Verlag C.H.Beck
Am 5. Februar 1890 trug das Königliche Amtsgericht I in Berlin ein neues Unternehmen in das Handelsregister ein: die „Allianz“ Versicherungs-Aktien-Gesellschaft. 125 Jahre später ist die Allianz einer der größten internationalen Finanzdienstleister. Die faszinierende Geschichte des Unternehmens wird in diesem Buch ebenso anschaulich wie kurzweilig erzählt.
Schon vor dem Ersten Weltkrieg war die Allianz ins internationale Versicherungsgeschäft eingestiegen. Doch die beiden Weltkriege machten die frühen Versuche einer globalen Ausdehnung zunichte. Erst in den 1980er Jahren konnte die Allianz wieder den bereits vor 1914 vorhandenen Grad an Internationalisierung erreichen und schaffte den Durchbruch zum weltweit tätigen Versicherer. Auf dem Heimatmarkt besaß die Allianz bereits seit den 1920er Jahren eine führende Stellung, an die nach 1945 angeknüpft werden konnte. Barbara Eggenkämper, Gerd Modert und Stefan Pretzlik beschreiben die Geschäftsfelder des Unternehmens sowie die unterschiedlichen Strategien der verschiedenen Vorstände und beleuchten die Arbeitswelten sowie ihren Wandel im Rahmen der zunehmenden Technisierung. So entsteht eine vielschichtige Erzählung der 125-jährigen Geschichte der Allianz, in der nicht nur die Führungsetage, sondern auch die vielen Mitarbeiter eine Stimme haben.
Barbara Eggenkämper ist Leiterin des Firmenhistorischen Archivs der Allianz. Gerd Modert und Stefan Pretzlik arbeiten als Historiker für das Firmenhistorische Archiv.
Vorwort
Dank der Autoren
1. 1890–1918 Gründerjahre und Erster Weltkrieg
(Stefan Pretzlik)
Die Gründung der Allianz
Die ersten Jahre
Der Versicherungsbeamte und die «Fräulein»
Neue Branchen und erste Fusionen
Der Vertrieb
Auslandsgeschäft und Erster Weltkrieg
2. 1918–1933 Krisen, Rationalisierung und Wachstum
(Gerd Modert)
Eine neue Allianz – eine neue Generation übernimmt
Krisen meistern: Maß halten, umbauen und fusionieren
Wie die Allianz die Inflation überstand
Goldene Zwanziger? – Rationalisierung, Wachstum, Krise
Kommunikation: Zeitungen, Reklame, Öffentlichkeitsarbeit
Internationale Märkte
3. 1933–1948 Die Allianz: NS-Zeit und Wiederaufbau
(Gerd Modert)
1933: Kurt Schmitt, die Allianz und der Nationalsozialismus
«Die Versicherung muss verdienen» – wirtschaftliche Entwicklung und Anpassung
Die Allianz, ihre jüdischen Mitarbeiter und Kunden und die antisemitische Politik des NS-Regimes
Krieg, Frieden, Wiederaufbau
4. 1948–1970 Wirtschaftswunder und grenzenloses Wachstum
(Stefan Pretzlik)
Ein neuer Gesellschaftssitz
Eine neue Hauptverwaltung
Die Renten der Allianz
Die Kunden kommen mit dem Auto
Sag’ es heiter, Du kommst weiter!
Hoffentlich Allianz versichert
Der Betrieb verändert sich
Auf dem Weg zum Mitarbeiter
Mitbestimmung im Unternehmen
Die Vertreter der Allianz
Der kleine Mann und die Lebensversicherung
Die «Deutschland AG»
Der Umgang mit neuen Risiken: Das Atomzeitalter beginnt
Der mühsame Neubeginn im Ausland
5. 1970–1990 Wege der Internationalisierung
(Barbara Eggenkämper)
Machtwechsel und Generationswechsel
1970: Verluste und Sanierung
Sanierung der KFZ-Versicherung
Service und Sicherheitsforschung
Rationalisierung und Kostenmanagement
Erfolg im Lebensgeschäft
1977: Ein einheitliches Erscheinungsbild der Allianz
Atomenergie: Versicherung einer strahlenden Vision
Der Blick über die Grenzen: Erste Schritte im Ausland
Die Gründung der Allianz International Insurance Co. Ltd., London
Forcierter Ausbau des Auslandsgeschäfts
1985: Auf dem Weg zur Allianz AG Holding
1985–1990: Die Veränderungen des internationalen Geschäfts nach der Holdingbildung
Der Europäische Binnenmarkt
6. 1990–2015 Der internationale Finanzdienstleister
(Barbara Eggenkämper)
Die Allianz in den 1990er Jahren
Wandel in der Unternehmenskultur
Der Transformationsprozess in den 1990er Jahren
Von der Wende zum Global Player
Die Allianz in Asien
Asset Management und Bankgeschäft
1999: Ein neues Corporate Design
Die Allianz zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Die Gründung der SE
Eine starke Gemeinschaft mit Zukunft
Anhang
Anmerkungen
Bildnachweis
Archivverzeichnis
Orts-, Personen- und Sachregister
Die Allianz wurde 1890 in Berlin von Wilhelm von Finck und Carl von Thieme gegründet. Zum 50-jährigen Unternehmensjubiläum, einige Monate nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, schrieb Rudolf Hensel, Chronist und Vorstandsmitglied der Allianz, in seiner Festschrift: «Der Name der Allianz ist Programm: Allianz bedeutet Bündnis, bewusst gewählt in den jungen Jahren des Kaiserreichs.» Hier liegt ihr auf der Idee der Gemeinschaft beruhendes unternehmerisches Selbstverständnis begründet. Heute, 125 Jahre nach der Gründung, hat die Allianz entscheidende Etappen auf ihrem Weg dahin zurückgelegt, zur weltweit stärksten Finanzgemeinschaft zu werden.
Über den Zeitraum von 125 Jahren ist eine vielfältige und weltumspannende Gemeinschaft entstanden, in der die Allianz ganz unterschiedlichen Gruppen ein krisenfester und verlässlicher Partner ist: Zum einen sind da die fast 150.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die Akteure ihres weltweiten Vertriebsnetzes. Sie arbeiten für 83 Millionen Kunden und im Auftrag von 430.000 Aktionären. Zudem steht die Allianz mit Verbänden, Nichtregierungsorganisationen, Gesetzgebern und Aufsichtsbehörden in regelmäßigem Dialog. Weil sie darüber hinaus von der unternehmerischen Verantwortung für die Zukunft überzeugt ist, begleitet sie als Versicherer und Investor wichtige globale Entwicklungen, wie den demographischen Wandel oder die Klimaveränderungen und ihre Folgen.
