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Hermann Kulke
Dietmar Rothermund

GESCHICHTE
INDIENS

Von der Induskultur
bis heute

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

Zum Buch

Der indische Subkontinent blickt auf eine lange, faszinierende Geschichte zurück, von der rätselhaften Induskultur über die Geburt von Hinduismus und Buddhismus sowie verschiedene Großreiche bis zur britischen Kolonialherrschaft und zur größten Demokratie der Welt. Hermann Kulke und Dietmar Rothermund bieten mit ihrem Buch einen Schlüssel zum Verständnis des riesigen Landes, in dem uralte Traditionen, krasse soziale Gegensätze und hochmoderne Technik und Wirtschaft nebeneinander existieren. Das erfolgreiche Standardwerk wurde für diese Ausgabe überarbeitet und aktualisiert.

„Das beste Buch zur Geschichte Indiens, das in den letzten Jahren erschienen ist, und es wird nicht leicht sein, ihm diesen Rang streitig zu machen.“ Deccan Chronicle

„Glänzend gerade da, wo es Epochen und Themen behandelt, die in bisherigen Überblicksdarstellungen vernachlässigt wurden.“ American Historical Review

„Ein selbst in Indien äußerst populäres Standardwerk.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung

„Hält avancierten historiographischen Ansprüchen stand. … Vorzüglich.“ Neue Zürcher Zeitung

„Das in seiner thematischen Gestaltung außerordentlich gut proportionierte und in seinen Urteilen stets ausgewogene und sehr gut lesbare Werk kann für alle Bereiche der Indien-Forschung als ein unverzichtbares Hilfsmittel angesehen werden.“ Neue Politische Literatur

Über die Autoren

Hermann Kulke ist Professor em. für Asiatische Geschichte an der Universität Kiel und hat an verschiedenen Universitäten in Indien und Singapur gelehrt. Zahlreiche Publikationen zur Geschichte Indiens.

Dietmar Rothermund ist Professor em. für Geschichte Südasiens an der Universität Heidelberg. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. „Indien. Aufstieg einer asiatischen Weltmacht“ (2008) sowie in der Reihe C.H.Beck Wissen „Mahatma Gandhi“ (2. Aufl. 2011) und „Geschichte Indiens“ (4. Aufl. 2018).

Inhalt

Vorwort

Einleitung
Umwelt und Geschichte

    I. Die frühen Kulturen im Nordwesten

1. Vorgeschichte und Induskultur

2. Einwanderung und Sesshaftwerdung der Aryas

   II. Die Großreiche des Altertums

1. Der Aufstieg der Gangeskultur und die Großreiche des Ostens

2. Zerfall des Großreiches und die Invasionen des Nordens

3. Das klassische Zeitalter der Guptas

4. Der Aufstieg Südindiens und der Indienhandel Roms

  III. Die Regionalreiche des frühen Mittelalters

1. Entstehung und Konflikte der Regionalreiche

2. Könige, Fürsten und Priester: Strukturprobleme hinduistischer Reiche

3. Götter, Tempel und Dichter: Die Entstehung der Regionalkulturen

4. Indiens Einfluss in Südostasien: Ursachen und Wirkungen

  IV. Religionsgemeinschaften und Militärstaaten im Spätmittelalter

1. Die islamische Eroberung Nordindiens und das Delhi-Sultanat

2. Die Staaten Zentral- und Südindiens im Zeitalter des Delhi-Sultanats

   V. Aufstieg und Zerfall des Mogulreiches

1. Die Großmoguln und ihre Widersacher

2. Indische Landmacht und europäische Seemacht

3. Der Kampf um die Vormacht in Indien

  VI. Die Epoche der Kolonialherrschaft

1. Company Bahadur: Händler und Herrscher

2. Das britisch-indische Imperium

3. Entwicklung und Unterentwicklung

 VII. Der Freiheitskampf und die Teilung Indiens

1. Der indische Freiheitskampf

2. Die Teilung Indiens

VIII. Die Republik

1. Die Republik Indien: Staat, Wirtschaft und Gesellschaft

2. Indien in der Weltpolitik: Von der internationalen Vermittlung zur regionalen Vormacht

Perspektiven

Anhang

Literaturhinweise und Anmerkungen

Zeittafel

Karten

Abbildungsnachweis

Register

Vorwort

Diese «Geschichte Indiens» erschien zum ersten Mal im Jahre 1982. Dietmar Rothermund übersetzte dann den gesamten Text ins Englische, und David Croom (Verlag Croom/Helm, London) veröffentlichte diesen 1984. Die vorliegende deutsche Ausgabe ist gründlich überarbeitet worden. Sie folgt der englischen Ausgabe, die 2016 in der sechsten Auflage beim Verlag Routledge, London, erschienen ist und in Indien mittlerweile als Lehrbuch verwendet wird. Wir freuen uns sehr, dass unser Buch auch in Sprachen übersetzt worden ist, die wir nicht beherrschen, und danken den Übersetzern und Verlegern. Es liegen Ausgaben in Italienisch, Türkisch und Rumänisch vor. Besonders erwähnt werden soll hier, dass jüngst bereits die zweite chinesische Auflage erschienen ist. Die internationale Resonanz, die unsere Arbeit gefunden hat, gibt uns die willkommene Möglichkeit, die Kenntnisse, die wir in langen Jahren der Forschung und Lehre erworben haben, einer großen Leserschaft zu vermitteln.

Die Jahrtausende der indischen Geschichte lassen sich kaum von einem einzigen Autor erfassen. Deshalb ist die vorliegende Darstellung von zwei Verfassern geschrieben worden, deren Fachgebiete sich ergänzen und die das Glück gehabt haben, fast zwei Jahrzehnte am Südasieninstitut der Universität Heidelberg zusammenzuarbeiten und sich über ihre Forschungserfahrungen auszutauschen. Hermann Kulke hat sich bei seinem Studium des Sanskrit und der Geschichte zunächst mit der Tradition der südindischen Tempelstadt Chidambaram beschäftigt und danach mit den Beziehungen zwischen Tempelkult und Königtum in Orissa. Ferner hat er den Einfluss der höfischen Kultur des indischen Mittelalters auf Südostasien untersucht. Zu allen diesen Themen hat er umfangreiche Veröffentlichungen vorgelegt. Dietmar Rothermund wandte sich nach Studien der europäischen und der amerikanischen Geschichte der indischen Geschichte zu und schrieb ein Buch über den indischen Freiheitskampf. Später entstand dann eine politische Biographie Mahatma Gandhis. Ferner beschäftigte er sich intensiv mit der indischen Wirtschaftsgeschichte. Einem Buch über die britisch-indische Agrargesetzgebung folgte eine Monographie über die Einwirkung der Weltwirtschaftskrise auf Indien. Daneben arbeitete er auch auf dem Gebiet der Geschichte der indischen Außenpolitik.

