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Anthony Doerr

Der Muschelsammler

Erzählungen

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übersetzt
von
Barbara Rojahn-Deyk

 

 

 

 

 

C.H.Beck

Zum Buch

In seinem preisgekrönten Debüt, den Erzählungen aus «Der Muschelsammler», nimmt Anthony Doerr seine Keser mit auf eine Reise von der Afrikanischen bis zu den Nadelwäldern Montanas und den Mooren von Lappland. Er entwirft dabei eine weite und reiche Natur- und Seelenlandschaft, die etwas Magisches besitzt: Ein blinder Muschelsammler an der Küste Kenias entdeckt die wunderbaren Heilkräfte einer hochgiftigen Meeresschnecke, Touristen fangen einen Karpfen, der so groß ist, daß man ihn nicht fotografieren kann. Die Frau eines Jägers kann die Traumbilder der Tiere nacherleben, wenn sie sie berührt. In einer fast beängstigend schönen, ebenso genauen wie eleganten Sprache erforscht Doerr die conditio humana in allen Variationen – die Veränderung, den Kummer, die Zerbrechlichkeit von Freundschaften, ein Herz, das langsam wieder geheilt wird – und beschreibt die Natur als wunderbaren Überfluß ebenso wie als zerstörerische Macht. Einige seiner Figuren haben mit den Härten des Lebens zu kämpfen, andere besitzen ungewöhnliche Fähigkeiten. Alle verbindet ihre Achtung vor dem überwältigenden Kosmos außerhalb ihrer selbst.

Die amerikanischen Kritiken waren überschwenglich, «Doerr ist das allwissende, alles sehende Auge, wie wir es bei D.H.Lawrence, Tolstoi, Hemingway, Pynchon, DeLillo und Richard Powers vorfinden» (The Philadelphia Inquirer) und «Diese Geschichten erzählen vom Wunder und der eisigen Indifferenz der Natur, und sie sind meisterhaft geschrieben.» (Outside)

Über den Autor

Anthony Doerr, 1973 in Cleveland geboren, veröffentlichte 2002 den Erzählungsband «The shell collector». Er erhielt den «Black Warrior Review Literary Prize» den «Discover Prize», die «Princeton’s Hodder Fellowship», zweimal den «O.Henry Prize», den Young Lions Award und den Rom-Preis der American Acadamy of Arts and Letters. Er lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Boise, Idaho. 2005 erschien bei C.H.Beck sein Roman «Winklers Traum vom Wasser».

Über die Übersetzerin

Barbara Rojahn-Deyk arbeitet seit 1986 als literarische Übersetzerin zeitgenössischer englischer und amerikanischer Autoren. Für C.H.Beck übersetzte sie u.a. die Romane «Elegie für Iris» von John Bayley, «Luft anhalten» von Ben Faccini, «Der brennende Obstgarten» von Shena Mackay, «Das Buch vom Salz» von Monique Truong. Außerdem übersetzte sie die Romane von Graham Schwift.

Inhalt

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Der Muschelsammler

Die Frau des Jägers

So viele Chancen

Lange Zeit war das Griseldas Geschichte

Der 4. Juli

Der Hausmeister

Verwicklungen am Rapid River

Mkondo

Danksagung

Der Muschelsammler

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Der Muschelsammler stand am Spülbecken und schrubbte Napfschnecken, als er das Wassertaxi über das Riff schaben hörte. Das Geräusch ging ihm durch und durch, als der Rumpf die Kelche von Fingerkorallen und die winzigen Röhren der Orgelkorallen zermahlte, die Blumen und Farngebilde der Weichkorallen zerriß und auch Schalentiere beschädigte, indem er Löcher in Olividen, Stachel-, Hörner- und Turmschnecken bohrte, in Hydatina physis und Turris babylonia. Es geschah nicht zum ersten Mal, daß Leute versuchten, ihn aufzuspüren.

Er hörte ihre Füße ans Ufer platschen und das Taxi davonfahren, zurück nach Lamu, und den leichten Singsang-Rhythmus ihres Klopfens. Tumaini, seine deutsche Schäferhündin, die unter seinem Feldbett lag, stieß ein leises Jaulen aus. Er ließ eine Napfschnecke in den Ausguß fallen, trocknete sich die Hände und ging widerwillig zur Tür, um sie zu begrüßen.

Sie hießen beide Jim, zwei übergewichtige Reporter eines New Yorker Revolverblatts. Ihr Händedruck war glitschig und heiß. Er goß ihnen chai ein. Sie nahmen überraschend viel Platz in der Küche ein. Sie sagten, sie seien da, um über ihn zu schreiben. Sie würden nur zwei Nächte bleiben und ihn gut bezahlen. Was er von 10.000 amerikanischen Dollar hielte? Er nahm ein Schneckenhaus aus der Brusttasche seines Hemdes – das einer Turmschnecke – und rollte es zwischen den Fingern. Sie fragten ihn nach seiner Kindheit: Hatte er als Junge wirklich Karibus geschossen? Brauchte man nicht gute Augen dafür?

Er gab ihnen wahrheitsgemäße Antworten. Das Ganze hatte etwas Bizarres, etwas Irreales. Diese beiden großen Jims konnten nicht wirklich an seinem Tisch sitzen, ihm diese Fragen stellen und sich über den Gestank toter Weichtiere beklagen. Schließlich befragten sie ihn über Neuschnecken, speziell die Gattung Conus, und die Stärke von Conusgift, und wollten wissen, wie viele Besucher gekommen seien. Von seinem Sohn wollten sie nichts wissen.

Die ganze Nacht hindurch war es heiß. Blitze marmorierten den Himmel jenseits des Riffs. Von seinem Bett aus hörte er, wie sich siafu, Ameisen, an den Männern gütlich taten und wie diese sich in ihren Schlafsäcken kratzten. Vor Tagesanbruch sagte er ihnen, sie sollten ihre Schuhe ausschütteln, wegen der Skorpione, und als sie das taten, kam einer herausgepurzelt. Mit winzigen Kratzgeräuschen verschwand er blitzschnell unter dem Küchenschrank.

Er nahm seinen Sammeleimer und legte Tumaini das Geschirr an, und diese führte sie den Pfad hinab zum Riff. Die Luft roch nach Blitzen. Keuchend versuchten die Jims mit ihm Schritt zu halten. Sie meinten, es sei beeindruckend, wie schnell er sich bewege.

«Wieso?»

«Na ja», murmelten sie, «Sie sind blind. Der Weg hier geht sich nicht leicht. Die vielen Dornen.»

Von weit her hörte er die hohe, lautsprecherverstärkte Stimme des Muezzins in Lamu, der zum Gebet aufrief. «Es ist Ramadan», erklärte er den Jims. «Die Leute essen nichts, solange die Sonne über dem Horizont steht. Bis Sonnenuntergang trinken sie nur chai. Jetzt essen sie bestimmt. Wenn Sie möchten, können wir heute abend ausgehen. Sie grillen auf den Straßen Fleisch.»

