Dietrich Erben
ARCHITEKTURTHEORIE
Eine Geschichte von der Antike
bis zur Gegenwart
Verlag C.H.Beck
«Form follows function», «menschliche Proportionen» – manche Schlagworte der Architekturtheorie hat jeder im Ohr. Architekturtheorie setzt sich mit den fundamentalen Fragen des Bauens auseinander. Diese reichen von den idealen Formen über den Zweck der Bauwerke bis zum Verhältnis zwischen Architektur und Gesellschaft. Dietrich Erben gibt einen kompakten, luziden Überblick über die wichtigsten Ideen seit der Antike und zeichnet die vielstimmigen Diskussionen der Gegenwart nach. Dabei beschreibt er auch, in welcher Form diese Ideen in den berühmten Schriften zur Architekturtheorie präsentiert werden. Architekturtheorie ist aus der Anschauung gespeist und kann umgekehrt die stummen Bauten zum Sprechen bringen. Daher ist dieser Band auch eine anregende Anleitung zum Betrachten von gebauter Architektur.
Dietrich Erben ist Professor für Theorie und Geschichte von Architektur, Kunst und Design an der Technischen Universität München. Bei C.H.Beck ist von ihm u.a. erschienen: Die Kunst des Barock (2008).
I. Nachdenken über Architektur
Selbstbegründungen der Theorie
Text, Bild und Buch: Ein Beispiel
II. Vitruv und die Anfänge der Architekturtheorie
Geschichten vom Beginn des Bauens
Die Lesbarkeit der Architektur
III. Architekturtheorie zwischen Renaissance und Barock
Die Architektur der Gesellschaft bei Leon Battista Alberti
Der Körper der Architektur: Über Proportionen, Säulen und Fassaden
Bücher über das Bauen im Zeitalter des Buchdrucks
‹Architectura Universalis›
IV. Architektur in der Aufklärung
Traditionskritik durch Empirie
Auf der Suche nach der Historie
«Praktische Baukunst» und «Charakter»
V. Historismus, Technik und Globalisierung im 19. Jahrhundert
Die Gegenwart der Geschichte und die Aktualität des Stils
Weltarchitektur
Die Entdeckung des Raumes
VI. Moderne und Strukturalismus
Die Avantgarde und ihre Medien
Le Corbusier: «homme de lettres»
Geschichtsräume und Lebenswelt in der Nachkriegszeit
VII. Postmoderne und gebaute Umwelt in der Gegenwart
Die Versprechen der Kommunikation und das Ende der «großen Erzählungen»
Zwischen «Junkspace» und «Ort»
Dank
Bildnachweis
Literaturhinweise
In der griechischen Antike war der Theoretiker ein Berichterstatter. Der theōros wurde von seiner polis zu einer fernen Feierlichkeit abgesandt, damit er später davon in der Heimat erzählen konnte. Es handelte sich bei diesen Festen vor allem um Opferfeiern für eine Gottheit und um Orakelzeremonien, wie sie in Delphi stattfanden. Berichtet wurde darüber hinaus auch über die mit solchen religiösen Kulten verbundenen Theateraufführungen oder die ebenfalls anfänglich religiös inspirierten Wettkämpfe in Olympia. Allmählich löste sich der Begriff der theōria aus diesen sakralen Bezügen und wurde als Bezeichnung für jedweden Akt des reflektierten Zuschauens verwendet. Schon für Aristoteles ist Theorie die Lehre, die aus der Betrachtung gezogen werden kann. So zeichnet sich der ursprüngliche Status des Theoretikers dadurch aus, dass er zwar kein unmittelbarer Teilnehmer am Geschehen war, aber doch ein direkter Beobachter von Ereignissen und Dingen, die sein Publikum nicht kannte und von denen es durch seine Reden erfuhr.