Die Verfasser haben sich zwar die Arbeit an diesem Buch geteilt, sich aber dabei darum bemüht, eine Darstellung aus einem Guss zu schaffen. Hermann Kulke schrieb die ersten vier Teile und Dietmar Rothermund die Einleitung und die übrigen Teile des Buches. Für die Ratschläge bei der Überarbeitung des ersten Teils über die frühen Kulturen danken wir Dr. Martin Brandtner, Kiel. Wir beklagen seinen frühen Tod und werden uns immer an ihn erinnern.

Auf Fußnoten wurde in diesem Buch verzichtet, stattdessen sind die Quellenangaben und Nachweise wörtlicher Zitate den nach Kapiteln geordneten Literaturhinweisen hinzugefügt worden. Eine ausführliche Zeittafel gibt den ereignisgeschichtlichen Überblick, der im Text zugunsten einer strukturgeschichtlichen Behandlung des Themas zurückgestellt wurde. Bei der Transkription indischer Wörter und Namen wurde die international übliche Form gewählt und auf diakritische Zeichen verzichtet. Bei Namen und Wörtern, die mit C beginnen, muss der Leser beachten, dass dieses C wie tsch (vgl. englisch «church») ausgesprochen wird. Die indische Devanagari-Schrift übertrifft unsere Schrift in der Genauigkeit der Wiedergabe phonetischer Einzelheiten. Eine Textedition ist daher ohne eine wissenschaftlich genaue Transkription undenkbar. Für das vorliegende Buch genügt jedoch die vereinfachte Umschrift, da nur Wörter und Namen genannt werden, mit deren Verwechslung aufgrund unzureichender Transkription nicht zu rechnen ist. Einige wichtige Ortsnamen sind im Laufe der Zeit geändert worden (Bombay = Mumbai, Kalkutta = Kolkata, Madras = Chennai). Wir haben für die historischen Zeiten, in denen noch die alten Namen verwendet wurden, diese beibehalten.

Wir danken allen unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Heidelberg und Kiel, die auf vielfältige Weise an der Erstellung der verschiedenen Ausgaben mitgewirkt haben. Dem Verlag C.H.Beck und seinem Lektor Dr. Ulrich Nolte möchten wir für diese deutsche Ausgabe besonderen Dank sagen, ebenso danken wir dem Kartographen des Südasieninstituts, Heidelberg, Niels Harm, der uns immer wieder hilfreich unterstützt hat.

Kiel und Heidelberg, im Juni 2017

Hermann Kulke
Dietmar Rothermund

Einleitung
Umwelt und Geschichte

Umwelt – das ist die Welt in ihrer Beziehung auf einen lebendigen Mittelpunkt, der Standort der Pflanze, die Jagd- oder Weidegründe des Tieres, der Lebensbereich des Menschen. Für den Menschen ist dieser Lebensbereich sowohl durch objektive Gegebenheiten als auch durch subjektive Erfahrungen bestimmt. Die Natur setzt ihm Grenzen, er überwindet sie mit Werkzeugen. Er gestaltet seine Umwelt und macht Geschichte. Im Laufe dieser Geschichte sind es nicht mehr nur die Grenzen der Naturgegebenheiten, sondern die der Erfahrung und Erkenntnis, die es zu überwinden gilt. Von der Anpassung an die natürliche Umwelt mit Hilfe einfachster Mittel bis zur Hochkultur wandelt sich der Erfahrungshorizont und die regionale Reichweite menschlicher Beziehungen. Dementsprechend wandelt sich auch das auf den Menschen bezogene naturgegebene Umfeld, der Erkenntnisstand bestimmt den Aktionsradius. Jäger und Sammler, nur mit Faustkeil oder Steinaxt gerüstet, lebten an den Nahtstellen von Wald und Steppe oder in offenen Flußtälern. Für sie waren gerade jene Gebiete geeignet, die später für den sesshaften Bauern mit Gespann und Pflug wenig hergaben und daher gemieden wurden. Der Bauer wiederum zog zunächst die leichteren Böden und das Schwemmland großer Flüsse vor. Erst als eiserne Werkzeuge ihm das Roden erlaubten, konnte er seine Umwelt neu gestalten und weite fruchtbare Ebenen und Küsten urbar machen. Vor allem dort, wo Klima und Regenfall eine gute Getreideernte erlaubten, wuchs dann die Bevölkerung, und es entstanden große Reiche, die freilich in ihrer Machtentfaltung eng an diese Agrarbasis gebunden waren.

Die indische Geschichte zeigt diese Entwicklung sehr deutlich. Funde aus der Steinzeit stammen zum größten Teil aus Gebieten, die später nicht Zentren bedeutender Reiche wurden: Die Gegend zwischen Udaipur und Jaipur, das Tal der Narmada, die Ostseite der Gebirge an der Westküste, das Land zwischen Krishna und Tungabhadra (Raichur Doab), der Teil der Ostküste, in dem das Hochland dem Meer am nächsten ist, und schließlich die Ränder des Chota-Nagpur-Plateaus im Nordosten Indiens (siehe Karte 2).

Etwa um 7000 v. Chr., so nimmt man aufgrund neuerer Forschungsergebnisse an, wurde mit dem Anbau von Getreide in Südasien begonnen. Dies war eine Zeit erhöhter Niederschläge in Indien, das seit eh und je vom Monsun, dem regenträchtigen Südwest- und Südost-Wind, abhängt, der langfristig durch die Schwankungen der Erdachse beeinflusst wird. Der frühe Getreideanbau in dieser monsungünstigen Zeit war sicher noch sehr verstreut in jedem Sinne des Wortes und bot keine Grundlage für umfassendere politische und kulturelle Strukturen.

Die Vorläufer der Induskultur experimentierten in Baluchistan mit kleineren Anlagen zur Bebauung von Schwemmland, ehe sie sich in die weite Ebene des Indus wagten. Sie bauten Steinmauern (gabarbands), die nach den jährlichen Regenfällen das Schwemmland zurückhielten. Anfänglich hielten die Archäologen diese Mauern für Bewässerungsdämme, aber Löcher in den Mauern zeigten an, dass diese Erde und nicht Wasser zurückhalten sollten. Solche Bauwerke wurden in der Nähe von Quetta und Las Belas sowie im Bolan-Tal gefunden. In diesem Tal liegt auch Mehrgarh, das im nächsten Kapitel ausführlich beschrieben wird.