In den 1990er Jahren wandelten sich die Ansprüche der Öffentlichkeit gegenüber dem Unternehmen: Immer mehr Menschen forderten mehr Informationen über und verantwortliches Einstehen für früheres und aktuelles Handeln. Angetrieben von Henning Schulte-Noelle öffnete sich daraufhin die Allianz gegenüber Politik und Gesellschaft. Dieser Wandel drückte sich unter anderem darin aus, dass das Firmenhistorische Archiv gegründet wurde und den Auftrag erhielt, sich auch den ambivalenten und schwierigen Phasen der Unternehmensgeschichte zu stellen. Das ist mit einer Reihe von Projekten und Publikationen unter der Leitung von Barbara Eggenkämper, wie etwa zur Geschichte der Staatlichen Versicherung der DDR, geschehen. Das hier von den drei Historikern Barbara Eggenkämper, Gerd Modert und Stefan Pretzlik vorgelegte Buch zum 125-jährigen Jubiläum bietet eine Überblicksdarstellung zur Geschichte der Allianz seit ihrer Gründung. Es folgt auf die vor mehr als einem Jahrzehnt veröffentlichte, wegweisende Studie Gerald D. Feldmans zur Geschichte der Allianz und der deutschen Versicherungswirtschaft in der Zeit des Nationalsozialismus, an der die drei Autoren bereits mitgewirkt hatten. Beide Werke bezeugen das nachhaltige Interesse des Unternehmens an der eigenen Vergangenheit. Die Erkenntnis, dass die Allianz als großes Finanzunternehmen wichtiger Akteur und Bestandteil der deutschen wie der internationalen Wirtschafts- und Versicherungsgeschichte ist, verpflichtet sowohl heute wie auch in Zukunft dazu, die eigene Geschichte historisch-kritisch aufzuarbeiten.
In 125 Jahren hat sich die Allianz von einem deutschen zu einem globalen Unternehmen gewandelt. In ihrer Entwicklung spiegelt sich die Geschichte Deutschlands, Europas und der Welt. Vor diesem Hintergrund erzählt das Buch den Weg der Allianz in sechs Kapiteln, beispielhaft durch mündliche Überlieferung veranschaulicht und durch eine Vielzahl historischer Quellen belegt. Die ersten drei Entwicklungsphasen des am 5. Februar 1890 als «Allianz» Versicherungs-Aktien-Gesellschaft in die Wirtschaftsgeschichte eingetretenen Unternehmens vollziehen sich während des ausgehenden Kaiserreiches und seinem Untergang im Ersten Weltkrieg, während der politisch instabilen Weimarer Republik mit Inflation und Weltwirtschaftskrise sowie zur Zeit der nationalsozialistischen Diktatur bis hin zur «Stunde Null» 1945 und dem Beginn der wirtschaftlichen Stabilisierung im Zuge der Währungsreform des Jahres 1948. In den letzten drei Kapiteln geht es um den erstaunlich rasch bewältigten Wiederaufbau des ökonomischen Lebens und des Unternehmens in der Zeit des Wirtschaftswunders, in dessen Sog die Allianz zum größten europäischen Versicherer wird, dann vor allem um die Rückkehr in die internationale Gemeinschaft der Versicherer und den allmählichen aber stetigen Aufstieg zu einer stark internationalisierten Gesellschaft, die heute in einer globalisierten Welt als Versicherer und darüber hinaus als internationaler Finanzdienstleister agiert.
Trotz aller politischen, wirtschaftlichen und unternehmerischen Brüche, Erschütterungen, Krisen und Katastrophen verläuft die Geschichte der Allianz mit einer bemerkenswerten Kontinuität. Unter den sich in 125 Jahren stetig wandelnden historischen Bedingungen hat die Allianz ihr unternehmerisches Selbstverständnis bewahrt – und dabei die Idee von der Gemeinschaft zwischen dem Unternehmen und seinen Kunden zum globalen Bündnis ausgeweitet. Seit ihrer Gründung im Jahr 1890 bietet die Allianz Menschen jeden Alters, in allen Lebenslagen – und heute auch in aller Welt – die Möglichkeit, sich gegen fast alle erdenklichen Risiken abzusichern. Die Grundlagen dafür wurden – das zeigt das vorliegende Buch anschaulich – in den 125 Jahren ihrer Geschichte gelegt.
Es freut mich außerordentlich, dass das Buch seinen Platz im Programm des Verlages C.H.Beck gefunden hat. Ich danke besonders dem Lektor Dr. Sebastian Ullrich für die ausgezeichnete Zusammenarbeit.
Emilio Galli-Zugaro
(Leiter Unternehmenskommunikation, Allianz Group)
Der Dank der Autoren gilt einer großen Zahl von Personen, die uns auf vielfältige Weise unterstützt haben: Emilio Galli-Zugaro als souveräner Mentor des Projektes, Flavia Genillard als Beraterin zu allen Fragen aus der jüngeren Geschichte der Allianz, Dr. Wolfgang Winter als juristischer Berater, Pietro Marchetti und Gaia Furlan für Informationen und Materialien zur Versicherung in Italien und für ihre überragende Gastfreundschaft, Elisabeth Fahlbusch für die umfangreichen Transkriptionsarbeiten und die Mithilfe bei der Verzeichnung ganzer Archivbestände durch Dr. Petra Spona und Ruth Alexander, Bianca Döring für die aufwändigen Foto- und Rechterecherchen, Dr. Michael Westdickenberg für Beratung, Gastfreundschaft, Expertise in Fragen der Fotografie und umfangreiche Recherchen sowie Dr. Barbara von Benthem für Lektorat der deutschen und englischen Texte.
Wir danken allen Interviewpartnern, die im Laufe der Jahre geholfen haben, wesentliche Aspekte der Geschichte der Allianz lebendig zu machen: Dr. Peter Adolff, Michael Beckord, Heidemarie Brandl, Dr. Benno Freiherr von Canstein, Heinz Dollberg, Hansjörg Dorschel, Barbara Eichberger, Horst Fickel, Peter Haas, Bernd Honsel, Christian Maenz, Ulrike Mascher, Alexander Metz, Heinrich Niemöller, Helmut Perlet, Erika Remmele, Dr. Henning Schulte-Noelle, Luise Stepken, Dr. Günter Ullrich, Alexander von Yxkull.
Schließlich gilt unser Dank allen Mitarbeitern des Verlags C.H.Beck, die an diesem Buch beteiligt waren, und den Kollegen Susanne Bluhm, Stefan Fister, Christine Gandowitz, Susanne Gehring, Karl Grimm, Bernhard Härter, Dr. Rolf Herkelrath, Rosa de Simone, Karl Snethlage, Christopher Worthley, die uns durch spontane Hilfe, ihr Wissen, ihr Interesse und ihre Sympathie geholfen haben.
