Verlag C.H.Beck
Was wird man mit Fug und Recht von einer Kleinen Kulturgeschichte des Mittelalters erwarten dürfen? Geschichten von Rittern und Edelfräulein, Beispiele der Minnedichtung, Beschreibungen der Lebensverhältnisse in Burgen und Klöstern? Gewiss – diese Aspekte gehören dazu. Doch der Kreis, der auszumessen ist, um die Kultur dieser Epoche zu erfassen, reicht viel weiter und umschließt buchstäblich alle Lebensbereiche des Menschen: den Körper, seine Funktionen, Krankheit und Medizin, Ernährung und Versorgung, Kleidung, Bildung, Wissen, Kommunikation, Kunst, Vergnügungen und Askese, Wohnen, Handwerk, die dörfliche Welt ebenso wie die der Städte und der gestalteten Landschaft, Vorstellungen von Schönheit, Recht, Religion, Gottesferne und noch vieles andere mehr – einschließlich der Idee vom Paradies. Der Mittelalterforscher Karl Brunner lädt mit diesem informativen, lebendig geschriebenen Buch seine Leserinnen und Leser ein, die Kultur des Mittelalters neu zu entdecken.
Karl Brunner lehrte bis zu seiner Emeritierung als Professor für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Wien; von 2002 bis 2009 war er Direktor des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung.
Vorwort
I Der kulturell geformte Körper
Mikrokosmos
Organe und Körperfunktionen
Körpermetaphern
Elemente und Säfte
Typologie
Affekte – Gefühle
Arbeit
Lebens-Mittel
Essen
Trinken
Habitus
Schönheit
Kleidung
Lebenskreis
Zeugung, Schwangerschaft, Geburt
Kleinkind
Ausbildung
Rollenmuster
Krankheiten und Heilungen
Erbe, Heirat, Alter und Tod
Minne
Ritter
Dichter
Dame
II Haus und Hof
Bauernhof
Dorf
Markt
Burg
Versorgung, Abgaben und Dienste
Leben auf der Burg
Ausstattung
Unterhaltung: Klassische Stoffe und andere Dichtungen
Artus und Gral
Táin – Rinderraub
Nibelungenlied
Kudrun
Tristan
Herrscherkritik
Dietrich von Bern
Antike, Rom und Orient
Geistliche Dichtung
Geschichtsdichtung und didaktische Literatur
«Bauern»-Satiren
Vermittlung und Publikum
Eine Kulturlandschaft in der Provinz
III Kirche und Kloster
Die Räume
Innenräume
Sinn(en)-Räume
Das christliche Leben und seine Bauten
Spätantike Traditionen und Grundbegriffe
Renovatio Imperii: Romanik
Kirchenorganisation
Eine neue Sicht: Gotik
Klosterbauten
Askese
Frauenbewegungen
Kloster und Welt
Lateinische Schriftkultur
Schreibstoffe
Antikes Erbe
Diskurse der «Wahrheit»: Dialoge
Gebirge der Gelehrsamkeit
Briefliteratur
Predigten
Geschichtsschreibung
Biographien
Fachliteratur
Pragmatische Schriftlichkeit
Die Kirche und die «Anderen»
Heiden
Mission
Juden
Muslime
Neuerer, «Häretiker» und «Ketzer»
IV Die Stadt
Mauern, Tore und Türme
Flüsse und Umland
Der «ökologische Fußabdruck»
Straßen, Märkte, Plätze
Handel und Gewerbe
Zeit
Geld
Kreditwesen
Fernhandel
Gewerbe
Unterschichten und Randgruppen
Sondergruppen
Bürger
Der Dichter und Beobachter
Das Mittelalter der Bürger
V Fest – Turnier – Krieg
Kirchenfeste
Die Messfeier, der Spiegel aller Feste
Jahreskreis
Reliquien
Lebenskreis
Höfische Feste
Musik
Das Muster-Fest
Jagd
Hunde und Katzen
Turnier und Kampf
Zweikampf und Gottesurteil
Fehde
Krieg
Opfer
Romzug
Kreuzzüge
Abenteuer
VI Kultur-Landschaften
Landschaft und Weltbild
Römisches Erbe
Karolingische Reform
Millennium und ottonische Renovatio
Wald und Wildnis als Orte der Kultur
Das werdende Land
Netzwerke
Kirchenhoheit
Gerichte
Marken und Länder
Kolonisation
Bergbau und Landschaft
Akzente und Zeichen
Pilgerwege
Reisende und Straßen
Wasserwege
Das Paradies
Wege zum Paradies
Der Garten
Wiedergeburt und Neue Zeit
Literaturhinweise
Bildnachweis
Register
«Das» Mittelalter gibt es nicht, aber viele Klischees davon. Zuerst wollte man sich mit humanistischem Pathos oder aufgeklärtem Schaudern von der «Barbarei» der Vorfahren abheben. Dann träumten sich die Menschen in eine romantische Welt, wo all das, was sie von ihrer Gegenwart abstieß – vor allem die Folgen des Kapitalismus und der Industrialisierung –, noch nicht entfaltet war. Heute leben Jugendliche und solche, die es bleiben wollen, ihre manchmal gewalterfüllten Phantasien bei Computerspielen oder bei der Lektüre von Geschichten aus, die ihre Requisiten aus einem vermeintlichen Mittelalter entlehnen.
Der Epochenbegriff – von den Humanisten ursprünglich abwertend gemeint – hat sich nun einmal für das Jahrtausend zwischen 500 und 1500 n. Chr. eingebürgert. Der Historiker Jacques le Goff fand in dieser Zeit die Geburt Europas. Die Spuren des Mittelalters sind vielfältig und widersprüchlich, je nach Regionen, sozialen Ebenen und Interessen. In einem schmalen Bändchen eine «Kulturgeschichte des Mittelalters» zu schreiben, anstatt in dicken Bänden eine Vielzahl von Fachleuten zu bemühen, scheint auf den ersten Blick schwer zu bewältigen.
