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Walter Kirchner

DIE AMEISEN

Biologie und Verhalten

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Sie sind klein, zahlreich und überaus erfolgreich. Ihr geradezu sprichwörtlicher Fleiß, ihre genial anmutenden Überlebenstechniken und ihr perfekt aufeinander eingespieltes Zusammenleben lassen rasch vergessen, dass es sich hierbei „nur“ um Insekten handelt. Ameisen faszinieren den Menschen seit jeher und in ganz besonderer Weise. Die anschauliche Beschreibung dieser Tiere und die leicht verständlichen Erläuterungen ihrer erstaunlichen Fähigkeiten in diesem Buch machen deutlich, worin die besondere Anziehungskraft dieser Tiere besteht.

Über den Autor

Prof. Dr. rer. nat. Walter Kirchner ist Biologe und vertrat zuletzt den Bereich Insektenkunde in Lehre und Forschung an der Technischen Hochschule Aachen (RWTH).

 

 

 

 

 

Meinen ehemaligen Studierenden,

die für die Natur begeistern zu dürfen

zu den großen Geschenken

meines Lebens zählte

Inhalt

    I. Die soziale Prägung der Ameisen: Kein Leben für Einzelgänger

1. Der Ameisenstaat – nicht nur eine Wohngemeinschaft

2. Wie der Ameisenstaat entstanden sein könnte

3. Zusammensetzung und Größe von Ameisenvölkern

4. Nestverbände

   II. Gestalt und Körperbau

1. Woran erkennt man eine Ameise?

2. Variationen der Ameisengestalt

3. Unterschiedliche Gestaltausprägungen innerhalb derselben Art

4. Der Körper der Ameisen und seine „Extras“

  III. Wo und wie Ameisen ihre Nester bauen

1. Nomaden ohne dauerhaften Wohnsitz: die Wanderameisen

2. Sesshaftigkeit: auch bei Ameisen eine Lebensweise mit vielen Vorteilen

2.1 Erdnester

2.2 Hügelbauten aus pflanzlichem Material

2.3 Nester in totem und lebendem Holz

2.4 Kartonnester

2.5 Nester aus zusammengesponnenen Blättern

2.6 Nester in Ameisenpflanzen

  IV. Viele Tische sind gedeckt: Ein Blick in die Speisekarte der Ameisen

1. Ernährungstypen

1.1 Jäger und Aasverwerter

1.2 Viehzüchter

1.3 Körnersammler

1.4 Pilzzüchter

2. Die Futterverteilung

3. Das Überstehen nahrungsarmer und nahrungsloser Zeiten

   V. Von der Kunst, sich zurechtzufinden

1. Orientierungsprobleme

2. Die Sinnesorgane – unverzichtbare Orientierungshilfen

2.1 Die Lichtsinnesorgane

2.2 Die Antennen

2.3 Die Wahrnehmung der Schwerkraft

3. Orientierungsweisen

3.1 Orientierung „zu Hause“

3.2 Orientierung unterwegs

  VI. Ordnung ohne Obrigkeit

1. Weshalb der Ameisenstaat keine Monarchie ist

2. Grundlagen des Zusammenlebens

2.1 „Grundgesetz“ des Handelns: das Erbgut

2.2 Die Arbeitsteilung–

2.3 Kooperation durch gegenseitige Verständigung

2.4 Zusammenschau

 VII.  Fortpflanzung und Entstehung neuer Völker

1. Die Fortpflanzung

1.1 Der Zeitpunkt der Geschlechtstieraufzucht

1.2 Der Hochzeitsflug

1.3 Die Speicherung des Spermas

1.4 Nach dem Hochzeitsflug

2. Die Entstehung neuer Ameisenstaaten („Koloniegründung“)

2.1 Die unabhängige Koloniegründung

2.2 Die abhängige Koloniegründung durch temporären Sozialparasitismus

2.3 Die Koloniegründung durch Soziotomie

VIII. Die Entwicklung der Individuen

1. Vom Ei bis zur erwachsenen Ameise

1.1 Das Ei

1.2 Die Larve

1.3 Die Puppe

1.4 Die voll entwickelte Ameise (Imago)

2. Die Festlegung der Entwicklungsrichtung

2.1 Die Geschlechtsbestimmung

2.2 Die Kastendetermination

 IX. Ameisenvölker unter sich

1. Krieg und Frieden – auch bei Ameisen

