rumalbert.»

Jama alberte mit den Haschischrauchern herum, weil ihm seine Machtlosigkeit bewusst war und er weder in Streitigkeiten geraten noch sich Feinde machen wollte. Im Gegensatz zu den anderen Kindern hatte er keinen Vater, keine Brüder oder männliche Verwandte, die ihn beschützten. Vor Kurzem hatte er sich mit Shidane und Abdi angefreundet, die nett waren und ein großes Herz hatten, doch Freundschaften zwischen Jungen aus unterschiedlichen Clans bildeten sich zwar rasch, glichen aber Nomadenzelten, da sie selten von bleibender Dauer waren.

In der sommerlich heißen Wohnung verwandelte sich die bis dahin eisige Kälte zwischen den Frauen in hitzige Konfrontation. Ambaro, ausgelaugt und verärgert von der Arbeit, wurde streitlustiger. Sie benutzte die Küche zur selben Zeit wie Dhegdheer, nahm mehr Butter und Ghee, suchte sich saubere Gläser heraus, statt jene zu nehmen, die extra für die beiden gedacht waren, und ließ die Schmutzwäsche tagelang liegen. Sogar Jama gegenüber benahm sie sich wie ein kochender Wasserkessel: An einem Tag wollte sie, dass er arbeiten sollte, am nächsten, dass er zur Schule ging, am übernächsten, dass er auf dem Dach blieb und sich von den Marktjungen fernhielt und am überübernächsten wollte sie, dass er ihr nie wieder unter die Augen kam. Zuerst versuchte Jama, sie zu beschwichtigen, massierte ihr mit geschmeidig flinken Fingern sämtliche Verspannungen und Verhärtungen weg, aber bald verärgerten selbst seine Berührungen sie, also verbrachte er die Nächte mit Shidane und Abdi. Alle paar Tage kam er nach Hause, wusch sich, aß etwas und sah nach seiner Mutter, bis er eines Abends Ambaro und Dhegdheer in der Küche vorfand. Sie stießen beinahe mit den Brüsten aneinander und waren kurz davor, sich mit gefletschten Zähnen und kratzbereiten Nägeln aufeinanderzustürzen. Den Ausrufen: «Du bist eine Schlampe, wie schon deine Mutter eine war!» und «Luder» entnahm er, dass Dhegdheer seine Mutter aus der Küche vertreiben wollte, während die schimpfende Ambaro nicht von der Stelle wich und aussah, als würde sie Dhegdheer gleich ins Gesicht spucken. Jama packte seine Mutter am Arm und versuchte, sie wegzuzerren. Dhegdheers Söhne, die älter und stärker als Jama waren, konnten das Keifen der Frauen nicht länger ignorieren und schlurften in die Küche. Mittlerweile waren Ambaro und Dhegdheer handgreiflich geworden, schubsten einander inmitten dampfender Töpfe herum, während Jama die Pfannen vom Feuer riss und sie außer Reichweite brachte. Ambaro war jünger, stärker und eine bessere Kämpferin als das Hausmütterchen Dhegdheer und stieß die Ältere in eine Ecke.

«Soobah, soobah, los, mach doch», johlte Ambaro.

Dhegdheers Ältester bekam Ambaro zu fassen und rang sie zu Boden. «Hör auf, dich so schändlich zu betragen», krächzte er stimmbrüchig.

Jama sah seine Mutter am Boden liegen, griff ohne nachzudenken nach einem Topf mit kochend heißer Suppe und schleuderte die dampfende Flüssigkeit in Richtung der Jungen. Die Suppe verfehlte sie knapp, ergoss sich aber über ihre nackten Füße. Dhegdheer war außer sich. «Hoogayey waan balanbalay, meine teuren Söhne, beerkay! Meine Herzenskinder», wehklagte sie. «Möge Allah dich in Stücke schneiden, Jama, und den wilden Hunden vorwerfen.» Dhegdheer packte ein langes Tranchiermesser und begann, es zu wetzen. Während Ambaro es ihr aus den Händen winden wollte, flitzte Jama zwischen ihnen hindurch und flüchtete ins Freie.