Bis mittags waren sie einen Kilometer hinausgewatet auf dem breiten, geschwungenen Grat des Riffs. Hinter ihnen schwappte leise die Lagune, vor ihnen brach sich eine niedrige See. Die Flut kam. Tumaini, die inzwischen abgeschirrt war, ragte, hechelnd auf einem pilzförmigen Felspodium stehend, zur Hälfte aus dem Wasser. Der Muschelsammler stand gebeugt und suchte einen sandigen Graben mit gekrümmten, beweglichen, fegenden Fingern nach Muscheln ab. Er packte die zerbrochene Schale einer Spindelschnecke und fuhr mit einem Fingernagel über ihre eingekerbte Spirale. «Fusinus colus», sagte er.

Bei der nächsten Welle hielt der Muschelsammler automatisch seinen Eimer hoch, damit er nicht unter Wasser geriet. Sobald die Welle vorüber war, steckte er die Arme wieder in den Sand, und seine Finger untersuchten eine Nische zwischen Seeanemonen, hielten inne, um einen Klumpen Hirnkorallen zu identifizieren, und verfolgten eine Schnecke, die sich eingrub.

Einer der Jims hatte eine Schnorchelmaske und benutzte sie, um ins Wasser zu schauen. «Guckt mal, die blauen Fische da!» rief er, nach Luft schnappend. «Was für ein Blau!»

Der Muschelsammler dachte in dem Moment gerade daran, wie gleichgültig doch Nesselkapseln waren. Selbst nach dem Tod gaben die winzigen Zellen noch ihr Gift ab. Eine einzige, acht Tage zuvor abgetrennte, vertrocknete Tentakel hatte im vergangenen Jahr einen Jungen aus dem Dorf gestochen und seine Beine anschwellen lassen. Vom Biß eines Drachenfischs war die ganze rechte Körperhälfte eines Mannes aufgequollen, um seine Augen herum hatten sich Blutergüsse gebildet, und sein Körper war dunkelrot angelaufen. Der Stich eines Drachenkopfs hatte vor Jahren dem Muschelsucher die Haut von einer Ferse abgefressen und eine glatte Haut ohne alle Linien hinterlassen. Wie viele Seeigelstacheln, die auch abgebrochen noch immer Gift verspritzten, hatte er Tumaini aus der Pfote gedrückt? Was wäre, wenn eine giftige Seeschlange, eine Plättchenschlange, den beiden Jims plötzlich zwischen die dicken Beine geriete? Wenn ein Strahlenrotfeuerfisch ihnen in den Kragen fiele?

«Hier habe ich, weswegen Sie gekommen sind», verkündete er und zog die Schnecke, einen Giftzüngler, aus ihrem einstürzenden Tunnel. Er drehte sie schnell herum und balancierte ihr abgeflachtes Ende auf zwei Fingern. Selbst jetzt tastete sich ihr Rüssel vorwärts, spürte ihm nach. Die Jims kamen geräuschvoll herbeigewatet.

«Das hier ist eine Kegelschnecke», sagte er, «eine Conus geographus. Sie frißt Fische.»

«Das da frißt Fische?» fragte einer der Jims ungläubig. «Mein kleiner Finger ist ja größer!»

«Dieses Tier», sagte der Muschelsucher, indem er es in seinen Eimer fallen ließ, «besitzt in seinen Zähnen zwölf Arten von Gift. Es könnte Sie lähmen und hier auf der Stelle ertränken.»

Das alles hatte damit angefangen, daß eine in Seattle geborene malariakranke Buddhistin namens Nancy in der Küche des Muschelsammlers von einer Kegelschnecke gestochen worden war. Diese war aus dem Ozean gekrochen, hatte sich hundert Meter unter Kokospalmen und durch akazienbewachsenes Buschland heraufgeschleppt bis in die Küche, Nancy gebissen und kehrtgemacht.

Oder vielleicht hatte es vor Nancy angefangen, vielleicht war es vom Muschelsammler selbst ausgegangen, nach außen gewachsen, so wie eine Muschel wächst, von innen heraus in Spiralen nach oben und sich um den Bewohner windend, während sie die ganze Zeit vom Wechsel des Meeres abgenutzt wird.

Die Jims hatten recht – der Muschelsammler hatte wirklich Karibus geschossen. Als Neunjähriger in Whitehorse, Kanada. Sein Vater hatte ihn bei schneidendem Schneeregen sich aus dem kuppelförmigen Kanzeldach seines Hubschraubers lehnen lassen, damit er kranke Karibus mit einem Karabiner mit Zielfernrohr abschoß. Aber dann waren da die Chorioideremie und die Degeneration der Netzhaut gewesen. Innerhalb eines Jahres war sein Gesichtsfeld zu einem Tunnel eingeengt und mit regenbogenfarbenen Ringen übersät. Mit zwölf, als sein Vater mit ihm viertausend Meilen nach Süden, nach Florida, reiste, um einen Spezialisten aufzusuchen, war es dunkel um ihn geworden.

Der Augenarzt wußte, daß der Junge blind war, sobald dieser zur Tür hereinkam, die eine Hand am Gürtel seines Vaters, den anderen Arm mit erhobener Hand nach vorn ausgestreckt, um Hindernisse rechtzeitig zu ertasten. Statt ihn zu untersuchen – was war da noch zu untersuchen? – führte ihn der Arzt in sein Sprechzimmer, zog ihm die Schuhe aus und ging mit ihm zur Hintertür hinaus und einen Sandweg hinunter bis auf ein spitz ins Meer vorspringendes Stück Strand. Der Junge hatte das Meer noch nie gesehen und mühte sich ab, das alles in sich aufzunehmen – die verschwommenen Flecken, die Wellen waren, die Schlieren, die über die Gezeitenmarke verteilter Tang waren, das verschmierte Eigelb der Sonne. Der Arzt zeigte ihm eine Tangblase, ließ ihn sie zerdrücken und das Innere mit dem Daumen herausschaben. Es gab viele solcher Entdeckungen – eine kleine Schwertschwanzkrabbe, die in den sich brechenden Wellen eine größere bestieg, eine Handvoll Miesmuscheln an der feuchten Unterseite eines Felsens. Aber erst, als der Junge knöcheltief im Wasser watete und seine Zehen auf eine kleine runde Muschel stießen, wurde er wirklich ein anderer. Seine Finger gruben die Muschel aus, er fühlte das glatte Ei ihres Gehäuses, den gezähnten Spalt ihrer Öffnung. Sie war das Eleganteste, was er je in der Hand gehabt hatte. «Das ist eine Mausporzellanschnecke», sagte der Arzt. «Ein wunderschöner Fund. Sie hat braune Tupfen und dunkelrote Streifen an der Basis, wie die Streifen eines Tigers. Das kannst du nicht sehen, oder?»