1.1 Innerartliche und zwischenartliche Konflikte

1.2 Die Waffen der Ameisen

2. Leben auf Kosten anderer: der Sozialparasitismus

2.1 Gastverhältnisse (Xenobiosen)

2.2 Temporärer Sozialparasitismus

2.3 Permanenter Sozialparasitismus ohne Sklavenhaltung (Inquilinismus)

2.4 Permanenter Sozialparasitismus mit Sklavenhaltung (Dulosis)

  X. Beziehungen zu anderen Organismen

1. Eine Welt voller Feinde

2. Harmlose und weniger friedliche Untermieter in Ameisennestern

3. Plus und Minus: Beziehungen zwischen Ameisen und Pflanzen

4. Ameisen in der Welt des Menschen

 XI. Der Ameisenstaat: ein Erfolgsrezept

 

Nachbemerkung und Danksagung

Literaturhinweise

Register

I. Die soziale Prägung der Ameisen:
Kein Leben für Einzelgänger

1. Der Ameisenstaat – nicht nur eine Wohngemeinschaft

Ameisen – mit diesem Wort verbindet sich bei sehr vielen Menschen die Vorstellung von einem Gewimmel kleiner, geschäftig umherlaufender Insekten, die im Garten, im Haus oder auch bei der Rast auf einer Wiese sehr lästig werden können. Die Ungewissheit, ob diese aufdringlichen Sechsbeiner vielleicht beißen oder stechen, und ihr als unangenehm empfundenes Krabbeln auf der menschlichen Haut sind Anlaß genug, zu diesen Tieren körperlich und gefühlsmäßig „auf Distanz zu gehen“.

So einseitig dieses Image sein mag – das „Gewimmel“ zumindest entspricht der Realität recht gut: Ameisen trifft man immer in Gesellschaft von Artgenossen an. Ameisen sind „soziale“ Insekten, die nicht solitär (d.h. als „Einsiedler“), sondern in einer Gemeinschaft leben, die wir als „Volk“ oder „Staat“ bezeichnen. Wie sehr Ameisen auf das Zusammenleben mit anderen angewiesen sind, zeigt ein einfacher Versuch: Fängt man ein einzelnes Tier und hält es isoliert in einem Kunstnest bei optimalen Lebensbedingungen (ausreichender und ausgewogener Ernährung, zusagender Temperatur und Luftfeuchtigkeit usw.), wird die Ameise nach relativ kurzer Zeit (manchmal schon nach wenigen Tagen) tot sein. Hält man dagegen dasselbe Tier zusammen mit seinem Volk bei geeigneten Lebensbedingungen in Gefangenschaft, kann es eine Lebensdauer von einem Jahr oder mehr erreichen.

Das geschilderte Experiment zeigt eine wichtige Eigenschaft der Ameisen: Das Einzeltier ist außerhalb seines Volkes nicht über längere Dauer lebensfähig. Dies unterscheidet die Gemeinschaften der Ameisen von Insektenansammlungen, die dadurch zustande kommen, dass die Gunst eines Ortes zu Konzentrationen von Artgenossen (Fress-, Schlaf-, Überwinterungsgemeinschaften u. Ä.) führt. Solche Gruppierungen bieten den daran beteiligten Individuen meist gewisse Vorteile, z.B. beim Nahrungserwerb oder der Feindabwehr; sie sind jedoch zeitlich begrenzt und offen (d.h., sie erlauben jederzeit ein Zu- oder Abwandern von Individuen). Die Mitglieder solcher Gruppierungen können auch außerhalb der Vergesellschaftung überleben.

Worin unterscheiden sich nun die Staaten der Ameisen von Insektenansammlungen der oben beschriebenen Art? Zunächst einmal – das wurde bereits deutlich hervorgehoben – durch die Tatsache, dass die Einzeltiere ohne die Gemeinschaft nicht lebensfähig sind. Zum zweiten aber auch dadurch, dass die Angehörigen des Staates etwas zu einseitigem oder gegenseitigem Nutzen füreinander tun – und nicht nur miteinander (das Wort „sozial“ hat ja auch im Hinblick auf den Menschen genau diese Bedeutung).

