C.H.Beck
An den Ufern des Neckars, zwischen dem Schwenninger Moos und Mannheim, hat sich seit dem Mittelalter eine einzigartige Kulturlandschaft gebildet, die besonders im 19. und 20. Jahrhundert europäische Bedeutung gewann. Kaum eine Region hat für die intellektuelle Entwicklung Deutschlands eine vergleichbare Rolle gespielt, man denke nur an Hölderlin und Schiller, Waiblinger und Mörike, Kerner und Uhland, aber auch an Berthold Auerbach, Hilde Domin, Hermann Lenz und Siegfried Unseld. Tübingen und Heidelberg, Esslingen und Stuttgart, Ludwigsburg und Marbach – Jan Bürgers anschaulich, kenntnisreich und farbig erzähltes Buch über die historisch-kulturellen Dimensionen des Neckartals, das dem Flusslauf folgt und die zentralen Orte beschreibt, fordert geradezu dazu auf, selbst die Reise den Neckar entlang anzutreten.
Jan Bürger, 1968 geboren, wurde über Hans Henny Jahnn promoviert, gehörte zu den Gründungsredakteuren der Zeitschrift «Literaturen» und arbeitet seit 2002 am Deutschen Literaturarchiv Marbach. Wichtige Veröffentlichungen: Verlängerte Reise. Roman (2000), Der gestrandete Wal. Das maßlose Leben des Hans Henny Jahnn (2003), Benns Doppelleben (2006), Max Frisch: Das Tagebuch (2011). Bekannt wurde er auch durch zahlreiche Zeitungsbeiträge, u.a. für die «ZEIT» und die «FAZ».
Für Nicolas, Moritz und Anna
Dieser Fluß durchschneidet das Herzogthum dergestalt, von Mittag gegen Mitternacht, daß es fast in zwey gleiche Theile getheilet wird. Man möchte sagen, daß er seinen Namen von den alten Teutschen Wasser-Göttern, denen Necken habe, von denen sie geglaubet, dass sie in den Wassern der Bronnen und Flüsse sich aufhalten und in menschlicher Gestalt, jedoch mit ungeheuren Fisch-Schwänzen sehen lassen. Weil es aber nur ein zufälliger Gedanke ist, so läßt man es auf sich beruhen.
Christian Friderich Sattlers Historische Beschreibung des Herzogthums Würtemberg, 1752
Ohne Schiller wäre Goethe
eben nur die halbe Klassik.
Peter Rühmkorf, 2008
In der Schleuse
1. Tübingen
März 2011 ∼ Der Hölderlinturm ∼ Scardanellis ungebetene Gäste ∼ Wilhelm Waiblinger und sein krankes Idol ∼ Feuer im Klinikum ∼ Ein Gedächtnisort wird geschaffen
2. Nürtingen
April 2011 ∼ St. Laurentius und die Lateinschule ∼ Ende der Idylle: Der Fluss als Standortfaktor ∼ Mörike und ein Korb voller Handschriften ∼ Hölderlins ‹Nachtgesänge›
3. Esslingen
Hauffs Württemberg ∼ Mai 2011 ∼ Die älteste erhaltene Steinbrücke ∼ Mittelaltersehnsucht und Industrialisierung ∼ Alexander von Württemberg und Nikolaus Lenau ∼ Lyrik und Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg
4. Stuttgart und Cannstatt
Juni 2011 ∼ Samuel Beckett und die Neckarstraße ∼ Deutsche Verlags-Anstalt ∼ Süddeutscher Rundfunk ∼ Bäderstadt ∼ Schiller und Cotta auf dem Kahlenstein
5. Ludwigsburg und Marbach
Goethe auf Schillers Spuren ∼ Eine Oper aus Holz ∼ Hölderlin und die Weimarer Dioskuren ∼ Juli 2011 ∼ Geburt eines deutschen Helden ∼ Die Aufmärsche von 1934 ∼ Das Deutsche Literaturarchiv ∼ Schwabens höchster Berg
6. Heilbronn und seine Umgebung
Weinbau und Modernisierung ∼ Das Ende der Schifffahrt ∼ Die neue Bahn ∼ Ein Wiener Romancier im Kirchheimer Tunnel ∼ Mark Twain und die Flößer ∼ August 2011 ∼ Der größte Hafen
7. Von Weinsberg zur Abtei Neuburg
Weibertreu ∼ Kerner und die Seherin ∼ September 2011 ∼ Burg Hornberg ∼ Topografie der Romantik ∼ Buntsandstein und dunkle Wälder ∼ Séancen in Ziegelhausen
8. Heidelberg
Die Kreise von Max Weber und Stefan George ∼ Oktober 2011 ∼ Der spezielle Dreh ∼ Exil und Deportation: Heinrich Zimmer, Hilde Domin und Alfred Mombert ∼ Die Universität als Ruine
9. Mannheim
144 Quadrate ∼ November 2011 ∼ Mündung ∼ Kotzebues Tod ∼ Das Jahr ohne Sommer ∼ Drais auf dem Laufrad ∼ Bertha Benz fährt nach Pforzheim ∼ Schillers Erfolge und Rückschläge ∼ Malaria oder die Tücken der Flüsse
10. Vom Schwenninger Moos nach Sulz und darüber hinaus
Am Ursprung ∼ Zwischen den Jahren ∼ Bis zum offenen Meer: Wilhelm Hauffs Flößer ∼ Raubbau und Renaturierung ∼ Rottweil ∼ Erinnerungen an die Bernsteinschule
11. Nordstetten bei Horb
Februar 2012 ∼ Masken und Guggenmusik ∼ Berthold Auerbach ∼ Schwarzwälder Dorfgeschichten ∼ Die Stadt ohne Juden ∼ Veit Stoß, spurlos
12. Unter der Wurmlinger Kapelle
Wandern mit Hegel ∼ Uhlands Frühwerk ∼ Rudolf Schlichter in Württemberg ∼ März 2012 ∼ Hölderlins Neckar-Dichtungen ∼ Lenaus Abendstille ∼ Politik und Philologie ∼ Hesses Empfehlung
Anmerkungen
Ausgewählte Literatur
Dank
Bildnachweis
Register
Die Tore hinter dem Heck der ‹Hanna Krieger› haben sich leise geschlossen. Regelmäßig pendelt der 105 Meter lange Frachter zwischen Mannheim und Neckarsulm, beladen mit Kies, Sand oder Salz. In der Schleusenkammer ist es plötzlich still wie in einer Grotte. Die Mauern sind dunkel und feucht, es riecht nach Algen und Fisch. Aber die Morgensonne knallt auf das Deck, und über die Kieshügel im offenen Laderaum schießen blaue Libellen. Dann wird die Kammer gefüllt. Um den Bug herum brodelt und spritzt es wie in einem Whirlpool. Langsam steigt das Schiff in die Höhe.