Shidane und Abdi klatschten Beifall, als Jama kundgab, er werde nie wieder in das Haus der Islaweynes zurückkehren. Aden war für Marktjungen ein einziger gefährlicher Riesenspielplatz, aber Shidane kannte alle verborgenen Winkel, Ecken, Schlupflöcher und Lagerhäuser, die den unsichtbaren Stadtplan ausmachten. Gemeinsam konnten sie den älteren Jungen ausweichen, die sie berauben oder verprügeln wollten. Erst als sie eine Bande bildeten, bemerkte Jama, dass Abdi beinahe taub war. Deshalb hielt er einem, wenn man ihm etwas sagte, beim Zuhören das rechte Ohr immer direkt an den Mund und packte den Sprecher bei den Händen.

Während sie auf ihrem Dach saßen und zusahen, wie die untergehende Sonne die Pfützen auf den alten Wassertanks in kleine Sterne verwandelte, schmiegten sich Jama und Abdi unter einem alten Leintuch aneinander. Shidane lachte über ihre kuschelige Schlafhaltung, woraufhin sie über seine großen Ohren lachten.

«Kein Wunder, dass dein armer Onkel taub ist! Deine Ohren sind groß genug für euch beide.» Jama packte Shidane an den abstehenden Ohren.

«Das musst du gerade sagen!», lautete Shidanes Antwort, während er auf Jamas große, weiße Zähne zeigte. «Schau bloß, was du für Hauer im Maul hast! Mit denen könntest du einen Baumstamm zernagen.»

«Du träumst doch von Zähnen wie meinen, Karnickelohr. Mit so ’ner Glückslücke zwischen den Vorderzähnen, wart’s nur ab, wie reich ich mal sein werde. Gib’s zu, für solche Zähne würdest du sterben.» Jama zeigte sein Gebiss, damit die anderen es bewundern konnten.

Nach Jamas Verschwinden war Ambaro tagelang unruhig. Mr Islaweyne hatte ihr erlaubt, in der Wohnung in ein winziges Zimmer zu ziehen, bis er ein anderes Clanmitglied gefunden hatte, das sie aufnehmen würde; er wollte sich keinen schlechten Ruf erwerben, weil er sie auf die Straße gesetzt hatte. Dhegdheer hingegen freute sich stillschweigend über Jamas Verschwinden. Spätabends suchte Ambaro in dunklen, schmutzigen Gassen nach ihrem Sohn; lange nachdem ihre Zwölfstundenschicht vorbei war, suchte sie immer noch, ging zu seinen alten Lieblingsplätzen, befragte die anderen Marktjungen, die stets das eiserne Schweigen der Geheimpolizei wahrten, wenn Erwachsene in ihre Welt eindringen wollten. Unter ihren Kolleginnen hatte sie keine Freundinnen, und im Gegensatz zu den anderen Somalierinnen, die sie am Wasserhahn traf oder denen sie auf der Straße Gebäck abkaufte und die bei jeder Gelegenheit ihre Sorgen gestanden, behielt sie ihre Angst für sich. Ihr Stolz ließ es nicht zu, dass sie mit ihrem Kummer hausieren ging, ihr Leben würde nicht zum Honigtopf für Klatschbasen werden, die ständig Allah anriefen, sich in ihrer Gegenwart auf die Lippen bissen und hinter ihrem Rücken über sie lachten. Sie setzte ihre abendliche Suche allein fort. Jama verschwand zwar immer wieder, aber diesmal hatte Ambaro das beunruhigende Gefühl, dass er nicht zurückkehren würde. Sie begann, von ihrer Tochter Kahawaris zu träumen, und sie hasste es, von den Toten zu träumen.

Anders als die Somalierinnen, die fliegenden Händlerinnen und Kaffeesortiererinnen, die Bettlerinnen und Tänzerinnen, die häufig vier-, fünfjährige Söhne der Straße überließen, wenn deren Väter sich aus dem Staub gemacht hatten, hatte sie Jama, so gut sie konnte, behütet. «Wie kann ich meinen Kleinen beschützen?», war Tag und Nacht ihr Gedanke gewesen. In Erwartung eines Eldorados waren sie nach Aden gekommen, wo selbst die Bettler goldgeschmückt waren, doch stattdessen entpuppte es sich als ein dreckiger, gefährlicher Ort voller Fremder und Laster.