Doch, er konnte. Noch nie im Leben hatte er etwas so klar gesehen. Seine Finger liebkosten die Muschel, wendeten sie hin und her, ließen sie rotieren. Noch nie hatte er etwas so Glattes gefühlt – hatte sich nie vorstellen können, daß etwas einen so tiefen Glanz besitzen könnte. Er fragte, beinahe flüsternd: «Wer hat das geschaffen?» Eine Woche später hielt er die Muschel noch immer in der Hand, und sein Vater, der sich über den Gestank beklagte, mußte das tote Tier aus der Schale pulen.

Über Nacht wurden Muscheln, wurde Muschelkunde, wurde der Stamm Mollusca seine Welt. Er lernte während des sonnenlosen Winters in Whitehorse Braille, bestellte sich per Post Bücher über Muscheln, drehte, wenn es getaut hatte, dicke Äste um und suchte nach Waldschnirkelschnecken. Mit sechzehn brannte er darauf, die Riffe zu erforschen, die er in Büchern wie Die Wunder des Great Barrier Reef entdeckt hatte, verließ Whitehorse für immer und segelte durch die Tropen – Sanibel Island, St. Lucia, die Batan Islands, Colombo, Bora Bora, Cairns, Mombasa, Moorea. Und das alles als Blinder. Seine Haut wurde braun, sein Haar weiß. Seine Finger, seine Sinne, seine Gedanken – alles, der ganze Mensch war besessen von der Geometrie der Exoskelette, von der Kalziumskulptur, von dem evolutionären Grundprinzip der Rampen, Grate, Wülste, Windungen und Falten. Er lernte eine Schale zu identifizieren, indem er sie ein wenig hochwarf. Die Muschel drehte sich, seine Finger schätzten ihre Form ab, ordneten sie ein – Ancilla, Ficus, Terebra. Er kehrte nach Florida zurück, machte seinen Bachelor in Biologie und promovierte in Malakologie. Er umkreiste den Äquator, verirrte sich ganz schrecklich zwischen den Fidschi-Inseln, wurde in Guam ausgeraubt und noch einmal in den Seychellen, entdeckte eine neue Spezies von Muscheln, eine neue Familie von Zahnschnecken, eine neue Nassarius, eine neue Fragum.

Vier Bücher, drei Blindenhunde und einen Sohn namens Josh später ließ er sich frühzeitig emeritieren und zog in eine mit Palmblättern gedeckte kibanda nördlich von Lamu in Kenia, hundert Kilometer südlich des Äquators, in einem kleinen Marine Park in der entferntesten Ecke des Lamu-Archipels. Er war achtundfünfzig Jahre alt. Ihm war schließlich klar geworden, daß seiner Erkenntnis Grenzen gesetzt waren, daß ihn die Malakologie nur immer tiefer hineinführen würde in noch mehr Fragen. Er hatte nie verstanden, warum es diese endlosen Varianten gab. Warum diese Gittermuster? Warum diese ausgekehlten Schuppen, diese dicken Knoten? Das Nichtwissen war letztendlich und in vieler Hinsicht ein Privileg: Eine Muschel zu finden, sie zu fühlen und nur auf eine nicht sagbare Weise zu verstehen, warum sie sich die Mühe machte, so wunderschön zu sein. Was für ein Glück er darin fand, was für ein tiefes Geheimnis.

Alle sechs Stunden warf die Flut auf den Stränden dieser Erde Wälle aus Schönheit auf, und er konnte hingehen, konnte seine Hände hineinstecken, ein Stück davon halten, herumwirbeln. Muscheln zu sammeln (jede von ihnen ein Ding zum Staunen), ihre Namen zu wissen, sie in einen Eimer fallen zu lassen – das erfüllte sein Leben, erfüllte es im Übermaß.

An manchen Morgen, wenn er durch die Lagune ging, während Tumaini gemütlich vor ihm her platschte, fühlte er einen fast unwiderstehlichen Drang, sich zu verneigen.

Aber dann, vor zwei Jahren, war da diese Wendung in seinem Leben, diese Krümmung, die zugleich unvermeidlich und unvorhersehbar war wie die Öffnung einer Hornschnecke. (Man stelle sich vor, man führe mit dem Daumen an einer hinunter, zöge ihre Spirale nach, befühlte ihre flachen, gewundenen Rippen, stieße plötzlich auf ihre gekrümmte Öffnung.) Er war dreiundsechzig, auf dem Weg über den schattenlosen Strand hinter seiner kibanda und stupste gerade eine Seegurke mit dem großen Zeh an, als Tumaini aufjaulte und davonschoß, mit klirrendem Halsband den Strand entlang. Als der Muschelsucher den Hund einholte, holte er auch Nancy ein, die einen Sonnenstich hatte und wirres Zeug redete, während sie in einem khakifarbenen Reiseoutfit am Strand umherwanderte, als sei sie vom Himmel gefallen, aus einer 747. Er nahm sie mit hinein, legte sie auf sein Bett und flößte ihr warmen chai ein. Sie zitterte furchtbar. Er rief über Funk Dr. Kabiru, der mit dem Boot von Lamu kam.

«Ein Fieber hat sie gepackt», erklärte Dr. Kabiru und goß ihr Meerwasser über die Brust, wodurch er ihre Bluse und den Fußboden des Muschelsammlers unter Wasser setzte. Schließlich fiel ihr Fieber, der Arzt fuhr nach Hause, und sie schlief und wachte erst nach zwei Tagen wieder auf. Zur Überraschung des Muschelsammlers kam niemand sie suchen – niemand sprach vor, keine Wassertaxis mit hektischen amerikanischen Suchtrupps kamen in die Lagune gerast.

Sobald sie sich soweit erholt hatte, daß sie sprechen konnte, redete sie ohne Punkt und Komma, und es ergoß sich ein Sturzbach von persönlichen Problemen, eine Flut privatester Mitteilungen. Nach einer halben Stunde, in der sie zusammenhängend hatte sprechen können, erklärte sie, daß sie Mann und Kinder verlassen habe. In ihrem Swimmingpool nackt auf dem Rücken treibend, war ihr klar geworden, daß dieses Leben – zwei Kinder, ein zweigeschossiges Haus im Tudorstil, ein Audi Avant – nicht das war, was sie wollte. Noch am selben Tag war sie auf und davon gegangen. Irgendwann – in Kairo – lernte sie zufällig einen Neo-Buddhisten kennen, der sie mit Wörtern wie «innerer Frieden» und «inneres Gleichgewicht» bekanntmachte. Sie war auf dem Weg zu ihm, nach Tansania, wollte dort mit ihm leben, als sie an Malaria erkrankte. «Aber sehen Sie!» rief sie, die Hände hochwerfend, aus. «Ich bin hier gelandet!» Als wäre alles klar.

Der Muschelsammler pflegte sie und hörte ihr zu und machte ihr Toast. Alle drei Tage versank sie in einem zitternden Delirium. Er kniete neben ihr und ließ vorsichtig Meerwasser über ihre Brust laufen, wie Dr. Kabiru es angeordnet hatte.