Paläobotanische Untersuchungen haben ergeben, dass der Regenfall in der gesamten Region um 3000 v. Chr. angestiegen ist. Zu dieser Zeit wurden wohl die neuen Methoden der Schwemmlandbebauung nicht nur in der Indus-Ebene, sondern auch im benachbarten Ghaggar (Hakra)-Tal eingeführt. Dieser Fluss verlief in einer Entfernung von 100 bis 120 km parallel zum Indus. Wahrscheinlich war dieses weiter östlich gelegene Tal für die frühen Siedler sogar attraktiver als das Indus-Tal mit seinen enormen Überschwemmungen. Der Indus führte bis zu zweimal mehr Wasser als der Nil und stellte daher hohe Ansprüche an die, die seine Überschwemmungen nutzen wollten. Die Erbauer von Harappa und Mohenjo Daro waren Meister des Wasserbaus, wie die Wasserleitungen und Drainagesysteme ihrer Städte zeigen. Welche Methoden sie in der Landwirtschaft benutzten, wissen wir noch nicht. Es sind bisher keine Dörfer der Induskultur im Umkreis dieser Städte gefunden worden. Vielleicht waren die landwirtschaftlichen Arbeiten wegen der großen Überschwemmung jahreszeitlich begrenzt, und es wurden gar keine permanenten Siedlungen auf dem Lande errichtet. Die Bebauung der Ebene wurde dann vermutlich von den Städten aus organisiert, die auch bedeutende Handelszentren waren. Harappa, das an der Grenze zwischen Ackerbau und Weidewirtschaft lag, war offenbar eine Art Brückenkopf, auf den die Handelsstraßen aus dem Norden zuliefen. Metalle und kostbare Steine kamen aus den Bergen und fanden über die Indusstädte den Weg in den internationalen Seehandel. Die Induskultur pflegte rege Handelsbeziehungen zu den Staaten Mesopotamiens. Aus deren Quellen ist belegt, dass Schiffe aus Meluhha (der Eigenname der Induskultur) den Euphrat hinauffuhren, und dass es in Akkad zu Zeiten des Königs Sargon (ca. 2290 v. Chr.) einen offiziellen Dolmetscher der Meluhha-Sprache gab.

Während die beiden großen Indusstädte, soweit wir bisher wissen, nicht an der Spitze von Siedlungshierarchien von Städten und Dörfern zweiter und dritter Ordnung gestanden haben, war dies im Ghaggar-Tal ganz anders. Die Stätte von Ganweriwala nahe Derawar Fort, die zwar identifiziert, aber noch nicht ausgegraben worden ist, soll die Überreste einer Stadt bergen, die mindestens so groß wie die Indusstädte war. Ganweriwala ist von einer großen Zahl kleinerer Siedlungen umgeben, die ebenfalls noch ausgegraben werden müssen. Hier scheint sich eine Siedlungshierarchie abzuzeichnen. Vielleicht war Ganweriwala sogar die Hauptstadt der Induskultur, während die Indusstädte ihre mächtigen Außenposten waren. Von Mohenjo Daro lässt sich mit Sicherheit sagen, dass es eine in ihrer Gesamtheit geplante Stadt war, die von den Menschen einer bereits voll entwickelten Hochkultur errichtet wurde. Es könnte sein, dass der Plan zu dieser Gründung in einer anderen Stadt konzipiert worden ist, in der die Vorbedingungen für diese Art des Städtebaus bereits geschaffen worden waren.

Archäologische Befunde weisen auf ein plötzliches Austrocknen des Ghaggar-Tals um 1700 v. Chr. hin, das vermutlich durch eine tektonische Verwerfung verursacht wurde. Die Yamuna, die jetzt parallel zum Ganges nach Osten fließt, könnte durch das Ghaggar-Tal nach Westen geflossen sein, bis eine solche Verwerfung ihren Lauf änderte. Zwischen Jagadhri und Ambala beträgt die Entfernung zwischen dem alten Ghaggar-Tal und dem heutigen Tal der Yamuna nur etwa 70 km. Das Land dort ist recht flach, und eine geringfügige Neigung nach Osten könnte die schicksalhafte Änderung des Flusslaufs bewirkt haben. Die alte indische Festlandsscholle stößt hier gegen den Himalaya. Sie bewegt sich auch heute noch und bewirkt immer wieder Erdbeben. Es gibt auch die Hypothese, dass damals zur gleichen Zeit tektonische Verwerfungen die Mündung des Indus verriegelten und zu einem Rückstau führten, der Mohenjo Daro im Wasser versinken ließ. Diese Hypothese wird von Gelehrten bestritten, die meinen, dass der gewaltige Indus sich nie hätte aufhalten lassen und sich sofort einen anderen Weg ins Meer gebahnt hätte. Doch selbst wenn man dem zustimmt, könnte man doch annehmen, dass ein einmaliger Rückstau oder mehrere jahreszeitliche Wiederholungen genügt hätten, um Mohenjo Daro bleibenden Schaden zuzufügen. Es wäre also möglich, dass tektonische Verwerfungen die Zentren der Induskultur ausschalteten und die Organisation vernichteten, die diese Hochkultur erhielt. Die Induskultur zeigte eine weit größere technische Perfektion und Uniformität als die Kultur Mesopotamiens, sie war wohl deshalb auch verwundbarer. Während in Mesopotamien immer neue Reiche entstanden, die eine gewisse kulturelle Kontinuität wahrten, erwies sich die Induskultur als nicht regenerierbar. Vielleicht war sie zu hochgradig spezialisiert und hatte sich der Umwelt, der sie ihren Aufstieg verdankte, so gut angepasst, dass sie den Wandel dieser Umwelt nicht überleben konnte.

Eine Region blieb von der Umweltkatastrophe zunächst verschont: die Halbinsel Kathiawar in Gujarat. Diese war von den Menschen der Induskultur kolonisiert worden und wurde für sie zur wichtigen Verbindung mit der Außenwelt. Bedeutende Stätten sind hier identifiziert, aber noch nicht ausgegraben worden. Dholavira kommt dabei besondere Bedeutung zu. Es liegt im Rann von Kutch, heute weit von der Küste entfernt, aber seinerzeit wohl ein bedeutender Seehafen. Auf der anderen Seite der Halbinsel liegt Lothal, das ebenfalls als Seehafen der Induskultur gilt. Hier haben bereits Grabungen stattgefunden, deren Ergebnisse im nächsten Kapitel vorgestellt werden. Der Seehandel über Oman brachte die afrikanische Hirse in diese Gegend und gab der Landwirtschaft im trockenen Binnenland der Halbinsel Auftrieb. Die üblichen Getreidesorten der Induskultur, Weizen und Gerste, konnten dort nicht angebaut werden. Die Hirse war also von geradezu strategischer Bedeutung für die Kolonisierung dieser Gebiete durch die Menschen der Induskultur und breitete sich von hier auch auf das Hochland im Osten aus.

Die gesamte Region, in der die Induskultur vorherrschte, war sehr groß. Späte Ausläufer der Induskultur sind sogar in Daimabad in Maharashtra gefunden worden. Shortugai in Badakhshan, Afghanistan, ist bisher der nördlichste Stützpunkt der Induskultur, den die Archäologen finden konnten. Die Entfernung von Daimabad bis Shortugai beträgt rund 2400 km. Solche fernen Außenposten sowie die nicht von den tektonischen Verwerfungen betroffenen Städte verfielen, als das Herzland unterging und nicht mehr durch Handel und kulturelle Oberaufsicht den Zusammenhalt des Kulturgebiets garantierte. Die Siedlungen, die nachweislich einer späteren Zeit angehören, aber noch Spuren des Einflusses der alten Kultur zeigen, wurden bisher von den Archäologen als «Spät-Harappa» (ca. 1700–1500 v. Chr.) eingestuft, neuerdings setzt sich jedoch die Bezeichnung «post-urban» für diese Periode durch. Es verging etwa ein Jahrtausend, bis in Indien, dann aber in der Ebene von Ganges und Yamuna, eine zweite urbane Kultur entstand.

