Cover

Behnam T. Said

GESCHICHTE AL-QAIDAS

Bin Laden, der 11. September und
die tausend Fronten des Terrors heute

C.H.BECK


Zum Buch

Die Terrororganisation al-Qaida scheint seit der Abspaltung des «Islamischen Staats» der Vergangenheit anzugehören, doch in Wahrheit führt sie von Südasien über Nordafrika bis nach Europa einen Krieg an vielen Fronten. Behnam Said erzählt anhand neu erschlossener Dokumente erstmals die ganze Geschichte des geheimen Netzwerks, das seit dem Niedergang des IS zum Auffangbecken für Tausende Dschihadisten geworden ist und an vielen Orten den Krieg schürt.

Als die afghanischen Mudschaheddin gegen die Sowjetunion kämpften, wurden sie nicht nur von den USA unterstützt, sondern auch von Kämpfern aus Saudi Arabien und anderen Ländern, für die der reiche Unternehmersohn Usama Bin Laden ein Basislager, al-qaida, einrichtete. Den Rückzug der Russen begriffen sie als ihren Sieg. Nun ging es darum, weitere Länder für den wahren Islam zu befreien. Behnam Said beschreibt, wie sich seit 1988 die Terrororganisation formierte, durch spektakuläre Anschläge auf sich aufmerksam machte und mit dem 11. September 2001 einen internationalen «War on Terror» entfachte. Seitdem hat al-Qaida viele Ableger bekommen, vom IS über die al-Nusra-Front und die al-Shabaab-Miliz bis zu al-Qaida im islamischen Maghreb. Das aufrüttelnde Buch zeigt, wie gefährlich es ist, die Präsenz des Terrornetzwerks zu unterschätzen.

Über den Autor

Behnam T. Said, geb. 1982, Dr. phil., Islamwissenschaftler, ist in der Justizbehörde Hamburg u.a. mit Extremismusprävention und Resozialisierung befasst. Zuvor war er beim Verfassungsschutz Hamburg tätig. Bei C.H.Beck erschien von ihm zuletzt der Bestseller «Islamischer Staat» (4. Aufl. 2015).

Inhalt

Abkürzungen der Organisationen

Vorwort

Einleitung: Das verlorene Kalifat

1. Aiman al-Zawahiri: Vom ägyptischen Arzt zum «Weisen der Umma»

Familie und frühe Prägung

Jihadistische Zellen in Ägypten

Verrat, Sühne, Exil

2. Usama Bin Laden: Vom saudischen Bauunternehmer zum Widerstandskämpfer

Kindheit im Schatten des Vaters

Millionärssohn und frommer Außenseiter

Religiöse und politische Prägung

Nach Pakistan

3. Der Jihad in Afghanistan

Peschawar: Aufmarschgebiet der internationalen Mujahidin

Die Gründung al-Qaidas

Die Schlacht ist gewonnen, der Krieg beginnt

4. Bin Ladens Heimkehr, Exil und erneute Vertreibung (1989–​1996)

Konflikte mit dem saudischen Regime

Erfolgreiche Jahre im Sudan

Dunkle Wolken über Bin Laden und al-Zawahiri

Auf dem Schirm der CIA

5. Im Land der Taliban (1996–​2001)

Tora Bora

Das Islamische Emirat Afghanistan

Neue Rekruten, neue Strukturen

6. Der 11. September 2001

Mastermind: Khalid Sheikh Muhammad

Vorbereitungen: Die Hamburger Zelle

Die Folgen von 9/11 in der al-Qaida-Perspektive

Die US-Perspektive

7. War on Terror

Enduring Freedom (2001–​2002)

Die Irak-Falle (ab 2003)

Obamas Drohnenkrieg

Auf Kosten der Rechtsstaatlichkeit

Gewinne und Verluste

8. Jagd auf Bin Laden

Das Phantom

1. Mai 2011: Operation «Neptuns Speer»

«Wir alle sind Usama!»

9. Eine feste Säule auf der Arabischen Halbinsel

Al-Qaida erfindet sich neu

Der Jihad im Jemen beginnt (1990er-Jahre)

Terrorzellen in Saudi-Arabien (2000er-Jahre)

Die USA und der Jemen

AQAH alias Ansar al-Shariʿa (seit 2010)

10. Al-Qaida im Islamischen Maghreb

Jihad in Algerien, Ansätze in Libyen (1990er-Jahre)

Groupe Salafiste und AQIM

Kriminalität als Finanzierungsbasis

Mali: Im Verbund mit den Tuareg

Der Arabische Frühling

Libyen, Tunesien und Ägypten nach 2011

11. Ostafrika und al-Shabab

Somalia, Kenia, Tansania

Al-Shababs Aufstieg in Somalia

Die zwei Gesichter von al-Shabab heute

12. Irak: Al-Qaidas Hoffnung, al-Qaidas Albtraum

Al-Zarqawi, der Straßenjihadist

Das frühe Verhältnis zu Bin Laden

Al-Zarqawis Inszenierung des Todes (2003–​2006)

Unter dem Kommando des Islamischen Staats (2006–​2010)

Der Weg zum Kalifat (2010–​2014)

13. Syrien: Zwischen nationalem und globalem Jihad

Jihad von Aleppo bis Damaskus (ab 2003)

Die Nusra-Front (2012–​2016)

Loslösung von al-Qaida? Jabhat Fath al-Sham (2016–​2017)

Die neue Rebellenallianz: Hayʾat Tahrir al-Sham (seit 2017)

14. Der jüngste Ableger auf dem Indischen Subkontinent

Pakistan als Hochburg und Rückzugsgebiet

Vorbereitungen für einen Regionalableger

Aktivitäten und lokale Unterstützer

15. Iran und al-Qaida

Die USA und der Erzfeind Iran

Frühe Kontakte zum Iran

Hausarrest für Bin Ladens Anhänger

Ein ambivalentes Verhältnis

16. Al-Qaida und Europa

Aliens und frühe Netzwerke (1990–​2001)