Neben dieser sozialen Rollenverteilung ist an den archaischen Ursprüngen der Theorie vor allem die erzählerische Konstellation von Interesse. Die Herausforderungen, vor denen der theōros stand, lassen sich ebenso anschaulich wie grundsätzlich fassen und haben bis heute nichts von ihrer Relevanz eingebüßt. Die Nachträglichkeit der Schilderung setzt nicht nur eine geordnete Wahrnehmung des Gesehenen und Erlebten, sondern auch eine strukturierte Gedächtnisleistung voraus. Die Nahinformation und die auf sinnlich fassbaren Beobachtungen beruhende Empirie werden zu einem durch die Erzählung zugänglichen Fernwissen umgemünzt. Damit gehen unvermeidlich die Distanzierung von der Wirklichkeit und deren Abstraktion einher. Beides wird durch die Erweiterung des Adressatenkreises zusätzlich befördert. Subjektive Einsichten müssen nun für eine Publikumsmehrheit in eine erzählerische Form gebracht werden. Gemeint ist damit systematische, möglichst widerspruchsfreie Plausibilität einerseits; andererseits geht es um die Vergegenwärtigung der Beobachtung und letztlich um die Dramatisierung der ursprünglichen sinnlich vermittelten Beobachtung durch das Reden. Über all diesen durchaus taktischen Raffinessen schwebt das ernste Problem der Glaubwürdigkeit des Theoretikers und der Verlässlichkeit seiner theōria. Denn es versteht sich keineswegs von selbst, dass die Erzählungen des theōros überzeugen und vielleicht sogar Beifall finden. Wenn man ihm am Ende Glauben schenkt, dann beruht dies nicht nur auf der inneren Schlüssigkeit seines Berichts, sondern vielmehr noch auf dessen Form: das heißt auf der detailreichen Fülle seines Wissens, auf den raffinierten Volten im Argumentationsgang, den überraschenden rhetorischen Figuren und Bezügen, den wirkungsvollen bildlichen Ausschmückungen – mit einem Wort, auf der Schönheit seiner Theorie.
Auch von dieser Ästhetik der Architekturtheorie soll im vorliegenden Buch die Rede sein. Architekturtheorie ist sowohl eine Bezeichnung für die intellektuelle Auseinandersetzung mit der Architektur als auch eine Umschreibung für einen kaum überschaubaren Kosmos von Büchern. In ihnen dokumentiert sich das Nachdenken über Architektur sowohl in Texten als auch in Bildern. Die Autoren dieser Schriften – Autorinnen melden sich erst seit einigen Jahren und nur vereinzelt zu Wort, und Architekturtheorie ist wie das Bauwesen selbst bis heute eine Männerdomäne –, die Autoren also setzen sich mit unzähligen Sachfragen in Bezug auf die Profession der Architekten und die wissenschaftliche Disziplin der Architektur auseinander. Dementsprechend wird auch im Folgenden die Rede sein vom Ursprung des Bauens, von Baumaterialien und der konstruktiven Solidität eines Gebäudes, von Proportionen und Säulenordnungen, von funktionaler Zweckmäßigkeit, vom Verhältnis zwischen Architekt und Bauherrn, vom Zusammenhang zwischen Architektur und Gesellschaft. Architekturtheorie ist, wie jede Theorie, ein System von Aussagen, die sich gegenseitig begründen. Dabei kommt keine Theorie ohne Grundbegriffe aus, mit denen ein Programm erst formuliert werden kann; sie beruhen ihrerseits auf einem «Erfahrungsraum» und eröffnen einen «Erwartungshorizont» (Reinhart Koselleck).
Über diese Sachebene der Mitteilung hinaus soll aber auch die Art des Redens über die Architektur und die Machart der Bücher, in denen dies geschieht, nicht aus dem Blick geraten. Dieses Buch stellt daher immer wieder die Frage nach den kommunikativen Bedingungen von Architekturtheorie und den ästhetischen Besonderheiten dieses Theoriesektors. Architekturtheorie verzeichnet und erörtert den Wortschatz und die Grammatik der Sprache des Bauens. Wie ihr Gegenstand, die Architektur, unterliegt sie aber auch selbst, als Theorie, bestimmten Regeln der Mitteilung. So muss es also im Folgenden wenigstens andeutungsweise auch um institutionelle Milieus gehen, wie z.B. Humanistenzirkel und Fürstenhöfe, Akademien und Universitäten, Buchverlage und Architekturbüros. Überall dort wurde Architekturtheorie hervorgebracht. Zu berücksichtigen sind darüber hinaus die verschiedenen Textgattungen wie Traktat, Essay, Antikenpublikation oder Manifest, in denen sie ausgearbeitet wurde und wird, und damit auch die unterschiedlichen Adressaten wie Bauherren, Handwerker, Architekten oder allgemeines Publikum. Denn man hat Gattungen auch als «Verträge» beschrieben, also als Übereinkünfte zwischen Autor und Publikum innerhalb der jeweiligen Gesellschaftskontexte. Bei einem solchen Gattungsverständnis zeigt sich, dass sich bis heute jede Architekturtheorie mit den Erzählproblemen konfrontiert sieht, mit denen sich schon der erste theōros herumschlagen musste.