Neben den tektonischen Verwerfungen haben auch andere ökologische Faktoren zum Untergang der ersten urbanen Kultur beigetragen. Paläobotanische Forschungen weisen darauf hin, dass die «post-urbane» Periode von einem bemerkenswerten Rückgang der Regenfälle gekennzeichnet war. Die Wirkungen einer solchen «Großwetterlage» machen sich langsamer bemerkbar, sind aber auch viel nachhaltiger als die Wirkungen tektonischer Verwerfungen. Nomadische Rinderhirten wie die Einwanderer, die sich selbst «Arya» (die Edlen) nannten, konnten die neue Situation besser bewältigen als die Bauern, die vom reichlichen Fluss des Wassers profitiert hatten. Nachdem sie ihr Vieh zunächst im Panjab geweidet hatten, brachen die «Aryas» nach Osten auf, wo der Regenwald der Ganges-Ebene vermutlich durch die Abnahme der Regenfälle zurückging und zur Brandrodung einlud.

Der Weg nach Osten war den Einwanderern geradezu durch ihre Blickrichtung vorgezeichnet. Sie «orientierten» sich im wahren Sinne des Wortes am Sonnenaufgang und nannten den Osten das, was vor ihnen, den Westen das, was hinter ihnen war. Zur rechten Hand (Dakshina) lag dann der Süden, von dem sie zunächst nur eine sehr ungenaue Vorstellung hatten. Dakshinapatha, der Weg nach Süden, war durch ödes Hochland und Bergketten erschwert. Die Gangesebene dagegen erschloss sich ihnen leichter. Ihre alte Sitte des Pferdeopfers (ashvamedha) ist für die damalige Struktur von Herrschaft und Umwelt charakteristisch. Ehe der König das Pferd feierlich opferte, ließ er es ein Jahr frei herumlaufen, und wer ihm in den Weg trat, musste sich zum Kampf stellen, wer es gewähren ließ, erkannte damit stillschweigend die Herrschaft des Königs an – eine sehr flexible Art der Grenzbestimmung.

Im 6. Jahrhundert v. Chr. machten sich dagegen neue Tendenzen bemerkbar, die zur Entstehung des ersten indischen Großreiches führten. Die große Ostmark der Gangesebene, das heutige Bihar und Bengalen, war noch nicht unter den direkten politischen Einfluss der Einwanderer gekommen, stand aber offensichtlich in engem Kulturkontakt mit ihnen. Buddhismus und Jainismus entstanden in dieser Zeit in der Region, in der die Kulturkontakte am intensivsten waren. Der buddhistische Mönchsorden erwies sich dann bei der kulturellen Durchdringung der großen Ostregion zunächst als wesentlich effektiver als die Brahmanen. Diese politisch noch wenig strukturierte Region wurde nicht in gleichem Maße wie die obere Gangesebene von vielen kleinen miteinander rivalisierenden Königen beherrscht und lud daher geradezu zur Errichtung eines Großreiches ein. Reiche Eisenerzvorräte im angrenzenden Hügelland lieferten Material für Werkzeuge und Waffen. Die fruchtbare Ebene bot dem Großreich eine gute Agrarbasis. Reis gedeiht in Indien nur in den Gebieten gut, die weniger als 300 Meter hoch liegen und mindestens 1000 Millimeter Jahresniederschläge haben. Die Nordostebene ist das größte Gebiet dieser Art in Indien.

Die Unterwerfung der vielen kleinen Könige der oberen Gangesebene war den Herrschern des neuen Ostreiches ein leichtes. Durch die Kontrolle der Handelsstraßen spannten sie dann ein Herrschaftsnetz von großer Reichweite. Freilich dürfte diese Herrschaftsreichweite in den ferner liegenden Gebieten nicht mit einer großen Herrschaftsintensität verbunden gewesen sein. Aber es wurde auf diese Weise ein Informationsstand erreicht, der es nach dem Zerfall des Großreiches vielen Herrschern in ganz Indien ermöglichte, diesem Beispiel nachzueifern und ein mehr oder weniger gut organisiertes Reich zu errichten, das sich von den alten Königreichen der oberen Gangesebene deutlich unterschied. Wenn der Shatavahana-König, der im Hochland ein Großreich errichtete, auf der Höhe seines Erfolges ein Pferdeopfer nach alter Sitte zelebrierte, dann hatte das nichts mit dem flexiblen Souveranitätstest früherer Zeiten zu tun, sondern bedeutete eine kulturelle Legitimation des siegreichen Herrschers. Diese Legitimationsfunktion der Sitten der alten Königreiche blieb erhalten und bewirkte die Kontinuität des Herrschaftsstils.

Dieser idealtypische Bezug auf das Altertum, der nicht erst von romantischen Historikern später in die indische Geschichte hineininterpretiert worden ist, sondern durchaus dem Selbstverständnis der Herrscher Indiens entsprach, erschwert die Abgrenzung der historischen Perioden, die uns in der europäischen Geschichte als Altertum, Mittelalter und Neuzeit vertraut sind. Man hat sich daher in der indischen Geschichtsschreibung gern mit einer anderen Dreiteilung beholfen, die einer hinduistischen Periode eine islamische und schließlich eine britische folgen lässt. Das ist eine ideologische Periodisierung, die bei Hindus und Muslimen gleichermaßen zur Selbsttäuschung führte. Die Hindus sahen die vorislamische Zeit als ein goldenes Zeitalter, eine heile Welt, die zuerst von der islamischen und dann von der britischen Fremdherrschaft überwältigt wurde. Diese Sichtweise bestätigte indirekt die der Muslime, die ihrerseits die sogenannte islamische Epoche als eine Zeit gesamtindischer Vorherrschaft des Islam betrachteten und die vielfältigen Beziehungen, die in dieser Zeit zwischen Hindus und Muslimen bestanden, übersahen. Der Begriff einer britischen Epoche erfreute sich ebenfalls einer allgemeinen Zustimmung bei Herrschern und Beherrschten, verhinderte aber gerade darum die Einsicht in die Kontinuität der geschichtlichen Entwicklung und in die Marginalität des britischen Einflusses. Die jüngere Generation der indischen Historiker steht dieser Periodisierung denn auch sehr kritisch gegenüber, aber es fehlt bisher an Alternativen. Hier soll deshalb der Versuch gemacht werden, eine Periodisierung aus der Beziehung der Akteure des geschichtlichen Prozesses zu ihrer Umwelt zu entwickeln.