Wenn aus Nachbarn Terroristen werden

Al-Qaidas Drohkulisse (2002–​2010)

Europäische Szene nach 2001

Ausreisen in den Jihad

Konkurrenz zum IS (seit 2011)

Schluss: Die tausend Fronten des Terrors

Dank

Anmerkungen

Vorwort

Einleitung: Das verlorene Kalifat

1. Aiman al-Zawahiri: Vom ägyptischen Arzt zum «Weisen der Umma»

2. Usama Bin Laden: Vom saudischen Bauunternehmer zum Widerstandskämpfer

3. Der Jihad in Afghanistan

4. Bin Ladens Heimkehr, Exil und erneute Vertreibung (1989–​1996)

5. Im Land der Taliban (1996–​2001)

6. Der 11. September 2001

7. War on Terror

8. Jagd auf Bin Laden

9. Eine feste Säule auf der Arabischen Halbinsel

10. Al-Qaida im Islamischen Maghreb

11. Ostafrika und al-Shabab

12. Irak: Al-Qaidas Hoffnung, al-Qaidas Albtraum

13. Syrien: Zwischen nationalem und globalem Jihad

14. Der jüngste Ableger auf dem Indischen Subkontinent

15. Iran und al-Qaida

16. Al-Qaida und Europa

Schluss: Die tausend Fronten des Terrors

Literaturhinweise

Videobotschaften

Zeittafel

Register der Personen und islamischen Organisationen

Abkürzungen der Organisationen

AGH

Ansar Ghazwat-ul-Hind, Unterstützer des Indien-Feldzugs

AMISOM

African Union Mission in Somalia

AQAH

al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel

AQI

al-Qaida im Irak

AQIM

al-Qaida im Islamischen Maghreb

AQIS

al-Qaida auf dem Indischen Subkontinent

ARC

Advice and Reformation Committee (al-Qaida-Büro London)

CIA

Central Intelligence Agency

DWR

Die wahre Religion

FIS

Front Islamique du Salut

GI

Gamaʿa Islamiya, Islamische Vereinigung

GIA

Groupe Islamique Armé

GID

General Intelligence Directorate (saudischer Geheimdienst)

GIMF

Globale Islamische Medienfront

GSPC

Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat, Salafistische Gruppe für den Ruf zum Islam und für den Kampf

HTS

Hayʾat Tahrir al-Sham, Komitee zur Befreiung Syriens

IEA

Islamisches Emirat Afghanistan

IS

Islamischer Staat

ISAF

International Security Assistance Force

ISI

Islamischer Staat im Irak

ISIS

Islamischer Staat im Irak und in Syrien

JaN

Jabhat al-Nusra li-Ahl al-Sham, Front zur Unterstützung der Einwohner Syriens

JAS

Jamaʿat Ansar al-Shariʿa Pakistan, Gruppe der Unterstützer der Scharia in Pakistan

JFS

Jabhat Fath al-Sham, Front zur Eroberung Syriens

LIFG

Libyan Islamic Fighting

MUJAO

Mouvement pour l’Unicité et le Jihad en l’Afrique de l’Ouest

NSA

National Security Agency

UIG

Union der Islamischen Gerichte

Vorwort

In den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, in den letzten Jahren des Kalten Kriegs, entstand ein militantes Netzwerk von Islamisten, das sich zur gefährlichsten und größten internationalen Terrororganisation entwickelte, die es je gegeben hat: al-Qaida. Der Name wurde amerikanischen Behörden erst 1996 bekannt, davor sprach man lediglich von der Gruppe oder dem Netzwerk Bin Ladens. Doch nach den Anschlägen al-Qaidas auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania im August 1998 und spätestens mit den Flugzeugangriffen vom 11. September 2001 wurden die Organisation und ihre Führer aller Welt bekannt. Wie wohl kaum ein anderer terroristischer Akteur zuvor beeinflusste al-Qaida über Jahre hinweg die internationale Politik. Und auch wenn heute der «Islamische Staat» (IS) die Schlagzeilen beherrscht – ohne al-Qaida wäre er nicht entstanden. Anders als der IS und seine Vorläuferformen im Irak verstand sich al-Qaida nie als staatliches Gebilde und verwischt die Grenzen zwischen terroristischer Organisation und Guerilla-Truppe weniger, als es der IS tut.[1] Parallel zum allmählichen Niedergang des IS seit 2015 ist es zu einem stillen und weitgehend unbemerkten, aber hoch gefährlichen Wiedererstarken al-Qaidas in verschiedenen Ländern der arabischen Welt, Afrikas und Asiens gekommen.

Über eine terroristische Organisation zu schreiben, ist kein einfaches Unterfangen. Die Mitglieder der Organisation und ihre nicht-staatlichen und staatlichen Gegner beharren jeweils auf ihrer Version und auf ihrer Einschätzung von Personen und Ereignissen. Einzelne Informationen werden von verschiedenen Seiten gezielt an die Öffentlichkeit gebracht, andere wiederum verschwiegen. Auch Berichte von Zeitzeugen sind mit Vorsicht zu lesen, zumal diese oft mit großem zeitlichem Abstand entstehen.

Nachrichtendienste und Armeen verfügen wiederum über Informationen, die wegen ihrer Sensibilität und Geheimhaltungsvorschriften zumeist nur eingeschränkt verfügbar sind. Seit 2012 haben die USA immer mehr bisher unter Verschluss gehaltene Dokumente veröffentlicht, die entweder in Afghanistan, dem Irak oder in Bin Ladens Haus in Pakistan durch US-Truppen sichergestellt wurden. Die interessantesten Dokumente aus diesem Fundus sind sicher die Briefe aus dem Inneren al-Qaidas. Viele von ihnen bieten faszinierende Details über den Aufbau der Organisation, ihre Arbeitsweise und über die Rolle der einzelnen Protagonisten. Doch handelte es sich bislang lediglich um 571 Schriftstücke – ein Bruchteil der insgesamt über eine Million durch die US-Regierung sichergestellten Dokumente.