Ein gut funktionierendes Zusammenleben setzt allerdings noch etwas anderes voraus: die Mitglieder der Gemeinschaft dürfen nicht alle dasselbe tun, sondern es muss Arbeitstelung herrschen. Elementarster Ausdruck dieser Arbeitsteilung ist im Ameisenstaat die Trennung von Reproduktion und sonstigen Arbeitsleistungen (Nahrungseintrag, Brutpflege, Nestbau, Verteidigung usw.): für erstere sind voll fruchtbare Individuen, die männlichen und weiblichen Geschlechtstiere, zuständig, für letztere die Arbeitstiere, d.h. sterile weibliche Individuen („Arbeiterinnen“). Diese sind nicht nur funktionell, sondern auch gestaltlich von den Geschlechtstieren mehr oder weniger deutlich unterschieden.

An dieser Stelle muss ein Aspekt vertieft werden, der für die Anwendung des Begriffes „Insektenstaat“ von grundsätzlicher Bedeutung ist: die gemeinsame Brutpflege. Insektenstaaten setzen sich nicht – wie der Menschenstaat – aus einer Vielzahl von Grundeinheiten („Familien“) zusammen, von denen jede (zumindest in der Regel) ihre eigenen Nachkommen versorgt und großzieht. Ein Insektenstaat ist – vermenschlicht ausgedrückt – eine einzige Großfamilie, in der die Aufzucht der Nachkommen uneigennützig und in Kooperation durch diejenigen Familienmitglieder erfolgt, die aufgrund ihrer nur schwach ausgebildeten Eierstöcke keine eigenen Nachkommen haben.

Noch ein weiteres Kennzeichen unterscheidet den Ameisenstaat von Massenansammlungen solitärer Insekten: Die Angehörigen des Volkes sind verschieden alt; oder anders ausgedrückt: verschiedene Generationen überlappen sich. Dies verleiht den Gemeinschaften der Ameisen Kontinuität und ist eine wichtige Voraussetzung für den bei manchen Arten einige Jahrzehnte währenden Fortbestand eines Volkes.

Fassen wir zusammen: Ameisenstaaten sind Gemeinschaften (Sozietäten),

•  deren Mitglieder als Einzeltiere nicht überlebensfähig sind;

•  in denen die Individuen nicht nur etwas miteinander, sondern füreinander tun;

•  in denen eine reproduktive Arbeitsteilung verwirklicht ist: die Erzeugung der Nachkommen obliegt den voll fruchtbaren männlichen und weiblichen „Geschlechtstieren“, die Pflege und Aufzucht der Jungtiere dagegen sterilen „Arbeiterinnen“, die auch die übrigen Arbeitsleistungen für das Volk erbringen und sich gestaltlich von den Geschlechtstieren unterscheiden;

•  in denen mindestens zwei Generationen zusammenleben.

Insektenarten, welche diese hochentwickelte Stufe des Zusammenlebens erreicht haben, werden als „eusozial“ bzw. „staatenbildend“ bezeichnet. Außer bei den Ameisen gibt es die Bildung von echten Staaten noch bei den Honigbienen, den Stachellosen Bienen, den Hummeln und Faltenwespen sowie bei allen Termitenarten. Insgesamt sind heute mindestens 20.000 Insektenarten bekannt, welche in Gemeinschaften der oben beschriebenen Art leben.

2. Wie der Ameisenstaat entstanden sein könnte

Es gibt bei Ameisen keine Arten, welche die Stufe des echten Staates noch nicht erreicht haben. Insofern fehlt es an Vorstufen, die uns Hinweise geben könnten, wie die Evolution dieser hoch entwickelten Lebensgemeinschaften abgelaufen sein könnte. Etwas hilfreicher ist hier ein Blick auf Insektengruppen, die den Ameisen verwandt sind. Ameisen sind – zoologisch gesehen – Hautflügler (Hymenoptera); zu dieser Insektenordnung gehören auch die Bienen, Wespen und Hummeln. Speziell unter den Bienenartigen gibt es viele Arten, die mehr oder weniger hoch entwickelte Gemeinschaften bilden.

Vergleicht man diese Gemeinschaften, darf wohl als gesichert angenommen werden, dass die Brutpflege am Anfang der Evolution der eusozialen Lebensweise stand. Brutpflege ist im Insektenreich keineswegs eine Selbstverständlichkeit: für die Weibchen sehr vieler Arten ist die Fürsorge für ihre Nachkommen mit der Eiablage beendet. Daneben gibt es jedoch eine nicht unbeträchtliche Zahl von Arten, bei denen sich die Weibchen auch noch nach dem Schlüpfen der Jungtiere aus den Eiern um ihre Nachkommen kümmern, etwa indem sie diese fortlaufend mit frischer Nahrung versorgen.