Im Mittelpunkt der alten indischen Geschichte steht die Gestalt des «Cakravartin», des Welteroberers. Die zu erobernde Welt ist zunächst einmal die dem Eroberer bekannte indische Umwelt in den Erkenntnisgrenzen seiner Zeit. Kämpfe untereinander und mit aus dem Norden einbrechenden Fremdlingen gaben den Königen des Altertums immer wieder Gelegenheit, dem Eroberungsauftrag nachzukommen. Am Ende und Höhepunkt des Altertums gelang es den Kaisern der Gupta-Dynastie, diesem Ideal nahezukommen. Mit dem Zerfall ihres Großreiches beginnt das Mittelalter, in dem das Gupta-Vorbild in vielen Regionalstaaten kopiert wird. Das politische System, das dieser Tradition entsprach, war die konzentrische Monarchie, theoretisch universal, praktisch aber der jeweiligen Umwelt angepasst. Wie die Wellen, die entstehen, wenn man einen Stein ins Wasser wirft, war die Ausstrahlung dieser Herrschaft nahe dem Mittelpunkt stark und sichtbar und nahm mit der Entfernung ab. Im Interferenzbereich gab es dann Konfliktpunkte, aber auch Stellen, wo lokale Machthaber selbständig schalten und walten mochten. Der König war kein «orientalischer Despot», sondern eine Kulturgestalt und fand als solche Anerkennung. Die Vermittler der Kultur waren die Brahmanen, mit denen sich jeder König umgab. Universale Idee und regionale Praxis des Königtums wurden von ihnen in einem den Gegebenheiten entsprechenden Entwurf verbunden. Der Herrschaftswettbewerb führte zu einer fortschreitenden Durchdringung der Umwelt und einer Symbiose von königlichem und lokalem Einfluss im Sinne gegenseitiger Bestätigung. In der Zeit vom 5. bis 9. Jahrhundert erfasst dieser Prozess nach und nach ganz Indien. Eine höfische Kultur hohen Ranges entsteht überall und dringt bis nach Südostasien vor. Im späteren Mittelalter kommt es dann zur Verfeinerung dieser höfischen Kultur bis hin zur Erstarrung, zugleich machen sich volkstümliche religiöse Bewegungen bemerkbar, denen auch die Regionalsprachen, die sich vom höfischen Sanskrit absetzen, ihre lebendige Entwicklung verdanken. Am Ende des Mittelalters fügen sich Staatenbildungen islamischer Eroberer aus dem Norden in dieses Muster ein und prägen eine höfische Kultur auf einer anderen religiösen Grundlage, aber mit durchaus ähnlicher Funktion.

Die Neuzeit beginnt mit der Herrschaft der Mogul-Dynastie, die den Versuch unternimmt, Indien unter ein einheitliches, rationales und zentralisiertes Verwaltungssystem zu bringen, und in dieser Beziehung viele Gemeinsamkeiten mit den europäischen Herrschern des Zeitalters des Absolutismus hat. Das Großreich dieser Dynastie zerbricht im 18. Jahrhundert. Aber so, wie dereinst die höfische Kultur der Gupta-Kaiser nachgeahmt wurde, blieben die neue höfische Kultur der Mogul-Dynastie und ihr Verwaltungssystem ein Vorbild für die regionalen Herrscher, die das Reich aufteilten. Die Briten übernahmen schließlich das Erbe des Mogul-Verwaltungssystems und einigten Indien auf dieser Grundlage.

Der historische Prozess, der hier kurz skizziert worden ist, wurde vom Wandel der Kriegskunst entscheidend beeinflusst. Die Könige des frühen Altertums zogen mit leichten, zweirädrigen Kampfwagen in die Schlacht. Ihre Nachfolger stiegen auf Elefanten um und führten große Heere an. Der Elefant war die Wunderwaffe des ersten indischen Großreiches gewesen. Die größte Militärhilfeaktion des Altertums war Candraguptas Entsendung von 500 Elefanten an seinen Bundesgenossen Seleukos. Zwischen Elefant und Macht bestand ein enges gegenseitiges Verhältnis. Nur ein reicher Herrscher konnte es sich leisten, eine große Zahl gut trainierter Kriegselefanten zu halten. Die Haltung solcher Elefanten war eine zentrale Angelegenheit und bedingte eine entsprechende Machtkonzentration, die die Beherrschung eines gewissen Territoriums zugleich erforderte und ermöglichte.

Die traditionelle indische Schlachtordnung, die im Schachspiel nachgestaltet worden ist, stammt aus dem Altertum und blieb für zwei Jahrtausende verbindlich. Der König leitete die Schlacht vom Rücken seines Elefanten, er durfte sich nicht allzu sehr exponieren, weil die Schlacht verloren war, wenn er vom Feind umringt wurde. Die Dynamik der Schlacht hing von den Kavallerieoffizieren ab. Flankenschutz boten wiederum die Elefanten, und ein großes, meist recht schwerfälliges und schlecht trainiertes Fußvolk bildete Vorhut und Nachhut. Schlachten dieser Art waren umständliche und aufwendige Unternehmungen. Auf diese Weise entstand ein Machtoligopol, das in dem gegebenen geopolitischen Rahmen zur Bildung von regionalen Schwerpunkten führen musste. Die Struktur des indischen Subkontinents bietet günstige Voraussetzungen für die Herausbildung regionaler Machtkonzentrationen bei einem mehr oder weniger gleichförmigen Stand staatlicher Organisation und Kriegstechnik, die eine mittlere Herrschaftsreichweite im Umkreis von 200 bis 300 km und eine Interventionsreichweite über Strecken von 700 bis 900 km ermöglichte. Herrschaftsreichweite bedeutet in diesem Zusammenhang die Aufrechterhaltung unmittelbarer Kontrolle und den Anspruch auf Steuern und Abgaben, Interventionsreichweite bezieht sich auf die Entsendung von Heeren zur Unterwerfung anderer Herrscher, die aber meist in ihrer regionalen Herrschaftsfunktion belassen wurden oder aber durch andere Vasallen ersetzt werden mussten. Die Großregionen Indiens, die sich in 18 Teilregionen untergliedern lassen, sollen im Folgenden vorgestellt werden. Hier sei vorweggenommen, dass wegen dieses Verhältnisses von Herrschaftsreichweite und Interventionsreichweite zumeist in jeder Großregion eine Vormacht bestand, die in einer Teilregion ihren Herrschaftsschwerpunkt hatte, aber aufgrund ihrer Interventionsmöglichkeit andere Mächte derselben Großregion mehr oder weniger von sich abhängig machte. Insgesamt gibt es drei Großregionen mit je vier Teilregionen und eine Zwischenregion mit sechs Teilregionen. Für das Verhältnis der Großregionen zueinander ist diese Zwischenregion von besonderer Bedeutung, weil sie die Nord-Süd-Interventionsreichweite entscheidend beeinflusste.