Am 1. November 2017 veröffentlichte die CIA dann überraschend ein Konvolut von 470.000 neuen Daten, darunter Aufzeichnungen Bin Ladens, Briefe, Bilder und Videos.[2] Da zu dem Zeitpunkt die Arbeit an diesem Buch fast abgeschlossen war, wurden diese Dokumente nur dann berücksichtigt, wenn sie bisherige Erkenntnisse infrage stellen oder substantiell ergänzen. Eine umfassende Sichtung der nun zugänglichen Quellen wird jedoch Jahre dauern und ganze Teams von Forschern beschäftigen.

Der Leser möge dieses Buch daher als den Versuch einer aktuellen, kompakten Annäherung an die komplexe Geschichte der mächtigsten terroristischen Organisation der Moderne verstehen.

Neun Jahre habe ich als Mitarbeiter des Verfassungsschutzes die Entwicklungen im internationalen jihadistischen Terrorismus miterlebt, dokumentiert und analysiert. Aus der täglichen Beschäftigung mit dem Thema entstand die Idee, einen Panoramablick auf die zurückliegenden, aktuellen und möglichen künftigen Entwicklungen zu geben, um die Fäden zusammenzuführen und aus den Erfahrungen im Umgang mit Terrorismus Lehren zu ziehen.

Hamburg, im Mai 2018

Behnam Said

Einleitung: Das verlorene Kalifat

Mit Napoleons Ägypten-Expedition kündigte sich 1798 eine Zeitenwende für die muslimische Welt an: Das Osmanische Reich, das auch das Kalifat, also die politische und religiöse Vertretung aller Muslime, für sich in Anspruch nahm, war nicht in der Lage, die Franzosen mit eigener Kraft aus seiner Provinz Ägypten zu vertreiben. Es war auf die Unterstützung britischer Truppen angewiesen. Mit der darauf folgenden europäischen Expansion zeigte sich die Übermacht des Westens deutlich, dem Osmanischen Reich war die Kontrolle über einige seiner wichtigsten Provinzen entglitten. Intern verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage im Kalifat des 19. Jahrhunderts zusehends, und die politischen Freiheiten wurden weiter eingeschränkt. Angesichts des sich anbahnenden Sprungs in die Moderne und der sich zuspitzenden politischen und wirtschaftlichen Probleme gärte es in den Provinzen. Muslimische Denker sahen, dass die türkische Herrschaft ihren Zenit überschritten hatte, und die Idee eines arabischen – statt türkischen – Kalifats gewann an Bedeutung (Kennedy 2016, 346). Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs war auch das Ende des Osmanischen Reiches besiegelt, das 1924 offiziell abgeschafft wurde. Seitdem träumten Islamisten von der Wiedererrichtung des Kalifats (Pankhurst 2013).

Die militärische, technische und wirtschaftliche Überlegenheit des Westens und die Zwänge unter der Kolonialherrschaft führten zu neuen politischen und gesellschaftlichen Ideen wie der Rückbesinnung auf die religiösen Fundamente, der Reformierung des Kalifats, der Wiederentdeckung des arabischen Kulturerbes. All dies formte einen arabischen Nationalismus, der keinerlei Fremdherrschaft – ob durch Osmanen oder Europäer – mehr dulden wollte (vgl. etwa Khalidi, Rashid et al. 1991 und für Ägypten Khouri 1971).

Der Aufstieg des Islamismus im 20. Jahrhundert und das Denken der al-Qaida-Gründerväter, die in dieser Zeit aufwuchsen, sind nicht zu verstehen ohne die Geschichte des Zerfalls des Osmanischen Kalifats und den europäischen Kolonialismus. Hier liegen die wesentlichen Bezugspunkte für die islamistische Ideologie, die später von al-Qaida weiterentwickelt wurde.[1] Aus ihrer Sicht hat der Westen seine hegemonialen Bestrebungen in der Region bis in die Gegenwart nicht eingestellt, sondern führt sie unter dem Deckmantel von Demokratisierung, Menschenrechten oder, nach dem 11. September 2001, des «Kriegs gegen den Terror» fort.

Nationalstaatlichkeit wird von Islamisten bis heute in den Kontext des Imperialismus gesetzt und als ein von Europa oktroyiertes Konzept begriffen. Es diene nicht der Einigung – was die ursprüngliche Idee einer Nation ist –, sondern im Gegenteil der Teilung der Muslime, die eigentlich in einer unteilbaren Gemeinschaft organisiert sein sollten, die sich nicht durch Ländergrenzen, Rasse oder Ethnie, sondern lediglich durch Religion definiert. Als Gegenentwurf zur modernen Nationalstaatlichkeit wurde die Idee des Kalifats ab der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem «machtvollen Slogan, einer Vorstellung und einem Symbol, das eine vorgestellte Vergangenheit beansprucht und bestrebt ist, diese wieder aufleben zu lassen» (al-Rasheed et al. 2015, 5).

In den keineswegs demokratischen Staaten, die nach den beiden Weltkriegen in der arabischen Welt entstanden waren, führten die Komplexität der Modernisierung und ihre Dynamik zum Entstehen neuer Machteliten. Nach außen gaben sie sich dezidiert westlich, so dass die Opposition gegen die fast immer autoritär-paternalistisch ausgeübte Herrschaft sich oft religiös artikulierte. Selbst in bürgerlichen Kreisen, die politisch nicht in Opposition zur Regierung standen, hielt ab den 1970er-Jahren ein Trend zur Frömmigkeit und demonstrativen Religiosität Einzug.