Am 5. Februar 1890 trägt das Königliche Amtsgericht I zu Berlin ein neues Unternehmen in das Gesellschaftsregister ein. Der Name der Gesellschaft lautet: «Allianz» Versicherungs-Aktien-Gesellschaft. Dies ist das offizielle Gründungsdatum der Allianz. Will man jedoch verstehen, wieso es zur Gründung der Allianz gekommen war, muss man den Blick ein Stück weiter zurück werfen.[1]
Es war im Jahre 1880, als zwei junge Männer gemeinsam die Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft gründeten. Der 35-jährige Carl Thieme (1844–1924) leitete bis dato die Münchner Generalagentur der Thuringia Versicherungs-Gesellschaft aus Erfurt und hatte sich dabei als sehr erfolgreich erwiesen. Der 32-jährige Wilhelm Finck (1848–1924) war Teilhaber des Bankhauses Merck, Finck & Co., dessen Prokurist und «von Anfang an die Seele des Geschäftes». Beide, Thieme und Finck, wurden später für ihre Verdienste von der bayerischen Krone in den Adelsstand erhoben.[2]
Damals existierten zwar bereits 13 deutsche Rückversicherer, ihre gesamten Prämieneinnahmen beliefen sich allerdings auf nur 13 Millionen Mark im Vergleich zu 45,5 Millionen Mark Prämieneinnahmen der deutschen Erstversicherer. Bis auf die Kölnische Rückversicherungs-Gesellschaft, die eigenständig war, gehörten zudem alle zu deutschen Erstversicherungsgesellschaften, die mit Hilfe einer Rückversicherungstochter ihre weitere Geschäftsentwicklung absichern wollten.[3]
Die Münchener Rück wurde nun nicht etwa von der Thuringia oder mit deren Kapital gegründet, sondern orientierte sich am Beispiel der Kölnischen Rück und blieb unabhängig. Als trotzdem das Gerücht auftauchte, die Münchener Rück sei eine Tochter der Thuringia, trat Carl Thieme dem in einem Brief an Wallmann’s Versicherungs-Zeitschrift entschieden entgegen: «Dieselbe wird sich vielmehr in keinerlei gleichsam töchterlichen Beziehung zu einer directen Gesellschaft setzen, sondern bereit sein, mit jeder soliden deutschen Anstalt in ein Rückversicherungs-Verhältnis zu treten.» Tatsächlich stellten das Bankhaus Merck, Finck & Co. sowie weitere Geschäftspartner der beiden Gründer außerhalb der Versicherungswirtschaft das Kapital zur Verfügung. Carl Thieme wollte einen Rückversicherer erschaffen, der für keinen Erstversicherer eine Konkurrenz darstellte und auf diese Weise offen war für alle Versicherungsgesellschaften. Der Erfolg gab ihm Recht: Nur 20 Jahre später schrieb der Versicherungsjurist Albert Ehrenzweig im österreichischen Assecuranz-Jahrbuch ganz im Duktus der Zeit: «Die deutsche Rückversicherungs-Industrie ist eine Grossmacht geworden.» Dies führte er darauf zurück, dass sich die Rückversicherer nicht mehr «den Dictaten der Assecuranzanstalten geduldig fügen», sondern Einfluss auf die Verbesserung von deren Geschäften nähmen. Ehrenzweig ließ keinen Zweifel daran, wer dafür verantwortlich war: «Die Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft hat diese Revolution bewirkt.» Ob Thieme dies bereits bei der Gründung angestrebt hatte, ist nicht überliefert. Es war ihm auf jeden Fall gelungen, die Münchener Rück als eigenständigen und zudem gewichtigen Faktor auf dem Versicherungsmarkt zu etablieren.[4]
Knapp zehn Jahre später planten Thieme und Finck, ihr Erfolgsmodell zu wiederholen. Einerseits benötigte die Münchener Rück einen Partner für die Feuerrückversicherung, die bei Weitem den größten Anteil an den Prämien ausmachte, andererseits hatten Thieme und seine Mitstreiter eine noch junge Branche ausgemacht, die gute Gewinne abwarf und von der sie sich auch in Zukunft gute Geschäfte erhofften: die Unfallversicherung.[5]
Im Jahre 1871 erließ das im selben Jahr gegründete Deutsche Kaiserreich ein «Gesetz, betreffend die Verbindlichkeit zum Schadenersatz für die bei dem Betriebe von Eisenbahnen, Bergwerken ec. herbeigeführten Tödtungen und Körperverletzungen». Dies war bitter nötig geworden. Denn immer öfter kam es in den neu entstehenden Industriebetrieben und den expandierenden Bergwerken zu Unfällen mit Verletzten und Getöteten. So starben 1869 bei einer großen Bergwerkskatastrophe im Erzgebirge in Sachsen beispielsweise an die 300 Bergleute nach einer Schlagwetterexplosion. Das Reichshaftpflichtgesetz sah nun vor, dass der Arbeitgeber bei einem Arbeitsunfall den Arbeiter entschädigen musste. Um den Arbeitgebern dieses Risiko abzunehmen, wurden in den 1870er Jahren Unfallversicherungsgesellschaften wie der Allgemeine Deutsche Versicherungs-Verein (ADVV) gegründet. Viele dieser Gesellschaften stellten allerdings nach der Einführung der gesetzlichen Unfallversicherung 1884 durch Reichskanzler Otto von Bismarck den Betrieb wieder ein, da sie glaubten, dass nun kein Raum mehr bleibe für die private Unfallversicherung. Carl Molt dagegen, der Chef des ADVV, sah dies eher als Chance, wie der Versicherungshistoriker Ludwig Arps in einer biografischen Skizze Molts sehr eindrucksvoll herausarbeitete: «Das Reichsunfallgesetz sicherte nicht alle Arbeitnehmer und galt nicht für alle Wirtschaftszweige. Nichtversicherte Arbeitnehmer würden angesichts der Leistungen aus dem Unfallgesetz verstärkt Ansprüche stellen, in den dem Unfallgesetz nicht unterworfenen Wirtschaftszweigen würden Geschädigte auch darauf sinnen, ob und wie sie Haftpflichtansprüche stellen könnten. Das würde auf andere Bereiche übergreifen, wie die Haftung von Hausbesitzern, Gastwirten und freien Berufen. Und schließlich konnten die Berufsgenossenschaften bei den Unternehmern unter bestimmten Voraussetzungen bei Betriebsunfällen Regress nehmen, der sehr teuer werden konnte. Haftpflichtansprüche zu stellen, würde sozusagen populär werden und deshalb die Haftpflichtversicherung wichtiger als zuvor.»[6]
Carl Thieme (1848–1924) war Gründer und erster Chef der Allianz bis 1904. Thieme leitete zudem von 1880 bis 1922 die Münchener Rück.
Und tatsächlich konnte Molt bereits für das Jahr 1886 Rekordzahlen für Neuanträge sowohl in der Haftpflicht- als auch in der Unfallversicherung und zwei Jahre später erstmals über 1 Million Mark Beitragseinnahmen verkünden. Einstimmig entlastete am 25. Mai 1889 die Generalversammlung den Vorstand, indem sich alle Anwesenden von ihren Plätzen erhoben. Dies war wohl nicht nur ein formaljuristischer Vorgang, sondern sollte auch die Zufriedenheit der Mitglieder mit der für viele Beobachter sicher unerwarteten Geschäftsentwicklung des ADVV zum Ausdruck bringen.[7]
Der Miteigentümer des Bankhauses Merck, Finck & Co, Wilhelm Finck (1848–1924), stand von 1890 bis zu seinem Tod dem Aufsichtsrat der Allianz vor.