Die erste Großregion besteht aus dem Band der Flussebenen des Nordens, das sich in einer Breite von rund 300 km und einer Länge von rund 3000 km von der Indusmündung bis zur Gangesmündung am Fuß der Gebirge entlangzieht. Die beiden anderen Großregionen sind die Ostküste und das Hochland, die von der Nordregion durch die rund 600 km breite und 1700 km lange Zwischenregion, die von Gujarat bis Orissa reicht, getrennt werden. Die vier Teilregionen der Nordebene sind das Kerngebiet des ersten Großreiches (Bihar, Bengalen), die mittlere Gangesebene zwischen Benares und Kanpur, die Zentralregion um Agra und Delhi und das Indusgebiet. Die Zwischenregion ist zugleich Mittler und Puffer zwischen der Nordregion und den Regionen des Südens. Sie ist öde und unwegsam, ein Rückzugsgebiet der Stammesbevölkerung. Noch heute enthält sie die größten Waldgebiete des sonst meist entwaldeten Indiens. Die Endpunkte dieser Region, die Küstenprovinzen Gujarat und Orissa im Westen und im Osten, sind auf jeweils besondere Weise von den anderen Regionen getrennt; Gujarat durch die Wüste im Norden und die Gebirge im Osten, Orissa durch Gebirge und reißende Flüsse, die die Verbindungen von Norden nach Süden oft monatelang unterbrechen können. Im Inneren der Zwischenregion gibt es vier voneinander isolierte Enklaven: die fruchtbare Ebene von Chattisgarh, die im Altertum den Namen Dakshina Kosala trug, Vidarbha, die Gegend um die heutige Stadt Nagpur, das Malwa-Plateau um Ujjain und Indore, im Altertum unter dem Namen Avanti bekannt, und schließlich das Land der Rajputen zwischen Udaipur und Jaipur. Natürlich gab es unter den Enklaven der Zwischenregion vielfältige Kulturkontakte. Einflüsse aus anderen Regionen wurden hier ebenfalls besonders gut bewahrt. Gujarat und Orissa waren darüber hinaus durch ihre Küstenlage geradezu prädestiniert, Verbindungen mit anderen Teilen Indiens und der Welt jenseits der Meere zu halten. Im politisch-militärischen Sinne war jedoch diese Zwischenregion eine große Barriere zwischen den Reichen des Nordens und des Südens.

Die vier Schwerpunkte der Hochlandregion des Südens sind die fruchtbare Gegend des Dekhan-Lava-Plateaus um Aurangabad und Paithan; die Zentralregion um Haiderabad, die auch die alten Hauptstädte Kalyani, Manyakheta und Bidar umfasst, die Region, die von Bijapur über Badami bis Vijayanagara die alten Zentren des südlichen Hochlandes enthält und das Gebiet um Mysore, einst Stammland der Hoysalas und später die Hochburg Tipu Sultans.

Die Küstenregion im Osten hat wiederum vier Schwerpunkte: Das Krishna-Godavari-Deltagebiet mit der alten Hauptstadt Vengi; Tondaimandalam, das Gebiet um Kanchi, Hauptstadt des Pallavareiches, das Kaveri-Delta, Kerngebiet des Colareiches, und das Gebiet um Madurai, Schwerpunkt des Pandya-Königreiches. Während die letzten drei Teilregionen unmittelbar aneinandergrenzen, schiebt sich zwischen die erste und die zweite wie ein Riegel ein Gebiet, in dem das Hochland nahe an die Küste heranreicht (Rayalaseema). An dieses Gebiet schließt sich übrigens im Westen eine Region an, die eine ähnliche Schwellenfunktion im Hochland hat, das Raichur Doab (Zweistromland) zwischen den Flüssen Krishna und Tungabhadra, ein altes Kulturland reich an Tempeln und vorgeschichtlichen Funden, das jedoch nie selbst zum Schwerpunkt eines Reiches wurde, dafür aber oft als Grenzgebiet umkämpft wurde. Hindukönige vermieden es, ihre Hauptstadt in der Nähe des Zusammenflusses zweier großer Flüsse zu errichten, denn diese Orte galten als heilig und waren Wallfahrtsstätten, zu denen man auch Rivalen den Zugang nicht verwehren durfte. Ein anderes bemerkenswertes Gebiet ist das zentrale Hinterland der drei südlichen Teilregionen, das Kongu-Land um Coimbatore, das offenbar schon im Altertum eine bedeutende Rolle gespielt hat, denn von den in Südindien gefundenen römischen Münzen befinden sich die meisten Fundstellen hier. Doch keine bedeutende Dynastie ist mit diesem Gebiet verbunden, es sei denn die der Kalabhras, die vom 4. bis 6. Jahrhundert auch die Ostküste beherrschten, deren Herkunft aber bisher noch nicht geklärt ist.

Die Westküste, die bisher nicht erwähnt wurde, kann im Zusammenhang der regionalen Machtkonzentrationen vernachlässigt werden, weil sie als schmaler, vielfach unterteilter Landstreifen am Fuße der schroffen Abhänge des Gebirges keinem Herrscher eine genügende Machtbasis bot. Als Mittler zwischen den Landmächten und den Einflüssen aus Übersee hat die Westküste jedoch eine bedeutende Rolle gespielt.

Die Hauptstädte der Königreiche, die in diesen regionalen Zentren entstanden, haben mit wenigen Ausnahmen die Jahrhunderte nicht überdauert. Heute künden oft nur ein paar Ruinen von ihnen, oder es gibt noch ein Dorf, das den großen alten Namen trägt. Diese Vergänglichkeit der Städte hat mehrere Gründe. Sie alle lebten vom Überschuss, den die Landwirtschaft erbringen musste, und verdankten ihr Dasein nur dem Herrscher, der es vermochte, diesen Überschuss an sich zu ziehen. Mit der Herrschaft vergingen auch diese Städte, und wenn in der betreffenden Region eine neue Dynastie aufstieg, baute sie meist eine neue Hauptstadt an anderer Stelle auf. Im zentralen Bereich der meisten Regionen gab es viele Stellen, die dafür geeignet waren, und dieser Bereich ist geradezu markiert durch die Häufung vergangener Hauptstädte. Nur in wenigen Ausnahmen zwang eine besonders günstige strategische Lage zum immer wiederholten Bau neuer Städte an einer bestimmten Stelle. Das Musterbeispiel hierfür ist Delhi, das auf der Schwelle zum fruchtbaren Doab, dem Zweistromland zwischen Yamuna und Ganges, liegt. Die Ausläufer der Aravalli-Hügelkette treten hier nahe an die Yamuna heran, die bei Delhi breit und flach dahinfließt – ein strategisch äußerst wichtiges Einfallstor, das dem, der es beherrschte, eine Schlüsselstellung sicherte. So findet man denn auch an dieser Stelle auf engstem Raum Dutzende alter Hauptstädte, die im Laufe von rund zwei Jahrtausenden über- und nebeneinander gebaut worden sind. Eine andere kontinuierliche Stadt dieser Art ist Patna, das alte Pataliputra, das auf einem Hochufer liegt und bei den großen Überschwemmungen der Monsunzeit wie eine Insel aus dem Flußmeer des Ganges hervorragt. Weder auf den Plateaus des Hochlandes noch in den Niederungen der Ostküste gibt es Städte, die mit solcher Zwangsläufigkeit immer wieder an derselben Stelle errichtet werden mussten. Das Regionalmuster blieb konstant, die Anordnung der Hauptstädte innerhalb der Regionen war zumeist beliebig.