Daneben breiteten sich revolutionäre und militante religiös-politische Strömungen aus, die sowohl den Staat wie auch die ihn tragende, als «verwestlicht» wahrgenommene Gesellschaft ablehnten. Diese Zeit der «Reislamisierung» der arabischen Gesellschaften nannte die islamistische Bewegung die Ära des islamischen Wiedererwachens (al-sahwa al-islamiya). Sie war gekennzeichnet von einem überbordenden islamistischen Selbstbewusstsein, bestärkt von der Gewissheit, dass sich weder die wirtschaftlichen und politischen Konzepte des Westens (Liberalismus und Demokratie) noch des Ostens (Planwirtschaft und Kommunismus) als geeignete Regierungs- und Wirtschaftsformen für die muslimischen Länder erwiesen hätten. Man müsse nun die Chance ergreifen, die Fehlentwicklungen zu korrigieren und eine Herrschaft unter islamischen Vorzeichen zu errichten. Besonders in Ägypten und in Syrien kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Staat und aufständischen Islamistengruppen.

Kamal Habib, einer der Führer der militanten Islamisten in Ägypten in den 1970er-Jahren, reflektierte über diese Phase, die er als Zeit des Aufbruchs in Erinnerung hat:

Die islamische Bewegung war mit den großen Ideen wie dem Kalifat und der Wiederrichtung des Islamischen Staates beschäftigt. Antworten zu den Einzelheiten haben sie nicht geliefert und uns lediglich auf die allgemeinen Leitlinien fokussiert. Wir hatten einen Traum, eine Vision und endlose Hoffnungen. (Habib in Dravon 2018, 60).

Diese Worte spiegeln die bis heute anhaltende Strahlkraft der Vergangenheit, gemischt mit einer großen Portion Utopie, die die islamistischen Bewegungen am Leben hält und durch die sie ihre Anhänger anspricht.

Der Wunsch nach einem islamischen Staat, einer islamischen Gesellschaft oder der Wiedererrichtung des Kalifats ist bis heute die einigende Klammer aller Islamisten, ob sie sich friedlich betätigen oder Gewalt ausüben. Al-Qaidas Alleinstellungsmerkmal ab den 1990er-Jahren war die eigens entwickelte Strategie des kontinuierlichen Zermürbungskampfes gegen die nach 1989 unangefochtene Supermacht USA, den «Kopf der Schlange», wie al-Qaida-Ideologen sie nennen. Dieser Kampf wurde als Mittel erkannt, um damit die Regime in den eigenen Herkunftsländern zu schwächen, die sich oft in der Tat nur mit externer Hilfe halten konnten. Zudem kombinierte al-Qaida den militärischen Kampf mit einer medialen Kampagne zur Einflussnahme auf das Denken der Muslime. Denn, so fasst es der Stratege alʿAdl, in einem Papier zum Guerilla-Kampf (Zaidan 2014, 1) zusammen, «was heute Guerilla-Krieg genannt wird, ist in Wahrheit ein Kampf der Ideologien».

1. Aiman al-Zawahiri: Vom ägyptischen Arzt zum «Weisen der Umma»

Die Geschichte von Aiman al-Zawahiri ist eine Parabel für die islamistische Bewegung an sich, besonders für die ägyptische, die seit ihrer Entstehung nach dem Untergang des Osmanischen Kalifats über eine besondere Ausstrahlungskraft für den arabischen Raum verfügte. Der Weg des späteren Nachfolgers von Bin Laden in den Terrorismus war keineswegs vorgezeichnet, ihm hätten Möglichkeiten offen gestanden, ein Leben als angesehenes Mitglied der ägyptischen Gesellschaft zu führen. Doch es sollte anders kommen.

Familie und frühe Prägung

Maadi, der südliche Vorort Kairos, in dem Aiman al-Zawahiri 1951 das Licht der Welt erblickte und seine Jugend verbrachte, entstand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.[1] Es war eine Art Gegenentwurf zur ärmlichen und chaotischen Metropole: Jüdische Familien und britische Offiziere siedelten hier, die feine Gesellschaft traf sich im örtlichen Sportklub. In den 1960er-Jahren entstand ein neues Viertel in Maadi, wo sich Angehörige der Mittelschicht, aber auch ärmere Ägypter niederließen. Hier lag auch die Wohnung, die Rabiʿ und Umaima al-Zawahiri, Aiman al-Zawahiris Eltern, bezogen.

Aiman hatte eine Zwillingsschwester, und zwei Jahre später wurde sein Bruder Muhammad geboren, der zu einem wichtigen politischen Weggefährten Aimans werden sollte und als jihadistischer Aktivist und Ideologe gilt.[2] Vater Rabiʿ al-Zawahiri lehrte als Professor an der Ain-Shams-Universität in Kairo Pharmakologie. Seine Vorfahren hatten durch ihr Wirken an der einflussreichen sunnitischen Lehranstalt der al-Azhar-Universität ebenfalls einige Bekanntheit. Auch mütterlicherseits konnte Aiman al-Zawahiri eine angesehene Familie vorweisen, darunter waren religiöse Autoritäten und auch Politiker, wie etwa der erste Generalsekretär der Arabischen Liga, ʿAbd al-Rahman ʿAzzam (1945–​1952).

Aiman al-Zawahiri besuchte eine reguläre, also nicht-religiöse Schule und schrieb sich dann im Studienjahr 1968/69 in der medizinischen Fakultät an der Kairoer Universität ein (al-Zayyat 2004, 18). 1974 schloss er sein Studium mit «sehr gut» ab und absolvierte 1978 einen Master-Studiengang in Chirurgie.[3] In dieser Fachrichtung sollte er später in Pakistan promovieren. 1978 oder 1979 heiratete er Azza Ahmad Nuwair, die erfolgreich ein Philosophie-Studium beendet hatte und mit ihrem künftigen Ehemann neben der höheren sozialen Herkunft die strenge Auslegung der Religion teilte (Wright 2008, 67; al-Zayyat 2004, 17). Das Ehepaar bekam vier Töchter und einen Sohn.