Da ist einmal nach dem Zeitraum zu fragen. Die Transformationen am Ende der Antike auf der einen Seite und zu Beginn der Frühen Neuzeit auf der anderen wären eigene Bücher wert. Die klassische Einteilung in Früh-, Hoch- und Spätmittelalter ist für die Sozial- und Kulturgeschichte wenig brauchbar. Eine westeuropäische Tradition kennt ein Erstes und ein Zweites Mittelalter. In Frankreich dauern aber Haut Moyen Âge und Bas Moyen Âge streng je 500 Jahre, und der Übergang wird meist mit dem Beginn der Dynastie der Kapetinger 987 markiert. Ich setze, mitteleuropäischen Gegebenheiten entsprechend, eine längere Übergangsphase zwischen Erstem und Zweitem Mittelalter im 13. Jahrhundert an. Im Ersten Mittelalter in diesem Sinn geht es vor allem um konkrete Netzwerke von Personen, im Zweiten erneuern sich unter schweren Geburtswehen die politischen Institutionen. Was das für die Kultur der Menschen bedeutete, wird zu zeigen sein.
Die zweite Frage, diejenige nach dem Raum, hat nicht bloß mit geschichtlichen Strukturen zu tun. Die Verlagerung des Schwerpunkts der Macht vom Mittelmeerraum in das Zentrum des europäischen Kontinents gibt den Ton an. Andere Kulturen wie die von Byzanz und den islamischen Ländern würden besondere Kompetenzen verlangen und eigene Bücher füllen. Die Sprachen der Quellen setzen dem Historiker Grenzen, denn nicht alles kann den Texten in der mittelalterlichen Universalsprache Latein entnommen werden.
Die Fachliteratur für alle in Frage kommenden Kulturen ist nahezu unüberschaubar. Die Untersuchung der Kulturgeschichte in den romanischen Ländern trug reiche Früchte; sehr viele dieser Bücher liegen auch in deutscher Übersetzung vor. Gerade für den durch die Erweiterung des gemeinsamen Europa wieder nahe an das Zentrum gerückten slawischen Bereich sind, ebenso wie für Ungarn, solche Übersetzungen unverzichtbar.
Schließlich stellt sich die Frage nach dem Gegenstand – Kultur: Ist das der Teppich, den sich die Menschen über den harten Boden des Alltags legen, um ihren Lebensraum bewohnbar zu machen? Oder ist der Alltag selbst, der von den meisten Menschen die ganze Lebenskraft verlangt, die menschliche Kultur schlechthin? Kultur steht sicherlich in einer konkreten Spannung zwischen diesen beiden Aspekten. Der Mensch gab den Wesen ihre Namen (Gen 2, 20), d.h., er erfüllte die Welt mit Bedeutung. Dann folgen in der Metaphorik der Bibel, die im Mittelalter vorherrscht, die Begründung des Geschlechts, die Erlaubnis, sich die Schöpfung dienstbar zu machen und sie zu hegen – das Wort Kultur kommt von lat. colere (bebauen, pflegen) –, sich zu vermehren, und schließlich der Sündenfall. Damit sind auch die Leitbegriffe der «Cultural Studies» angedeutet: Identität und Differenz, Gender und Sexualität und, wenigstens indirekt, Community.
Was dann von den Kulturen erhalten blieb, ist auch eine Frage der Macht. Mächtige setzen für Handelnde und Betroffene Zeichen der politischen und sozialen Orientierung und sorgen dafür, dass ihre Sichtweise aufgezeichnet wird. Die kulturelle Repräsentation richtet sich bei einer gesellschaftlichen Gruppe zugleich stabilisierend nach innen wie legitimierend nach außen. Kultur als Medium der Herrschaft kann zwar elitär angelegt sein, sie muss aber für viele beobachtbar sein und von vielen in ihren Grundzügen verstanden werden. Die meisten Quellen führen dementsprechend zu Kulturen der Oberschichten. Das reicht im weltlichen Bereich von den Kaisern und Königen über den Adel bis zu den Bauern, die in ihrem begrenzten Umfeld ja auch Macht ausübten. Der kirchliche Bereich ist zwar anders organisiert und hat andere Aufgaben, aber seine Funktionsträger gehören derselben Oberschicht an.
Bekannt ist die Brecht’sche Frage: Hatte Caesar nicht einen Koch dabei? Eine sorgsame Lektüre der Quellen fördert erstaunlich viele Informationen über die «Köchinnen und Köche» zu Tage, die politisches Handeln erst möglich machen. Aber man kann das Paradigma versuchsweise auch einmal umdrehen. Sind die Menschen, die uns als Akteure vorgeführt werden, nicht oft geradezu Marionetten am Draht der Interessen größerer, oft anonym bleibender Personengruppen?
In jedem Kapitel habe ich mich bemüht, zu Beginn jenen Faktoren nahezukommen, die alle oder wenigstens viele Menschen betreffen. Ich beginne daher mit den materiellen Voraussetzungen. Daraus erst erwächst und darauf ruht die «Hochkultur», z.B. die höfische oder die der Gelehrten und Künstler. Die durch sie gesetzte symbolische Ordnung beeinflusst ihrerseits wieder den Lebensalltag, nicht nur für die Eliten.
Der Umfang des Bändchens ist beschränkt, aber diese Beschränkung macht Sinn, wenn es gelingt, einen Text zum Lesen und nicht bloß zum Nachschlagen zu gestalten. Wer dann noch nicht genug hat, wird die weiterführende Literatur aufsuchen oder ein paar Jahre warten müssen, bis ich alle meine Fundstücke mit dem entsprechenden wissenschaftlichen Apparat in einem umfangreicheren Werk ausbreiten kann.
Es gibt nur eine Methode, komplexe Zusammenhänge in überschaubarer Form vorzulegen: Man muss sie erzählen. Dabei ist mir bewusst, dass es auch dieses Mittelalter, von dem ich berichte, nicht wirklich «gibt». Man kann das meiste sicher auch ganz anders und mit anderen Beispielen darstellen. Dieser Text ist die Frucht einer lebenslangen Auseinandersetzung mit mittelalterlichen Quellen sowie der Forschungsliteratur und des lehrreichen Austauschs in Gesprächen. Was ich damit für die Leserinnen und Leser zu gestalten hoffe, sind – im Sinne Max Webers (Wissenschaftslehre 181) – idealtypische Bilder. Vielleicht macht ihre Betrachtung einfach Vergnügen. Vielleicht lassen sich mit ihrer Hilfe aber auch altes Herkommen und Überreste, Vorstellungen und Vorurteile kritisch einordnen und verstehen.
Es gilt noch zu danken, einerseits den zahlreichen Wegbegleiterinnen und -begleitern im Laufe einer langen akademischen Tätigkeit, andererseits jenen, die mir durch kritische Lektüre bei diesem Buch geholfen haben: allen voran meiner Frau, den treuen Vor-Leserinnen und Lesern Eva Cescutti, Andrea Griesebner, Georg Hauptfeld, Bernhard Kuschey, Christina Lutter, Luzian Paula, Herwig Weigl – dem ich besonders viele Anregungen verdanke –, Alexander Weiger und, last but not least, dem kundigen Lektor Stefan von der Lahr.