An den meisten Tagen, wenn sie vor sich hinschwatzte und ihre Geheimnisse ausplapperte, schien es ihr gutzugehen. Auf seine schweigsame Art war er vernarrt in sie. In der Lagune rief sie ihn, und dann schwamm er zu ihr hin und zeigte ihr den gleichmäßigen Zug, den ihm seine dreiundsechzig Jahre alten Arme noch gestatteten. In der Küche versuchte er, ihr Pfannkuchen zu machen, und sie versicherte ihm kichernd, daß sie köstlich seien.

Und dann, eines Mitternachts, kletterte sie auf ihn. Bevor er noch völlig wach war, hatten sie sich geliebt. Hinterher hörte er sie weinen. War Sex etwas zum Weinen? «Du vermißt deine Kinder», sagte er.

«Nein.» Ihr Gesicht war ins Kissen gedrückt, und ihre Worte kamen gedämpft. «Ich brauche sie nicht mehr. Ich brauche nur inneres Gleichgewicht.»

«Vielleicht vermißt du deine Familie. Das ist nur natürlich.»

Sie wandte sich ihm zu. «Natürlich? Du scheinst dein Kind nicht zu vermissen. Ich habe die Briefe gesehen, die er schickt. Aber dich sehe ich keine zurückschicken.»

«Er ist schließlich dreißig …», sagte er. «Und ich bin auch nicht weggelaufen.»

«Nicht weggelaufen? Du bist drei Billionen Meilen von zu Hause entfernt! Ein toller Ruhestand. Kein Süßwasser, keine Freunde. Und die Badewanne voller Ungeziefer.»

Er wußte nicht, was er sagen sollte. Und überhaupt, was wollte sie eigentlich? Er ging hinaus, Muscheln sammeln.

Tumaini schien dafür dankbar zu sein, dankbar, im Meer sein zu können, unter dem Mond, vielleicht auch nur dankbar dafür, dem redseligen Gast ihres Herrn zu entkommen. Er ließ sie frei laufen, und sie hielt sich mit ihrer Nase dicht an seine Waden, während er ins Wasser watete. Es war eine schöne Nacht. Eine kühlende Brise umfloß ihre Körper, der wärmere Gezeitenstrom lief gegen sie an, lief ihnen zwischen den Beinen hindurch. Tumaini paddelte zu einem Felsen, auf dem sie sich niederließ, und er fing an umherzustreifen, bückte sich, seine Finger durchforschten den Sand. Ein Marlspieker, ein Nassarius coronatus, eine zerbrochene Stachelschnecke, eine Bullia tranquebarica, kleine Seereisende, welche die von der Strömung hinterlassenen Rippel im Sand überquerten. Er bewunderte sie und tat sie dorthin zurück, wo er sie gefunden hatte. Kurz vor Anbruch der Dämmerung fand er zwei Schnecken der Gattung Conus, die er nicht näher identifizieren konnte, ungefähr siebeneinhalb Zentimeter lang und verwegen, die gerade versuchten, einen kleinen Riffbarsch zu verschlingen, den sie gelähmt hatten.

Als er, Stunden später, zurückkehrte, schien ihm die Sonne warm auf Kopf und Schultern, und er betrat lächelnd die kibanda, wo er Nancy starr auf seinem Feldbett vorfand. Ihre Stirn war kalt und feucht. Er klopfte mit den Fingerknöcheln auf ihr Brustbein, und sie zeigte keine Reaktion. Ihr Puls betrug zwanzig, dann achtzehn. Über Funk verständigte er Dr. Kabiru, der mit seiner Barkasse übers Riff kam und sich neben sie kniete, ihr ins Ohr sprach. «Ungewöhnliche Reaktion bei Malaria», murmelte er. «Ihr Herz schlägt kaum noch.»

Der Muschelsammler ging in seiner kibanda auf und ab, lief in Stühle und Tische, die seit zehn Jahren an ein und demselben Platz gestanden hatten. Schließlich kniete er auf dem Küchenfußboden nieder – nicht so sehr, um zu beten, sondern weil seine Knie nachgaben. Tumaini, die aufgeregt und verwirrt war, verwechselte Verzweiflung mit Ausgelassenheit, kam angetobt und warf ihn um. Als er dort auf den Fliesen lag und Tumaini ihm auf die Backe sabberte, spürte er das Schneckenhaus und wie sich die Kegelschnecke zentimeterweise vorwärtsschob in Richtung Tür, blind und entschlossen.

Unter dem Mikroskop, so hatte man dem Muschelsammler gesagt, sehen die Zähne bestimmter Giftzüngler lang und scharf aus, wie winzige, durchsichtige Bajonette, wie die rasierklingenscharfen Stoßzähne eines Miniatur-Eisteufels. Der Steckrüssel schlüpft aus dem Siphokanal, entrollt sich, die stachelartigen Zähne springen vor. Bei den Opfern verursacht der Biß eine sich ausbreitende Gefühllosigkeit, eine ansteigende Lähmung. Erst werden die Handflächen schrecklich kalt, dann der Unterarm, dann die Schulter. Die Kälte erreicht die Brust. Man kann nicht mehr schlucken, nicht mehr sehen. Man brennt. Man friert zu Tode.

«In diesem Fall», sagte Dr. Kabiru mit einem Blick auf die Schnecke, «gibt es nichts, was man tun kann. Kein Gegengift, keine Injektion. Ich kann nichts machen.» Er wickelte Nancy in eine Decke, setzte sich in einen Segeltuchstuhl zu ihr ans Bett und aß mit dem Taschenmesser eine Mango. Der Muschelsammler kochte das Gehäuse in seinem chai-Topf und holte die Schnecke mit einer Stahlnadel heraus. Er hielt das Gehäuse in der Hand, befingerte sein warmes, zeltförmiges Dach, befühlte seine mineralischen Windungen.

Zehn Stunden des Wachens, zehn Stunden dieser Starre, ein Sonnenuntergang und Fledermäuse, die fraßen und bei Tagesanbruch mit vollen Bäuchen in ihren Höhlen verschwanden, – und da, plötzlich, kam Nancy zu sich, wie durch ein Wunder, mit strahlenden Augen.

«Das», verkündete sie, indem sie sich vor dem verblüfften Arzt aufsetzte, «war das Unglaublichste, was ich je erlebt habe.» So als hätte sie gerade einen hypnotisierenden zwölfstündigen Zeichentrickfilm gesehen. Sie behauptete, das Meer habe sich in Eis verwandelt, um sie herum sei Schnee gefallen und alles, das Meer, die Schneeflocken und der weiße, gefrorene Himmel, hätte – pulsiert. «Pulsiert!» rief sie. «Still!» schrie sie den Arzt an, den sprachlosen Muschelsammler. «Es pulsiert immer noch! Bamm! Bamm!»