Jama war die einzige Familie, die sie hatte, die sie wollte, den Rest hatte sie seit ihrer Abreise nach Aden nicht mehr gesehen. Nachdem ihre Mutter Ubah an den Pocken gestorben war, war Ambaro in der Obhut einer Tante aufgewachsen. Izra’il, der Engel des Todes, war vierzehnmal durch Ubahs Tür gestürmt und hatte ihre Kinderschar entführt; sie erlitten Unfälle, bekamen Durchfall oder Husten, der die winzigen Brustkörbe erschütterte. Von Ubahs Kindern war nur ein einziges am Leben geblieben, ein kleines, herzzerreißend kränkliches Mädchen, das sich am Grab der Mutter herumdrückte und auf den Jüngsten Tag wartete, damit es wieder mit ihr vereint würde. Auch Ambaros Körper war von den Pocken gezeichnet, aber sie hatte überlebt und ihre Narben legten Zeugnis ab, dass der Geist ihrer Mutter sie beschützte. Ambaro wuchs zu einer mageren, stillen jungen Frau heran, die sich dem Einfluss der anderen Frauen ihres Vaters entzog. Weit entfernt streifte sie mit den Ziegen und Schafen der Familie herum. Die Trauer um die Mutter, der Verlust der Brüder und Schwestern trennte sie von den anderen Familienmitgliedern, die Angst hatten, ihr Unglück könnte sie dazu treiben, sie mit einem bösen Zauber oder einem Fluch zu belegen. Ambaros Blick sah zu tief und in ihren Augen lag zu viel Kummer, als dass man ihr hätte trauen können. Nur Jinnow, die besonnene Matriarchin der Familie, bedachte sie mit Zuneigung. Jinnow hatte Ambaro auf die Welt gebracht, den Gebetsruf in die kleine Ohrmuschel gewispert. Sie hatte das Baby der Mutter entgegengehalten, ihm das Blut abgewischt und das braune Muttermal auf der Wange entdeckt, dem das Mädchen den altmodischen Namen Ambaro verdankte.

Der Waisenjunge Guure wuchs im aqal daneben ebenfalls bei einer älteren Tante auf; während man Ambaro mit Worten wie «verflucht» oder «Unglückswurm» bedachte, wurde er verhätschelt und verwöhnt. Er zog Ambaro an den Zöpfen und verpasste ihr den Spitznamen Ameer, Kamelkalb. Es kam ein Jahr, da zog Guure in der Trockenzeit als lästiger Tunichtgut mit aufgeschürften Knien mit den Kamelen fort und kam als geschmeidiger Dichter mit langen Wimpern zurück. Es dauerte lange, bis er sie endlich auch bemerkte, dann fing er an, sich von hinten an sie anzuschleichen, wenn sie zum Brunnen ging oder Feuerholz sammelte. Sie hatte sich immer so dornig und unfruchtbar gefühlt wie die Wüste, in der sie lebte, aber Guure brachte Regen mit sich, der Kakteen erblühen ließ.

Als Ambaros Vater Guures Heiratsantrag ablehnte, bat sie Jinnow, sie solle Guure den Treffpunkt für ein Stelldichein ausrichten. Jinnow, die ihr dieses kleine Glück nicht abschlagen konnte, willigte ein. Ambaro hüllte sich in ihr neuestes Umschlagtuch, durchbrach hinterm Zelt den Dornenzaun und entwischte in die Nacht. Wie geplant, wartete Guure unter der großen Akazie auf sie, gewandt und lächelnd, seine Haut schimmerte im Mondschein. Der braune Afro formte einen Heiligenschein um seinen Kopf und seine leuchtend weißen Gewänder gaben ihr das Gefühl, sie würde mit dem Erzengel Jibreel durchbrennen. Guure hatte ein Stoffbündel mitgebracht, kniete sich hin, schnürte es auf und holte einen Granatapfel und einen Goldarmreif, den er seiner Tante gestohlen hatte, heraus. Beides gab er Ambaro und küsste ihr dabei die Hände. Dann holte er eine Laute heraus und zog Ambaro neben sich auf die Decke. Leicht zupfte er an den Saiten, beobachtete, wie das schüchterne Lächeln auf ihrem Gesicht ins Schelmische wechselte. Da spielte er beherzter weiter, entlockte dem Instrument eine leise Melodie; es klang wie Frühling, das leise Ploppen einer Blüte, die aus ihrer Knospe bricht. Umschlungen saßen sie da, bis Mond und Sterne sich taktvoll verdunkelten und die beiden der Freiheit der Nacht überließen.