Der erste Schauplatz der Kultur ist, wie wir von den ältesten Kunstwerken der Menschheit wie der Venus von Willendorf (um 25.000 v. Chr.) und aus eigener Erfahrung wissen, der Körper selbst. Er wird von Zeit, Ort und sozialem Umfeld vielfältig geprägt: Nahrung, Erziehung und Lebensumstände schreiben sich in den Körper ein, die Vorstellungen von den Organen beeinflussen sogar indirekt ihre Funktionen. Menschen versuchen, ihn durch Übung zu einem tauglichen Werkzeug zu machen und zeitgenössischen Schönheitsidealen nahezukommen, nicht zuletzt mit Hilfe von Kleidung, allerlei Schmuck und Zierrat.
Mittelalterliche Gelehrte sehen im menschlichen Körper einen Mikrokosmos, in dem sich die Umwelt widerspiegelt: Aus der Erde hat er das Fleisch, aus dem Wasser das Blut, aus der Luft den Atem und aus dem Feuer die Wärme. Wie in der Natur befinden sich die Elemente im lebendigen Körper in einer wechselvollen Spannung. Des Menschen Kopf ist rund wie die Himmelssphären, die Augen glänzen wie Sternenlichter. Die Luft dient dem Hören, die Winde dem Riechen, der Tau wird mit dem Geschmack in Verbindung gebracht. Im Körper arbeiten die verschiedensten officinae, Werkstätten, die ihm das Leben ermöglichen. Nach außen gleicht er einer Stadt, wehrhaft und gut ausgerüstet.
Als die vier wichtigsten Organe gelten das Gehirn mit den Nerven, das Herz mit den Arterien, die Leber mit den Venen – ohne diese drei kann der Mensch nicht leben – und die Geschlechtsorgane, ohne die ein Einzelner zwar leben kann, aber nicht die Menschheit als Ganzes.
Die Persönlichkeit wird zumeist in Herz, Seele bzw. Willen und Verstand aufgefächert. Das Herz gilt als Sitz des Verstehens, die Seele wird mit dem Willen verbunden, der die Sinne zügeln soll, und der Verstand beruht auf dem Erinnern, der memoria. Das biblische Bild von Herz und Nieren, die Gott am Menschen prüft (Ps 7, 10 und 26, 2), ist weit verbreitet. Die Nieren galten als Ausgangsort der Körpersäfte (vgl. S. 17) und waren in manchen Vorstellungen Sitz des Denkens und Empfindens, aber auch Orte des Leidens.
Die körperlichen Unterschiede der Geschlechter hat man zumeist stark vereinfacht, unter anderem bis hin zu einem Ein-Geschlechter-Modell (Laqueur): Was der Mann außen hat, habe die Frau innen. Die Menstruation galt als Reinigung, der Mann muss stattdessen schwitzen. Frauen galten nach der Säftelehre als eher «feucht», Männer als eher «trocken».
Die Funktion des weiblichen Eis bei Säugetieren und damit auch bei Menschen wurde erst 1828 von Karl Ernst Baer entdeckt. Bis dahin stellte man sich die Befruchtung nach dem Modell der Aussaat vor: Der männliche Samen werde in den Leib der Frau wie in einen Acker gelegt und bekomme von ihr das Fleisch. Diese Denkfigur legitimierte scheinbar die Überbetonung der männlichen Abstammungslinien. Um «aufzugehen», benötigte der Samen die nötige Feuchte, d.h., die Frau musste bei der Vereinigung Lust empfinden. Das mag auf den ersten Blick positiv klingen, hatte aber auch schreckliche Konsequenzen, die bis ins 19. Jahrhundert nachweisbar sind: Eine Frau, die bei einer Vergewaltigung empfangen hatte, habe dabei Lust empfunden, glaubte man und verachtete dafür das Opfer noch. Auch in der Theologie kam die Samen-Metapher zur Anwendung: Jesus, meint z.B. Hildegard von Bingen († 1179) ganz im Sinne der herrschenden Lehre, bekam das Fleisch von seiner Mutter, das Wesen aber hatte er vom Heiligen Geist.
Dennoch wurde die Schuld für Unfruchtbarkeit meistens den Frauen angelastet. Der «Samen» des Mannes – dessen Zusammensetzung man nicht kannte – war ja merkbar geflossen. Dass auch er unfruchtbar sein könnte, zog man kaum in Betracht. Entgegen dem kirchlichen Scheidungsverbot versuchten daher Adelige und Herrscher bis ins 12. Jahrhundert, sich von vermeintlich unfruchtbaren Frauen zu trennen. Wir kennen einige Fälle, bei denen dann die Frau mit einem anderen Mann durchaus Kinder bekam.
Zahlreiche politische Metaphern bedienten sich des Konzeptes, das man von der Natur des Körpers hatte. Die berühmten antiken Beispiele wirkten im Mittelalter nach. Menenius Agrippa verglich, so der Historiograph Livius († 17 n.), in einer Rede 494 v. Chr. den Staat mit einem Körper, der nur funktionieren könne, wenn alle seine Teile, die arbeitenden Glieder wie der verarbeitende Magen, zusammenspielten: So seien auch die verschiedenen Stände aufeinander angewiesen (II 32). Ähnlich verglich der Apostel Paulus die Kirche mit einem Leib, dessen Glieder «einträchtig füreinander sorgen» sollten (1 Kor 12, 12–30). Nicht alle könnten Apostel, Propheten oder Lehrer sein. Diese Bilder begründeten eine Tradition, in der das jeweils herrschende politische System als «natürlich» legitimiert wird; der jeweilige Herr ist dann der dominus naturalis.
Der Blick auf die Natur war wiederum stark von den politischen Vorstellungen geprägt. Nach antikem Vorbild glaubte man beispielsweise, das Bienenvolk werde von einem König regiert. Obwohl die Imkerei zu einem der ältesten nachweisbaren Gewerbe zählt, hat man der Bezeichnung «König» den Vorzug gegeben, ohne das Geschlecht zu untersuchen. Bis heute heißt die Bienenkönigin in der Imkersprache «der» Weisel.