Die großen Entfernungen, die die regionalen Zentren indischer Reiche voneinander trennten, bewirkten oft eine konfliktfreie Zeitgenossenschaft großer Herrscher des Nordens und des Südens oder des Westens und des Ostens. Interventionen jenseits der breiten Zwischenzone erwiesen sich immer wieder als problematisch. Die Lösung, ein Großreich von zwei Hauptstädten aus zu regieren, von denen die eine Delhi war, die andere, Daulatabad oder Aurangabad, 1000 km von Delhi entfernt in der ersten Teilregion des Hochlandes lag, war nie sehr lange erfolgreich. Auch die Zentren des Hochlandes und der Ostküste waren noch weit genug voneinander entfernt, um dauerhafte Eingriffe zu erschweren. So ist zum Beispiel Badami (Vatapi), die alte Hauptstadt der dritten Teilregion des Hochlandes, von den alten Hauptstädten der ersten und zweiten Teilregion der Ostküste jeweils 600 km entfernt. Nur das Krishna-Godavari-Delta geriet immer dann in Abhängigkeit von Herrschern des Hochlandes, wenn diese ihren Herrschaftsschwerpunkt in der Region Bidar-Haiderabad, die nur rund 300 km vom Delta entfernt ist, hatten.

Innerhalb jeder der drei Großregionen konnten Kämpfe um die Vormacht jedoch leicht ausgetragen werden, und sie führten, wie bereits gesagt, meist dazu, dass jeweils der Herrscher einer Teilregion sich die anderen Herrscher seiner Großregion unterwarf. Die Möglichkeit einer Konfrontation solcher Herrscher mit denen anderer Großregionen wurde dann entscheidend vom Zyklus der Vormachtkämpfe in den einzelnen Großregionen bestimmt. Hatte etwa ein starker Herrscher des südlichen Hochlandes in seiner Region die Vormacht errungen, während der mächtigste Herrscher des Nordens in der Region Delhi-Agra saß, dann war das Konfrontationspotential gering. Der Herrscher des südlichen Hochlandes richtete sein Augenmerk dann viel eher auf die Ostküste, und der des Nordens war zumeist in Auseinandersetzungen mit Herrschern der nördlichen Gebiete außerhalb Indiens verwickelt. Konstellationen wie die, die sich ergab, als eine mächtige Dynastie, die Rashtrakutas, im Zentrum des Hochlandes herrschten, während die Vormacht des Nordens, die Gurjara-Pratiharas, in der mittleren Gangesebene herrschten und es zu einer äußerst intensiven Konfrontation kam, waren daher recht selten.

Das Konfrontationspotential wuchs erst, als islamische Herrscher Nordindien mit neuen Methoden schneller, weit ausgreifender Kavallerieoffensiven eroberten und dann auch nach Süden vordrangen. Die Vergrößerung der interregionalen Interventionsreichweite durch die neue Art der Kriegführung bedeutete aber zunächst noch keine Ausdehnung der Herrschaftsreichweite, und das bisherige regionale Muster behielt weiterhin seine Gültigkeit, auch wenn die Akteure wechselten und Sultane anstelle der Maharajas die regionale Herrschaft ausübten. Alle Herrscher stellten sich nach und nach auf die neue Art der Kriegführung um. Diese Umstellung hatte jedoch wichtige strukturelle Konsequenzen. Aufgrund besonderer, noch ungeklärter Umweltbedingungen stieß die Zucht von Reitpferden in Indien auf Schwierigkeiten, und alle Herrscher waren daher vom Pferdeimport abhängig. Das wiederum bedingte, dass die Erhaltung von Kavalleriekontingenten in Indien eine sehr kostspielige Sache war. Die Herrscher versuchten, ihr Risiko auf diesem Gebiet zu mindern, indem sie ihre Offiziere verpflichteten, bestimmte Kontingente in eigener Verantwortung zu erstellen, dafür wurden sie mit entsprechenden Steuereinziehungsrechten entschädigt. Auf diese Weise entstand ein Kavalleriefeudalismus besonderer Art. Zugleich wurde die Herrschaftsschicht Indiens auf eine Kavalleriementalität festgelegt, die sich schließlich bei der Konfrontation mit der modernen europäischen Kriegführung als tödliche Verblendung erweisen sollte.

Der europäische Eingriff war nicht nur aus diesem Grunde fatal, sondern auch, weil er von der maritimen Peripherie ausging, der man in Indien bisher nur geringe Beachtung geschenkt hatte. Der Eingriff von der Peripherie her bedeutete die Überwindung des bisherigen, auf das Landesinnere bezogenen Orientierungsrahmens und damit auch des hier skizzierten Regionalmusters. Die Interventionsreichweite wurde plötzlich nicht nur durch eine neue Kriegführung, sondern durch die bewegliche Basis der Unternehmungen enorm gesteigert. Der Indische Ozean ist das umfassendste Element der indischen Umwelt, die Vernachlässigung dieser Tatsache hat schwerwiegende Folgen für den Verlauf der neueren Geschichte gehabt. Dabei fehlte es Indien nicht an Seefahrern, die Ausbreitung der indischen Kultur in Südostasien und der schwunghafte Seehandel mit allen Ländern Asiens zeugen davon. Die Flottenexpedition des Cola-Königs Rajendra nach Shrivijaya schließlich zeigt, dass man den Herrschern früherer Zeiten den Willen zur Seemacht nicht absprechen kann. Die Vernachlässigung des Ozeans ergab sich erst in späterer Zeit, als die Brahmanen ihn als «Kala pani» (schwarzes Wasser) bezeichneten, das kein rechtgläubiger Hindu überqueren dürfe, und als die islamische Herrschaftsschicht hochmütig auf jeden herabsah, der sich ihnen nicht auf dem Land und zu Pferd entgegenstellte.