Dabei geht es sowohl um die direkte Ideologiekritik einzelner Theorieansätze, als auch um deren historische Einordnung und Kontextualisierung in weiteren Gesellschaftszusammenhängen. Diese Konstellation zwischen Ideen- und Gesellschaftsgeschichte entspricht nicht nur den methodischen Interessen des Verfassers. Sie leitet im Übrigen die Auswahl des Materials an, die bei einem handlichen Format wie dem vorliegenden selbstverständlich erforderlich ist. Wenn hier an einer konventionellen, um nicht zu sagen altmodischen Chronologie festgehalten wird, so steckt darin ein wesentliches Argument. Es besteht schlicht darin, dass sich ein Architekturtheoretiker fast immer auf den anderen beruft. Das heißt nicht (oder nicht nur), dass einer vom anderen abschreibt (was oft genug der Fall ist), sondern dass Architekturtheorie insgesamt ein Traditionsunternehmen ist. Sie stellt aber in jedem Einzelfall zugleich auch eine jeweils zeitgebundene Problemdiagnose. Eine geschichtliche Anordnung des Materials macht auf Anhieb verständlich, dass es sich bei der Architekturtheorie um einen, um ein stark strapaziertes Wort zu verwenden, Diskurs handelt, in dem die schriftlich und bildlich fixierte, zunehmend in besonderen Argumentationsweisen und einer Fachsprache systematisierte Reflexion über Architektur verstetigt wird. Dabei gehört es zu den Besonderheiten dieses Diskurses, dass das Alte durch das Neue nicht überschrieben wird, sondern in andauernden Akten kritischer Überprüfung erhalten bleibt. Das unterscheidet ihn von vielen anderen Wissenschafts- und Technikdiskursen wie der Medizin, der Physik oder dem Maschinenbau, in denen älteres Wissen oftmals radikal getilgt wird. Man wird in einem modernen schulmedizinischen Handbuch keinen Verweis mehr auf die antike Heilkunde finden, aber kaum eine aktuelle Bauentwurfslehre verzichtet auf Hinweise auf die epochalen, aus der römischen Kaiserzeit stammenden Zehn Bücher über die Architektur von Vitruv. Das Theoriegebäude der Architektur wurde also buchstäblich über Jahrhunderte hinweg ausgebessert und ertüchtigt, mit neuen Zugängen versehen, komfortabler ausgebaut, erweitert und aufgestockt. Aber der Ausgangsbau bleibt weiterhin sichtbar. Wie bei jedem Gebäude wird auch beim Kunstbau architekturtheoretischer Aussagen auf Haltbarkeit geachtet, und wie die Architektur selbst ist auch die zugehörige Theoriebildung eine ausgesprochen stabile Kulturtechnik.
Andrea Palladios Quattro libri dell’architettura (1570) sind mit ihren zahllosen Auflagen und Übersetzungen nicht nur eines der bekanntesten, sondern auch eines der einflussreichsten Architekturbücher. Sie wurden zu den Gründungsstatuten des Palladianismus, der sich nach dem Erscheinen des Werks für beinahe drei Jahrhunderte als klassizistische Stilrichtung in der Architektur Europas und Nordamerikas etablierte. Diese beispiellose Rezeption begründet sich entscheidend aus den Qualitäten des Textes und der Bilder, vor allem aus deren unübertroffenen inhaltlichen und formalen Prägnanz. So exzeptionell die Vier Bücher zur Architektur in ihrer Popularität und Wirkung sind, so exemplarisch sind sie aber auch im Hinblick auf das überaus kalkulierte Zusammenwirken inhaltlicher, formaler und medialer Gestaltungsaspekte des Buches selbst. Nach bedeutsamen Vorarbeiten anderer Autoren der Renaissance gewinnt Architekturtheorie durch den Traktat Palladios einen eigenen, bis heute bewahrten ästhetischen Anspruch, der hier einleitend kurz verdeutlicht werden soll.