Im erwähnten Korintherbrief findet sich auch die berühmte Aussage, der Mann sei das Haupt der Frau (11, 3). Wie so oft, muss man den ganzen Satz lesen, um den Sinn zu verstehen: «Ihr aber sollt wissen, dass Christus das Haupt des Mannes ist, der Mann das Haupt der Frau und Gott das Haupt Christi.» Im letzten Satzteil liegt die Lösung verborgen, denn Gott und sein Sohn sind wesensgleich, dementsprechend auch Mann und Frau. Das wurde zu gunsten der Legitimation einer «natürlichen» Herrschaft der Männer über die Frauen gerne übersehen. Die Bibel wurde von Männern so gelesen, dass sie eine geringere Stellung der Frauen rechtfertigte; solche Interpretationen standen im Mittelalter im Vordergrund.
man und wîp diu sint al ein; |
Mann und Frau sind ein Leib. Das ist |
Wolfram, Parzival 173, 1-5
Dennoch ist es aufschlussreich, zu sehen, dass es nicht nur diese Sichtweise gab. Aus dem bekannten zweiten, aber älteren Schöpfungsbericht, in dem Eva aus der Rippe Adams geformt wird (Gen 2, 21–23), schließt der bedeutende Lehrer der Kathedralschule in Paris, Petrus Lombardus († um 1160), in guter Tradition, die bis auf den Kirchenvater Augustinus († 430) zurückgeht, das sei ein Zeichen der Liebe: Dem Adam sei weder eine Herrin noch eine Magd, sondern eine Gefährtin gegeben worden (Sentenzen II 18, 2), denn die Rippe stehe dem Herzen nahe. Kein Geringerer als der Dichter Wolfram von Eschenbach († um 1220) legt dem Lehrer Parzivals, Gurnemanz, folgende Botschaft in den Mund: Einen bekannten Witz überliefert auch die Schriftstellerin Christine de Pizan († 1430): Für den Mann habe der Lehm genügt, für die Frau musste es edleres Material sein. Dazu passt der hintergründige Scherz, für Evas Verführung habe sich der Teufel persönlich bemüht, bei Adam genügte seine Frau.
Die von der antiken Medizin geprägten Erkenntnisse und Vorstellungen über Arbeitsweisen und Funktionen der verschiedenen Organe des menschlichen Körpers blieben – wenigstens in gebildeten Kreisen – im Mittelalter weiterhin Standard, wurden aber zumeist stark vereinfacht: Wie die Welt insgesamt besteht auch der Körper, wie bereits gesagt, aus den ursprünglichen vier Elementen, also Feuer, Luft, Wasser und Erde, die aber stets in einem speziellen Mischungsverhältnis auftreten und sich durch Verdichtung und Verdünnung ineinander verwandeln können. Dazu kommen die Qualitäten trocken, kalt, feucht und heiß.
Alle Körperfunktionen werden bestimmt von den vier Körpersäften, die schon in der Antike in der hippokratischen Schule aus einer Vielfalt von Wirkkräften als die wichtigsten herausgehoben wurden: das Blut, sanguis, die roten Gallsäfte, cholera rubea, die schwarzen Gallsäfte, melancholia, und die Schleime, phlegmata, die erst nach dem Sündenfall entstanden. Ist der Mensch gesund, sind diese Säfte maßvoll vorhanden und in rechter Weise gemischt. Auf dieser Vorstellung beruht die Lehre von den «Temperamenten» (temperare, mäßigen, in das richtige Maß setzen).
Aus dieser Säftelehre ergibt sich eine Typologie, die wir noch heute verwenden, ohne viel über den kulturgeschichtlichen Hintergrund nachzudenken: Die Sanguiniker (heiß und feucht) sind nach Hildegard von Bingen heiter, barmherzig, geschwätzig, lachen gerne und sind sexuell aktiv. Die Choleriker (heiß und trocken) sind mager, gefräßig, schnell, tapfer, jähzornig, agil, aber weniger sexuell aktiv. Die Melancholiker (kalt und trocken) sind standhaft, schwermütig, sittenfest, aber auch arglistig. Die Phlegmatiker (kalt und feucht) sind träge, schlaftrunken und vergesslich.
Sanguinikerinnen, so Hildegard weiter, neigen zu Beleibtheit und haben weiches und zartes Fleisch. Sie haben ein helles und weißes Gesicht und sind gute Liebhaberinnen und Künstlerinnen. Ihre Monatsblutung ist leicht und sie sind fruchtbar, allerdings bekommen sie nicht sehr viele Kinder. Phlegmatikerinnen haben ein strengeres Gesicht und dunkleren Teint. Sie sind tüchtig und nützlich und etwas männlich. Auch sie leiden nicht an übermäßiger Blutung, empfangen leicht und sind auch gerne bei Männern. Cholerikerinnen sind bleich, klug und gutmütig. Sie leiden leicht unter Blutfluss, sind fruchtbar, Männer mögen sie, und die Frauen brauchen sie ebenso. Melancholikerinnen sind mager und haben eine blaugraue Haut. Sie sind unbeständig, leiden unter ihrer Menstruation, sind eher unfruchtbar und besser nicht verheiratet. Sie neigen im Alter zu Gicht und Podagra, Geschwüren und Kopfweh. Hildegard sah sich selbst als Melancholikerin. Das war eine vornehme Art, konnte man in der ins Lateinische übersetzten Schrift «Problemata physica» (Naturprobleme) lesen, die Aristoteles zugeschrieben wurde. Unter anderen zählte man Herkules, Plato und Sokrates dazu. Auch die Habsburger sahen sich als Melancholiker; daher finden sich an der Wiener Hofburg so viele Herkules-Statuen.
Diese Lehre war offenbar nicht nur Gelehrtenwissen, sondern wurde auch in volkssprachlichen Dichtungen verbreitet:
Abb. 1: Skizze nach Robert Herrlinger (1961)
Ich bin haiz und feuchte, |
Ich bin heiß und feucht an meinem |
Johann von Würzburg (Anf. 14. Jh.),
Wilhelm von Österreich 3308–3319
Mit dem heutigen medizinischen Wissen im Hintergrund können viele Menschen solche Vorstellungen nicht ernst nehmen. Andererseits erfreut sich ein strukturell ähnlich aufgebautes System, das der traditionellen chinesischen Medizin, zunehmender Beliebtheit.