Solche „Mutter-Kind-Beziehungen“ sind ohne Zweifel schon eine primitive Form sozialen Zusammenlebens und verbessern die Überlebenschancen der Jugendstadien. Die nächste Stufe der Vergesellschaftung besteht wohl darin, dass einige Weibchen derselben Art ein gemeinsames Nest anlegen, in dem sie ihre Nachkommen großziehen – wobei allerdings jede Mutter nur ihre eigenen „Kinder“ betreut und versorgt (kommunale Arten). Wieder einen Schritt weiter gehen solche Arten, bei denen das gemeinsame Wohnen auch mit einer gemeinsamen Brutversorgung gekoppelt ist (quasisoziale Arten). Auf der nächsthöheren Stufe der Vergesellschaftung erfolgt dann ein sehr entscheidender Schritt auf dem Weg zum Insektenstaat: nicht mehr alle Weibchen einer Gemeinschaft legen Eier, sondern nur noch bestimmte Individuen, während andere sich nur um die Brutpflege und die damit zusammenhängenden Arbeiten kümmern; damit ist bereits die reproduktive Arbeitsteilung verwirklicht (semisoziale Arten). Der letzte Schritt zum echten Insektenstaat ist dann getan, wenn eine solche Gemeinschaft nicht nur für die Dauer einer Generation besteht, sondern mindestens zwei Generationen überlappen (eusoziale Arten). Beispiele für alle hier genannten Vorstufen des eusozialen Zusammenlebens findet man u.a. bei den Furchenbienen.

3. Zusammensetzung und Größe von Ameisenvölkern

Der Naturfreund, der mit Interesse das Gewimmel auf der Kuppel eines Waldameisennestes betrachtet, wird rasch feststellen, dass die Ameisen, die auf der Oberfläche oder in der Umgebung des Nestes umherlaufen, von gewissen Größenvariationen abgesehen recht gleichartig aussehen. Dies ist verständlich, denn die Individuen, die der Betrachter ohne Eingriff in das Nest zu sehen bekommt, sind ausschließlich Arbeiterinnen. Sie bilden die große Masse des Volkes.

Die Arbeitstiere sind die i. d. R. sterilen Töchter einer oder mehrerer fruchtbarer, eierlegender Mütter, der Königinnen. Bei vielen Ameisenarten (z. B. der Schwarzgrauen Wegameise Lasius niger) gibt es nur eine einzige Königin („Monogynie“), bei anderen (z. B. der Rossameise Camponotus) finden sich einige wenige Königinnen („Oligogynie“) und bei wieder anderen (z.B. der Kahlrückigen Waldameise Formica polyctena) eine größere Zahl (einige hundert bis einige tausend) Königinnen („Polygynie“). Soweit bisher bekannt, scheint rund die Hälfte der Ameisenarten polygyn zu sein. Bei manchen Ameisenarten gibt es sowohl monogyne wie polygyne Völker. Die Königinnen halten sich im Innern des Nestes – oft in schwer zugänglichen Kammern – auf und sind nur bei besonderen Anlässen (etwa bei einem Nestplatzwechsel) außerhalb des Wohnbaues anzutreffen.

Ameisenvölker sind also Großfamilien aus einer oder mehreren begatteten Stammmüttern und einer bei den einzelnen Ameisenarten sehr unterschiedlich großen Zahl von Arbeiterinnen. Daneben treten zu bestimmten Zeiten auch männliche Geschlechtstiere („Männchen“) und geflügelte weibliche Geschlechtstiere (Jungköniginnen) auf. Beide sind nur vorübergehend Bestandteile des Ameisenstaates, da sie zum Zeitpunkt des Hochzeitsfluges das Nest verlassen. Bei Ameisenarten mit individuenreichen Völkern kann die Zahl der geflügelten Geschlechtstiere beträchtlich sein und den Wert von einigen Zehntausend erreichen (z.B. bei den Waldameisen).