Sie sei, rief sie aus, von ihrer Malaria geheilt, von ihrem Delirium. Sie sei im Gleichgewicht! «Aber», sagte der Muschelsammler, «du bist doch bestimmt noch nicht völlig wiederhergestellt.» Doch noch während er das sagte, kamen ihm Zweifel. Sie roch anders, wie Tauwasser, wie Schneematsch, wie sich im Frühling erweichende Gletscher. Unter Kreischen und Spritzen verbrachte sie den Vormittag schwimmend in der Lagune. Sie aß eine Dose Erdnußbutter, übte am Strand hohe leg kicks, kochte ein Festmahl, fegte die kibanda und sang mit hoher, kratziger Stimme Neil-Diamond-Songs. Der Arzt fuhr kopfschüttelnd davon. Der Muschelsammler saß auf der Veranda und lauschte den Palmen und dem Meer hinter ihnen.

In der Nacht gab es eine weitere Überraschung. Sie bat darum, noch einmal von so einer Schnecke gebissen zu werden. Sie versprach, anschließend sofort nach Hause zu ihren Kindern zu fliegen. Sie würde am Morgen ihren Mann anrufen und ihn um Verzeihung bitten, aber zuerst müsse er sie noch einmal mit einem dieser unglaublichen Schneckenhäuser stechen. Sie lag auf den Knien. Streckte die Hände nach ihm aus. Sie bettelte: «Bitte!» Sie roch so anders.

Er weigerte sich. Erschöpft und benommen schickte er sie in einem Wassertaxi fort nach Lamu.

Das war nicht die letzte Überraschung. Sein Lebensweg nahm jetzt die entgegengesetzte Richtung, schraubte sich hinab in jenen dunklen, gewundenen Gang. Eine Woche nach Nancys Erholung kam Dr. Kabirus Motorboot wieder über das Riff gestottert. Und hinter ihm kamen andere. Der Muschelsucher hörte die Rümpfe von vier oder fünf Dhauen über die Korallen kommen, hörte das Spritzen, als Leute heraussprangen, um die Boote an Land zu ziehen. Bald war seine kibanda voller Menschen. Sie traten auf die Häuser der Wellhornschnecken, die auf der Eingangsstufe trockneten, stiegen über einen Haufen Käferschnecken bei der Toilette hinweg. Tumaini zog sich unter das Bett des Muschelsammlers zurück und legte die Schnauze auf die Pfoten. Dr. Kabiru verkündete, daß ein mwadhini, der Muezzin von Lamus ältester und größter Moschee, hier sei, um den Muschelsammler zu besuchen, und bei ihm seien die Brüder des mwadhini und seine Schwäger. Der Muschelsammler schüttelte den Männern die Hand, als sie ihm guten Tag sagten, Hände von Dhaubauern, Hände von Fischern.

Der Arzt erklärte ihm, daß die Tochter des mwadhini furchtbar krank sei. Sie sei erst acht Jahre alt, und ihre bereits bösartige Malaria habe sich zu etwas entwickelt, das noch viel bösartiger sei, etwas, das er nicht einordnen könne. Ihre Haut sei senfkorngelb geworden, sie müsse sich mehrmals am Tag übergeben, und ihr fielen die Haare aus. Die letzten drei Tage sei sie im Delirium gewesen, sei immer weniger geworden. Sie habe sich die Haut zerkratzt. Man mußte ihr die Handgelenke ans Kopfteil des Bettes binden. Diese Männer, sagte der Arzt, wollten, daß der Muschelsammler sie auf dieselbe Art behandele, wie er die amerikanische Frau behandelt habe. Man würde ihn bezahlen.

Der Muschelsammler spürte sie eng gedrängt im Raum stehen, diese Meeresmoslems in ihren raschelnden weißen kanzus und ihren quietschenden Gummisandalen, jeder nach seiner jeweiligen Arbeit stinkend – nach ausgenommenem Flußbarsch, nach Dünger oder Schiffsteer – und jeder vorgebeugt, um seine Antwort zu hören.

«Das ist doch lächerlich», sagte er. «Sie wird sterben. Das mit Nancy war irgendwie ein glücklicher Zufall. Das war keine Behandlung.»

«Wir haben alles versucht», sagte der Arzt.

«Was Sie verlangen, ist unmöglich», wiederholte der Muschelsammler. «Schlimmer als unmöglich. Es ist Wahnsinn.»

Stille trat ein. Schließlich sprach eine Stimme direkt vor ihm, eine laute, volltönende Stimme, eine Stimme, die er fünfmal am Tag hörte, wenn sie aus den Lautsprechern über die Dächer von Lamu schwang und die Menschen zum Gebet rief. «Die Mutter des Kindes», begann der mwadhini, «und ich und meine Brüder und die Frauen meiner Brüder und die ganze Insel, wir alle haben für dieses Kind gebetet. Wir haben viele Monate lang gebetet. Manchmal kommt es uns so vor, als hätten wir immer für das Mädchen gebetet. Und heute nun erzählt uns der Arzt von dieser Amerikanerin, die von derselben Krankheit durch eine Schnecke geheilt worden ist. So ein einfaches Mittel. Elegant, würden Sie nicht auch sagen? Eine Schnecke, die fertigbringt, was Laborkapseln nicht schaffen. Bei etwas so Elegantem muß Allah seine Hand im Spiel haben, denken wir. Sie sehen also. Überall um uns herum sind solche Zeichen. Wir dürfen sie nicht ignorieren.»

Der Muschelsammler weigerte sich wieder. «Sie muß klein sein, wenn sie erst acht ist. Ihr Körper wird dem Gift einer Kegelschnecke nicht widerstehen. Nancy hätte sterben können … sie hätte eigentlich sterben müssen. Es wird Ihre Tochter töten.»

Der mwadhini kam näher und legte seine Hände um das Gesicht des Muschelsammlers. «Ist dies nicht», begann er in singendem Tonfall, «ein seltsames und erstaunliches Zusammentreffen? Daß diese Amerikanerin von ihren Leiden geheilt wurde und daß mein Kind ein ähnliches Leiden hat? Daß Sie hier sind und ich hier bin und daß Tiere, die gerade in diesem Augenblick im Sand vor Ihrer Tür herumkriechen, das Mittel dagegen enthalten?»

Der Muschelsammler schwieg eine Weile. Schließlich sagte er: «Stellen Sie sich eine Schlange vor, eine schrecklich giftige Seeschlange. Die Art von Gift, die einen Körper anschwellen läßt, bis er blau wird. Es läßt das Herz stillstehen. Es ruft grauenvolle Schmerzen hervor. Sie wollen, daß diese Schlange Ihre Tochter beißt.»

«Es tut uns leid, das zu hören», sagte eine Stimme hinter dem mwadhini. «Es tut uns sehr leid, das zu hören.» Die Hände des mwadhini hielten immer noch das Gesicht des Muschelsammlers umfaßt. Nach langen Augenblicken des Schweigens wurde der Muschelsammler beiseite gestoßen. Er hörte, wie Männer – wahrscheinlich Onkel – draußen am Spülbecken herumplanschten.