Wer vom Rhein aus zum Ende des schiffbaren Neckars gelangen möchte, über Heilbronn hinaus bis in das 203 Kilometer entfernte Plochingen, muss dieses Ritual 27 Mal über sich ergehen lassen. So wird ein Höhenunterschied von 161 Metern überwunden. Um anschaulich zu machen, was das bedeutet, zieht man in Baden-Württemberg gern den Turm des Ulmer Münsters zum Vergleich heran: Denn dieser alles andere als bescheidene Ausdruck von Gottesfurcht und Bürgerstolz misst ebenfalls 161 Meter, und wie der streckenweise sehr unscheinbare Neckar gehört auch er zu den Wahrzeichen des Bundeslandes.
Baden-Württemberg verlässt der Neckar auf seinem 367 Kilometer langen Weg von Schwenningen nach Mannheim nur ein einziges Mal. Zahlreiche Bäche und kleinere Flüsse, darunter namhafte wie die Enz, die Rems, der Kocher und die Jagst, nimmt er dabei in sich auf. Das Gebiet, aus dem er sein Wasser bezieht, ist fast 14.000 Quadratkilometer groß. Es ist keine Frage, dass der Neckar den deutschen Südwesten entscheidend prägt. Dennoch wird er von den Menschen, die in seiner Nähe leben, heute oft nur wenig beachtet.
Das hat vor allem kulturelle Gründe: Im Laufe der Zeit verwandelte sich der einst so idyllische und stellenweise reißend-gefährliche Strom mit seinem Gefälle von über 600 Metern in eine Treppe mit zahlreichen Staustufen. Auf der Großschifffahrtsstraße sind einige von ihnen drei Meter hoch, andere aber auch zehn. Die meisten bestehen aus einem Wehr, einem Kraftwerk und einer Doppelschleuse, die weitgehend automatisch bedient wird. Früher gab es noch die ‹Mauerläufer›, die darauf achteten, dass kleine Boote zwischen den Toren nicht havarierten. Doch seit die Schleusen mit Kameras ausgestattet wurden, genügt ein Mann, um den Betrieb zu überwachen.
Dieser kanalisierte Fluss ist wohl niemandem so vertraut wie den Schleusenwärtern und Binnenschiffern. Für sie bestimmt er den Alltag. Mit einem unberührten Gewässer hatte er allerdings auch vor seiner technischen Hochrüstung nur noch wenig gemein. Das gesamte Neckartal trägt die Spuren einer jahrtausendealten Siedlungsgeschichte. Schon immer haben Menschen den Fluss genutzt und verändert. Wälder wurden gerodet und Sümpfe trockengelegt. Man errichtete Brücken, Mühlen und Wehre und begradigte bereits im Mittelalter einzelne Uferabschnitte. Bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde der Neckar aber erst im vergangenen Jahrhundert, als man ihn bis Plochingen schiffbar machte. Die radikale Umgestaltung unserer Flüsse ist ein typisches Kennzeichen des Industriezeitalters, nicht anders als der Eisenbahn- oder der moderne Straßenbau.[1]
Seitdem hat der Neckar nur noch entfernte Ähnlichkeit mit jener unberechenbaren Naturgewalt, als die er einst von sich reden machte. Heute ist er vor allem anderen ein Bauwerk, und als solches verbindet er eine Region, deren Bevölkerung im 20. Jahrhundert sprunghaft wuchs. Allein im Großraum der Landeshauptstadt Stuttgart leben derzeit etwa 2,7 Millionen Menschen, um 1900 waren es nur 770.000.[2] Für die Ökonomie gewann das württembergische Stammland zwischen Tübingen und Heilbronn ebenso wie das kurpfälzische Mannheim spätestens mit der Reichsgründung von 1871 und der Erfindung des Automobils europäische Bedeutung. Aber nicht nur das: Parallel zum industriellen Ballungsraum hat sich gleichsam auch eine intellektuelle Verdichtung herausgebildet, wie man sie ansonsten allenfalls aus Weltstädten kennt.
Zu Recht gilt das Neckartal als eine Landschaft der Erfinder, Denker und Dichter. Je weiter der Fluss sich von seinem Ursprung zwischen dem Schwarzwald und der Schwäbischen Alb entfernt, desto stärker wird er mit Geschichte aufgeladen, desto mehr Ereignisse und Biografien stehen mit ihm in Verbindung. Allein das in seiner Nähe entstandene literarische Leben war in den vergangenen 250 Jahren so facettenreich, dass eine ganze Bibliothek nötig wäre, wollte man es auch nur annähernd vollständig erfassen. Es war zwar der Mercedes-Stern, der den Neckar weltbekannt gemacht hat, die Dichtung aber erhob ihn zum kulturellen Monument.
Der vorliegende Versuch ist keine Kultur- oder Literaturgeschichte im herkömmlichen Sinne und auch keine ‹Biografie eines Flusses›, wie sie zum Beispiel Claudio Magris für die Donau oder Peter Ackroyd für die Themse auf sehr unterschiedliche Weise verfasst haben.[3] Ausgehend vom Anblick des Flusses im Laufe eines Jahres – vom Frühlingsanfang 2011 bis zum März 2012 – und von immer neuen Streifzügen durch die Literatur ist vielmehr ein Kaleidoskop mit zwölf beweglichen Plättchen entstanden, denen die Geistes-, die Landschafts- und Landesgeschichte auf exemplarische Weise eingeschrieben sind. Räumlich beginnt die literarische Reise am Hölderlinturm, sieben Stationen führen hinunter bis Mannheim, an den Ort von Schillers bahnbrechendem Erfolg mit den Räubern, um von dort aus ins Quellgebiet und schließlich nach Tübingen zurückzukehren.
Es dauert nicht einmal zehn Minuten, bis der Steuermann die Taue wieder löst, mit denen er die ‹Hanna Krieger› an der Schleusenwand gesichert hat. Vor dem Bug geben die Tore schon die Sicht auf das erstaunlich stille Oberwasser frei, in dem sich grandiose Wolkenberge spiegeln. Der Name Neckar soll keltischen Ursprungs sein und so viel wie der ‹Unbezähmbare› bedeuten. Auch das ist heute nur noch eine Reminiszenz an längst vergangene Zeiten, in denen der Fluss noch nicht in einen zuverlässigen Transportweg verwandelt werden konnte. Immer leichter fiel es den Menschen, natürliche Grenzen zu überschreiten. «Eng ist die Welt, und das Gehirn ist weit,/Leicht bei einander wohnen die Gedanken,/Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen,/Wo eines Platz nimmt, muß das andre rücken,/Wer nicht vertrieben sein will, muß vertreiben», lässt Schiller seinen Wallenstein sagen.[4] Pläne zu dieser Trilogie beschäftigten den bekanntesten schwäbischen Dramatiker, als er sich zum ersten Mal seit seiner Flucht wieder in seiner Heimat aufhielt. Das war im Herbst 1793, mehr dazu später.