Ich habe mich mit dem folgenden Bild beholfen (Abb. 1): Stellen Sie sich eine Art Koordinatensystem vor, mit jeweils einem Bestimmungswort an den Enden der vier Achsen, zwischen denen die Temperamente angeordnet sind, wie in dieser schematischen Grafik. Im Idealfall steht ein Lebewesen in der Mitte. Gibt es deutliche Abweichungen von der Mitte, ist es krank. Nahrungs- und Arzneimittel können jeweils einzelne der Elemente, Säfte oder Qualitäten fördern oder hemmen. Nimmt man sie zu sich, kann sich die eigene Position zur Mitte hin verlagern – dann sind sie heilend – oder aus der Mitte hinaus, dann sind sie schädigend. Die in sich logische Kohärenz eines Vorstellungssystems trägt wesentlich zum Erfolg der Selbstheilungskräfte des Körpers bei, betont auch die moderne Sozialmedizin. Das machte wohl den Erfolg der Lehre von den Temperamenten (siehe S. 17) über Jahrhunderte aus.
Schwieriger wird es, wenn man in die historische Welt der Gefühle einzutauchen versucht. Es ist ja schon bei lebenden Personen zu unterscheiden zwischen den Ausdrucksmitteln von Gefühlen, die ein Mensch wissentlich oder unwissentlich zulässt, und dem, was in ihm wirklich vorgeht. Keinem Menschen des Mittelalters können wir ins Gesicht schauen. Was wir in den schriftlichen Quellen erfahren, auf Bildern und an Statuen sehen, folgt einem höchst kunstvollen Code, der wohl von Zeitgenossen anders «gelesen» wurde als von uns. Dieser Code wurzelt auf der einen Seite in den gesellschaftlichen Vorstellungen, andererseits in textuellen Konventionen, auf die sich ein Künstler bezog, in der Hoffnung, sein Publikum verstünde auch diese Referenz.
Während heute kaum jemand in den Ausbrüchen eines Schauspielers den unmittelbaren Ausdruck seiner «wahren» Gefühle sehen wird, lesen wir in mittelalterlichen Quellen oft recht naiv von emotionalem Überschwang und halten das für echt und spontan. Wie im Theater aber jede emotionelle Äußerung übertrieben werden muss, damit sie auch die Leute in der letzten Reihe wahrnehmen, so müssen in der Welt eines Fürstenhofes Zorn, Unterwerfung, Versöhnung oder Trauer noch bei den Fernstehenden nachvollziehbar sein. Auch Prediger oder Dichter treiben in ihrer Rhetorik die «Gefühle» auf die Spitze.
Man muss also bei der Lektüre verstärkt auf Rituale aufmerksam werden: Rituale der sprachlichen Darstellung, Rituale als Medien in einer gesellschaftlichen Situation und Rituale als politische Botschaften. Aus diesem Blickwinkel wird deutlich, dass Worte von «Zorn» bis «Liebe» nicht unmittelbar auf die Lebenswirklichkeit verweisen und nicht dasselbe bedeuten, was wir dabei, aus unserer Sozialisation heraus, empfinden.
Einerseits wird auch bei den Affekten nach Maß und Ordnung gerufen. Andererseits ist der Verstoß dagegen z.B. in der Literatur ein probates Kunstmittel. Kriemhilts Rache und Tristans Liebe sind gute Beispiele. In der Politik kommt die maßvolle serenitas erst dann so richtig zur Geltung, wenn sie sich vom gelegentlichen Übermaß abhebt. Die Affekte werden als Rosse beschrieben, die den Lebenswagen feurig lenken. Wenn sie nicht am Zügel gehalten werden, reißen sie verhängnisvoll aus. Menschen in exzessiver Trauer, denen wir in der Dichtung immer wieder begegnen, sind völlig handlungsunfähig. Menschen im Bann der Minne sind krank. Was herauskommt, wenn man die Zügel fahren lässt, zeigen die klassischen Stoffe der Dichter.
Entsagung und Askese (vgl. S. 117) erscheinen zuerst als negative Kategorien. Das Gegenteil ist angestrebt: Menschen machen sich frei von ihren weltbezogenen Gefühlen. Durch Übung und Eifer – studium – möge man nicht zu einer Vielwisserei, sondern zu einer Bescheidenheit, Einfachheit – simplicitas – kommen. Das ist aber nicht schon das Ziel, sondern erst ein Schritt darauf zu. Er führt zwar im Wesentlichen ins Jenseits, in die himmlische Freude, wird aber für manche im Voraus empfindbar in einer heiligen Ekstase.
Der Heilige Ambrosius († 397) mahnt im Zusammenhang mit Emotionen, kein Arzt sage, du sollst nicht fiebern, sondern bemühe sich, das Fieber zu mäßigen. So liegt wie in der Säftelehre die Mitte nicht im Wegfall der Emotionen, sondern im Ausgleich der Spannungen. Feuer und Wasser, Luft und Erde liegen genauso in Spannung wie Hoffnung und Angst, Freude und Schmerz, Zorn und Liebe etc. Die Mitte ist nicht ein Zusammenbruch, sondern ein dialektisches «Aufheben» der Gegensätze in die höhere Ebene des rechten Maßes.
In einer ähnlichen Spannung zwischen der täglichen Mühe und dem Weg zum Heil liegt auch der mittelalterliche Begriff von Arbeit. Er hat sich, wenigstens in der Oberschicht, gegenüber der Antike grundsätzlich verändert. Einen positiven Begriff von Muße wie das lateinische otium gibt es nicht mehr. Das galt als steril; labor, Arbeit oder Mühe, hingegen als fruchtbringend, ja mehr noch: Sie erst stellte die gottgewollte Ordnung wieder her.
Auch Studium und Kontemplation galten als Arbeit, ja als Kampf der milites Christi, der Ritter des Herrn. Die Mahnung Jesu, sich nicht so sehr um das tägliche Leben zu sorgen (Mt 6, 25), schien nicht mehr aktuell. Benedikt von Nursia († um 550) stellte in seiner Mönchsregel fest: Müßiggang ist der Seele Feind (48, 1). Der Spruch ora et labora, bete und arbeite, stammt zwar nicht von ihm, fasst aber seine Lehre gültig zusammen. Den Mönchen und Nonnen war klar, dass sie sich der Kontemplation nur dann widmen konnten, wenn sie sich vorher um die Erfordernisse des Alltags gekümmert hatten. «Wenn es die Ortsverhältnisse oder die Armut erfordern, dass sie [die Mönche] die Ernte selber einbringen, sollen sie nicht traurig sein» (48, 7). Das gilt für alle Tätigkeiten, die anfallen können: sei es, ein Haus zu bauen, eine Mühle anzulegen oder Holz zu schneiden.