Die Zufriedenheit mit dem Unfallgeschäft teilte die Münchener Rück mit dem ADVV, erbrachte dieses doch einen Gewinn von durchschnittlich einem knappen Drittel der Prämie. Daher entflammte intern eine Diskussion darüber, wie man die Einnahmen aus der Branche, von der angenommen wurde, dass sie noch über Jahre gute Ergebnisse liefern würde, ausbauen könne. Leider sei das Rückversicherungsbedürfnis nur gering, kann man in einem Thieme zugeschriebenen Memorandum lesen, sodass man nur als Direktversicherer an dieses Geschäft in nennenswertem Umfang herankomme. Sollte die Münchener Rück ihr so erfolgreiches Geschäftsmodell nach zehn Jahren opfern und das direkte Geschäft in der Unfallversicherung aufnehmen? Man entschied anders: Thieme gründete mit Wilhelm Finck, dem Rechtsanwalt Hermann Pemsel, dem Direktor der Süddeutschen Bodenkreditbank Friedrich von Schauß und dem bayerischen Industriellen Hugo Ritter von Maffei, die alle auch dem Aufsichtsrat der Münchener Rück angehörten, in Berlin eine neue Gesellschaft für die direkte Unfallversicherung. Unterstützt wurde ihr Vorhaben von dem rheinischen Industriellen Heinrich Lueg und einer starken Berliner Fraktion: der Deutschen Bank, deren Repräsentanten Otto Oechelhäuser, dem Wirtschaftspolitiker Friedrich Hammacher und dem Unfallversicherungsexperten Bruno Pohl. Gemeinsam mit Merck, Finck & Co. hielt dieser Kreis das gesamte Grundkapital der Allianz in Höhe von 4 Millionen Mark, wobei von Anfang an festgelegt war, dass die Deutsche Bank einen Teil ihrer Aktien an die Bayerische Vereinsbank und Merck, Finck & Co. einen Teil der ihren an die Dresdner Bank weiterreichen sollten, was sie dann auch sehr bald taten.[8]
Die Aktienkultur im ausgehenden 19. Jahrhundert ist kaum mit der heutigen zu vergleichen. Zwar hatte sich die Aktiengesellschaft als Unternehmensform bewährt und setzte sich immer mehr durch, da sie organisatorische Vorteile bot und die Kapitalbereitstellung vereinfachte. Allerdings war die Aktie wie fast alle Geldanlagen einer sehr kleinen Schicht Vermögender vorbehalten. Dies spiegelt sich auch im Falle der Allianz wider. Denn einerseits lag die Zahl der Aktien bei nur 4000 Stück, was bei 4 Millionen Mark Grundkapital zu dem für heutige Verhältnisse hohen Nennwert der Aktie von 1000 Mark führte. Andererseits war die Aktie nur zu 25 Prozent einbezahlt. Dies bedeutete für den Investor, dass er jederzeit gewärtig sein musste, die restlichen 75 Prozent nachzuschießen, falls das Unternehmen in Geldnöte geriet. Die Allianz hatte daher größtes Interesse an solventen Aktionären und gab folglich nur vinkulierte Namensaktien aus. Diese waren auf den Namen des Inhabers ausgestellt, dessen Stand, Wohnort und das Erwerbsdatum wurden in dem vom Unternehmen geführten Aktienbuch eingetragen. Eine Übertragung der Aktien auf einen anderen Inhaber, und genau das besagt der Zusatz «vinkuliert», war an die Zustimmung des Aufsichtsrats gebunden. Und die Herren, die dort zusammensaßen, wussten sicherlich sehr genau, wem sie Aktien zubilligen wollten und wem nicht. Die Nachschusspflicht nahm die Allianz, trotz aller Krisen wie Weltkrieg und Inflation, erstmals 1926 wahr, als die Einzahlungsquote von 25 auf 26 Prozent erhöht wurde. Die Gründer zahlten zusätzlich zu dem Preis für die Aktie in Höhe von 250 Mark weitere 40 Mark je Aktie für Gründungs- und Organisationskosten. Diese 160.000 Mark reichten der Allianz, um in der Anfangszeit genügend Barmittel zur Verfügung zu haben. Die Kosten für Personal und Geschäftsräume hielten sich in engen Grenzen, da die Zahl der Mitarbeiter noch gering war und zunächst nur wenige Büroräume in einem Wohn- und Geschäftshaus in der Kochstraße 75 in Berlin-Friedrichstadt angemietet wurden.[9]
Was aber trieb die Tochter der Münchener Rück nach Berlin? Bei der Beantwortung dieser Frage sind wir auf Aussagen aus späterer Zeit angewiesen, da die Überlieferung aus der Gründungszeit der Allianz und den ersten Jahren sehr dünn ist. Es sind daher eher Thesen und Vermutungen als gesicherte Erkenntnisse, dennoch kann man annehmen, dass es wohl eine Kombination aus unterschiedlichen Gründen war, die letztlich für Berlin den Ausschlag gab. Da ist zum einen die Stellung Berlins als Hauptstadt des knapp 20 Jahre zuvor entstandenen Kaiserreichs. Das politische Zentrum entwickelte eine ungeheure wirtschaftliche Dynamik und übernahm bald auch die Funktion als finanzpolitisches Zentrum. So wurden etwa, begünstigt durch ein neues Aktienrecht, zwischen 1870 und 1873 in Berlin 35 Banken, darunter auch die Deutsche Bank, neu errichtet. Andere Banken, wie die Dresdner Bank, verlegten ihre Geschäftsleitung nach Berlin oder gründeten dort eine Tochter, wie die in Hamburg beheimatete Commerz- und Diskontobank.[10]
Nicht ganz so rasant verlief die Entwicklung im Versicherungswesen. Hier waren Liberalisierungsbestrebungen im Gesetzgebungsprozess hängen geblieben, sodass es schwieriger war, eine Versicherung zu gründen als eine Bank oder ein Industrieunternehmen. Trotzdem lässt sich auch hier über einen etwas längeren Zeitraum eine verstärkte Gründungsaktivität belegen, sind doch von den gut 40 Berliner Gesellschaften im Jahre 1925, die bereits vor 1920 existierten, immerhin 19 (Berliner) Gründungen aus den Jahren 1863 bis 1898, darunter so illustre Namen wie der Nordstern oder die Deutsche Transport Versicherungsgesellschaft, die später Teil der Allianz werden sollte. Dass zudem politische Überlegungen eine Rolle bei der Wahl Berlins als Hauptsitz der Allianz gespielt haben dürften, legt die Tatsache nahe, dass Friedrich Hammacher zu den Gründern der Allianz gehörte. Er hatte als Abgeordneter des Reichstags und Wirtschaftspolitiker der Nationalliberalen Partei durchaus Einfluss im politischen Leben.[11]
Die Präsenz der Banken in Berlin dürfte eine zusätzliche Motivation gewesen sein, sich dort anzusiedeln, sollte doch der Schwerpunkt in der Transportbranche, die ebenfalls von Beginn an betrieben wurde, auf der Versicherung von Valoren, also Wertpapieren, Edelmetallen, Schmuck, Geld und Ähnlichem, liegen. Diese Versicherung wurde in erster Linie von Geldinstituten in Anspruch genommen. Da war es besonders praktisch, dass die Münchener Rück einen Mitarbeiter mit besten Kontakten zur Geldwirtschaft hatte, der die Deutsche Bank als Mitgründer der Allianz gewann. Paul von der Nahmer (1858–1921) repräsentierte die Münchener Rück in Paris. Er hatte vorher an gleicher Stelle für eine französische Privatbank gewirkt und auch seine Ausbildung bei einer Bank absolviert.[12]
Andere Quellen zur Geschichte der Allianz nennen die besondere politische Verfasstheit Deutschlands als Grund für die Wahl des Standorts Berlin. Das deutsche Kaiserreich war sehr stark föderal organisiert. Das ging so weit, dass das Reich zunächst keine direkten Steuern einzog, sondern sich über Zölle und Beiträge der Länder finanzierte. Die Aufsicht über das Versicherungswesen war Sache der Bundesstaaten und davon gab es immerhin 25 Stück. Wollte man also im gesamten Reich Versicherungen anbieten, musste man sich mit 25 Bürokratien auseinandersetzen und 25 Konzessionen beantragen. Dies galt für Preußen, Bayern und Sachsen, die 1890 die bevölkerungsreichsten Länder darstellten, genauso jedoch für die bevölkerungsärmsten Länder Schaumburg-Lippe oder das Fürstentum Reuß ältere Linie, die so wie fünf weitere Bundesstaaten weniger als 100.000 Einwohner hatten.[13]
Eine von 4000 Gründungsaktien, die sich die elf Gründer der Allianz teilten. Besitzer der Aktie mit der laufenden Nummer 778 war Hugo Ritter von Maffei.