März 2011 – Der Hölderlinturm – Scardanellis ungebetene Gäste – Wilhelm Waiblinger und sein krankes Idol – Feuer im Klinikum – Ein Gedächtnisort wird geschaffen
23. März 2011, eine Bank am Ufer unterhalb der Bursagasse: Gegenüber verdoppelt der Fluss den Anblick der Platanen. In ihren kahlen Kronen zetern Krähen. Es riecht nach Frühling, doch die Morgensonne ist noch winterlich schwach. Die dünnen Zweige einer Trauerweide zittern unter dem Gewicht einer Amsel und streifen mit ihrem frischen Grün beinahe die stille Wasseroberfläche. Zwei Enten, die Köpfe zwischen den Flügeln verborgen, lassen sich nicht aus der Ruhe bringen.
Am 20. März 1770 kam Friedrich Hölderlin in Lauffen am Neckar zur Welt. Gut 73 Jahre später, am 7. Juni 1843, starb er hier, in Tübingen, in jenem verwinkelten Gebäude am Fluss, das damals schon zu einem weithin bekannten literarischen Ort geworden war. In ihm verbrachte Hölderlin die Hälfte seines Lebens. Aber mit dem Dichter, der er einst gewesen war, hatte er in dieser Zeit nicht mehr viel gemein. «Man hatte sich hier so an sein stilles Daseyn gewöhnt», schrieb Gottlob Kemmler in seinem Nachruf, «daß uns am 8ten Juni die Nachricht von seinem in der verflossenen Nacht erfolgten Tode wirklich überraschte. Ein leichter Katarrh löste den schon so vielfach bestürmten Organismus ohne Schmerzen vollends auf.»[1] Kemmler war Student am nur wenige Schritte entfernten Evangelischen Stift, das 1536 als staatliche Ausbildungsstätte für den Theologennachwuchs begründet worden war und bis heute einer der wichtigsten Orte schwäbischer Gelehrsamkeit geblieben ist. Johannes Kepler und der einflussreiche Pietist Johann Albrecht Bengel zählten einst ebenso zu den Stiftlern wie Hölderlin und dessen Freunde Hegel und Schelling. Für Gottlob Kemmler scheint es selbstverständlich gewesen zu sein, sich gelegentlich in die Bursagasse zu begeben, um den greisen Dichter in Augenschein zu nehmen.
Im breitgetretenen Laub des vergangenen Herbstes glitzern Kronkorken wie Katzengold: ‹Veltins›, ‹Sanwald› und ‹Beck’s›. Für Kemmler und seine Kommilitonen gehörten Besuche bei Hölderlin zu den Ritualen des Tübinger Studentendaseins, fast so wie die notorischen Gelage. Die rostigen Metallringe in der betonierten Uferböschung, an denen im Sommer die berühmten Stocherkähne befestigt werden, gab es hingegen noch nicht – die Tradition des geselligen Bootfahrens ist in Tübingen nicht älter als die Versorgung der Haushalte mit Elektrizität. Erst nachdem der Lauf des Neckars zwischen 1909 und 1912 zum Schutz vor Hochwasser ‹korrigiert› und durch Schleusen und ein Wasserkraftwerk beruhigt worden war, richtete man die Landeplätze für Stocherkähne ein. Hölderlin wird, am Fenster stehend, vorwiegend Fischer und Flößer zu Gesicht bekommen haben, die auf dem Neckar stocherten.
War es wirklich nur seiner Krankheit geschuldet, dass er sich in seinen letzten Jahren Phantasienamen gab, seine sorgfältig ausgeführten Schriftproben, von denen sich einige erhalten haben, mit ‹Scardanelli› unterzeichnete und scheinbar willkürlich mit Daten aus der Vergangenheit oder der Zukunft versah? War das nicht auch der hilflose, selbstverständlich neurotische Versuch, sich dagegen aufzulehnen, in ein lebendes Exponat verwandelt worden zu sein – zum erschreckenden Schatten einer Künstlerexistenz, zu der Hölderlin selbst keinen Zugang mehr zu haben schien? War die «Anhänglichkeit», welche die «akademische Jugend dem wahnsinnigen Dichter in Tübingen bewahrt» hatte, wie Georg Herwegh bereits 1839 schrieb, wirklich nur «rührend» und der Begeisterung für Hölderlins Briefroman Hyperion geschuldet? Oder redete Herwegh in seinem revolutionären Überschwang Hölderlins Lage schön, indem er hoffte, es sei «mehr als Neugierde» gewesen, mit der die Studenten «zu dem 70jährigen Greise» pilgerten, der ihnen nichts mehr zu bieten hatte «als einige übelgegriffene Akkorde auf einem elenden Klaviere»?[2]
‹Der Sommer›, geschrieben von Hölderlin im Juli 1842
Zumindest der junge, 1823 geborene Kemmler wirkt in seinem Nachruf vor lauter Wohlwollen Hölderlin gegenüber vor allem eines – herablassend und übergriffig, wenn auch ungewollt. Der größte Lyriker des 19. Jahrhunderts ist in den Erinnerungen des Studenten am Ende kaum mehr als ein debiler Schausteller: «Das freundlichste Bild gab er uns in der lezten Zeit, wenn er, am Pulte stehend, seine Gedanken zum ‹dichtenden Gebet› zu sammeln rang; da war alle Aengstlichkeit von der gedrückten Stirne weggeflohen, und eine stille Freude verbreitete sich darüber; man mochte noch so laut um ihn her sich unterhalten, ihm über die Schulter sehen, nichts vermochte ihn da zu stören.»[3]
Auf diese Weise wurden dann Strophen wie die folgende überliefert, rhythmisch stimmig, makellos im Formalen und doch durch die Wiederholung eines äußerst beschränkten Motiv-Vorrats geradezu abstrus. ‹Scardanelli› datierte das Gedicht auf den 24. Mai 1758:
Der Sommer.
Im Thale rinnt der Bach, die Berg’ an hoher Seite,
Sie grünen weit umher an dieses Thales Breite,
Und Bäume mit dem Laube stehn gebreitet,
Daß fast verborgen dort der Bach hinunter gleitet.
So glänzt darob des schönen Sommers Sonne,
Daß fast zu eilen scheint des hellen Tages Wonne,
Der Abend mit der Frische kommt zu Ende,
Und trachtet, wie er das dem Menschen noch vollende.
mit Unterthänigkeit
Scardanelli.