Ein sozialer Hintergrund, wie ihn Aiman al-Zawahiri aufwies, war keinesfalls die Ausnahme in der ägyptischen Jihad-Bewegung, was mehrere Studien belegen.[4] Von 326 aktenkundigen Angehörigen der militanten Organisation, der auch al-Zawahiri angehörte, hatte etwa die Hälfte universitäre Ausbildungswege, davon waren 55 Prozent in modernen naturwissenschaftlichen Fächern, Ingenieurwissenschaften oder Medizin eingeschrieben. Das lässt auf ihre exzellenten Schulnoten rückschließen, da die Zugangshürden für diese Fächer in den arabischen Staaten sehr hoch waren (Sivan 1985, 118–​119). Der Aufstand gegen das Establishment und das Eintreten für einen islamischen Staat waren also teilweise getragen von gebildeten Mitgliedern der urbanen Mittelschicht, erfuhren aber durchaus auch Unterstützung in den Armenvierteln der großen Städte.[5]

Bereits in früher Jugend soll Aiman al-Zawahiri ein ausgeprägtes politisches Bewusstsein gezeigt und mit fünfzehn seine erste Untergrundzelle ins Leben gerufen haben (al-Zayyat 2004, 18). Besonders die Schriften von Sayyid Qutb (1906–​1966), der als wichtigster Ideengeber der modernen Jihad-Bewegung gilt, beeinflussten den jungen al-Zawahiri. Qutb[6] hatte eine revolutionäre Befreiungstheologie entwickelt, deren erklärtes Ziel es war, die Herrschaft der Menschen über die Menschen zu beenden zugunsten der als gerecht und einzig legitim erachteten Herrschaft Gottes über seine Geschöpfe. Dies sollte durch eine politische Avantgarde geschehen, gegebenenfalls auch unter Anwendung von Gewalt. Insgesamt weisen viele Ausführungen Qutbs auffällige Ähnlichkeiten mit den Ideen der revolutionären Linken auf – freilich unter ganz anderen Vorzeichen und in Konkurrenz. Das ist nicht weiter verwunderlich, hatte doch die sozialistische und kommunistische Bewegung in der arabischen Welt bis in die 1960er-Jahre durchaus starken Zulauf. Eine wichtige Verbindung zwischen Aiman al-Zawahiri und Sayyid Qutb stellte Aimans Lieblingsonkel Mahfuz ʿAzzam aus der mütterlichen Linie dar (Wright 2008, 56–​57), der einst in der Grundschule von Qutb unterrichtet worden war. Später wurde Mahfuz ʿAzzam nicht nur ein Aktivist der Muslimbruderschaft, sondern auch Anwalt von Qutb, den er gegen den Staat unter Führung von Gamal ʿAbd al-Nasir (Nasser) vertrat. Bevor Qutb hingerichtet wurde, soll Mahfuz ihn noch besucht haben. Seinem Neffen berichtete er später eindringlich von Qutbs Standhaftigkeit und seinem Leid im Gefängnis, was einen bleibenden Eindruck auf ihn hinterlassen sollte.

Al-Zawahiri selbst schrieb, dass die Verhaftungswelle gegen die islamistische Bewegung 1965 unter Nasser (vgl. Kepel 2005, 28–​33) und die Hinrichtung Qutbs 1966 die «Initialzündung für die jihadistische Bewegung in Ägypten gegen die Regierung» waren (al-Zawahiri 2010, 8). Damit steht al-Zawahiri exemplarisch für den Beginn der jihadistischen Mobilisierung, die Ende der 1960er-Jahre unter Nasser begann und sich unter seinem Nachfolger Sadat in den 1970er-Jahren vollends entfaltete.

Al-Zawahiri war beseelt von der Idee einer revolutionären Avantgarde, wie Qutb sie beschrieben hatte, die handstreichartig die Macht im Staat übernehmen und so möglichst unblutig und schnell den Weg zu einem islamischen Staat ebnen würde. Die mehrheitliche Position in der Muslimbruderschaft hingegen war keineswegs revolutionär, sondern sah vor, die Volksmassen einzubinden, ihnen beharrlich ein islamisches Bewusstsein zu vermitteln und so sukzessive durch Erziehung hinter sich zu scharen.

Jihadistische Zellen in Ägypten

Anwar al-Sadat hatte 1970 das Präsidentenamt nach dem Tod von Gamal ʿAbd al-Nasir übernommen, der in der Hochphase des Kalten Krieges sein Land am Sowjet-Block orientiert hatte. Diese Phase des ägyptischen Sozialismus war zunächst – nach Jahren der noch immer unter Großbritanniens Einfluss stehenden Monarchie – von vielen als hoffnungsvoller Aufbruch in die wahre Unabhängigkeit verstanden worden. Doch der Sechstagekrieg 1967, in dem Israel Teile Ägyptens besetzen und die ägyptische Armee vernichtend schlagen konnte, war der Anfang vom Ende des arabischen Sozialismus und seiner Anführer. Er läutete zugleich das Erstarken der Islamisten ein, da die Schuld für den verlorenen Krieg hauptsächlich den säkularen Herrschern und dem Abweichen der Muslime von ihrer Religion zugeschrieben wurde.