Zu einem Ameisenvolk gehören selbstverständlich nicht nur die adulten (=erwachsenen) Tiere, sondern auch die verschiedenen Jugendstadien (Eier, Larven, Puppen). Diese mit einem Sammelbegriff auch als „Brut“ bezeichneten Entwicklungsstadien finden sich in den gemäßigten Klimazonen vielfach nur während der Aktivitätsperiode (Frühjahr bis Herbst) im Ameisenvolk (Beispiel: Waldameisen), sie können dort aber auch überwintern (Weg-, Knotenameisen). In den Tropen ist eine Bindung der Brutaufzucht an bestimmte Jahreszeiten aus klimatischen Gründen weniger ausgeprägt. Große Ameisenvölker enthalten viele Tausende Eier, Larven und Puppen, denn nur durch eine große Zahl an Nachkommen lassen sich die sterblichkeitsbedingten Ausfälle bei den erwachsenen Tieren ausgleichen.

Fassen wir zusammen:

In einem Ameisenvolk finden sich

dauernd:

–  eine oder mehrere begattete, eierlegende Königinnen

–  eine mehr oder weniger große Zahl unfruchtbarer Arbeiterinnen

zeitweise:

–  männliche und noch unbegattete weibliche Geschlechtstiere

–  Eier, Larven und Puppen.

Manche Ameisenvölker sind so individuenarm, dass es schwerfällt, den Begriff „Staat“ auf diese Kleinst-Gemeinschaften anzuwenden – vor allem dann, wenn zu einem Volk nur ein bis einige Dutzend adulter Tiere gehören. In Mitteleuropa sind die Schmalbrustameisen gute Beispiele für „Kleinstaaten“: in ihren Völkern leben maximal 200 Individuen.

Die Volksstärke sehr vieler Ameisenarten liegt bei einigen hundert bis einigen tausend Individuen (viele unserer heimischen Knoten- und Wegameisenarten). Seltener sind schon Arten, deren Volksgröße bei einigen 10.000 oder sogar einigen 100.000 Individuen liegt (in Mitteleuropa: verschiedene Waldameisenarten).

Weltweit betrachtet findet man die größten Ameisenstaaten bei einer in Afrika beheimateten Treiberameisenart (Dorylus wilverthi), deren umherwandernde Völker die geradezu unglaubliche Individuenzahl von bis zu 22 Millionen (!) erreichen können (zum Vergleich: in den Niederlanden leben 16,7 Millionen Menschen).

4. Nestverbände

Die bisherigen Ausführungen mögen den Eindruck erweckt haben, ein Ameisenvolk sei eine nach außen scharf abgegrenzte Gemeinschaft oder anders gesagt: eine „geschlossene Gesellschaft“. Diese Vorstellung trifft sicher nicht für alle Ameisenarten zu. Insbesondere Arten mit vielen Königinnen neigen bei einem Überschuß an fertilen Weibchen dazu, sich in kleinere, lebensfähige Kolonien aufzuspalten („Soziotomie“): Die dabei entstehenden Tochter-Völker können – vor allem wenn sie eng benachbart siedeln – untereinander in Kontakt bleiben, indem sie Futter, eventuell sogar Arbeiterinnen, Brut und Königinnen austauschen. Speziell in der Anfangsphase einer solchen Aufspaltung ist es nicht ganz einfach zu entscheiden, ob hier zwei schon autonome Völker oder zwei „Filialen“ derselben Kolonie vorliegen.

Die fortwährende Aufspaltung polygyner Völker kann im Verlauf von Jahrzehnten zu ausgedehnten Nestverbänden führen, die Dutzende, u.U. Hunderte von Nestern umfassen. Diese Siedlungsweise gibt es bei verschiedenen Arten. Ein bekanntes Beispiel in unserer heimischen Fauna sind die Waldameisen, deren Nester oft in Vielzahl und in manchmal enger Folge am Rande von Waldwegen und Bestandesrändern anzutreffen sind. Gerade aus der Gattung Formica, zu der die Waldmeisen gehören, sind Mammut-Nestverbände bekannt geworden; den bisherigen Weltrekord hält eine Superkolonie von Formica yessensis auf Hokkaido; dort siedeln rund 45.000 Nester auf einer Fläche von 2,7 km2; in diesen Nestern leben insgesamt schätzungsweise 300 Millionen Arbeiterinnen und 1 Million Königinnen!