Ferdinand Schimpf, ein weiterer Stiftler, stellte Hölderlins Datierung unter dem schlichten Gedicht richtig. In Wirklichkeit sei Der Sommer im Juli 1842 niedergeschrieben worden, ein knappes Jahr vor Hölderlins Tod. Schimpf gibt auch Auskunft darüber, wie das Blatt entstanden ist. Die Situation gleicht der von Kemmler beschriebenen: «Stud.[ent Friedrich] Habermaaß, der in Schreiner Zimmers Haus wohnte, machte mir und Freund Keller Gelegenheit, den wahnsinnigen Dichter H.[ölderlin] zu sehen u. zu sprechen, indem er denselben einlud in Habermaaß Zimmer eines Nachmittags einen Kaffee mit uns zu trinken. Bei dieser Gelegenheit schrieb uns auf Ersuchen der unglückliche Dichter obige Verse ex tempore nieder. Wenn wir ihn bei s.[einem] Namen nannten, ließ er’s nicht gelten, sondern erwiederte: ‹Sie sprechen mit HE. Rosetti.› Er war schrecklich komplimentös.»[4]
In der Regel waren es Hölderlins Zimmernachbarn, die den Kranken mit Fremden konfrontierten. Das von Schimpf überlieferte Blatt ist exemplarisch: Als Scardanelli, Rosetti oder Buonarotti richtete sich Hölderlin nicht nur in Parallelexistenzen ein, er behauptete auch, in einer anderen Zeit zu leben. Dabei fällt auf, dass er bei seinen fiktiven Datierungen oft den 24. eines Monats wählte. Möglicherweise spielte er damit auf Jesus Christus an. Aber wozu dies alles?
Vielleicht ist die Frage müßig, auf der Grundlage der wenigen überlieferten Zeugnisse wird wohl niemand den Sinn solcher Normabweichungen erschließen können. In den meisten Fällen lassen sich die Verse, die Hölderlin den ungeladenen Gästen mitgab, in ihrer verstörenden Luzidität immerhin mit der Neckarlandschaft in Verbindung bringen, mit dem Blick aus den Fenstern seines Asyls, mit der Nähe zum Schwarzwald, dessen Holz damals, zu gewaltigen Flößen zusammengebunden, den Fluss bis in den Rhein hinabgetrieben wurde.
Zu Hölderlins Zeiten war der Neckar vor allem ein Handelsweg: eine der wichtigen Wasserstraßen nach Holland, wo große Holzmengen für Schiffe und Häuser benötigt wurden, und damit zum Meer. Auch wenn Tübingen kein Floßlandeplatz war, vermittelte die Präsenz der Flößer im Alltag der Universitätsstadt eine Ahnung von einem vollkommen anderen Leben. Sie machten deutlich, wie eng der schwäbische Kosmos war, so eng, dass es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wahrscheinlich unmöglich war, in Tübingen zu studieren, ohne auf den kranken Dichter aufmerksam zu werden, der in unmittelbarer Nähe der wichtigsten Universitätsgebäude lebte.
Hölderlins Begegnungen mit seinen Besuchern verliefen keinesfalls immer harmonisch. Neben der fast stereotypen Idealisierung der ‹griechischen› Schönheit seines Gesichts, seiner hochgewölbten Stirn und seines Blicks, «an welchem der Wahnsinn keine Spur hinterlassen hatte»,[5] finden sich in mehreren Berichten auch Äußerungen über Wutausbrüche. Wenige Wochen vor seinem Tod soll er den Schriftsteller und Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer gar «hinter den Ofen» geworfen haben.[6]
Diese Darstellung könnte überzeichnet sein. Doch auch wenn Hölderlin Vischer tatsächlich angegriffen hat, so handelte es sich bei dem Vorfall sicher um eine Ausnahme. In den ersten Jahren seiner Krankheit soll er oft ‹getobt› haben, später aber muss er sich in der Regel recht friedfertig verhalten haben. Nur so konnte ihn die Familie des belesenen Schreinermeisters Ernst Zimmer, die ihn am 4. Mai 1807 in ihr Haus aufnahm, bei sich behalten.
Zuvor war Hölderlins Zustand im Klinikum von Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth, das zu den modernsten Krankenanstalten des Landes gehörte, immer bedenklicher geworden. Schließlich war der berühmte Mediziner mit seinem Latein am Ende und prognostizierte, dass der Dichter «höchstens noch drei Jahre leben» würde.[7] Zimmers Haus im ‹Zwingel› zwischen Stadtmauer und Neckar, das er erst kurz zuvor gekauft hatte, grenzte unmittelbar an den Garten des Klinikums.[8] Daher war es wahrscheinlich auch aus ärztlicher Sicht ein vergleichsweise geringes Wagnis, den schwierigen Patienten zu entlassen.
Anfangs hatte Hölderlin bei Zimmers noch das Bedürfnis zu schreiben, und er bemühte sich weiterhin um die Herausgabe seiner Werke. Es fehlte ihm dabei auch nicht an Unterstützern. Zu seinen frühen Besuchern gehörten die Dichter Ludwig Uhland und Justinus Kerner, Letzterer hatte als Medizinstudent im September und Oktober 1806 zeitweise Hölderlins Krankentagebuch führen müssen.
In den folgenden Jahren verschlechterte sich Hölderlins Zustand zusehends, darüber geben Zimmers Briefe an die Mutter des Dichters Auskunft. Sogar die von Uhland und Gustav Schwab 1826 bei Cotta herausgegebene Sammlung seiner Gedichte interessierte ihn kaum noch. Immerhin war sein Domizil im ersten Stock des turmartigen Gebäudes am Neckar keine unwürdige Behausung, sondern für den Kranken geradezu ein Glücksfall. «Hölderlin war und ist noch ein großer Natur Freund und kan in seinem Zimmer daß ganze Näkerthal samt dem Steinlacher Thal übersehen», schrieb Zimmer 1835 in einem Brief.[9] Der junge, 1804 in Heilbronn geborene und in Stuttgart und Reutlingen aufgewachsene Dichter Wilhelm Waiblinger, der Hölderlin am 3. Juli 1822 erstmals besuchte, zeigt sich in seinem Tagebuch geradezu überwältigt von dem gelassenen Umgang und der liebevollen Fürsorge, mit der insbesondere Zimmers «wunderhübsche» Tochter Christiane den Schöpfer des Hyperion behandelte.[10] Hölderlins kleiner Wohnraum war mit seinen weißen Wänden und den wenigen Möbeln spartanisch eingerichtet. Wie in einem Atelier bot er Platz zum Auf- und Abgehen, und das tat die «hagere», in Selbstgespräche vertiefte «Gestalt», so Waiblinger, stundenlang.[11]
Wilhelm Waiblinger, Selbstporträt aus der Tübinger Zeit
Brachte ihn Hölderlin anfangs noch «in Verwirrung», erwies sich Waiblinger im Umgang mit dem Kranken schon bald als überraschend einfühlsam.[12] Schenkt man seinen Aufzeichnungen Glauben, scheint es ihm immer wieder gelungen zu sein, Hölderlin für einige Stunden aus der Isolation seiner Wahnvorstellungen zu befreien. «Womit ich ihn am meisten vergnügte», berichtet Waiblinger, «das war ein hübsches Gartenhaus, das ich auf dem Österberg bewohnte, dasselbe, worin Wieland die Erstlinge seiner Muse niederschrieb. Hier hat man Aussicht über grüne freundliche Täler, die am Schlossberg emporgelagerte Stadt, die Krümmung des Neckars, viele lachende Dörfer und die Kette der Alb.»[13]
Bis heute prägen Waiblingers Aufzeichnungen unsere Vorstellung von Hölderlins letzten Jahrzehnten. Nicht nur in der biografischen Forschung werden sie immer wieder zitiert und variiert, sondern auch in Erzählungen wie jener, die Hermann Hesse 1913 über Waiblinger, dessen Studienfreund Eduard Mörike und Hölderlin im «Presselschen Gartenhaus» veröffentlichte. Hesse, der die Jahre 1895 bis 1898 als Lehrling in der Tübinger Buchhandlung Heckenhauer verbracht hatte, waren die Umgebung und auch das Evangelische Stift vertraut, diese «ehrwürdige Pflanzstätte der exzellentesten Geister», wie er seinen Mörike ironisch feststellen ließ.[14] Dennoch griff Hesse stärker auf seine Quellen als auf eigene Beobachtungen zurück und übernahm viele von Waiblingers Formulierungen fast wörtlich.