Die Erteilung einer Konzession war damals alles andere als ein rein formaler Akt. So ein Vorgang konnte sich mitunter über Jahre hinziehen. Um diesen Prozess zu beschleunigen, war so gut wie jedes Mittel recht. Als der ADVV 1885 eine Konzession für Preußen beantragte, verwies er nicht nur auf die bisherigen Erfolge, sondern pries sich auch als probates Mittel im Kampf gegen die damals von Otto von Bismarck zum Staatsfeind erklärte Sozialdemokratie. Das Verwaltungsratsmitglied, der Oberstleutenant a. D. und Landtagsabgeordnete von Wolff formulierte dies folgendermaßen: «Mittelst der Completierung der Arbeiterversorgung unter Ziffer I u. II hat sich der obige Verein zur Aufgabe gestellt, conform den reichsgesetzlichen Intentionen im conservativen Sinne zu wirken und nach Möglichkeit die sozialdemokratischen Gegenströmungen zu paralysieren.» Offensichtlich wollte man auf diese etwas plumpe Art und Weise Eindruck schinden und die Behörden für sich einnehmen.[14]
Die Allianz sollte möglichst schnell gegründet werden, um von dem Boom im Unfallgeschäft profitieren zu können. Wichtigstes Ziel musste es dabei sein, so rasch wie möglich in Preußen eine Konzession zu erhalten, denn Preußen stellte damals mit etwa 30 Millionen Einwohnern über 60 Prozent der Gesamtbevölkerung des Reiches. Nun waren die gesetzlichen Hürden in Preußen nicht unbedingt höher als anderswo, aber offensichtlich hatte jeder Bundesstaat eigene Vorstellungen, wie die Solidität einer Gesellschaft nachgewiesen werden sollte. Wenn man Victor Bernhardt glauben darf, einem langjährigen Mitarbeiter und Direktor der Münchener Rück, der 1930 auf die Gründung der Allianz zurückblickte, forderten die Beamten im preußischen Innenministerium von ausländischen Gesellschaften, also beispielsweise einer bayerischen, als Nachweis die Vorlage zweier Jahresabschlüsse. Das hätte bedeutet, dass eine bayerische Allianz erst gut zwei Jahre nach ihrer Gründung nach Berlin hätte gehen können. In Bayern hätte man sich so lange mit vergleichsweise wenigen Kunden begnügen müssen. Das zweitgrößte Land des Kaiserreichs hatte 1890 gerade einmal 5,6 Millionen Einwohner.
Als preußische Gesellschaft verlief die Gründung der Allianz weitgehend reibungslos: Am 17. September 1889 ließ man das Gründungsdokument notariell beglaubigen. Die Genehmigung zum Geschäftsbetrieb in Preußen erhielt man am 13. Januar 1890. Der Eintrag in das Berliner Handelsregister erfolgte schließlich am 5. Februar 1890, womit die Allianz ihre Rechtsfähigkeit erlangt hatte. Letzteres Datum hat die Allianz aus diesem Grund bei ihren Jubiläen als offizielles Gründungsdatum gewählt. In Bayern schien man übrigens liberaler, was die Zulassung ausländischer Versicherer betraf. Nur einen Monat später, am 7. März 1890, erhielt die Allianz auch die Konzession für das Königreich Bayern. Und auch alle anderen Bundesstaaten erteilten nach und nach die Konzession, bis auf das Fürstentum Schaumburg-Lippe. Hier scheint man sich ein Beispiel an Preußen genommen zu haben und verlangte von der preußischen Gesellschaft den Nachweis einer mehrjährigen erfolgreichen Geschäftstätigkeit. Nach Ablauf dieser Zeit hatte man bei der Allianz wohl längst vergessen, dass es noch einen weißen Fleck auf der Landkarte des Deutschen Reiches gab, und beantragte für Schaumburg-Lippe nicht neuerlich eine Konzession.[15]
«Die Gesellschaft hat den Zweck, Unfall- und Transportversicherungen, sowie Rückversicherungen auf Unfall-, Transport-, Feuer- und Lebensversicherungen zu gewähren.» So lautete der Eintrag ins Handelsregister vom 5. Februar 1890. Nicht jeder Zeitgenosse verstand die Sinnhaftigkeit einer neuen Versicherung. Wallmann’s Versicherungs-Zeitschrift etwa erwartete deren baldiges Scheitern: «Die älteren soliden Gesellschaften haben zwar in den letzten Jahren noch befriedigende Dividenden zu erarbeiten vermocht, allein, in Assekuranzkreisen herrscht darüber absolut kein Zweifel, dass diese Resultate nur besonderen Umständen zu verdanken sind, insbesondere den bestehenden guten Verbindungen, den langjährigen Erfahrungen der leitenden Persönlichkeiten, der grossen Vorsicht in der Handhabung des Geschäfts etc., also Umständen, die einem neuen Unternehmen mehr oder minder vollständig abgehen.» Der Redakteur war sich ganz sicher: «Das ist nicht die Zeit zu neuen Gründungen auf diesem Gebiete.» Damit bezog er sich auf die Transportversicherung und bewies keine besonderen hellseherischen Fähigkeiten. Gerade der Boom bei der Transportversicherung bescherte der Allianz schon bald traumhafte Wachstumszahlen.[16]
Wichtiger dürfte den Gründern dennoch zunächst die Erlaubnis zum Betrieb der Rückversicherung gewesen sein. Dies entsprach dem dringenden Bedürfnis der Münchener Rück, da manche Erstversicherer davor zurückscheuten, einen zu großen Teil ihres Geschäftes an einen Rückversicherer abzugeben. Arvid Johansson, der für die Münchener Rück einen Vertrag mit der schwedischen Gesellschaft Skandia abschließen sollte, wurde von Thieme für die Verhandlungen entsprechend instruiert. «Für den Fall es übrigens der Skandia schwer ankommen sollte, einem Rückversicherer 2 Quoten zu geben, machen Sie derselben den Vorschlag, die zweite Quote der von uns gegründeten Versicherungs-Aktien-Gesellschaft ‹Allianz› in Berlin, deren Vorstand Herr Direktor Thieme ebenfalls angehört, zu übertragen.» Dieses Prozedere scheint durchaus erfolgreich gewesen zu sein. Immerhin stammte fast die Hälfte der Prämieneinnahmen der Allianz des Jahres 1890 aus der Feuerversicherung. Zudem zeigt das Zitat das Selbstverständnis der Münchener Rück: Sie betrachtete sich durchaus mit gewissem Recht als Mutter der Allianz. Dieses Bild bestätigt ein Vertrag, der zwischen den beiden Gesellschaften geschlossen wurde. Wollte die Allianz Rückversicherung in der Feuerbranche gewähren, musste sie vorher die Zustimmung der Münchener Rück einholen und auf Verlangen der Letzteren einen Vertrag auch wieder kündigen. Dies wird verständlich, wenn man weiter im Vertrag liest: Die Allianz gab ihr Feuergeschäft zu 100 Prozent an die Münchener Rück weiter. Ähnliche Bedingungen vereinbarten die beiden Gesellschaften in einem Vertrag zur Unfallversicherung.[17]