«Ihr werdet da draußen keinen Giftzüngler finden!» schrie er. Tränen stiegen ihm in die Winkel seiner toten Augenhöhlen.

Wie verstörend dieser Einfall unsichtbarer Männer in sein Haus doch war.

Die Stimme des mwadhini fuhr fort: «Meine Tochter ist mein einziges Kind. Ohne sie wird meine Familie leer werden. Sie wird keine Familie mehr sein.»

Die Art, wie seine Stimme die Sätze langsam und schön herausrollte, wie sie jede Silbe einzeln betonte! Der mwadhini war davon überzeugt, das wurde dem Muschelsammler klar, daß ein Schneckenbiß seine Tochter heilen würde.

Die Stimme erklärte weiter: «Sie hören meine Brüder in Ihrem Hof zwischen Ihren Muscheln herumklappern. Es sind verzweifelte Männer. Ihre Nichte liegt im Sterben. Wenn sie müssen, dann werden sie hinauswaten auf die Korallen, wie sie es von Ihnen gesehen haben, und werden Felsblöcke hochwuchten und Korallen herausreißen und den Sand mit Schaufeln durchstechen bis sie finden, wonach sie suchen. Natürlich können auch sie, wenn sie es finden, gebissen werden. Sie können anschwellen und sterben. Sie werden – wie haben Sie das ausgedrückt? – grauenvolle Schmerzen haben. Sie wissen nicht, wie man solche Tiere fängt, wie man sie hält.»

Seine Stimme, die Art, wie er das Gesicht des Muschelsammlers hielt, all das hatte etwas von einer Hypnose.

«Sie wollen, daß dies geschieht?» fuhr der mwadhini fort. Seine Stimme summte, sang, wurde ein murmelnder Sopran. «Sie wollen, daß meine Brüder ebenfalls gebissen werden?»

«Ich will nur zufriedengelassen werden.»

«Ja», sagte der mwadhini, «zufriedengelassen werden. Ein Eigenbrötler, ein Einsiedler, ein mtawa. Was immer Sie wollen. Aber vorher werden Sie eine dieser Schnecken für meine Tochter finden und sie damit stechen. Dann lassen wir Sie zufrieden.»

In Begleitung der Brüder des mwadhini watete der Muschelsammler zusammen mit Tumaini bei Ebbe hinaus aufs Riff und fing an, Steine umzudrehen und den Sand darunter nach einem Giftzüngler zu durchsuchen. Jedesmal, wenn seine Finger durch den lockeren Sand streiften oder in eine von einem Krebs bewachte Höhle in den Korallen tauchten, durchfuhr ein Stromstoß von Angst seinen Arm und brachte seine Finger zum Kribbeln. Conus tessulatus, Conus obscurus, Conus geographus, wer wußte, was er finden würde. Der wartende Stechrüssel, die vergifteten Spitzen eines lauernden Schnappmessers. Man verbringt sein Leben damit, diesen Dingen auszuweichen, und am Ende sucht man sie.

Er flüsterte Tumaini zu: «Wir brauchen eine kleine, so klein wie möglich», und sie schien ihn zu verstehen, als sie, die Rippen an seine Knie gedrückt, durchs Wasser watete oder, wenn es zu tief wurde, paddelte. Aber diese Männer, die in ihren nassen kanzus herumplatschten, umringten ihn und beobachteten ihn vorgebeugt mit dunkler, mahnender Aufmerksamkeit.

Als es Mittag wurde, hatte er einen winzigen, gesprenkelten Giftzüngler, der, so hoffte er, keine Katze lähmen konnte, und er ließ ihn in einen Becher mit Meerwasser fallen.

Sie brachten ihn nach Lamu zum Haus des mwadhini, eine zur Brandung gelegene jumba mit Marmorböden. Sie führten ihn hindurch, eine gewundene Treppe hinauf, vorbei an einem plätschernden Springbrunnen, in das Zimmer des Mädchens. Er nahm ihre Hand – sie war mit den Handgelenken noch immer an die Bettpfosten gebunden – und hielt sie in der seinen. Sie war klein und feucht, und er konnte durch die Haut den zarten Fächer ihrer Knochen fühlen. Er goß den Inhalt des Bechers auf ihre Handfläche und bog ihre Finger einen nach dem anderen herunter und um die Schnecke. Diese schien dort in der zarten Wölbung der Hand zu pulsieren wie das kleine dunkle Herz in einem Singvogel. Er war imstande, sich in allen Einzelheiten den durchsichtigen Stechrüssel der Schnecke vorzustellen, wie er aus dem Sipho glitt, wie sich die stachelartigen Zähne in die Haut bohrten und das Gift in sie eindrang. «Wie», fragte er in die Stille hinein, «ist ihr Name?»

Noch etwas Erstaunliches: Das Mädchen, dessen Name Seema war, wurde gesund. Völlig. Zehn Stunden lang war sie kalt und steif. Der Muschelsammler verbrachte die Nacht an einem Fenster und hörte Lamu zu – Esel, die die Straße heraufgetrappelt kamen, Nachtvögel, die irgendwo in der Akazie zu seiner Rechten glucksende Laute ausstießen, in der Ferne Hammerschläge auf Metall und die Brandung, die gegen die Pfosten der Piers schlug. Er hörte, wie in den Moscheen das Morgengebet gesungen wurde. Allmählich fragte er sich, ob man ihn vergessen hatte, ob das Mädchen schon vor Stunden sanft entschlafen war und niemand daran gedacht hatte, es ihm zu sagen. Vielleicht sammelte sich in aller Stille eine Menschenmenge, um ihn davonzuschleppen und zu steinigen – und hätte er nicht jeden einzelnen Stein verdient?

Aber dann begannen die Köche zu pfeifen und zu schnattern, und der mwadhini, der die ganze Nacht mit betend erhobenen Händen bei seiner Tochter gehockt hatte, eilte vorüber. «Chapatis!» brach es aus ihm hervor. «Sie will Chapatis!» Er brachte sie ihr selbst, kalte Chapatis, mit Mangomarmelade bestrichen.