Es war daher deutlich, dass Anwar al-Sadat nicht weitermachen konnte wie bisher, als er Nasser, die «von Holzwürmern zerfressene Ikone» (al-Zayyat 2004, 23), politisch beerbte. Sadats Herrschaft war gekennzeichnet durch den endgültigen Bruch mit der Sowjetunion und die zunehmende Orientierung an den USA sowie die damit einhergehende Liberalisierung der Wirtschaft. Al-Zawahiri spricht hier vom «russisch-nasseristischen Zeitalter» einerseits und dem «amerikanisch-sadatistischen» andererseits (al-Zawahiri 2010, 13). Ganz im Sinne des Kalten Krieges und des Blockdenkens versuchte Sadat die linke Opposition, also Nasseristen und Kommunisten, zu schwächen. Dazu bediente er sich des religiösen und rechten politischen Rands, der sich nun in Ägypten immer freier entfalten konnte (Heikal 1983, 114–​118; Ibrahim 1980, 426; Gaffney 1994, 80–​112). Inhaftierte Mitglieder der Muslimbruderschaft wurden entlassen, und zwei ihrer Monatsmagazine nahmen ihre Arbeit wieder auf (Sivan 1985, 120). Es entstand eine Art Symbiose zwischen der politischen Führung und den Islamisten, insbesondere der studentischen «Gamaʿa Islamiya» (Islamische Vereinigung; GI).[7] Allerdings entglitt dem Staat im Laufe der 1970er-Jahre zunehmend die Kontrolle über die sich neben den «offiziellen» Islamisten ausbreitenden militanten Untergrundzirkel, die sich nun immer mehr gegen Sadats Regierung selbst richteten (Ibrahim 1980, 426; Haikal 1983, 128–​132; Gaffney 1994, 80–​112[8]). Die Radikalen forderten Staat und Gesellschaft mit Entführungen, Geiselnahmen und Attentaten, aber auch durch Agitation im öffentlichen Raum, insbesondere an den Universitäten, heraus. In einem Kulturkampf setzten sie der populären Musik- und Filmkultur, die von den Islamisten als verdorben und degeneriert erachtet wurde, eine eigene, fromme Gegenkultur entgegen, durchaus mit Erfolg (Sivan 1985, 130–​131; Dravon 2017, 72–​73). So stieg der Anteil der religiösen Bücher am Gesamtmarkt von jahrzehntelang konstanten 8 bis 9 Prozent zum Ende der 1970er-Jahre auf 19 Prozent. Zudem trieben die Islamisten auf diese Art den Präsidenten vor sich her, der in den Wettstreit um Frömmigkeit einstieg und sich als der «gläubige Präsident» (ar-raʾis al-muʾmin) inszenierte, etwa indem er «fast täglich beim Gebet im Fernsehen zu sehen war» (Heikal 1983, 216).

Al-Zawahiris Rolle in der Jihad-Bewegung beschränkte sich zunächst auf die eines praktischen Anführers und Organisators. Als Ideologe trat er nicht in Erscheinung. Auch gab es andere, charismatischere Anführer, die als Aushängeschild für die jihadistischen Gruppen eher geeignet waren als der introvertiert wirkende al-Zawahiri. Dessen Gruppe soll selbst zu Hochzeiten im Jahr 1974 nicht mehr als vierzig Personen umfasst haben, eine von vielen ähnlichen Zellen; al-Zawahiri war in den 1970er-Jahren noch weit davon entfernt, zu einer der wichtigsten Figuren der jihadistischen Bewegung aufzusteigen.

Trotz der zunehmenden Gewaltakte gegen Staat und Gesellschaft trieb Anwar al-Sadat seine Politik der Annäherung an die USA (und Israel) weiter voran, was außenpolitisch in seine historische Jerusalem-Reise im November 1977 und in das darauf aufbauende Friedensabkommen von Camp David 1978 mündete. In den Augen der oppositionellen Islamisten hatte Sadat damit endgültig jede Legitimation verloren, auch in anderen politischen und religiösen Lagern Ägyptens erhielt er immer weniger Zuspruch (Kepel 2005, 170). Bereits 1977 brodelte es in Ägyptens Gesellschaft, die «Frustration der unteren Klasse und der unteren Mittelklasse» über die Wirtschaftspolitik der Regierung (Ibrahim 1980, 424) war drastisch gestiegen. Subventionskürzungen bei Grundnahrungsmitteln und Treibstoff führten zu massiven Protesten in mehreren Städten, die blutig niedergeschlagen wurden.

Sadats Politik der «eisernen Faust» entfremdete ihm das Volk immer weiter und führte gleichzeitig dazu, dass die Opposition sich zunehmend in den Untergrund zurückzog (Heikal 1983, 103–​118). Die wirtschaftliche Krise, Korruption sowie die grassierende Ungleichheit verschärften sich, die Hilfen aus dem Ausland, etwa aus den USA oder auch den Golfländern, flossen nur spärlich. 1981 war der Präsident isoliert im eigenen Land und hatte zugleich Ägypten vom Rest der arabischen Welt entfremdet, wie er auch in den Augen des Westens an Ansehen verloren hatte (Heikal 1983, 169 und 230–​231). Dieser Situation versuchte Sadat am 3. September 1981, einen Monat, bevor er einem Attentat zum Opfer fiel, mit einer massiven Verhaftungswelle gegen alle seine politischen Gegner aus diversen Lagern zu begegnen.[9]

Bereits 1979 war es zu einem Zusammenschluss zwischen verschiedenen kleineren Jihad-Gruppen unter der Führung des Elektroingenieurs ʿAbd al-Salam Faraj (1954–​1982) gekommen, was auch al-Zawahiris Gruppe betraf. Ein Jahr später schloss Faraj mit Karam Zohdi, dem Anführer der zunehmend gewaltbereiten Gamaʿa Islamiya (GI), ein Abkommen: Die freien Jihad-Gruppen, die sich im Gegensatz zu den Muslimbrüdern als jihadistisch-salafistisch begriffen, sollten in der GI aufgehen (al-Zawahiri 2010, 14; al-Zayyat 2004, 14, 21).[10] Das neue Bündnis stand unter Führung von Shaikh ʿUmar ʿAbd al-Rahman (1938–​2017), einem blinden Islamgelehrten. Allerdings war dieser Beschluss höchst umstritten. Esam al-Qamari und sein langjähriger politischer Kampfgefährte al-Zawahiri galten als die vehementesten Kritiker von ʿAbd al-Rahman, dessen Führungsmöglichkeiten sie vor allem wegen seines Augenleidens für zu eingeschränkt hielten (vgl. al-Zayyat 2004, 27–​30).