In seinem Entstehungsmilieu ist Palladios Buch wie kaum eine andere architekturtheoretische Schrift mit der humanistischen Bildungsbewegung verbunden. Von seinen Förderern Giangiorgio Trissino, Alvise Cornaro und Daniele Barbaro wurde Palladio systematisch in das Studium der antiken Bauwerke sowie des Architekturtraktats von Vitruv eingeführt. Besonders eng war die Zusammenarbeit mit Barbaro, für dessen kommentierte Vitruv-Übersetzung (1556) Palladio Illustrationen anfertigte. Doch lässt der Autor der Quattro libri die Grenzen dieses exklusiven Milieus weit hinter sich. Im Vorwort zu seinem Traktat versichert Palladio dem Leser, er wolle jedwede Weitschweifigkeit vermeiden, eine geläufige Terminologie verwenden und die erörterten Sachverhalte durch die Bebilderung veranschaulichen. Seine Autorität als Verfasser begründet er mit dem Studium älterer Architekturschriften, seinem Expertenwissen, seiner Erfahrung in der eigenhändigen Vermessung von antiken Bauwerken und nicht zuletzt mit seinem Verständnis für die in den Ruinen immer noch verbürgte «römische Tugend und Größe». All dies erlaube es ihm, nun selbst «gut und anmutig zu bauen», was ihn als Autor im Gegenzug legitimiert, seine eigenen Entwürfe als verbindliche Modelle des Bauens vorzustellen.
Das Buch selbst ist wie ein Gebäude hierarchisch aufgebaut. Im ersten seiner Vier Bücher erörtert Palladio die Grundlagen des Bauens – es geht um Baumaterialien, die Anlage eines Hauses vom Fundament bis zum Dach und die regelgemäße Verwendung der Säulenordnungen als der wichtigsten Gestaltungselemente von Fassaden und Innenräumen. Das zweite Buch bildet mit der Präsentation der von Palladio entworfenen Privatbauten in der Stadt und auf dem Land das Kernstück des gesamten Traktats. Auch im dritten Buch über die öffentliche Profanarchitektur sind eigene Entwürfe eingearbeitet, so die berühmten Brückenprojekte Palladios und der Kommunalpalast von Vicenza, die sogenannte Basilica. Das vierte Buch widmet sich mit dem Tempelbau schließlich der ranghöchsten Bauaufgabe.
Die Quattro libri sind damit ein ebenso übersichtliches wie in seinem Umfang überschaubares Kompendium zu den wichtigsten Gebäudetypen, wobei den öffentlichen Gebäuden die privaten Stadtpaläste und die Villen an die Seite gestellt sind. Über diesen Sektor des Privatbaus war aus der Antike fast nichts bekannt, da bestenfalls vereinzelt Ruinen ausgegraben waren und Vitruv sich hierzu nicht ausführlicher geäußert hatte. So betrat Palladio Neuland, wobei er von der bereits reich entfalteten Bautradition der Frührenaissance im Palast- und Villenbau sowie von diesbezüglichen theoretischen Beiträgen vor allem von Leon Battista Alberti ausging. Er tat dies bei den beiden Bauaufgaben, die für die gesellschaftlichen Eliten seiner Zeit von größter Relevanz waren. Sein Traktat ist – auch darin liegt dessen beispielhafter Rang und Erfolg begründet – ein ebenso normatives wie praktisches Werk. Der allgemeinen Regel kunstvollen Bauens folgt deren konkrete Anwendung, und der ebenso theoretisch gebildete wie im Bauen erfahrene Autor denkt gleichermaßen über Schönheitslehren nach wie über die Anlage von Treppen und Toiletten in den Gebäuden.