Am darauffolgenden Tag heirateten sie am verlassenen Grab eines Heiligen nahe der Straße Richtung Burao. Ihre Trauung wurde von einem aufmüpfigen Sufi durchgeführt, der lachend zwei Ziegen als Heiratsvormund der Braut einsetzte, und von Fremden bezeugt. Sie kehrten ins Familienlager zurück. Dessen Dorneneinfassung war teilweise von Schakalen zerstört worden, bis ins Unterholz zogen sich die Blutspuren, hingen Wollfetzen. Die Ältesten, die schon wegen des beschädigten Zauns in Rage waren, schäumten regelrecht vor Wut, weil sie sich über das Heiratsverbot hinweggesetzt hatten, und verweigerten dem jungen Paar jegliche Hilfe, sodass es gezwungen war, selbst einen schiefen aqal zu bauen. Ambaro stellte rasch fest, dass ihr Mann ein unverbesserlicher Träumer war, mit dem Kopf stets in den Wolken; er war der Junge, den alle mochten, dem aber niemand seine Kamele anvertraut hätte. Guure konnte sich nicht damit abfinden, dass seine sorglose Jugend vorbei war, wollte immer noch mit seinen Freunden umherstreifen, Ambaro hingegen wollte einzig eine eigene Familie. Guure spielte mit ganzer Leidenschaft und Konzentration Laute, hatte aber keinerlei Interesse an den praktischen Dingen des Lebens. Sie besaßen kein Vieh und ernährten sich von jowari, gekochter, nach nichts schmeckender Hirse. Wann immer es möglich war, schob Jinnow ihnen heimlich etwas Fleisch, ein wenig Ghee zu, aber sie konnte nicht aufhören, über die Bredouille den Kopf zu schütteln, in die Ambaro sich manövriert hatte. Sie war für die Hochzeit gewesen, aber nicht auf diese überstürzte und unbedachte Weise. Jinnows Enttäuschung nagte an Ambaro und in kürzester Zeit wurde sie Guures Richterin, seine Aufseherin, seine Gefängniswärterin, die ihm überallhin folgte und, falls nötig, wieder nach Hause zerrte.

Als ein Jahr später Jama auf die Welt kam, Ambaro war achtzehn, hoffte sie, dass Guure dadurch in die Rolle des Ernährers gedrängt würde, aber stattdessen kämmte er sich weiterhin unentwegt, spielte Laute und sang Ambaro sein Lieblingslied vor: «Ha I gabin oo I gooyn.» Verleugne mich nicht und verlass mich nicht. Gelegentlich hob er Jama mit seinen schmalen Fingern hoch, um ihn in der Luft baumeln zu lassen, ehe ihm Ambaro das Baby wieder entriss. Sie war eine kämpferische Mutter, die sowohl ein Messer als auch einen Stock aus dem Holz des zauberkräftigen wagar-Baums bei sich trug, um ihren Sohn vor sichtbaren wie unsichtbaren Gefahren zu schützen. Ihr weicher, nachgiebiger Kern war hart geworden. Sie band sich das Baby auf den Rücken und lernte von Jinnow alle Überlebenskünste der Frauen – wie man Strohkörbe flocht, Parfüm aus Weihrauch und Myrrhe herstellte, aus äthiopischem Stoff Decken nähte – und versuchte, alles in den umliegenden Siedlungen gegen Lebensmittel einzutauschen. Was Ambaro auch anstellte, sie blieben bettelarm und die junge Frau war dazu verurteilt, die Gegend nach Pflanzen und Wurzeln abzusuchen, dabayood, likeh und tamayulaq. Als Guure dazu überging, seine Tage Kath kauend mit den jungen Männern zu verbringen, die ihn mit der Autonarretei angesteckt hatten, stand Ambaro kurz vor der völligen Verzweiflung. Er langweilte sie mit enthusiastischen Vorträgen über Autos und die Clanmitglieder, die im Sudan das große Geld machten, indem sie ferengis herumfuhren. Das alles kam Ambaro, die nie in ihrem Leben ein Auto gesehen hatte, aussichtslos vor, denn sie konnte nicht glauben, dass es sich bei Autos um etwas anderes als einen kindischen Hokuspokus der Fremden handelte. Mit allen Kräften versuchte sie, das in Guure brennende Feuer zu ersticken, aber je mehr sie ihn kritisierte oder sich über ihn lustig machte, desto mehr klammerte sich Guure an seinen Traum, überzeugt davon, dass er in den Sudan musste. Sein Geschwätz raubte ihr die letzte Hoffnung und sie fragte sich, wie er seine Familie einfach so im Stich lassen konnte. Wenn sie weinte, hielt er sie in den Armen, doch ihr war klar, dass ihre Zukunft nur Kummer für sie bereithielt.