Am nächsten Tag wußten bereits alle, daß sich im Haus des mwadhini ein Wunder ereignet hatte. Die Nachricht verbreitete sich rasend schnell, wie eine dahintreibende Wolke von Koralleneiern. Sie ließ die Insel hinter sich und lebte eine Zeitlang in der täglichen Unterhaltung der kenianischen Küstenbewohner fort. Die Daily Nation brachte eine Story auf der letzten Seite und der Staatssender KBC einen einminütigen Kurzbericht mit Ausschnitten aus einem Gespräch mit Dr. Kabiru: «Nein, ich war mir nicht hundertprozentig sicher, daß es funktionieren würde. Aber auf Grund meiner eingehenden Forschungen war ich zuversichtlich …»

Innerhalb weniger Tage wurde die kibanda des Muschelsammlers eine Art Pilgerstätte. Zu nahezu jeder Stunde hörte er das Brummen motorisierter Dhaus oder den Ruderschlag von Booten, wenn Besucher über das Riff in die Lagune kamen. Jeder, so schien es, hatte eine Krankheit, gegen die er ein Mittel brauchte. Es kamen Leprakranke und Kinder mit entzündeten Ohren, und es war nichts Ungewöhnliches, wenn der Muschelsammler auf seinem Weg von der Küche zur Toilette in jemanden hineinstolperte. Seine Muscheln wurden weggeschleppt und der säuberliche Haufen geputzter Napfschnecken. Seine ganze Sammlung von Flinders Vasenmuscheln verschwand ebenfalls.

Tumaini, dreizehn Jahre alt und seit langem an ein fest geregeltes Leben mit ihrem Herrn gewöhnt, ging es nicht gut. Aggressiv war sie ohnehin nie gewesen, aber jetzt jagte ihr so gut wie alles Angst ein – Termiten, Feuerameisen, Steinkrabben. Beim Anblick des aufgehenden Mondes bellte sie sich die Stimme aus dem Leib. Den größten Teil der Zeit verbrachte sie unter dem Bett des Muschelsammlers, zuckte zurück, wenn sie die Krankheiten der fremden Menschen roch, und hob noch nicht einmal den Kopf, wenn sie hörte, wie ihr Futternapf auf den gefliesten Küchenfußboden gestellt wurde.

Es gab schlimmere Probleme. Die Leute folgten dem Muschelsammler hinaus in die Lagune, stolperten und fielen auf die Steine oder die niedrigen Bänke lebender Korallen. Eine Frau von cholerischem Wesen kam mit Feuerkorallen in Berührung und wurde von dem Schmerz ohnmächtig. Andere, die glaubten, sie sei vor Entzücken ohnmächtig geworden, warfen sich auf die Korallen und trugen so böse Verbrennungen davon, daß sie sich weinend davonmachten. Selbst nachts, wenn der Muschelsammler versuchte, sich mit Tumaini den Pfad hinabzustehlen, erhoben sich Pilger aus dem Sand und folgten ihm. Dann platschten in der Nähe unsichtbare Füße, und ungesehene Hände durchsiebten still seinen Sammeleimer.

Der Muschelsammler wußte, daß irgendwann etwas Furchtbares passieren würde, es war nur eine Frage der Zeit. Er hatte Alpträume, in denen er eine von Gift aufgedunsene Leiche in der Brandung schaukeln sah. Manchmal kam es ihm so vor, als wäre das ganze Meer ein einziger Kübel voll Gift, in dem sich Heerscharen von Bösewichtern tummelten – Sandaale, brennende Korallen, Seeschlangen, Krebse, Portugiesische Galeeren, Barrakudas, Mantas, Haifische, Seeigel. Wer konnte wissen, welcher Giftzahn sich als nächster in Haut schlagen würde?

Er hörte mit dem Muschelsammeln auf und suchte sich andere Beschäftigungen. Eigentlich hätte er seiner Universität Muscheln senden sollen (er hatte die Lizenz, alle zwei Wochen eine Kiste voll zu schicken), aber er füllte die Kisten mit alten Exemplaren – Cerithien oder Cephalopoden, die er in Schränken liegen oder in Zeitungspapier eingewickelt hatte.

Und dann waren auch immer Besucher da. Er machte ihnen Kannen voll chai, versuchte, ihnen höflich zu erklären, daß er keine Giftzüngler habe und daß sie ernsthaft verletzt oder getötet werden würden, wenn einer sie bisse. Ein Reporter von der BBC erschien und eine wunderbar riechende Frau von der International Tribune, und er bat sie, über die Gefährlichkeit der Conus-Schnecken zu schreiben. Aber sie waren mehr an Wundern als an Schnecken interessiert. Sie fragten ihn, ob er versucht habe, ein solches Schneckenhaus auf seine Augen zu pressen, und klangen enttäuscht, als er dies verneinte.

Nach einigen Monaten ohne Wunder ließen die Besuche nach, und Tumaini kam unter dem Bett hervorgekrochen. Trotzdem erschienen immer noch Menschen mit dem Wassertaxi, neugierige Touristen oder cholerische alte Leute, die kein Geld für einen Arzt hatten. Trotzdem ging der Muschelsammler nicht hinaus ins Wasser – aus Angst, man könnte ihm folgen. Und dann war eines Tages in der Post, die zweimal monatlich mit dem Boot kam, ein Brief von Josh.

Josh war der Sohn des Muschelsammlers, ein Camp-Koordinator in Kalamazoo. Wie seine Mutter, die seit dreißig Jahren die Tiefkühltruhe des Muschelsammlers mit tiefgefrorenen Mahlzeiten füllte, obwohl sie seit sechsundzwanzig Jahren von ihm geschieden war, war auch Josh ein Gutmensch. Mit zehn Jahren baute er auf dem Rasen hinter dem Haus seiner Mutter Zucchini an und verteilte diese dann, eine nach der andern, an Suppenküchen in St. Petersburg, Florida. Wo immer er ging, hob er weggeworfenes Papier auf, brachte in den Supermarkt seine eigenen Tüten mit und schickte jeden Monat einen Luftpostbrief nach Lamu, Briefe, die aus einer halben Seite exklamatorischer Brailleschrift bestanden, ohne einen einzigen wesentlichen Satz zu enthalten:

Hallo Paps. Hier in Michigan läuft es einfach super! Ich wette, in Kenia scheint die Sonne! Viel Spaß am Tag der Arbeit! Tausend Grüße!

In diesem Monat war der Brief jedoch anders:

Lieber Paps!

… ich bin ins Friedenskorps eingetreten! Ich werde drei Jahre lang in Uganda arbeiten! Und rate mal, was noch? Vorher werde ich Dich eine Zeitlang besuchen! Ich habe von den Wundern gelesen, die Du vollbracht hast – man berichtet sogar hier davon, z.B. in The Humanitarian! Ich bin so stolz! Bis bald!

Sechs Morgen später kam Josh mit einem Wassertaxi angerauscht. Gleich wollte er wissen, warum für die Kranken, die sich im Schatten hinter der kibanda zusammendrängten, nicht mehr getan würde. «Gütiger Gott!» rief er aus, während er sich die Arme dick mit Sonnenöl einschmierte. «Diese Menschen leiden! Diese armen Waisenkinder!» Er kauerte sich vor drei Kikuyu-Jungen. «Ihre Gesichter sind voller winziger Fliegen!»

Wie komisch es war, seinen Sohn unter seinem Dach zu haben, zu hören, wie er die Reißverschlüsse seiner riesigen Matchsäcke aufmachte, auf seinen Schick-Rasierapparat auf dem Spülbecken zu stoßen. Seine Rügen zu hören («Du fütterst deinen Hund mit Garnelen!?»), zu hören, wie er Papayasaft in sich hineinschüttete, Pfannen scheuerte, Arbeitsflächen abwischte. Wer war dieser Mensch in seinem Haus? Woher kam er?