Auf all diesen ganz unterschiedlichen Mitteilungsebenen stellen sich die Holzschnitte des Buches als ein unverzichtbares Medium der Anschauung dar. Die Illustrationen sind im Wortsinne die «Erhellungen» der schriftlich vorgetragenen Argumente. Bei der Vielzahl und Qualität der Holzschnitte konnte Palladio von den technischen Errungenschaften sowohl der Buch- als auch der Graphikherstellung profitieren. Die Architekturtraktate seiner Zeit zählen zu den am aufwendigsten gestalteten und gedruckten Fachbüchern überhaupt – konkurrenzfähig sind allenfalls geographische und medizinische Lehrbücher wie die im 16. Jahrhundert ebenfalls aufkommenden, reich mit Landkarten oder anatomischen Schautafeln bebilderten Atlanten. Dass Palladio seine eigenen Bauentwürfe für Paläste und Landhäuser als Modelle für diese beiden Bauaufgaben versteht, zeigt sich unmittelbar im Darstellungsstil der Holzschnitte. Gegenüber dem Planmaterial für die ausgeführten Gebäude haben die Darstellungen im Traktat teils erhebliche Überarbeitungen erfahren. Palladio tilgt Unregelmäßigkeiten im Grundriss, die oftmals durch den Baugrund oder die Übernahme bereits bestehender Gebäudeteile erzwungen waren. Er steigert die Größenverhältnisse, vermehrt den Bauschmuck der Ornamente und Statuen oder zeigt Bauten, die niemals fertiggestellt wurden, im Zustand der Vollendung. In analoger Weise verfährt er bei den äußerst detailreichen Darstellungen antiker Gebäude, die er nicht in ihrem damaligen Erhaltungszustand wiedergibt, sondern auf der Grundlage seiner eigenen Vermessungen der Ruinenreste modellhaft rekonstruiert. Wenn sich Palladio sowohl bei seinen eigenen Bauten als auch bei denjenigen der Antike nicht bedingungslos an den tatsächlichen Bestand hält, so fühlt er sich einer die Wirklichkeit überhöhenden Formidee verpflichtet und nicht modern gedachten wissenschaftlichen Maximen empirischer Genauigkeit.
In den einzelnen Gebäudedarstellungen gewinnt diese idealisierende Überarbeitung eine eindrucksvolle Anschaulichkeit. Die bei der Ortschaft Maser im Veneto gelegene Villa Barbaro (Abb. 1) gehört zu den berühmten Villenschöpfungen Palladios, in denen der Architekt das in der Mitte der Anlage gelegene Haupthaus mit den landwirtschaftlichen Nebengebäuden sowie den Hof- und Gartenanlagen zu einem harmonischen Ensemble vereint hat. Die Präsentation der Villa auf einer Buchseite der Quattro libri folgt beispielhaft einem Layout, das Palladio auch für andere Bauten verwendet. Mit der kurzen Texterläuterung am oberen Seitenrand korrespondiert die Gebäudeansicht am unteren Rand, und beide fixieren visuell die Text-Bild-Einheit. In der Mitte der Buchseite aber ist der Grundriss der Villa in geradezu majestätischer Weite ausgebreitet. In den Plan eingetragen sind neben den Gebäuden auch die Umfassungsmauern des Hofes und die hinter dem Haus gelegene, halbkreisförmige Brunnenanlage. Ansicht und Grundriss sind in der Breitenerstreckung und in den Binnenmaßen penibel aufeinander abgestimmt, was es dem Betrachter erleichtert, sich beim hohen Abstraktionsgrad der Darstellungen in Plan und Aufriss zurechtzufinden und sich beide in einer synchronisierenden Lektüre verständlich zu machen. Grundriss und Fassadenansicht sind damit strikt aufeinander bezogen, schweben aber gemeinsam mit den Zeilen des Textes auf dem Papiergrund. Palladio versagt sich jedwede illusionistischen Effekte, er verzichtet auf eine bildhafte Rahmung des Holzschnitts ebenso wie auf Angaben zur Topographie. Hierzu gibt er zwar Hinweise in der Texterläuterung, doch bei den Bildern sind die Mitspracherechte des Baugrundstücks verstummt. Wie der Gestaltungssatz der Buchstaben ist auch die Architektur, so müssen wir diese Darstellungsweise verstehen, gleichsam auf der leeren Buchseite entworfen. Palladio löst den Anspruch, die eigenen Entwürfe von Palästen und Villen seiner Leserschaft als mustergültige Lösungen dieser beiden Bauaufgaben zu vermitteln, nicht nur durch die perfektionierte Form ihrer Darstellung ein. Auch dadurch, dass er sie in der Bildwiedergabe den historischen Entstehungsbedingungen enthebt, werden die Bauwerke als ideale exempla verfügbar gemacht.