Auch für Adelige, ja sogar für Helden, galt es, arebeit zu tun: Wer zuhause hinter dem Ofen oder im Bett seiner Frau zu lange verweilte, musste mit dem Vorwurf rechnen, daz er sich sô gar verlac, daz niemen dehein ahte ûf in gehaben mahte: dass er sich so sehr «verlag», dass niemand mehr Achtung vor ihm empfand (Hartmann, Erec 2971–73). Schweiß und Schmutz und wohl auch die dabei unvermeidlichen Gerüche waren nicht grundsätzlich negativ konnotiert. Die Wohlhabenderen konnten sich derer immerhin entledigen, im Zuber oder in den Bädern. Aber durch Spenden wurde selbst den Armen zu heiligen Zeiten ein Bad ermöglicht.
Zwar ist nicht jede Arbeit positiv belegt: Am kalten Meeresstrand Wäsche zu waschen ist für eine Prinzessin selbstverständlich demütigend (Kudrun, vgl. S. 80), und ein Küchenjunge hat ein schweres Leben. Aber auch schweißtreibende und mühevolle Arbeit, besonders für Männer, war nicht nur ein unvermeidbarer Bestandteil des irdischen Lebens, sondern im Prinzip akzeptierte Grundlage eines jeden Erfolgs. Damit wird einer der Bausteine für den «europäischen Sonderweg» sichtbar, wie sie im Mittelalter zugrunde gelegt wurden. Wir werden noch weitere finden (vgl. z.B. S. 57).
In einer Welt, die keine direkt eingreifenden Medikamente wie Antibiotika kennt, ist die Diätetik besonders wichtig, und die ist im täglichen Leben ganz wesentlich Frauensache, auch wenn viele Männer darüber geschrieben haben. Gesundheit beginnt in Küche und Keller. Für eine gezielte Vorratshaltung sind entsprechende Kenntnisse notwendig. Auch für Wohlhabende steht nicht alles, was man wünscht, zu jeder Zeit zur Verfügung. Den Winter zu überleben, war alles andere als selbstverständlich, der Frühling eine Erlösung. Das Gefühl der Befreiung in so manchem Frühlingsgedicht, ja auch in der Osterfeier, hat einen ernsten, lebensweltlichen Hintergrund.
Niemand, sagt Hildegard von Bingen († 1179), schlägt absichtlich eine Gitarre so an, dass die Saiten reißen. Dementsprechend sollten wir uns dem Körper gegenüber verhalten. Die Ernährung hat viel mit der Kultur zu tun. Allerdings ist der Speiseplan im Alltag stark reduziert: Der tägliche Speisezettel beinhaltet Kraut und Grütze, manchmal Grieben (Grammeln), und das für alle Stände, wenn auch in unterschiedlichen Mengen.
Die Wohlhabenderen hatten Gewürze, konnten das Kraut auffetten und dazu Fleisch essen, zwar selten frisches, aber immerhin geräuchertes oder gepökeltes. Bauersleute hingegen sahen selten vîgen, hûsen, mandelkern, Feigen, Hausen (ein großer Fisch) und Mandeln, sondern mussten mit rüeben kumpost, eingemachten Rüben, zufrieden sein oder mit birnkumpost und rüebelîn, Birnenkompott und Rüben (Hugo von Trimberg, Renner 9815f. und 9839, vgl. S. 90; Heinrich von Neustadt, Apollonius 11.407, vgl. S. 86).
Hunger guot ze muose ist (Kleiner Lucidarius I 1059, vgl. S. 95; muose, heute «Mus», allgemein: Speise). Heute würden wir sagen: Hunger ist ein guter Koch. Das ist kein leeres Wort: Bis ins 13. Jahrhundert, als sich das Nahrungsangebot und die Transportmittel verbesserten, erlebte jede Person, ob arm oder reich, statistisch gesehen wenigstens zwei ernsthafte Hungersnöte. Zählen kann man jedoch nur jene Katastrophen, die es bis in die Chroniken brachten, nicht die vielen kleinen Engpässe.
In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts gab es europaweit schwere Hungersnöte, weil das Wetter mehrere Jahre zu feucht war und die Menschen mancherorts sogar das Saatgetreide aufgegessen hatten (vgl. S. 245). Die Feuchtigkeit regte die Entstehung von Mutterkorn an, einem gefährlichen Pilz, der wie ein dunkles Korn an den Ähren von Roggen und Weizen wächst. Wird es vor dem Mahlen nicht sorgfältig ausgelesen, führt es zu einer schweren Vergiftung mit Fieber, dem sogenannten Antoniusfeuer. Seinen Namen hat es bekommen, weil sich besonders der Antoniter-Orden der Erkrankten annahm. Erst im 17. Jahrhundert verbreitete sich die Erkenntnis über den Zusammenhang zwischen der Krankheit und dem Mutterkorn, aber es gab in Dresden noch 1716/17 einen späten Ausbruch.
Die Kultivierung von Roggen und Hafer, in der Antike nur Ackerbeikräuter (Unkraut), ermöglichte nördlich der Alpen eine agrarische Revolution. Beide Getreidesorten sind widerstandsfähiger als Weizen und Dinkel und können daher auch in klimatisch weniger begünstigten Regionen angebaut werden. Roggenbrot ist auch bedeutend haltbarer als Weizenbrot. Die Verbreitung ging mit der Expansion des Frankenreiches einher. Roggen war in der Dreifelderwirtschaft – einer Abfolge von Winter-, Sommersaat und Brache – als Wintergetreide, Hafer als Sommergetreide recht gut geeignet.
Jeder, Burgherren ebenso wie Stadtbürger und einfache Leute, hatte seinen Krautgarten vor der Tür. Erst die aus der Neuen Welt eingeführte Kartoffel brachte eine wesentliche Umstellung der Ernährungsgewohnheiten. Sie wurde im späten 16. Jahrhundert zunächst als Zierpflanze angebaut, denn die Früchte sind ja unbekömmlich. Erst im 17. und 18. Jahrhundert wurden die Wurzelknollen als Nahrungsmittel propagiert, um den Getreidemarkt zu entlasten. Ihren Vorläufer als Hackfrucht im Fruchtwechsel stellte die Rübe dar.