Wenn auch die britische Eroberung Indiens von der maritimen Peripherie aus letztlich die regionalen Gesetzmäßigkeiten, von denen bisher die Rede war, überwand, so folgte sie doch zunächst einem Muster, das dem der Errichtung des ersten indischen Großreichs erstaunlich ähnlich sah. Dies ergab sich aus dem Umstand, dass die Briten von einem schwachen Herrscher, der das Zentrum seiner Herrschaft in der Region Delhi-Agra hatte, die Steuereinziehungsrechte für Bengalen und Bihar, die erste Teilregion des Nordens, bekamen und damit die Agrarbasis zur Verfügung hatten, die auch die Grundlage für das erste Großreich war. Sie eroberten dann nach und nach die übrigen Teile der Nordregion und stießen genau wie die Herrscher des ersten Großreichs unter Aussparung der Zwischenregion und des nördlichen Hochlandes von Osten her in das südliche Hochland vor. Damit hatten sie bereits um 1800 die wichtigsten Agrarregionen Indiens in der Hand. Diese Regionen blieben auch weiterhin die Hauptagrarbasis der britischen Herrschaft in Indien. So konnten sie es sich leisten, einige Zentren des Hochlandes und der Zwischenregion sowie Randgebiete an der Westküste unter der Herrschaft einheimischer Fürsten zu belassen, die freilich ganz und gar von ihnen abhängig waren. Mit der Einigung und Befriedung Indiens unter britischer Fremdherrschaft änderte sich auch die Nutzung der Agrarbasis. In früheren Epochen war diese Nutzung regional begrenzt. Die Herrscher gaben das, was sie in ihrer Region an sich brachten, auch dort wieder aus. Auch Großreiche, die mehrere Regionen umfassten, stützten ihre Zentralgewalt zumeist auf die Region, in der die Hauptstadt lag, und bezogen nur geringe Zuschüsse aus den anderen Regionen, die von Vasallen oder Gouverneuren regiert wurden, die zur Erfüllung der Aufgaben, die ihnen von der Zentralgewalt übertragen worden waren, auf ihre eigene regionale Agrarbasis angewiesen waren. Die Briten dagegen ließen sich einen hohen Tribut zollen und transferierten ihn zum großen Teil aus dem Lande. Ihre Gouverneure waren bürgerliche Beamte, die weder Hofstaat noch Truppen, weder Musiker noch Kunsthandwerker unterhielten, und dazu noch ihr Gehalt sparten, um sich im Ruhestand einen Landsitz in England leisten zu können. Die islamischen Herrscher Indiens hatten ein treffendes, ein wenig abschätziges Wort für die Gebiete, die außerhalb der Regierungszentren lagen: mofusil (das Getrennte). Unter britischer Herrschaft wurde praktisch ganz Indien «mofusil», mit Ausnahme der wenigen Herrschaftszentren, von denen die größten an der maritimen Peripherie lagen, weil sie ursprünglich Brückenköpfe der Seemacht gewesen waren. Die urbanen Zentren des Inlands verfielen, während diese Brückenköpfe zu riesigen Wasserköpfen wurden und schließlich mit Hilfe des sich rasch ausdehnenden Eisenbahnnetzes Export- und Importhandel dominierten. Die Fremdbestimmung der Entwicklung Indiens wurde auf diese Weise deutlich sichtbar.

Im unabhängigen Indien machte sich dann immer stärker der Einfluss der Industrialisierung bemerkbar. Eine Schwerindustrie entstand am Nordostrand der Zwischenzone in einer Gegend, die bisher ein Rückzugsgebiet von Stämmen gewesen war. Kohle- und Erzvorkommen in dieser Region gaben den Anlass zu dieser neuen Entwicklung. Auch andere Regionen des Inlands zeigten neue Ansätze urbanen Wachstums, aber die großen Hafenstädte blieben auch im unabhängigen Indien die Metropolen des Landes.

Bemerkenswerte Veränderungen lassen sich jedoch beim Anstieg der Bevölkerungsdichte in vielen Regionen Indiens feststellen. Über die Bevölkerungsentwicklung in früheren Jahrhunderten der indischen Geschichte wissen wir nur wenig. Sie kann nur aufgrund der Umweltbedingungen geschätzt werden. Die Reisanbaugebiete in der östlichen Gangesebene und an der Ostküste dürften schon seit langer Zeit dichter bevölkert gewesen sein als die Weizenanbaugebiete der westlichen Ebene, und diese wiederum waren volkreicher als das karge Hochland, auf dem zumeist Hirse angebaut wurde. Diese Bedingungen blieben auch unter der britischen Herrschaft mit wenigen Ausnahmen unverändert, da nur einige größere Bewässerungsanlagen gebaut wurden, die eine Intensivierung der Landwirtschaft ermöglichten. Die ersten umfassenden Volkszählungen fanden in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts statt. In diesen Jahrzehnten war ein langsames, aber stetiges Bevölkerungswachstum zu verzeichnen, das durch die Hungersnöte in den letzten Jahren des Jahrhunderts jedoch beeinträchtigt wurde. Die Volkszählung von 1901 reflektierte diesen Zustand. Betrachtet man die Gebiete, die damals bereits eine Bevölkerungsdichte von mehr als ca. 150 Menschen pro Quadratkilometer hatten, dann zeichnet sich ein recht deutliches und einfaches Muster ab: die ersten drei Teilregionen der Ebene, die ersten drei Teilregionen der Ostküste, der südlichste Streifen der Westküste und kleine Bezirke in den fruchtbaren Niederungen Gujarats. Dieses Muster dürfte auch für die vorigen Jahrhunderte gültig sein. Die Bevölkerungsdichte war früher sicher wesentlich geringer, aber der Vorsprung der bezeichneten Gebiete vor allen anderen geht vermutlich sehr weit zurück. Dieser Vorsprung ist auch bis in die Gegenwart erhalten geblieben, da aber seit 1921 das Bevölkerungswachstum ständig gestiegen ist, bedeutet dieser Vorsprung heute eher eine Belastung. Wo immer dies möglich ist, ringt man in den dicht bevölkerten Gebieten nun dem Boden zwei Ernten im Jahr ab. Einige der dicht bevölkerten Gebiete sind jedoch jetzt nicht mehr Regionen des raschesten Wachstums, stattdessen zeigen sich interessante neue Entwicklungen am Südrand der Gangesebene, im Westen und Süden des Hochlandes, in Gujarat und an der Nordostküste. Ein Blick auf die Gebiete, die bei der Volkszählung von 1971 mehr als ca. 150 Menschen pro Quadratkilometer hatten, zeigt diese Tendenz recht deutlich. Der gesamtindische Durchschnitt war 173 Menschen pro Quadratkilometer zu dieser Zeit. Die Gebietsgrenzen, die wir hier betrachten, bezeichnen also ungefähr die Grenze zwischen überdurchschnittlich und unterdurchschnittlich bevölkerten Regionen, und die Grenzverschiebungen sind in dieser Hinsicht von besonderer Bedeutung. Insbesondere das Bevölkerungswachstum auf dem Hochland, das in vergangenen Jahrhunderten immer nur dünn besiedelt war, zeigt einen Strukturwandel der regionalen Bevölkerungsverteilung an. Dieser Strukturwandel dürfte langfristig auch eine Verlagerung des politischen Gewichts der Regionen Indiens bedeuten. Bisher hat die große Nordprovinz, Uttar Pradesh, die die zweite und dritte Teilregion der Ebene umfasst, das größte Gewicht gehabt, in früheren Jahrhunderten durch ihre zentrale Lage und in neuester Zeit auch durch ihre große Bevölkerungszahl, der eine große Zahl von Abgeordneten und Ministern in der Bundeshauptstadt entspricht.