Wie jedes Buch unterliegen auch architekturtheoretische Fachbücher vielfältigen gesellschaftlichen Bedingungen. Im Falle von Palladios Quattro libri sind diese schlagwortartig zu benennen mit der sich von Vitruv herleitenden Gattungstradition des Architekturtraktats, dem Entstehungsmilieu der humanistischen Gelehrtenkreise, dem Adressatenmilieu einer ebenso gebildeten, in der Stadt wie auf dem Lande ansässigen patrizischen Oberschicht und schließlich mit den erfolgreichen Innovationen von Buchherstellung und Druckgraphik. Die Besonderheiten architekturtheoretischer Bücher liegen, wie sich ebenfalls bei Palladio zeigt, in einer recht speziellen Kompetenzzuweisung an Verfasser und Leser. So hat der Autor nicht nur den Text, sondern auch die Entwurfsvorlagen für die Illustrationen geliefert, er kann also als die Gestaltungsinstanz des gesamten Buches gelten. Der Benutzer des Buches ist gleichermaßen der Leser des Textes und der Betrachter der Illustrationen, und es ist ihm aufgegeben, die Gestaltungseinheit des Buches zu entschlüsseln und aus ihr für die mitgeteilten Inhalte Funken zu schlagen. All dies gilt in den Grundzügen nicht nur bis heute, sondern reicht im Prinzip zurück bis in die Anfänge der Architekturtheorie in der Antike.
Ohne Vitruv wäre die Geschichte der Architekturtheorie anders verlaufen. Selbst wenn man jedweder historischen Spekulation skeptisch gegenüber steht, gibt es an dieser Feststellung keinen Zweifel, denn zu übermächtig ist die immerhin seit zwei Jahrtausenden andauernde Auseinandersetzung mit den Zehn Büchern über die Architektur. Das Buch galt bis ins 19. Jahrhundert als unumstößliche Bezugsinstanz der Architekturlehre, wobei sich Verehrung und Schelte durchaus die Waage hielten. De architectura ist nicht nur ein grundlegender, sondern auch ein äußerst gründlicher Architekturtraktat. Das Werk ist inhaltlich als enzyklopädisches Handbuch organisiert, das den Anspruch universeller Bildung sowohl der Architekten- als auch der Bauherrnschaft und eines weiteren Benutzerkreises erhebt. Dargestellt wird das Tätigkeitsfeld des Architekten in der gesamten Breite der Fachgebiete vom Hochbau (aedificatio) bis zum Maschinen- und Wasserbau unter den vielfältigsten technischen, sozialen und ästhetischen Bedingungen. Dies lässt bereits die schematische Übersicht über die zehn Bücher (Kapitel) ermessen: I. Ausbildung des Architekten, ästhetische Grundbegriffe; II. Entstehung der Architektur; Baumaterial und Bautechnik; III.–IV. Tempelbau; V. Öffentliche Profanbauten; VI.–VII. Privathäuser; VIII. Wasserbau; IX. Astronomie und Zeitmessung; X. Mechanik und Maschinenbau.
Der Autor ist nur nach seinem lateinischen Gentilnamen Vitruvius bekannt, und alles, was wir von ihm wissen, erfahren wir ausschließlich aus seinem eigenen Werk. Vitruv war als – nicht sonderlich erfolgreicher – Architekt, Wasserbauingenieur und Waffenbauer unter Caesar und Kaiser Augustus tätig und vollendete die De architectura libri decem nach gut zehnjähriger Arbeitszeit um 23 v. Chr. Verstreut über das ganze Werk sind weitere autobiographische Angaben, so etwa zum Ausbildungsweg des Verfassers; in der Vorrede zum zweiten Buch sagt er über sich selbst, er sei «alt, klein und hässlich».
Nach dem, was wir heute darüber wissen, liegen die Anfänge der Architekturtheorie im Wesentlichen in Baubeschreibungen und Kommentaren zu einzelnen Bauwerken. Zu dieser Textform der Ekphrasis gehören z.B. die ausführlichen Beschreibungen des Salomonischen Tempelbezirks in Jerusalem im Alten Testament (u.a. 1 Könige 6–8; 2 Chronik 2–4; Ezechiel 40–44). Nach solchen vereinzelten Lobreden auf berühmte Gebäude sind es erst Vitruvs Zehn Bücher