So wenig angesehen sie als Speisen waren, Kraut und Rüben blieben im Keller lange genießbar, und Bohnen, sprichwörtliches Armeleute-Essen, waren im Winter wohl auch einem Adeligen nicht zu minder, vielleicht mit ein wenig mehr Speck. So kommen sie sogar in einem Spottlied Walthers von der Vogelweide († um 1230) zu Ehren:
Waz êren hât frô Bone, |
Wie ehrenvoll ist Frau Bohne, |
walther L. 17, 25, Übersetzung nach Reichert
Getreide versuchte man vor Schädlingen zu schützen, so gut es ging, aber in einem guten Speicher hielt es sich. Katzen waren allerdings selten, und die Mäusefallen nicht sehr effektiv. Milchprodukte konnte man nur frisch genießen oder als meist harten und oft geräucherten Käse. Butter hielt sich länger nur ausgelassen in Form von Schmalz.
Tiere wurden nur in bestimmten Jahreszeiten geschlachtet: im Herbst, wenn sie gut im Futter standen und man sie ohnehin nicht alle über den Winter bringen konnte, und im Frühjahr, wenn man einen Teil der Jungtiere aussonderte, damit die Muttertiere die verbliebenen besser aufziehen konnten. Die Federn der Gänse waren als Abgaben zu Martini (11. November) fällig, und die Tiere wurden meist beim Rupfen geschlachtet. Nur bei den Hühnern konnte man, wenn man genug Futter hatte, eine Ausnahme machen, indem man rechtzeitig vor bekannten Festterminen eine größere Zahl von Küken großzog.
Fische gab es in den unregulierten Gewässern zu jeder Jahreszeit. Ein Drittel des Jahres war ohnehin Fastenzeit, z.B. vor Ostern, vor Pfingsten, im Advent, an den Freitagen und vor bestimmten weiteren Feiertagen. Der eintönigen Fastenroutine konnte man nur entkommen, indem man kräftig würzte oder besonders delikate Fischsorten herbeischaffte; beides war teuer. Die Reichen entwickelten eine regelrechte Feinschmecker-Kultur, auch die Klöster. Meeresfische wurden, eingesalzen oder lebend in Wasserbottichen, weit ins Land gebracht; der Donau-Hausen beispielsweise war bis über Bamberg hinaus berühmt. Diese Störart, die im Schwarzen Meer lebte und bis zu einer Tonne schwer wurde, kam zum Laichen bis in die österreichische Donau herauf.
Das «Wasserrecht» hatten nur die Herrschaften. Das galt nicht nur für professionelles Fischen, sondern vor allem für die Mühlen, deren Betreiber zusätzlich ein Wegerecht brauchten. Daher zerstießen einfache Leute das Getreide im Mörser oder kochten es zu Brei. Dafür kamen alle Getreidesorten in Frage; am wenigsten angesehen war die Gerste. Das weiße Mehl, aus Weizen oder Dinkel, war den besseren Leuten vorbehalten. Die Oberschichten ernährten sich nicht unbedingt gesünder.
Getrunken haben die Adeligen bevorzugt Wein, und das in großen Mengen, was im Alter nicht selten für Gicht sorgte. Ungeheure Summen wurden für Wein höherer Qualität ausgegeben, z.B. den schon in der Antike beliebten Falerner. Die älteren Klöster hatten ihre besseren Weingärten in Südtirol und Oberitalien, die jüngeren in der Wachau, aber es wurde auch Wein in Gegenden angebaut, an die wir heute nicht einmal denken würden; die Qualität war dann auch danach. Da die Weine zumeist stark gewürzt und bis zur Hälfte gewässert wurden, fiel das vielleicht weniger auf.
Fährt man das niederösterreichische Kamptal hinauf, sieht man noch weit oben im Gelände die ehemaligen Weinterrassen. Der «staubtrockene» Oberpfälzer Wein in der Gegend von Regensburg wurde gegen Ende des Mittelalters allmählich vom Bier verdrängt, erfreut sich aber in der letzten Zeit erneuten Interesses.
Bier wird bekanntlich aus Getreide gebraut, dem Grundnahrungsmittel schlechthin. Nur wenn genug davon vorhanden war, war Bier erschwinglich, obwohl man in der Regel minder angesehenes Getreide wie Gerste verwendete. Arme Leute mussten aber oft auch Gerstenbrot essen. Das damalige Bier hielt nicht lange; das Lagerbier wurde erst im 19. Jahrhundert erfunden. Als «Nahrungsmittel» brach es das Fasten nicht, und darum brauten die Mönche in diesen Zeiten speziell hochprozentiges Bockbier, das heute noch vor Weihnachten oder in der vorösterlichen Fastenzeit getrunken wird.
Moraz (Maulbeerwein), wîn und lutertranc (vermutlich eine Art Gewürzwein oder Obstsaft) werden oft bei repräsentativen Mahlzeiten erwähnt. Obstsäfte, ob vergoren oder nicht, waren wegen der schwierigen Konservierung eine Kostbarkeit. Branntwein ist für das Mittelalter nicht nachweisbar.
Mit dem Met hat es eine eigene Bewandtnis. Honig war nicht billig und das einzige effektive Süßmittel. Ein Fässchen Met konnte in Gegenden, wo es aufgrund des Klimas weniger Honig gab, sehr teuer werden. Zwei Phänomene aber verschafften dem Met unverdiente Popularität: Sagenhafte Helden trinken immer Met, den sich ein Dichter auf dem Pergament ja auch leisten konnte. Und als Grabbeigabe, als symbolische Wegzehrung für die Reise ins Jenseits, findet sich häufig ein Honigtrank, der wegen seiner speziellen Zusammensetzung relativ leicht nachweisbar ist. Abgesehen davon wird es wohl ein ziemlich seltenes Getränk gewesen sein.
Sauberes Wasser zu bekommen, war nicht überall so einfach. Das mag auch eine Ausrede für den hohen Alkoholkonsum der Oberschichten gewesen sein. Stehendes Wasser war schnell verdorben, die unregulierten Flüsse waren organisch verschmutzt. Die antiken Techniken beim Zisternenbau beherrschte man nicht mehr. Der antike Baumeister Vitruv (Ende 1. Jh. v. Chr.), dessen Werk «Über die Architektur» noch im Mittelalter als Handbuch herangezogen wurde, erwähnt die Zisternen nur knapp (VI 14f.). Für die Versorgung von Burgen wurden oft aufwändige Wasserleitungen gelegt, die aber wegen ihrer Holzröhren archäologisch nicht leicht nachzuweisen sind. In Städten war die Wasserversorgung ein ernstes Problem, weil die Brunnen leicht verschmutzt wurden (vgl. S. 150). Der «Brunnen vor dem Tore» war im Idealfall eine fließende Quelle; das mittelhochdeutsche Wort brunne meint meistens fließendes Wasser.