Guure wurde ruhiger, als ein Jahr nach Jama eine Tochter kam, ein lächelndes Goldkind mit fröhlichen Kulleraugen, dem Ambaro den Namen Kahawaris gab, nach dem Lichtschimmer vor Sonnenaufgang, der ihre Ankunft verkündet hatte. Kahawaris wurde das Licht ihres Lebens, ein Baby, dessen Schönheit die anderen Mütter mit Neid erfüllte und dessen fröhliches Kichern durch das Lager schallte. Jama war ein redseliger kleiner Junge geworden, der ständig seine kleine Schwester hätschelte und die Erwachsenen mit Fragen plagte, während er Kahawaris auf dem Rücken trug. «Warum sind deine Fußnägel schwarz?» – «Wieso ist dein Bart orange?» Guure, an dem nun zwei Kinder zogen und zerrten, die jammerten und jede Nacht vor Hunger weinten, versprach, dass er jede Arbeit annehmen würde und wenn er die ausgeweideten Tiere aus dem Schlachthaus schleppen müsse. Immer häufiger half er Ambaro im Haushalt und zog sich beim Wasserholen am Brunnen, beim gemeinsamen Ziegenmelken mit den Frauen den Spott seiner Freunde zu.

So verging das Leben auf erträgliche Weise, bis sie nach einem langen, anstrengenden Tag, an dem Ambaro Harz für ihre Parfüms gesammelt hatte, ihre Tochter vom Rücken nahm und Kahawaris schlaff und leblos im Tuch hing. Ambaro brüllte nach Guure, und er nahm ihr das Kind aus dem Arm und rannte zu Jinnow, die es vergeblich mit Tropfen des ZamZam-Wassers, Gebeten und Ohrfeigen zu wecken versuchte.

Nach dem Tod des Kindes wurde Ambaros Seele leer, sie weinte im Sonnen- und im Mondenschein, sie weigerte sich aufzustehen, etwas zu essen oder Jama zu füttern. Sie gab Guure die Schuld, dass sie bei ihren Tauschgeschäften das kleine Kind in der staubigen Hitze von Siedlung zu Siedlung hatte mitschleppen müssen. Als Jama klein gewesen war, hatte Ambaro beständig Angst um ihn gehabt, hatte oftmals prüfend das Ohr an sein Herz gelegt, ob es noch schlage, aber das Kind war gewachsen und gediehen. Jetzt hatte sie das Gefühl, bei Kahawaris versagt zu haben, dem entzückenden Kind eine Rabenmutter gewesen zu sein, arrogant und nachlässig geworden zu sein. Verzweifelt versuchte Guure für seine Familie zu sorgen. Er fütterte und badete Jama, aber wie Ambaro feilschen und handeln konnte er nicht, und so litten sie oft Hunger oder mussten betteln. Er hatte keine Ahnung vom Wert der Dinge: War ein Parfümfläschchen zwei Decken wert oder bloß eine? Wie viel Weizen konnte er verlangen, wenn er einer Frau einen Korb Tamarinden gab? Die gewieften Frauen betrogen ihn und jagten ihn mit Verwünschungen davon. Guures Vater war vor seiner Geburt gestorben, daher hatte er keine Ahnung, was ein Vater tun oder lassen sollte, schuldbewusst mühte er sich ab, voller Angst, dass auch Jama sterben könnte. Als schließlich eine Dürre die Kamele, Schafe und Ziegen des Clans dezimierte, kehrten die Menschen nach und nach der Siedlung den Rücken. Manche suchten Arbeit in Hargeisa, andere zogen zu Verwandten nach Aden. Familien lösten sich auf, da jeder zum Überleben einen anderen Trampelpfad einschlug.