«Allianz», was löste dieser Name wohl bei den Menschen des späten 19. Jahrhunderts aus? Es ist nicht bekannt, wie es zu der Wahl des Namens kam, allerdings gingen die Gründer der Allianz damit keine eigenen Wege. Ludwig Arps hat für die Zeit bis 1890 viele Versicherungsgesellschaften weltweit gefunden, die das Wort Allianz in der jeweiligen Landessprache in ihrem Namen trugen. Sei es die Londoner The Alliance British and Foreign Fire and Life Insurance Company aus dem Jahre 1824, seien es eine australische Alliance, die Aliança da Bahia in Brasilien, die Alliance Maritime in Frankreich, die Alianza de Santander in Spanien oder auch der zwischen 1871 und 1897 existierende Rückversicherer Allianz aus Wien. Als Alternative hätte sich in Anlehnung an die Münchener Rück und in der Tradition vieler deutscher Versicherer angeboten, den Namen der Stadt des Hauptsitzes mit der betriebenen Branche zu kombinieren: statt Allianz also Berlinische Unfallversicherung, so wie es bereits eine Berlinische Leben, eine Berlinische Hagel und natürlich eine Berlinische Feuer gab. Abgesehen davon, dass Letzteres leicht zu Verwechslungen hätte führen können, beschränkte sich die Allianz von Beginn an nicht nur auf eine Branche. Die Zeit der klassischen Ein-Sparten-Gesellschaften fand in Deutschland allmählich ihr Ende.[18]
Versicherungsschein der Favag von 1911: Der Name der Gesellschaft füllt alleine vier Zeilen des Deckblattes.
Sehr gut konnten die Herren der Münchener Rück dies und die Schwierigkeiten, die sich daraus für die Namensfindung ergaben, am Beispiel der Frankfurter Glasversicherungsgesellschaft (Favag) studieren, die in vielerlei Hinsicht für die Allianz immer wieder gutes Anschauungsmaterial lieferte und schließlich 1929 infolge eines großen Skandals selbst Teil des Unternehmens wurde. Im Jahre 1865 war sie unter ebenjenem Namen gegründet worden, erweiterte dann jedoch den Firmennamen jeweils um die neu aufgenommenen Branchen. Als die Favag 1897 schließlich nach der Transport- und Unfallversicherung auch noch die Einbruchdiebstahlversicherung aufnahm, ersparte man Mitarbeitern und Kunden die Qual, auch dies noch im Namen zum Ausdruck zu bringen. 1911 änderte die Gesellschaft ihren Namen in Frankfurter Allgemeine Versicherungs-AG und sehr schnell bürgerte sich die Abkürzung Favag ein. Der Name der Allianz dagegen wurde nur einmal für einige Jahre erweitert, als 1927 herausgestellt werden sollte, dass die Übernahme des Stuttgarter Vereins eine Fusion unter Gleichen wäre. Der Name Allianz und Stuttgarter Verein bürgerte sich allerdings nie ein und wurde nach 13 Jahren wieder auf den ursprünglichen Namen Allianz zurückgeführt, ein Name, der dank seiner Kompaktheit jede Abkürzung überflüssig macht.[19]
Thieme scheint mit der Wahl zufrieden gewesen zu sein. Denn acht Jahre später, als die Münchener Rück in Italien eine Gesellschaft gründete, importierte sie den Namen ihrer deutschen Tochter: Der neue Versicherer hieß Alleanza Societá di Assicurazioni. Die bald einsetzende Internationalisierung der Allianz zeigte dann jedoch auch Schwächen des Firmennamens auf. Zwar ist das französischstämmige Wort tatsächlich in vielen Sprachen dieser Welt bekannt, allerdings unterscheidet sich die Aussprache zum Teil deutlich. Dies machte der Allianz beispielsweise große Sorge, als sie in den 1970er Jahren begann, in den USA unter dem eigenen Namen Versicherungen anzubieten. Sie startete eine groß angelegte Werbekampagne, die mit zweifelhaftem Erfolg versuchte, die deutsche Aussprache des Namens in den USA populär zu machen.[20]
In der Anfangszeit der Allianz übersetzte man den Namen durchaus gelegentlich in andere Sprachen und verwendete zum leichteren Wiedererkennen ein Firmenzeichen. Diese fanden sich bei vielen Gesellschaften besonders eindrucksvoll auf der frühesten Form der Werbung für Versicherungen, den aufwendig gestalteten Feuerversicherungsschildern. Die Kunden erhielten ein Schild beim Abschluss einer Feuerversicherung, welches sie gut sichtbar an der Hausmauer befestigen konnten. Neben dem Namen der Gesellschaft wurde auf den Schildern häufig ein Wappentier oder eine Heiligenfigur abgebildet. So verwendete die Landschaftliche Brandkasse Hannover das Sachsenross, der Deutsche Phönix griff verständlicherweise zur Abbildung ebendieses mythischen Vogels, und der Feuerversicherungsverein für kleinere Landwirte wählte das Wappentier der Stadt Rostock, den Greif. Wie auch in letzterem Fall verwendeten die Versicherer dabei oft Figuren, die in enger Verbindung mit den Ländern oder Städten standen, in denen sie selbst beheimatet waren. Pferde, bayerische oder hessische Löwen sowie Adler waren dabei besonders beliebte Motive. Die Badische Feuerversicherungs-Bank ging noch einen Schritt weiter und übernahm das Staatswappen des Großherzogtums Baden, die Magdeburger Feuer das Stadtwappen von Magdeburg.