Zu Beginn des Jahres 1981 führte ʿAbd al-Rahman auf eine theoretische Frage zur Legitimation eines Mordes an einem ungerechten Machthaber aus, dass dies aus islamischer Sicht gerechtfertigt sei – auch wenn er dies hinsichtlich der Person Sadat relativierte (Heikal 1983, 243). Etwa zur gleichen Zeit fasste eine jihadistische Kleinstzelle um ʿAbd al-Salam Faraj den Beschluss, den Präsidenten zu ermorden. Wie das Attentat ausgeführt werden sollte und von wem, darüber gab es zunächst lediglich vage Überlegungen (Heikal 1983, 244–​245). Erst ein Zufall ließ dann die Verschwörung zustande kommen: Khaled al-Islambuli (geb. 1957), ein Mitglied der Terror-Zelle, diente als Leutnant der ägyptischen Streitkräfte und war von seinem Führungsoffizier erst am 23. September dazu berufen worden, an der Militärparade anlässlich des Jahrestages des reklamierten Sieges im Oktober-Krieg 1973 («Jom-Kippur-Krieg») teilzunehmen. Al-Islambuli schaffte es, drei weitere Attentäter in die Militärparade zu schleusen. Als ihr Wagen an der Präsidententribüne vorbeifuhr, zog al-Islambuli eine Pistole und zwang den Fahrer des Lastwagens zum Halt (zum Tatablauf vgl. Heikal 1983, 251–​255). Dann lief er direkt zur Tribüne, während ʿAbbas Muhammad, einer der Komplizen, vom Lastwagen aus feuerte. Vor der Tribüne stehend schoss al-Islambuli immer wieder auf Sadat. Neben dem Präsidenten starben sieben weitere Personen, 28 wurden verwundet. Heikal (1983, 255) fasste das Ergebnis dieses Attentats mit den Worten zusammen: «Zum ersten Mal hat das Volk der Ägypter seinen Pharao getötet.»

Verrat, Sühne, Exil

In den Monaten vor dem Mord an Anwar al-Sadat war al-Zawahiri viel gereist, 1980 eher zufällig auch erstmals nach Pakistan. Bereits damals, so schrieb al-Zawahiri rückblickend im Jahr 2010, habe er dies als Möglichkeit begriffen, eine sichere Basis für Jihad-Aktivitäten zu schaffen. Für vier Monate leistete er in einem Krankenhaus in Peschawar humanitäre Hilfe, im Folgejahr noch weitere zwei Monate (al-Zawahiri 2010, 59–​61). Zu jener Zeit hielten sich noch äußerst wenige Araber in Peschawar auf, der afghanische Jihad hatte noch nicht jene Bedeutung, die er in den späteren Jahren erlangen sollte. Angeblich gelang es al-Zawahiri auch, über die Grenze nach Afghanistan zu gelangen, wo er Zeuge des Aufstands gegen die sowjetische Invasion wurde (Wright 2008, 67–​69). Zurück in Kairo berichtete er von den Taten der Mujahidin und warb für deren Sache. In dieser Zeit machten sich sowohl Veränderungen im Auftreten als auch im Wesen al-Zawahiris bemerkbar. Der amerikanische Journalist und spätere Professor für Medienwissenschaft Sulaiman Abdallah Schleifer, der sich in den 1970er-Jahren mit al-Zawahiri angefreundet hatte, erinnert sich, dass der Ägypter mittlerweile die USA als Feindbild betrachtete und dies selbst ihm als amerikanischem Staatsbürger gegenüber offen vertrat (Wright 2008, 69). Auch trug al-Zawahiri nun pakistanische Kleidung und einen langen Bart, während er sich einige Jahren zuvor noch einen Schnurrbart hatte stehen lassen und in Anzug und Krawatte über den Campus der Universität gelaufen war (Wright 2008, 61). Im heutigen Sprachgebrauch waren die Reisen nach Pakistan wohl ein wichtiger Mosaikstein in der weiteren «Radikalisierung» al-Zawahiris.

An dem Attentat auf Sadat hatte sich al-Zawahiri vermutlich nicht beteiligt. Dennoch wurde er nach dem Anschlag im Zuge einer erneuten Verhaftungswelle interniert.[11] Ihm und weiteren 302 Angehörigen der Jihad-Bewegung, die lediglich dem Umfeld der Attentäter zuzurechnen waren, wurde im Folgenden ein Prozess gemacht, der in der ägyptischen Presse als der «Große Jihad»-Fall bekannt wurde (al-Zayyat 2004, 21–​22). In ägyptischer Manier waren die Angeklagten während des Prozesses in einen großen Eisenkäfig gesperrt. Al-Zawahiri, der gut Englisch sprach, nutzte das mediale Interesse an dem Prozess, um seine Botschaft in die Welt zu bringen und sprach seine berühmt gewordenen Worte:

Wer sind wir? Warum haben sie uns hergebracht [in den Gerichtssaal]? Was haben wir mitzuteilen? Zur ersten Frage: Wir sind Muslime! Wir sind Muslime, die an ihre Religion glauben! Und diese hat zwei Bedeutungen zugleich: Ideologie und Praxis. Wir glauben, dass unsere Religion beides zugleich ist: Ideologie und Praxis. Und daher bemühen wir uns nach ganzer Kraft, einen islamischen Staat und eine islamische Gesellschaft zu gründen. … Wir sind hier als islamische Front gegen Zionismus, Kommunismus und Imperialismus.

Al-Zawahiri machte sich zum Sprecher der Angeklagten, unter ihnen der blinde Shaikh ʿAbd al-Rahman, und berichtete auch detailliert über die Folter, denen er und die anderen Gefangenen während der Untersuchungshaft ausgesetzt waren. Von den insgesamt 302 Angeklagten bekam keiner die Todesstrafe, anders als die 24 Männer, denen als vermutliche Täter oder Planer der Prozess gemacht wurde. Aiman al-Zawahiri erhielt, wie die meisten der Angeklagten, eine Gefängnisstrafe von drei Jahren.