Guure nahm Ambaros Gesicht zwischen seine Hände. «Hör zu, entweder gehe ich den Lebensunterhalt für uns verdienen oder du. Wie sollen wir es machen?» Ambaro schob seine Hände weg und schwieg.

Am selben Tag machte Guure sich auf den Weg in den Sudan, ohne Landkarte, ohne Geld. Das war das letzte Mal, dass sie ihn gesehen hatten, manchmal kamen ihnen jedoch Geschichten über seine Wanderungen zu Ohren: Verschiedene Clanmitglieder erzählten Ambaro, dass er in Dschibuti sang, in Eritrea kämpfte, im Sudan Autos chauffierte. Sie gab diese Geschichten nicht an Jama weiter, wollte nicht, dass solche Gerüchte seine Hoffnung weckten; nur bei Todes- oder Geburtsnachrichten konnte man den durch die Länder ziehenden Menschen Glauben schenken. Unverdrossen wartete Ambaro auf Guure, wusste nicht, ob er gestorben oder verrückt geworden oder jemand anderem begegnet war. Ihre Familie verlangte, dass sie sich scheiden ließ; die wadaads sagten, sie sei verlassen worden und deshalb frei, doch sie wartete weiter. Sie ging nach Aden, hoffte, in den dortigen Fabriken genug Geld zu verdienen, um ihn aufspüren zu können. Sie beschimpfte ihre Verehrer und schickte sie weg, immer in der Hoffnung, dass Guure eines Tages mit seiner Laute auf dem Rücken am Horizont auftauchen würde.

Die Rückkehr zu den Islaweynes wäre für Jama eine zu bittere Pille gewesen. Dieses aufgedunsene, selbstgefällige Schwein von einer Frau behandelte Jama und seine Mutter wie lästige Fliegen, die um ihren überquellenden Abendbrotteller schwirrten. Er war es leid, seinen schmalen Körper noch schmaler zu machen, damit diese falsche Königin so tun konnte, als stünde der Sauerstoff im Raum einzig und allein ihr zu. Auch seine Mutter bereitete ihm mit ihren Flüchen, Schreien und Schlägen nur Kopfschmerzen, und aus Angst vor der drohenden Abreibung blieb er länger fort als geplant. Seit er sechs war, hatte er hin und wieder auf der Straße gelebt und verfügte daher über einen geradezu wölfischen Selbsterhaltungstrieb; nahende Gefahr teilte sich ihm über die feinen Härchen im Kreuz mit, er schmeckte sie in der dicken, staubigen Luft. Wie Adam hatte er ausschließlich Grundbedürfnisse, er musste Nahrung und Obdach finden, Feinde meiden. Die Nächte auf Dächern und Straßen hatten seinen Schlaf verändert, vom seligen Schlummer eines Säuglings, über den die Mutter wacht, zum unruhigen Halbschlaf, aus dem ihn geheimnisvolle Stimmen und Schritte aufschrecken ließen. Die Wochen vergingen, und selten wusste Jama im Voraus, wo er essen oder schlafen würde. Er konnte sich gut vorstellen, in diesen mitleidlosen Straßen alt und klapprig zu werden und eines Tages kalt und steif im Rinnstein gefunden zu werden, wie er es bei anderen Straßenjungen mitbekommen hatte. Auf einem Eselswagen würde man ihn zu einem anonymen Armengrab außerhalb der Stadt karren, ehe er zum Fraß für die herumstreunenden Hunde würde.

Sein Lieblingsschlafplatz war eine nach Erde riechende Höhle auf dem Dach eines baufälligen Wohnblocks. Die Höhle bestand aus einer nach vorn geneigten Lehmmauer, die eine Art Grab mit drei Seiten bildete, in dem sich Jama so sicher fühlte wie ein Toter, der hoch oben in der Luft gleichzeitig ein Teil dieser Welt war, aber doch nicht dazugehörte. Meist wachte er im Morgengrauen auf und beobachtete die kleinen Insekten, die ihr geschäftiges Leben wieder aufnahmen, gewichtig über die Mauer flitzen, ihm über Finger und Gesicht krabbelten, als wäre er bloß ein Steinbrocken, der ihnen im Weg lag. Er fühlte sich so klein wie sie in dieser Welt, jedoch verletzlicher, einsamer als die Ameisen mit ihren Armeen oder die Kakerlaken mit ihren harten Panzern und verborgenen Flügeln.