Wem Waiblingers Name um 1900 überhaupt noch etwas sagte, der kannte ihn vor allem als Exzentriker, gewissermaßen als den Punk unter den oft betulichen schwäbischen Romantikern. Seine «Geister» loderten, um ihn selbst zu zitieren, «wie angezündeter Branntwein».[15] Schon bei seiner Aufnahmeprüfung für das Stift wurden ihm die «Auswüchse einer zügellosen Phantasie» vorgeworfen.[16] Unter Studenten galt er hingegen spätestens seit der Veröffentlichung des an Hölderlin geschulten Briefromans Phaëton im renommierten Stuttgarter Verlag von Friedrich Franckh als genial – ein Ruf, den er voll auszukosten versuchte, indem er, darüber lassen seine Tagebücher wenig Zweifel, einen ausschweifenden Lebensstil anstrebte. Im «‹Museum› 2 Heringe gefressen, Bier gesoffen und geraucht –», hielt Waiblinger am 22. Dezember 1822 in Tübingen fest, «von 6–7 literarisches Gespräch – nach dem Fraß gegen 6 Schoppen Wasser gesoffen – ich und Mörike hinterm Pult: ich mit einem abgeschabten Magisterhut, wie ein Zigeuner, die Pfeife in der Physiognomie – Mörike mit hinunterhängenden Hosen, den Bauch aus dem Hemd streckend».[17] Unter dem 21. März 1823 heißt es: «Durch einen Gewaltstreich, durch eine wilde Tat der Verzweiflung muß ich dem dumpfen Streben, dem verglühenden Sehnen ein Ende machen. Ich muß frisch werden, mich toben lassen. Tübingen und die Universität ekelt mich an. Das stillt nicht, das befriedigt nicht. Oh könnt’ ich – hinausziehen durch alle Länder und Meere, das Wesen zu suchen, das mich liebt, das mein ist, das ich will!»[18] Als Waiblinger dies notierte, war er 18. Neben Verbalexzessen finden sich vor allem in seinen späteren Aufzeichnungen und Briefen für das Alter des Autors – er starb mit 25 in Rom – außerordentlich differenzierte Beobachtungen seelischer Zustände, und mit dem im Winter 1827/28 niedergeschriebenen Aufsatz Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn gelang ihm der bedeutendste Versuch über den Dichter zu dessen Lebzeiten.
Während die meisten Besucher Hölderlin aufgaben und ihn wahlweise als wahnsinnig oder geistig umnachtet bezeichneten, fühlte sich Waiblinger dem Dichter des Hyperion, mit dessen Werken ihn Uhland und Schwab bekannt gemacht hatten, von Anfang an verwandt. Bereits am 1. September 1822 stellte er jugendlich-pathetisch fest: «Sein Leben ist das große, furchtbare Rätsel der Menschheit. Dieser hohe Geist mußte untergehen oder er wäre – nicht so hoch gewesen. Was sind all’ die Poeten […] gegen ihn?»[19] Dabei stand es ihm fern, Hölderlins pathologischen Zustand zu verklären. Bereits unter dem 24. Oktober 1822 heißt es in seinem Tagebuch über einen Besuch bei dem Kranken: «Ich richtete viele Fragen an ihn, die ersten Worte, die er dann sprach, waren vernünftig, die andern fürchterlicher Unsinn.»[20] Fünf Jahre später, nachdem er Württemberg den Rücken gekehrt hatte, wollte er diesen «fürchterlichen Unsinn» und Hölderlins Elend auf dem Stand seiner psychologischen Kenntnisse rekapitulierend begreifen. Dabei suchte er die Hauptursachen für den Ausbruch von Hölderlins Krankheit in jenem Studium, unter dem er selbst wenige Jahre zuvor extrem gelitten hatte. Zumindest wirkte die theologische Ausbildung in Denkendorf, Maulbronn und Tübingen, davon war Waiblinger überzeugt, auf Hölderlin verheerend. Ohne ihre Zwänge hätte der Dichter möglicherweise gerettet werden können: «Hölderlins böses Geschick führte ihn in ein Seminarium, worin junge Leute für das Studium der Theologie vorbereitet und erzogen werden. Er wurde, wie er selbst in seinen spätern Jahren, ja noch zur Zeit seines Irrens sagte, von Außen bestimmt, und gezwungen, sich der Theologie zu widmen. Dies widersprach gänzlich seiner Neigung.»[21]
Waiblingers Einschätzung deckt sich mit den Zweifeln am Beruf des Pfarrers, die der junge Hölderlin im Frühjahr 1787 in Briefen andeutete. In der höheren Klosterschule in Maulbronn fühlte sich der 16-Jährige zwar nicht mehr ganz so eingeengt wie während der ersten Phase seiner Ausbildung in Denkendorf, aber nach wie vor deprimierte ihn das Klosterdasein – und das nicht nur, weil er sich bereits in jungen Jahren zum Dichter berufen fühlte, sondern auch wegen der praktischen Zumutungen: Oft scheint er schlicht Hunger gelitten zu haben.[22]
Auch der Wechsel ins Tübinger Stift brachte für Hölderlin keine wesentliche Verbesserung der Grundsituation mit sich. Waiblinger stellt diesen dritten und letzten Abschnitt der durch ein herzogliches Stipendium ermöglichten Ausbildung vor allem als Teil eines rigiden Zwangssystems dar. Damit schloss er sich den Überzeugungen jenes Kreises an, in dem sich der junge Hölderlin spätestens seit 1791 bewegt hatte.