Der Muschelsammler hatte schon immer den Verdacht gehabt, daß er seinen Sohn kein bißchen kannte. Josh war von seiner Mutter großgezogen worden. Als Junge hatte er das Baseballfeld dem Strand vorgezogen, das Kochen der Konchologie. Und jetzt war er dreißig. Er schien so energiegeladen zu sein, so gut – so dumm. Er war wie ein Golden Retriever, der apportiert, sabbert, hechelt und es um jeden Preis allen recht machen will. Er verbrauchte zwei Tagesrationen Süßwasser, um die Kikuyu-Jungen zu duschen. Er gab siebzig Schilling für einen Sisalkorb aus, der ihn nur sieben hätte kosten dürfen. Er bestand darauf, Gästen Freßpakete mitzugeben, Kochbananen oder House of Mangi Tea Biscuits, in Papier eingewickelt und mit einem Faden verschnürt.

«Dir geht es glänzend, Paps», verkündete er eines Abends bei Tisch. Er war seit einer Woche da. Jeden Abend lud er Fremde, Kranke, zum Essen ein. An jenem Abend war es ein querschnittsgelähmtes Mädchen mit seiner Mutter. Josh tat ihnen große Stücke Currykartoffeln auf. «Du kannst es dir leisten.» Der Muschelsammler sagte nichts. Was konnte er auch sagen? Josh war sein eigen Fleisch und Blut. Dieser dreißigjährige Gutmensch war irgendwie aus ihm entstanden, aus den Spiralen seiner DNA.

Da er Josh nur bedingt ertragen konnte und aus Angst, man könnte ihm folgen, auch nicht Muscheln sammeln konnte, ging er dazu über, sich mit Tumaini wegzustehlen und durch die schattigen Wäldchen, über die sandige Ebene und durch den heißen, kahlen Busch der Insel zu streifen. Es war ungewohnt, sich vom Strand zu entfernen statt zu ihm hinunterzugehen, schmale Pfade hinaufzusteigen, sich in das unaufhörliche Schrillen der Zikaden hineinzubegeben. Dornen zerrissen sein Hemd, Insekten machten sich über seine Haut her, sein Stock stieß auf nicht zu identifizierende Objekte. War das ein Zaunpfahl? Ein Baum? Bald wurden diese Gänge kürzer. Raschelte da nicht etwas im Gebüsch? Schlangen oder vielleicht wilde Hunde? Wer weiß, was für gräßliche Viecher im Busch dieser Insel ihr Unwesen trieben? Und er schwenkte seinen Stock in der Luft, und Tumaini jaulte auf, und sie machten, daß sie nach Hause kamen.

Eines Tages traf er unterwegs auf eine Conus-Schnecke, die sich einen halben Kilometer vom Meer entfernt durch den Staub schleppte. Conus textile, eine durchaus häufig vorkommende Gefahr im Riff, aber sie so weit entfernt vom Wasser anzutreffen war eigentlich unmöglich. Wie konnte ein Giftzüngler so weit heraufkommen? Und warum? Er hob sie vom Weg auf und warf sie ins hohe Gras. Auf seinen späteren Wanderungen traf er immer häufiger auf wandernde Conus-Arten – seine ausgestreckte Hand berührte den Stamm einer Akazie und fand darauf einen wandernden Giftzüngler. Er nahm einen Landeinsiedlerkrebs auf, der zwischen den Mangos umherspazierte, und entdeckte einen Giftzüngler als Schwarzfahrer auf seinem Rücken. Manchmal bekam er einen Stein in die Sandale, und dann fuhr er zusammen und machte entsetzt einen Satz rückwärts, weil er dachte, er würde gestochen. Er hielt einen Kiefernzapfen für einen Conus gloriamaris, eine Baumschnecke für einen Conus spectrum. Er fing an, seine vorherigen Einordnungen in Zweifel zu ziehen. Vielleicht war die Schnecke, die er auf dem Weg gefunden hatte, überhaupt kein Giftzüngler gewesen, sondern eine Mitra oder ein abgerundeter Stein. Vielleicht war es ein leeres Gehäuse, das ein Dorfbewohner hatte fallen lassen. Vielleicht gab es gar keine merkwürdig blühende Population von Kegelschnecken, vielleicht hatte er sich alles nur eingebildet. Das alles nicht zu wissen war schrecklich.

Alles veränderte sich, das Riff, sein Zuhause, die arme, verängstigte Tumaini. Die ganze Insel draußen war unheimlich geworden, bösartig, lähmend. Im Haus war sein Sohn dabei, alles wegzugeben – den Reis, das Toilettenpapier, die Vitamin-B-Kapseln. Vielleicht war es am sichersten, einfach nur dazusitzen, mit gefalteten Händen, auf einem Stuhl, und sich so wenig wie möglich zu bewegen.

Josh war schon drei Wochen da, als er endlich mit der Sache herauskam.

«Bevor ich mich auf den Weg hierher gemacht habe», sagte er, «habe ich mich ein bißchen schlau gemacht. Über Conus-Schnecken.» Es war am frühen Morgen. Der Muschelsammler saß am Tisch und wartete darauf, daß Josh ihm Toast machte. Er sagte nichts.

«Man vermutet, daß das Gift von echtem medizinischem Nutzen sein kann.»

«Wer ist ‹man›?»

«Wissenschaftler. Sie sagen, daß sie bei dem Versuch sind, einige der Toxine zu isolieren, um sie Schlaganfallpatienten zu verabreichen. Gegen die Lähmung.»

Der Muschelsammler wußte nicht so recht, was er sagen sollte. Am liebsten hätte er gesagt, daß ihm die Idee, jemandem, der bereits halbseitig gelähmt war, Conus-Gift zu spritzen, erstaunlich töricht vorkam.

«Wäre das nicht toll, Paps? Wenn das, was du getan hast, dazu führen würde, daß Tausenden von Menschen geholfen werden kann?»

Der Muschelsammler rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Versuchte zu lächeln.

«Ich fühle mich erst so richtig lebendig», fuhr Josh fort, «wenn ich Menschen helfe.»

«Es riecht nach verbrennendem Toast, Josh.»

«Auf der Welt gibt es so viele Menschen, denen wir helfen können, Paps. Ist dir klar, was für ein Glück wir haben? Was für ein Wunder es ist, überhaupt gesund zu sein? Die Hand ausstrecken zu können?»

«Der Toast, Junge.»

«Scheiß auf den Toast! Mein Gott, was bist du bloß für ein Mensch! Vor deiner Tür sterben die Leute, und du interessierst dich nur für deinen Toast!»

Er rannte hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Der Muschelsammler saß da und roch, wie der Toast verbrannte.

kibandaIndo-Pacific MolluscaAmerican Conchologist