An diesem Abend ging er wieder in den neuen Wohnblock, in dem er seit ein paar Wochen mit Shidane und Abdi schlief. Unauffällig schlüpfte er in das Gebäude, wobei er auf den freundlichen, alten Hausmeister traf, der ihnen die Benutzung des Dachs erlaubte, und wünschte dem Hadschi, dessen Augen ihn schläfrig musterten, eine gute Nacht. Jama huschte zum Dach hinauf, ein hohles Gefühl in der Brust, weil er sich nach seiner Mutter sehnte, deren Gesellschaft er gleichzeitig nicht ertrug. Die absolute Stille oben auf dem Dach passte zu seiner inneren Leere. Abdi und Shidane waren nicht da, in dieser Nacht schliefen sie wohl woanders. Die Einsamkeit drang noch tiefer in Jamas Seele, in dieser Nacht hatte er das dringende Bedürfnis, von Abdis schlanken warmen Körper umschlungen zu werden, die Schniefnase des Freundes im Nacken. Jama stieg auf die Dachkante und sah zu den Sternen und dem gleichgültigen Mond hoch.

Er stand da, genoss die schwindelerregende Tiefe direkt vor seinen Füßen und brüllte aus vollem Hals: «Guure Naaleyeh Mohamed, wo bist du? Komm deinen Sohn holen!»

Sein Schrei prallte gegen die Gebäude und schwebte hinaus aufs Meer.

Shidane führte seine Bande durch die Straßen von Ma’alla, dem arabischen Stadtteil, brachte seinen kleinen Onkel und Jama über die hiesigen Gegebenheiten auf den neuesten Stand, erzählte ihnen, was er auf seinen Botengängen aufgeschnappt hatte. Hinter Vorhängen bewegten sich Männer und Frauen ruckartig wie indische Stabpuppen, deren Leben von Fenstern gerahmt und von Lampen im Hintergrund beleuchtet wurde, während die Jungen auf der dämmrigen Straße sie beobachteten.

«Die Frau in dem Haus da ist in Wirklichkeit ein Eunuch, ich hab gesehen, wie er seinen sharshuf ausgezogen hat und drunter hatte er einen Riesenständer, seine Arme und Beine waren ganz behaart, uh! Er sah aus wie ein Ringer, wallaahi, ich schwör’s.»

Ungläubig sah Jama Shidane an und versetzte ihm einen Schubs. Über die Häusermauern ergossen sich rote Rosen, die Blüten waren so groß wie Jamas Gesicht und erfüllten die Luft mit ihrem süßen Duft. Jama rupfte eine ab, strich über die Blütenblätter, die sich anfühlten wie Schmetterlingsflügel, und malte einen Kreis in die Abendbrise; eifrig schwirrte ein Insektenballett der Duftwolke hinterher.

«Und seht ihr den Mann da oben? Mit dem Turban? Der ist immer wieder im Gefängnis, seine Zähne sind ganz aus Gold, er ist Diamantenschmuggler, er kann seine Zähne rausnehmen und Diamanten drin verstecken, ich hab mal nachts durchs Fenster gesehen, wie er das gemacht hat.»

«Inshallah, wenn ich groß bin, werde ich Diamantenschmuggler», rief Abdi mit verzücktem Gesichtsausdruck, «das ist sogar noch besser als Perlenschmuggler, ich kaufe mir glänzende schwarze Schuhe, vorn ganz spitz, wie die reichen Typen sie tragen, und hooyo ein Haus und mehr Gold, als sie sich umhängen kann.» Schweigend betrachteten die drei Jungen ihre Füße, die bloß mit Sand und Dreck beschuht waren.

«Wisst ihr, was ich kaufen würde?», fragte Jama.

«Ein Auto?», sagte Shidane.

«Nein, ich würde ein Flugzeug kaufen, damit ich durch die Wolken fliegen und auf der Erde landen kann, wann immer ich einen neuen Ort erforschen will, Mekka, China, ich würde sogar noch weiter reisen, nach Damaskus und Ardiwaliya, und einfach kommen und gehen, wie ich will.»

«Allah! Flugzeuge sind Teufelszeug! In so ein Ding kriegst du mich nicht rein», meinte Shidane missbilligend. «Meine Mutter sagt, die sind haramferengis