Doch bei aller Repression war die klösterliche Welt des Stifts keine geschlossene Gesellschaft. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts machten die revolutionär-demokratischen Tendenzen auch vor seinen Mauern nicht Halt. In Hölderlins Umfeld gab es zahlreiche Anhänger Klopstocks und Kants, und auch die Französische Revolution ließ viele Studenten nicht unberührt, insbesondere nach dem Tod Karl Eugens im Jahre 1793, jenes Herzogs, der den Absolutismus wie kein anderer Schwabe verkörperte und der bis heute für seine märchenhafte Dekadenz und Maßlosigkeit berühmt geblieben ist, mit der er sein Land fast in den Ruin führte.[23] Bezeichnend dafür ist eine seit Generationen überlieferte Legende: Einmal soll er die Allee zwischen dem Ludwigsburger Schloss und der bei Stuttgart gelegenen Solitude mit Salz bestreut haben, um mitten im Sommer in einem von Hirschen gezogenen Schlitten an seinen staunenden Untertanen vorüberzugleiten. Dieses Ereignis, das Karl Eugens Lebenswandel wie kaum ein anderes anschaulich zu machen scheint, wird allerdings so nicht stattgefunden haben: Allein schon das Salz für die 13 Kilometer lange Strecke wäre damals nicht zu beschaffen gewesen.[24]
Tübingen, um 1790
Angesichts des Sturms auf die Bastille hatte Karl Eugen schon am 5. November 1789 bei seinem Besuch im Stift zu «strenger Ordnung und Gesetzlichkeit» gemahnt.[25] Durch die Französische Revolution wurde die Theologie für viele Studenten zur Nebensache, viel stärker interessierte man sich nun für französische Zeitschriften und für Jean-Jacques Rousseau. So ging es auch Hegel, Hölderlin und Schelling. Hegel galt als Jakobiner, Hölderlin machte aus seinem freiheitlichen Denken kein Geheimnis, und der junge Schelling wurde vom Herzog sogar – zu Unrecht – verdächtigt, die Marseillaise übersetzt zu haben. Das Stift selbst geriet dabei ins Kreuzfeuer der Kritik: Die Obrigkeit witterte in ihm eine Brutstätte der Demokratie, und eine Reihe von Studenten begehrte tatsächlich gegen die Zwänge ihrer Ausbildung auf, so etwa Louis Kerner, der zweitälteste Bruder des Dichters Justinus Kerner, der seinen Vater unverhohlen wissen ließ: «In dem Kerker dieses theologischen Stiftes schmachte ich nicht länger mehr. Die Zeit ist herangekommen, wo ein jeder ein freier Weltbürger ist. Ich habe mir einen Büchsenranzen gekauft, in diesen werde ich Kants Schriften packen und mit ihnen nach Paris wandern. Haben Sie was dagegen, so verstehen Sie den Zeitgeist nicht. Vive la liberté, vive la Nation!»[26]
Im Fall von Louis Kerner erschöpfte sich der revolutionäre Geist im Rhetorischen, denn er brach nie nach Paris auf, sondern wurde, wie sein Bruder Justinus in seinen Memoiren anmerkt, von der Mutter durch eine «Sendung Kuchen» wieder «fürs schwäbische Vaterland gewonnen».[27] Für immer.
Dennoch lassen Erinnerungen wie die von Justinus Kerner keinen Zweifel daran, dass die theologische Ausbildung im Stift spätestens seit Hölderlins Zeiten ähnliche Folgen haben konnte wie die militärische in der herzoglichen Hohen Karlsschule, deren berühmteste Zöglinge Schiller und der Bildhauer Johann Heinrich Dannecker waren. Schillers Flucht im Jahre 1782 war der besonders radikale Ausdruck einer allgemeinen Tendenz: Gerade die talentiertesten Studenten begehrten zumindest innerlich gegen ein System auf, das ihre intellektuellen Fähigkeiten einerseits förderte, andererseits aber auf die traditionellen Unterdrückungsinstrumente autoritärer Herrschaft setzte, vom Streichen des Tischweins über das Einschließen in den Karzer bis hin zur Exklusion aus der Gemeinde, die für viele zugleich das vorzeitige Ende ihres Berufswegs im Herzogtum Württemberg bedeutete.[28] Spätestens in den 1790er Jahren scheint immer mehr Stiftlern der Widerspruch zwischen den zum Teil überaus fortschrittlichen Studiengegenständen und den – um Waiblinger zu zitieren – «harte[n] Fesseln» der Erziehungsanstalten bewusst geworden zu sein.[29] Unstrittig ist, dass der junge Hölderlin besonders stark unter dem Druck des Stifts litt, in das er am 21. Oktober 1788 aufgenommen worden war.[30]
Demgegenüber klingt er in seinem einzigen erhaltenen Reisebericht aus dem vorangegangenen Juni ungewohnt optimistisch. Auf Einladung des Bräutigams seiner Cousine fuhr er für nur fünf Tage nach Speyer. Trotz der Kürze dieser Reise waren ihre Wirkungen enorm. Zum ersten Mal überschritt Hölderlin die Grenzen seiner Heimat – und zum ersten Mal gelangte er an die Ufer eines europäischen Hauptstroms. Im Vergleich zum «majestätischruhige[n] Rhein, so weit her, daß man die Schiffe kaum noch bemerkte», wirkte der Neckar auf den jungen Hölderlin plötzlich wie ein beschaulicher Bach:[31] «Man stelle sich vor – ein Strom, der dreimal breiter ist, als der Nekar, wo er am breitesten ist – dieser Strom von oben herab an beiden Ufern von Wäldern beschattet – und weiter hinab die Aussicht über ihn so lang, daß einem der Kopf schwindelte – das war ein Anblik – ich werd’ ihn nie vergessen, er rührte mich außerordentlich.»[32]
Das sind Worte eines sehr empfindsamen Beobachters, aber jeder wird den Schwindel eines 18-Jährigen nachvollziehen können, der plötzlich mit einem Naturphänomen wie dem Rhein konfrontiert wird. In den wenigen überlieferten Dokumenten aus dieser Zeit deutet noch nichts auf Hölderlins spätere Krankheit hin. Hier wirkt er tatsächlich noch wie jener «aufstrebende Jüngling», als den Waiblinger ihn beschreibt. Aber war es wirklich das Studium der Theologie, das Hölderlin auf die abschüssige Bahn gebracht hat?