Mittelalterliche Texte beschreiben das Äußere von Personen zumeist als Abbild ihres Charakters und ihrer gesellschaftlichen Stellung. Schön sind der Herr und die Dame, die formelle Anrede lautete im Französischen biaux sire und bele dame, «schöner Herr» und «schöne Dame». Schön und gut, καλς κα
γαθ
ς, zu sein war schon in der Antike ein Ideal und blieb es auch noch Jahrhunderte danach. Schönheit war eine soziale Kategorie, die sich durch das privilegierte Leben sichtbar in die Körper einschrieb. Sie wird von der eingeübten Haltung und der repräsentativen Kleidung unterstrichen. Menschen, die sich am Hof bewegen sollten, bekamen eine besondere Ausbildung, die von einfachsten Gebärden bis zum zeremoniellen Tanz reichte. Maßvoll sollten alle Bewegungen sein.
Der Habitus adeliger Männer lässt die Ausbildung zum Krieger deutlich erkennen; adeligen Damen sieht man an, dass sie sich wenig körperlich anstrengen mussten. Auf vielen Bildern haben sie ein kleines Bäuchlein, als ob sie schwanger wären, denn Fruchtbarkeit war ein hohes Gut.
Ich zeichne ein Idealbild, aus vielen Quellen zusammengesetzt. Zeitlose Stereotype mischten sich mit zeitbezogenen Vorlieben. Eine schöne (und meist sehr junge) Frau hat eine weiße Haut als ein liligen blat, wie ein Lilienblatt; sie muss sich ja nie ungeschützt der Sonne aussetzen. Die Haare sind wohlgekämmt, fein und seidig, auf Bildern sieht man Locken seitlich am Gesicht, und manchmal trägt ein Mädchen Zöpfe. Für viele Autoren, vor allem im Süden, ist sie blond, es gibt aber auch dunkle Schöne. Unterwegs sind ihre Haare immer bedeckt. Es ist eine besondere Geste, wenn sie Kopftuch oder Kapuze abnimmt.
Ihre Stirn ist (nicht zu) hoch, glatt und rund, die Augenbrauen sind schmal, wohlgezeichnet und stehen nicht zu eng beisammen, die Augen sind klar, fröhlich und stehen gut zu Gesicht. Sie sind Spiegel und Fenster der Seele. Die Wangen sind wie Milch und Blut, wîplîch eben, weiblich. Ohren, Nase, Kinn und Mund – der natürlich rosenrot ist – sind minnechlîche, lieblich, und nicht zu groß. Sie hat weder Puder noch Schminke nötig und sie hat gesunde Zähne von snêwîzem beine nâhe bî ein ander cleine (Wolfram, Parzival 130, 11f.): schneeweiß, nahe beieinander und nicht zu groß. Sie hat schlanke Hände, Arme und lange Finger. Sie ist schlank, der Leib wol geschaffen unde smal unde wîblîch genûch (Heinrich von Veldeke, Eneas 146, 37f.). Ihre Taille ist wie die einer Ameise; was unterhalb ist, wird nur angedeutet. Ihre brüstlîn sind klein, zart und weiß und ragen wohlgerundet hoch, wie gedrechselt, man kann sie mit einer Hand umfangen.
Aber auch Männer, junge vor allem, sollten schön sein und waren es in den Augen ihrer Zeitgenossinnen und Zeitgenossen – wie David im Alten Testament (1 Sam 16, 12) oder wie einer der Helden aus den Ritterromanen. Selbst Äbte werden im Nachruf gerühmt, dass sie schön anzusehen waren, und ein junger Musteradeliger kann gar nicht anders, als seine schöne Seele mit einem wohlgeformten Körper zu zeigen. Eine der angebotenen Etymologien für «Held» wird auf indogermanisch *kel, schön, tüchtig, zurückgeführt.
Vor allem aber sollten sie stark sein, schnell und behände. Wenn möglich, zeigen sie schlanke Waden und schöne Beine. Während bei Ovid um die Zeitenwende forma viros neglecta decet (Ars amatoria I v. 503), nachlässige Schönheit den Männern steht, muss der adelige junge Mann im Mittelalter mehr auf seinen Körper achten. Lässigkeit kann sich nur ein Ausnahmeheld wie Gahmuret, der Vater Parzivals, leisten (63, 14), und auch er nimmt sich wieder zusammen, wenn er merkt, dass ihm hohe Damen zusehen.
Tristan hat bei Gottfried von Straßburg († um 1215) schönes Haar, das er als Knabe hinter die Ohren zurückstreicht (2848f.). Er hat einen wohlgeratenen Körper, mit rotem Mund, heller, rosenfarbener Haut, klaren, ja brennenden Augen, das Haar ist brûnreideloht und gecrûspet (3336f.), braun und gelockt, die Arme und Hände sind wohlgeformt, an seinen Füßen und Beinen zeigt sich seine Schönheit am allerbesten (3341f.). Die Damen am irischen Hof, unter ihnen Isolde, müssen zugeben: zewâre, dirre man der ist ein menlîch crêatiure (10854f.): tatsächlich, dieser Mann ist ein überaus männliches Geschöpf.
Vermutlich waren die meisten jüngeren Männer rasiert, mit einem Bärtchen je nach Mode. Rasiermesser waren allerdings teuer, und der Gang zum Barbier war auch nicht umsonst. Ein würdiger Vollbart zeichnet in der Regel erst das Alter aus; er ist ohnehin unpraktisch unter dem Helm. Adelige trugen die Haare lang, Bauern sollten eher kurz geschoren sein. Auch Geistliche sollten sich in der Regel rasieren, mit Ausnahme der fratres barbati, der bärtigen Laienbrüder. Die Mönche hatten eine Tonsur, eine mehr oder weniger große kahlgeschorene Stelle am Kopf.
Zum sozial bedeutsamen Spiel mit dem Körper gehört in der Regel auch die Kleidung, zumindest bei den Schichten, die es sich leisten konnten. Details waren der Mode unterworfen wie zu allen Zeiten; auf sie kann hier nicht ausführlich eingegangen werden. Das hervorstechendste Merkmal der Kleidung der Oberschicht ist einfach, dass sie extrem teuer ist. Der Wohlstand der Trägerinnen und Träger zeigt sich nicht nur in der Wahl der Stoffe, sondern auch an den damals sehr kostspieligen Farben. Bei den bildlichen Darstellungen ist allerdings zu beachten, dass die Farben Symbolwert haben, aber auch künstlerischen Gestaltungsprinzipien unterworfen sein können.