Die Allianz setzte Feuerversicherungsschilder erst ein, als sie 1906 die direkte Feuerversicherung aufgenommen hatte. Dennoch wollte sie auch schon vorher nicht auf ein eigenes Logo verzichten. Schließlich konnte man damit auch die Versicherungspolicen dekorativ schmücken und auf diese Weise das Dokument, das die Ware Versicherung greifbar zu machen versuchte, für die Kunden optisch aufwerten. Das erste Firmenzeichen der Allianz scheint denn auch wohlüberlegt. Man griff die Tradition auf, die andere Versicherer begründet hatten, beließ es aber nicht dabei, sondern erhob sofort den Anspruch auf die höchste Krone: Die Allianz wählte als Firmenzeichen das Wappen des deutschen Kaiserreichs, den Reichsadler. So wie man darauf verzichtete, sich nach der Gründungsstadt zu benennen, so wollte man sich wohl auch nicht anhand des Logos einer bestimmten Stadt oder Region zuordnen lassen, sondern stattdessen eine reichsweite Zuständigkeit signalisieren. Unverwechselbar wird das Firmenzeichen zum einen durch den Schriftzug Allianz, zum anderen durch die von den Fängen des Adlers gehaltenen Stadtwappen von München und Berlin, die in ihrer Anordnung heraldisch eine Allianz bilden. Kenner der Heraldik konnten übrigens aufgrund des Wappens sofort sagen, wo anfangs der Schwerpunkt der Allianz lag. Das Münchner Kindl ist auf der rechten Seite abgebildet und kennzeichnet damit München als den ranghöheren Partner. Damit ist der Dreiklang definiert: die Allianz zwischen München und Berlin, die Allianz zwischen dem Rückversicherer und dem Erstversicherer und die Allianz zwischen dem Versicherer und den Kunden.
Gerade für die ersten Jahre bis 1895 lohnt es sich, das Verhältnis der Allianz zur Münchener Rück noch etwas genauer zu beleuchten. Die beiden Gesellschaften waren am ehesten mit den zwei Seiten einer Medaille vergleichbar. Besonders eindrücklich bestätigt diese These wiederum der bereits angesprochene erste zwischen ihnen geschlossene Vertrag. Er ist unterschrieben von Direktor Thieme für die Allianz und von den beiden stellvertretenden Direktoren Paul Szelinski und Marcus Mauel für die Münchener Rück. Warum diese drei den Vertrag unterschrieben haben, wissen wir nicht; was wir jedoch wissen, ist, dass natürlich Thieme auch für die Münchener Rück hätte unterschreiben können, Szelinski und Mauel aber genauso gut für die Allianz. Denn alle drei hatten bei beiden Gesellschaften die identische Position. Ganz ähnlich ist es bei der frühen Korrespondenz. Munter schickte man sich Briefe von der Direktion München der Allianz in der Maffeistraße 1 an die Münchener Rück, ebenfalls Maffeistraße 1. Unterzeichnet wurden die Schreiben offensichtlich von denen, die gerade verfügbar waren. Berlin scheint dagegen zunächst eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Zwar war dort ebenfalls ein Direktor ansässig, nämlich der von der Transport- und Unfallversicherungsgesellschaft Zürich abgeworbene Bruno Pohl. Dieser verantwortete in erster Linie das Unfallgeschäft. Die Oberleitung lag jedoch eindeutig bei Thieme in München. Das erklärt auch den Umstand, warum die Räumlichkeiten in Berlin zunächst sehr bescheiden blieben.[21]
Die ersten Prämieneinnahmen der Allianz stammten von deren Gründer Wilhelm Finck, der 155 Mark Jahresprämie für eine Unfallversicherung bezahlte.
Im ersten Geschäftsjahr hatte die Allianz in der Unfallversicherung 121 Schäden zu begleichen, wie sie in ihrem gerade einmal vier Blatt umfassenden ersten Geschäftsbericht vermeldete. Trotz eines Todesfalls und zweier Invaliditätsfälle verblieb bei Prämieneinnahmen in Höhe von 174.000 Mark in dieser Branche immerhin ein Gewinn von 22.000 Mark. Fast die Hälfte der Einnahmen erzielte die Feuerbranche, bei der die Allianz einen Gewinn von über 18.000 Mark erwirtschaftete. Insgesamt summierten sich die Einnahmen auf über eine halbe Million Mark, und der Gewinn lag bei 55.000 Mark. So konnte bereits nach dem ersten Jahr eine Dividende in Höhe von 4 Prozent auf das eingezahlte Aktienkapital gewährt werden. Kontinuierlich nahmen in den nächsten Jahren Prämieneinnahmen, Zinserträge und Gewinn zu, wobei es bald die Transportversicherung war, die den bei Weitem größten Anteil am Prämienwachstum lieferte.[22]
Der Erfolg weckte Begehrlichkeiten. Im Jahre 1893 regte die Deutsche Bank einen Börsengang an und verkündete gleichzeitig, gerne einen Teil der Aktien abstoßen zu wollen. Wilhelm Finck bremste mit der Begründung, dass «die Entwicklung der Gesellschaft eine gute gewesen» sei, und gestand seinem Kollegen von der Deutschen Bank, dass er sich an der Münchner Börse «zur Einführung eines neuen Effectes mit schwankendem Erträgnis überhaupt nicht entschließen» könne. Er erklärte sich jedoch zumindest bereit, einen Käufer für die Aktien der Deutschen Bank zu suchen. Die Deutsche Bank akzeptierte dies und verkaufte Ende 1894 ihre letzten Aktien der Allianz unter anderen an Carl Thieme. Vielleicht hatte Hermann Wallich, der viele Jahre gemeinsam mit Georg Siemens die Deutsche Bank leitete, ja auch das Engagement bei der Allianz im Auge, als er rückblickend über Siemens sagte: «Die Geschäfte, die mein genialer Kollege eingeleitet, standen gewissermaßen auf geschraubten Füßen, absorbierten unsere flüssigen Mittel und lähmten oft unsere Bewegungsfreiheit nach anderer Richtung.» Falls die Deutsche Bank «flüssige Mittel» benötigte, ließ sich ein Verkauf wohl nicht verschieben, falls es allerdings der mangelnde Glaube an eine weitere gute Entwicklung der Allianz war, der den Verkauf der Aktien motivierte, so fehlte es der Deutschen Bank in diesem Fall an Geschäftssinn. Als die Allianz ein Jahr später, am 12. Dezember 1895, an der Berliner Börse debütierte, erzielte die Aktie einen Kurs von 750 Mark. Die Deutsche Bank hatte im Jahr zuvor noch Aktien für 327 Mark verkauft. Paul von der Nahmer kommentierte den sich bereits im Vorfeld der Platzierung abzeichnenden Erfolg in einem Schreiben an Direktor Max Steinthal von der Deutschen Bank mit kaum verhohlener Schadenfreude: «Herr Finck sagte mir, dass er den vorzeitig und gegen unseren Rath erfolgten Verkauf der Allianz-Actien seitens der Deutschen Bank umsomehr bedauert habe, als er sich Angesichts der freundlichen Unterstützung, die uns die Deutsche Bank stets hat zu Theil werden lassen, sehr gefreut haben würde, wenn dieselbe auch einige hunderttausend Mark an uns verdient hätte.» Als kleine «Wiedergutmachung» bot Thieme Steinthal an, dass die Deutsche Bank für 10.000 Mark den Börsengang begleiten könne, obwohl die Dresdner Bank die kostenlose Einführung der Aktien angeboten hatte. Dieses Ansinnen lehnte die Deutsche Bank dann auch nicht ab.[23]
Paul von der Nahmer trat 1894 in den Vorstand ein und leitete die Allianz von 1905 bis zu seinem Tod im Jahr 1921.