Waiblinger, der immer auch ein Übertreibungskünstler war, behauptet, fünf Jahre lang den kranken Hölderlin regelmäßig gesehen zu haben. In Wirklichkeit werden es nur etwas mehr als vier Jahre gewesen sein, doch das ändert nichts daran, dass er sich offenbar so intensiv wie niemand sonst aus dem Stift um ihn bemüht hat. In dieser Zeit wurde ihm Hölderlin immer vertrauter, was nicht nur dem Kranken, sondern auch ihm selbst half: Nach und nach sei es ihm gelungen, das «Grauen» abzulegen, «das wir in der Nähe solcher unseligen Geister fühlen».[33]
Die Aufgabe, die Waiblinger sich gestellt hatte, war erstaunlich, auch wenn er sein Handeln rückblickend sicher idealisierte: Er hatte sich vorgenommen, den Verlauf der Psychose und die Ursachen für ihren Ausbruch nachzuvollziehen, im Grunde wollte er vorgehen wie ein Gesprächstherapeut. Wie Waiblinger selbst konstatiert, sei er mit diesem Vorhaben in seinen unsteten Tübinger Jahren allerdings gescheitert. Erst in der Distanz, als Ausgewanderter, sollte es ihm als «schlichte Charakterschilderung» und ein großartiges Beispiel biografischer Literatur gelingen.[34]
Waiblinger geht davon aus, dass sowohl die Anlagen für Hölderlins unvergleichliches Werk als auch jene für seine Krankheit in der Kindheit des Dichters zu suchen sind: «Denn die Keime, die ersten Gründe und Ursachen […] sind in den frühesten Entwicklungsjahren seines Lebens, ja gewissermaßen einzig und allein in der unselig feinen geistigen Organisation zu suchen, die bei allzuvielen Täuschungen, harten Ereignissen und traurigen Kombinationen äußerer Umstände sich endlich in sich selbst zerstörte.»[35]
Die ersten Schicksalsschläge, die Hölderlin trafen, waren 1772 der Verlust des Vaters in Lauffen und 1779 der ebenfalls viel zu frühe Tod des Stiefvaters in Nürtingen. Unklar ist, wie genau Waiblinger von diesen prägenden Erfahrungen wusste. Er geht davon aus, dass die entscheidenden psychischen Verletzungen dem Jungen erst später, während der theologischen Ausbildung, zugefügt worden sind, vor allem von unfähigen Pädagogen, die nicht in der Lage gewesen seien, mit den Eigentümlichkeiten ihrer Schüler umzugehen, und sie stattdessen behandelten, «als wenn sie nichts als gleich gebaute Uhren wären, deren Stahlfeder der Lehrer nach Belieben aufzöge».[36] An dieser Stelle wird besonders deutlich, wie stark Waiblingers Hölderlin-Porträt durch seine eigenen Erfahrungen in Tübingen geprägt wurde.
Im Stift zeigte sich, so Waiblinger, zum ersten Mal Hölderlins eigentümliche, über die Vorbilder Klopstock und Schiller hinausweisende Begabung. Auf der Grundlage mündlicher Auskünfte berichtet er, dass der Dichter bei seinen Kommilitonen durchaus beliebt und selbst normalerweise auch nicht «ungesellig» gewesen sei. Mitunter schottete sich Hölderlin aber damals schon wochenlang ab. Dann habe er sich mit niemandem mehr unterhalten, außer «mit seiner Mandoline, zu der er sang».[37] Während des Studiums begann auch seine Verehrung des Griechischen, das sich mehr und mehr zu einer inneren Gegenwirklichkeit entwickelte. Diese intellektuelle Abwendung von seiner Umwelt scheint Waiblinger damals schon nicht ungefährlich gewesen zu sein: «Wir sehen in diesem allmählich immer feindseligern Verhältnis, in das er sich zur Welt stellte, und das ihm gar nichts weniger als natürlich war, schon die ersten Anlässe zu dem traurigen Zustande, der sich auf diese Weise, schon in der Blüte seines Lebens, unter Verhältnissen, die allerdings für seine Phantasie, für seinen Stolz, seinen Ehrgeiz, seine Traumwelt nichts Reizendes hatten, […] trotz einer Zukunft voll weiter und schöner Hoffnungen allmählich vorbereitete.»[38] Möglicherweise hätten ihm Humor, Ironie und ein Talent zum Parodistischen helfen können – seine Anlagen aber seien ganz anders geartet gewesen. Hölderlin habe damals schon die tragische Welt des Hyperion in sich getragen, zumindest stamme die Idee zu seinem Hauptwerk aus dieser Zeit.
Eine weitere entscheidende Etappe auf Hölderlins Weg in den Wahnsinn war für Waiblinger, und hierin folgten ihm die meisten Hölderlin-Biografen, die unglückliche Liebe zu Susette Gontard, die zum wichtigsten Modell der Diotima im Hyperion wurde. Sie war die Gattin des Frankfurter Kaufmanns und Bankiers Jakob Gontard, in dessen Haus Hölderlin als Hofmeister angestellt gewesen war. Der Bruch mit Susette habe Hölderlin einen «Riß in seinem Innern» zugefügt, «der immer gefährlicher wurde». Nicht zuletzt drücke sich dieser Riss in der Dichtung des Hyperion aus, in der ein «dumpfer fürchterlicher Schmerz» vorherrsche: «Es lassen sich auf jeder Seite beinahe einige Gedanken finden, die gleichsam Prophezeiungen seines eigenen schrecklichen Schicksals sind.»[39] Hinzu kam, dass Hölderlin auch auf seinen folgenden Stationen wenig Glück beschieden war, trotz seiner ungeheuren Begabung und trotz der Fürsprache Schillers. Hätte er sich als Professor etablieren können, davon geht Waiblinger aus, wäre sein Leben ganz anders verlaufen. Doch Hölderlin fand keine Stelle, die ihm angemessen war. Besonders schmerzlich müsse für ihn gewesen sein, dass ihn sogar Goethe verkannte. Deshalb führten ihn seine Wege in die Schweiz und nach Frankreich – bis zum ersten Zusammenbruch.
Mitte Juni 1802 tauchte Hölderlin plötzlich wieder in seiner schwäbischen Heimat auf.[40] Waiblinger gibt eine ergreifende Erinnerung des Lyrikers Friedrich von Matthisson wieder, die fortan zum festen Bestandteil aller Hölderlin-Darstellungen wurde. Matthisson, der zu Hölderlins engen Studienfreunden gehörte, erzählte Waiblinger, «daß er ruhig in seinem Zimmer gesessen» habe, als plötzlich ein Mann bei ihm erschienen sei: «Er war leichenbleich, abgemagert, von hohlem wildem Auge, langem Haar und Bart, und gekleidet wie ein Bettler. Erschrocken hebt sich Herr von Matthisson auf, das schreckliche Bild anstarrend, das eine Zeitlang verweilt, ohne zu sprechen, sich ihm sodann nähert, über den Tisch hinüberneigt, häßliche ungeschnittene Nägel an den Fingern zeigt, und mit dumpfer geisterhafter Stimme murmelt: ‹Hölderlin›. Und sogleich ist die Erscheinung fort, und der bestürzte Herr hat Not, sich von dem Eindruck dieses Besuchs zu erholen. In Nürtingen bei seiner Mutter angelangt, jagte er sie und sämtliche Hausbewohner in der Raserei aus dem Hause.»[41]
Das war der Nullpunkt: Aus dem genialen Neckar-Hellenen war ein heruntergekommener Landstreicher geworden. Gefangen in seinen Wahnvorstellungen, zerrüttet und tobend gegen jeden, der ihm in den Weg kam, sogar gegen die eigene Mutter, hatte er kaum noch etwas gemein mit dem einst so einnehmenden Jüngling. Seine Einlieferung war von da an nur eine Frage der Zeit. Zwei Jahre dauerte es noch, bis er ins Autenrieth’sche Klinikum gebracht wurde, unter dem Vorwand, in der Universitätsstadt Bücher kaufen zu müssen.