Unter der Folter soll al-Zawahiri seinen Peinigern schließlich den Zufluchtsort von Esam al-Qamari preisgegeben und später auch im Prozess gegen al-Qamari sowie Mitglieder seiner eigenen Jihad-Zelle ausgesagt haben (al-Zayyat 2004). Al-Qamari war ein Offizier der ägyptischen Armee, dessen Untergrundaktivitäten in Richtung Umsturz im März 1981 aufgedeckt worden waren und der daraufhin die Flucht ergriffen hatte. Er galt als charismatisch und hatte auch auf al-Zawahiri einen gewissen Einfluss ausgeübt, Montasser al-Zayyat rechnete ihn sogar zu dessen «besten Freunden» (al-Zayyat 2004, 49). Dass al-Zawahiri durch die Folter ausgerechnet al-Qamari sowie weitere Gesinnungsgenossen verraten hatte, brannte sich in seine Seele ein. Noch radikalisierter als zuvor verließ er Ägypten, nachdem er 1985 aus dem Gefängnis freigelassen worden war (al-Zayyat 2004, 31–​32). Es sollte ein Abschied für immer werden. Die erste Station war das saudi-arabische Dschidda, wo al-Zawahiri in einem Krankenhaus arbeitete. Zwei Jahre später, 1986, reiste er erneut nach Peschawar in Pakistan, wo er zunächst als Chirurg in einem Krankenhaus tätig war, das dem kuwaitischen Roten Halbmond gehörte und von den Muslimbrüdern kontrolliert wurde (vgl. Wright 2008, 87 und 169).

Dieses Krankenhaus sollte dem Leben al-Zawahiris eine weitere entscheidende Wendung geben. Er kam dort mit Jihadisten aus Ägypten, aber auch aus anderen Ländern in Kontakt und tauschte sich mit diesen über ihre Ideen und Pläne aus. Etwa mit Sayyid Imam ʿAbd alʿAziz Sharif (alias Dr. Fadl, geb. 1950), einem der einflussreichsten jihadistischen Ideologen der 1980er-Jahre (Jones 2013, 29–​39; Wright 2008, 170). Abu Muhammad al-Maqdisi (geb. 1959), wie Sharif ebenfalls ein jihadistischer Denker, berichtete, dass er al-Zawahiri zunächst in der Funktion als Arzt an eben jenem Krankenhaus kennenlernte und erst die Freundschaft mit ihm dazu führte, dass er in den Lagern al-Qaidas aufgenommen wurde (CNN 07.09.​2016). Auch der pakistanische Zeitzeuge Muhammad ʿAli Saif (siehe Kapitel 3, S. 37) erinnert sich an al-Zawahiri zunächst als einen bekannten Arzt, der aus einer der respektablen Familien Kairos stammte und angeblich ein islamischer Revolutionär gewesen sei (Saif, Interview mit dem Autor am 28.02.​2017). Er beschreibt ihn als einen «reservierten» Menschen, der sich gegenüber den Nicht-Arabern sehr zurückhielt und hauptsächlich Kontakte zu seinen Landsleuten pflegte. Der intensive Austausch mit diesen und weiteren Personen veränderte al-Zawahiri, so dass aus dem bisher eher bescheiden auftretenden und rational argumentierenden Arzt ein aggressiver und streitlustiger Charakter wurde (Wright 2008, 170–​173). Er war im Denken und in der Welt der «Takfiristen» gefangen, also jener islamistischen Strömung, die andere Muslime zu Ungläubigen und zu legitimen Jihad-Zielen erklärte, und begann nun in dieser eine tragende Rolle einzunehmen.

Ebenfalls im Krankenhaus traf al-Zawahiri 1987 auch das erste Mal auf Bin Laden, der es seinem Mentor ʿAbdullah ʿAzzam gleichtat und in der Halle des Krankenhauses Vorträge hielt (Coll 2005, 164; Wright 2008, 175). Dies war die Keimzelle für eine Verbindung von Ideologie und Geld, die letztlich zur Gründung von al-Qaida führen sollte.

2. Usama Bin Laden: Vom saudischen Bauunternehmer zum Widerstandskämpfer

Am Ende aller hundert Jahre schickt Gott der Gemeinschaft jemanden, der ihre Religion erneuert.[1]

Dieser Ausspruch, der dem Religionsgründer Muhammad zugeschrieben wird, findet sich in einer Biographie aus dem Jahr 2003 mit dem Titel «Usama Bin Laden – Der Erneuerer der Epoche und Bezwinger der Amerikaner» aus der Feder von Abu Jandal al-Azdi[2], Mitglied von al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel. Al-Azdi bezieht die Prophezeiung direkt auf Usama Bin Laden, der Ende 1979 oder Anfang 1980 erstmals nach Pakistan aufbrach, um von dort aus den Kampf der afghanischen Aufständischen gegen die sowjetischen Truppen zu unterstützen, die im Dezember 1979 einmarschiert waren. Der islamische Kalender wechselte zu dieser Zeit gerade von 1399 auf 1400, aus islamischer Perspektive ging also ein Jahrhundert zu Ende, was Bin Laden einigen seiner Anhänger als die Manifestierung der göttlichen Vorsehung erscheinen ließ. Diese religiöse Verklärung zeigte sich unter anderem in Bin-Laden-Postern, die in Pakistan und später auch andernorts ab den späten 1999er-Jahren auftauchten, auf denen der al-Qaida-Chef als eine Art heiliger Krieger dargestellt ist: In weißer Robe mit weißem Turban und einem geschulterten Mantel hält er mit ruhiger Miene eine Kalaschnikow in der Hand. Kleiner gemalt ist er zudem auf einem weißen Pferd reitend abgebildet. Den Hintergrund der Szenerie bilden die Berge Afghanistans, die von Kampfflugzeugen bombardiert werden.