II. Gestalt und Körperbau

1. Woran erkennt man eine Ameise?

Ameisen werden auch von zoologischen Laien mit einer hohen Treffsicherheit als solche erkannt – zumindest bei uns in Mitteleuropa. Dies liegt vor allem an einigen Merkmalen, die für Ameisen typisch sind: Die Arbeiterinnen besitzen keine Flügel, sie haben einen für Insekten ungewöhnlich schmalen Mittelabschnitt des Körpers, der mit der hintersten Körperregion durch ein dünnes Hinterleibsstielchen verbunden ist, sie sind im allgemeinen klein und man trifft sie im Gelände meist zu mehreren an.

Um mit der Flügellosigkeit zu beginnen: Sie ist – wenn man von den Jugendstadien absieht – bei höherentwickelten Insekten, zu denen die Ameisen gehören, ausgesprochen selten und kommt hier vorzugsweise bei Parasiten vor. Die Flügellosigkeit ist ein typisches Kennzeichen der Ameisenarbeiterinnen. Die Männchen und die noch nicht begatteten Jungköniginnen verfügen bei fast allen Arten über vier häutige Flügel, weshalb die Ameisen von den Zoologen zu den Hautflüglern gestellt werden, einer Insektenordnung, zu der auch die Bienen und Wespen gehören.

Das zweite eingangs erwähnte Merkmal der Ameisenarbeiterinnen, der schmale Mittelabschnitt des Körpers, hängt eng mit der Flügellosigkeit zusammen: Die bei flugfähigen Insekten kräftig ausgebildete Flugmuskulatur fehlt bei den Arbeiterinnen und benötigt daher auch keinen Platz in der Brustregion, weshalb diese sehr viel schlanker ausfällt als bei den flugfähigen Geschlechtstieren der Ameisen (vgl. Abb. 1).

Das Hinterleibsstielchen, das aus ein oder zwei Segmenten bestehen kann, ermöglicht eine extreme Beweglichkeit des Hinterleibs. Dieser kann nach unten abgebogen werden, z. B. beim gezielten Verspritzen von Wehrsekreten; er kann aber auch fast senkrecht nach oben gerichtet werden – eine Haltung, die manche Ameisen bei der Abgabe von Duftstoffen einnehmen („Sterzeln“). Nicht zuletzt erleichtert die Abbiegbarkeit des Hinterleibs die Reinigung dieser Körperregion mit Hilfe der Mundwerkzeuge.

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Abb. 1: Gestalt- und Größenunterschiede zwischen den beiden weiblichen Kasten bei der Blutroten Raubameise (Formica sanguinea), a) entflügelte Königin und b) Arbeiterin (aus Wilson 1971, verändert)

Die meisten Ameisen weisen nur eine geringe Körpergröße auf. Die Körperlänge unserer heimischen Arten geht nur in wenigen Fällen über 1 cm hinaus, aber auch weltweit betrachtet bleibt sie meist unter 15 mm. Es gibt jedoch – auf den Durchschnitt der Arten bezogen – einige „Übergrößen“: Die Arbeiterinnen der in der neotropischen Region beheimateten Ameise Dinoponera grandis (wer dächte bei diesem Namen nicht an die Dinosaurier!) werden bis zu 3 cm groß, die eierlegenden Königinnen der Treiberameise Dorylus sogar bis 8 cm (was leicht zu verstehen ist, wenn man sich vergegenwärtigt, wie viele Nachkommen in einem Ameisenvolk von bis zu 20 Millionen Individuen benötigt werden). Den erwähnten wenigen Riesen steht ein unüberschaubares Heer von Winzlingen gegenüber: die kleinste deutsche Ameisenart, die Diebsameise, wird z.B. nur 1,5–2 mm groß!

Kleinheit ist offensichtlich eine Eigenschaft, die sich im Ameisenstaat bewährt hat und von der Evolution gefördert wurde – wohl vor allem im Hinblick auf den Nestbau: Kleine Ameisen haben einen geringeren Platzbedarf und können auch an Standorten mit eingeschränktem Raumangebot nisten. Kleine Nester sind im Übrigen weniger auffällig und erfordern weniger Arbeit bei der Anlage der Nestkammern und -gänge im Boden oder im Holz.

2. Variationen der Ameisengestalt

Es gibt auf unserer Erde ungefähr 14.000 bekannte Ameisenarten; jährlich werden neue entdeckt (vor allem in den Tropenwäldern) und beschrieben. Vermutlich liegt die tatsächliche Artenzahl bei einigen Zehntausend.