Tübingen stand am Anfang von Hölderlins Elend, Tübingen stand am Ende. Waiblinger lernte ihn als umnachteten «Bibliothekar»[42] kennen. Das hinderte ihn aber nicht daran, sein eigenes Schicksal in Hölderlins Vita zu spiegeln. Auch seine eigene Begeisterung für die Vorzüge der Stadt und des Stifts hatte sich ja schnell verflüchtigt. Wenige Monate nach seinem Einzug konnte es ihn kaum noch trösten, dass man von der mit sieben anderen Studenten geteilten Stube aus einen weiten Blick hatte «über eine grüne, vom Neckar durchwundene, von einer Pappelallee durchkreuzte, in der Ferne durch hübsche Bergrücken, und drüber hinein durch einen Teil der malerisch gruppierten, den Tag über in den vielfachsten Farbentönen schwimmenden Alpen begrenzte Wiesenfläche».[43] Bereits im Sommer 1823 machte er sogar Ludwig Uhland gegenüber kein Geheimnis mehr aus seiner inneren Zerrissenheit: «Das Leben im Stift ist mir gar zu einförmig, zu kahl, zu farbenlos. Das Gestern wiederholt sich ewig im Heute. […] Nirgends find ich eine Wirksamkeit, die meinem Geiste einen freien Spielraum gestatten könnte. […] Ich habe hier nur zwei Menschen, die ein Licht in meine Seele werfen – einen feurigen Jüngling voll Geist und Leben, der dasselbe Streben mit mir teilt, […] und Hölderlin. Dieser Wahnsinnige, wenn er in meinem Gartenhaus am Fenster sitzt, ist mir oft mehr, ist mir oft näher, als Tausende, die bei Verstande sind.»
Bedenkenswerter noch als die Erwähnung des kranken Idols ist der darauf folgende Absatz des Briefes, in dem sich Waiblinger selbst zugleich als extrem begabt und als extrem gefährdet darstellt – eben als jungen Einzelgänger, dessen innere Disposition der Hölderlin’schen auf geradezu fatale Weise ähnelte, bis hin zu den Zweifeln an der christlichen Religion und damit an seinem eben erst begonnenen Studium: «Ich bin zwar noch jung und Sie sollten meinen, ich habe noch wenig zu klagen. Aber ich bin früher, als es gut war, ernst geworden, habe unsäglich viel verloren, da ich wirklich unsäglich viel besessen; mußte entsagen, sollte verschmerzen, und das machte mein Herz denn doch nicht wenig wund. Die schönste Blume meiner Jugend mußt’ ich hergeben. Einst hatte der Gott in mir gejauchzt und in der Wiege meines innersten Lebens das himmlische Kind meines sehnenden Geistes und seiner Schwestergeliebten, der unsterblichen Mutter Natur, die reine, ewige, geistige Liebe. Das ist vorüber.»[44]
Einige Wochen zuvor, am 26. Mai 1823, hatte Waiblinger seinen Debütroman Phaëton an Goethe nach Weimar geschickt, worauf der Großdichter nicht einmal mit einer Empfangsbestätigung reagierte. Das mag Waiblinger wiederum an Hölderlins Schicksal erinnert haben. Kaum anders verhielt es sich mit seiner ersten großen Liebe: Ende des Jahres, als sein Kontakt zu Hölderlin vielleicht am engsten war, lernte er Julie Michaelis kennen. Sie sollte seine Susette, seine Diotima werden. Julie war zwar ledig, aber fünf Jahre älter als Waiblinger und stammte aus einer konvertierten jüdischen Familie. Seit dem Frühjahr 1823 lebten sie und ihr Onkel Salomo, dem sie sich innig verbunden fühlte, im Tübinger Haus ihres Bruders Adolph. Adolph Michaelis war im Vorjahr Ordinarius für deutsches Recht und Kirchenrecht geworden, Salomo hatte seit Oktober 1810 einen Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur innegehabt, war aber 1822 vorzeitig pensioniert worden.[45]
Noch vor ihrer ersten gemeinsamen Nacht wurde das Liebesverhältnis zwischen Waiblinger und Julie Michaelis in Tübingen Stadtgespräch. Insbesondere Julies Bruder versuchte, die vermeintliche Mesalliance zu hintertreiben. Im Sommer 1824 eskalierte die Situation: Den 28. Juli, den Waiblinger mit Julie in Bad Imnau verbrachte, bezeichnete er in seinem Tagebuch noch als den glücklichsten Tag seines Lebens. Bereits am 29. Juli aber wendete sich das Blatt. «Der unglücklichste Tag meines Lebens!», hielt Waiblinger nun fest. «O ihr Täuschungen/O ich Narr –».[46] Am 1. August zwangen ihn Julies Verwandte zu einem «Schwur», die Geliebte zwei Jahre lang nicht mehr zu sehen. «Ich mußte sie mit einem gräßlichen Eid abschwören», erinnerte sich Waiblinger ein Jahr später an die bis dahin wohl schwerste Enttäuschung seines Lebens, «denn ich hatte es mit dunklen schrecklichen Menschen zu tun, die mir mit dem Leben drohten, und meine ganze Laufbahn zerstören wollten, und konnten – weil sie von Macht und Ansehn sind. Nun ward ich das Stadtgespräch, und was mir millionenfach peinlicher war, auch sie.»[47]
Unzählige Briefe soll Waiblinger in den wenigen Monaten ihrer Beziehung an Julie Michaelis geschrieben haben. Erhalten haben sich davon lediglich 13, doch sie vermitteln schon eine Ahnung davon, wie exaltiert und leidenschaftlich sich Waiblinger in diese Liebe gestürzt haben muss. Seine Gefühle setzte er absolut. Die Liebe und die Dichtung wollte er gewissermaßen als Gegengifte zum unfreien Leben im Stift und einem verlogenen institutionalisierten Christentum nutzen, von dem er sich innerlich längst losgesagt hatte. «Du bist meine auf die größte Weise, auf die eine weibliche Seele einer männlichen eigen sein kann», schwärmte er am 5. Juli 1824 in einem Brief an die Geliebte. «Unsere Liebe ist nur durch Größe, durch Tiefe, durch Würde, durch Heiligkeit. Dies ist mein unverbrüchlicher Glaube. […] Du kennst mich, Du meine zweite Seele! […] Ich will das Höchste, was der gottgeborene Mensch in der Vollkraft seines ewigen Daseins auf diesem Planeten des Widerstands und des Fesselzwangs erreichen kann. […] Der schöpferische Geist, der Dichter, ist glücklich. Auch Du bist Dichterin in einem weitern Sinne, Du hast mit mir an einer blühend schönen Welt geschaffen, die lauter Dichtkunst, die lebendige Dichtkunst selbst ist.»[48]
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