Glaubt man den Berichten zu Carl Thieme, die Zeitzeugen hinterlassen haben, so scheint er bei der Münchener Rück Mitarbeiter um sich geschart zu haben, die ihm treu ergeben waren. Dies und die Tendenz Thiemes, Entscheidungen am Aufsichtsrat vorbei zu treffen, beunruhigten Wilhelm Finck und die anderen Aufsichtsräte sehr. Vermutlich dürfte dies bei der Allianz nicht viel anders gewesen sein und es änderte sich wohl auch nicht grundlegend, als 1894 Paul von der Nahmer in Berlin als weiterer Direktor berufen wurde, machte dieser doch als Neffe von Thiemes erster Frau die Allianz fast zu einem Familienunternehmen. Paul von der Nahmer, der am 25. Mai 1858 in Rheydt im Rheinland zur Welt gekommen war, arbeitete seit 1886 für die Münchener Rück. Dem Vorstand der Allianz gehörte er vom Jahre 1894 bis zu seinem Tode am 15. April 1921 an.[24]
Mit dem Einstieg von der Nahmers verschoben sich die Gewichte Richtung Berlin. Die Geschäfte hatten sich so zufriedenstellend entwickelt, dass man nun an die Verfestigung des Unternehmens gehen konnte. Für die beachtliche Summe von 345.000 Mark, die etwa 10 Prozent der Prämieneinnahmen im Jahr 1895 ausmachte, kaufte die Allianz ein Grundstück, auf dem die eigene Hauptverwaltung entstehen sollte. Die neue Bleibe sollte weiterhin in Friedrichstadt sein, die Allianz zog nur ein paar Straßen weiter nach Norden und landete damit nahe der Schaltzentrale der Macht. Hier hatten sich diverse Reichsministerien angesiedelt, hier war das Berliner Bankenviertel mit allen Häusern, die Rang und Namen hatten, und hier entstand zeitgleich zur neuen Hauptverwaltung der Allianz der größte Konsumtempel der Welt, das Kaufhaus Wertheim am Leipziger Platz. Am Beginn der Taubenstraße, nur wenige Hundert Meter Luftlinie vom Brandenburger Tor, erschuf der Architekt Helmuth Schuster einen imposanten Neorenaissancebau im Stile eines italienischen Palazzos. Da das Platzangebot im 1900 fertiggestellten Neubau, dessen Gesamtkosten sich auf über 1,7 Millionen Mark beliefen, die Nachfrage anfangs überstieg, vermietete die Allianz zunächst einen Teil der Räume. Und wer hätte dafür ein geeigneterer Abnehmer sein können als die von Paul von der Nahmer geleitete Zweigniederlassung der Münchener Rück in Berlin? Die gut laufenden Geschäfte der Allianz wurden nun nach und nach auch von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Im Jahre 1895 bescheinigte die Österreichische Versicherungs-Zeitung der Allianz zwar noch keine glänzenden, aber doch immerhin befriedigende Resultate. Vier Jahre später war die Allianz in den Augen derselben Zeitung bereits zur Lieblingstochter der Münchener Rück aufgestiegen, sie operierte mit Glück und schritt in ihrer Entwicklung gedeihlich voran.[25]
Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert schuf nicht nur neue Arbeitsplätze in der Produktion, sondern zog eine Ausdehnung der Verwaltungs- und Bürotätigkeiten nach sich. Die wirtschaftliche Entwicklung steigerte das Volkseinkommen und weckte neue Bedürfnisse. Der Konsum nahm zu und überall entstanden neue Arbeitsplätze, die nicht von Arbeitern, sondern von einer neuen Gruppe von abhängig Beschäftigten besetzt wurden: den Angestellten. «Während es 1882 im Kaiserreich insgesamt nur 307.000 Angestellte gab, wuchs ihre Zahl in den folgenden 25 Jahren auf mehr als das Vierfache, auf 1,3 Millionen, an. Obwohl abhängig beschäftigt, unterschieden sich die Angestellten in ihrem sozialen Status deutlich von der Arbeiterschaft: Sie erhielten ein festes Monatsgehalt anstelle des leistungsabhängigen Wochenlohns der Arbeiter, die Arbeitszeiten waren kürzer, die Arbeitsgestaltung selbständiger, die Verantwortung und auch die Aufstiegschancen größer.»[26]
Glaubt man allerdings den Berichten der Pensionäre der Allianz, so war das Leben eines Mitarbeiters im Berlin der Jahrhundertwende kein Zuckerschlecken. Ganz oben saß Direktor von der Nahmer, unnahbar und den Mitarbeitern oft nicht von Angesicht bekannt. Es galt die nötige Distanz zu wahren, und so ließ von der Nahmer verkünden, dass er es nicht wünsche, von seinen Angestellten auf der Straße gegrüßt zu werden. Im Geschäft erschien er mit Bowler, die Abteilungsleiter, die auf sich hielten, mit Pelerine und Zylinder. Dort angekommen schlüpfte man in Filzpantoffeln und wechselte gar die Hosen. Die einfachen Mitarbeiter waren wohl auch eher einfach gekleidet, was durchaus durch die Höhe des Lohnes verursacht gewesen sein könnte. Es wird von 60 Mark Monatslohn berichtet, was unter dem durchschnittlichen Arbeitseinkommen in Industrie und Handel im Jahre 1900 lag. Aussagekraft erhält die Zahl, wenn man sie mit damaligen Preisen vergleicht. Im Jahre 1900 kosteten 1 Kilogramm Schweinefleisch in Berlin nach amtlichen Quellen 1,34 Mark, 1 Kilogramm Butter 2,33 Mark, 100 Kilogramm Kartoffeln rund 4 Mark und 1 Kilogramm Weizenmehl 35 Pfennig.[27]
Seinen Lohn konnte man um ein paar Groschen aufstocken, indem man die für die eigene Wohngegend bestimmte Geschäftspost der Allianz mitnahm und selbst auslieferte. Das reichte für die eine oder andere Fahrt mit der Pferdestraßenbahn in die Taubenstraße. Die Not der Mitarbeiter war jedoch weiter groß. Und so verdingte man sich nebenberuflich als Kellner, Stehgeiger oder Platzanweiser. 28