Über das Buch:
Sarah Cain ist Immobilienmaklerin und genießt ihr Leben in vollen Zügen. Für ihre Schwester Ivy, die sich für ein Leben als Amisch entschied, hatte sie immer nur Spott übrig. Doch dann ereilt sie die Nachricht, dass Ivy gestorben ist.
Sarah ist fassungslos. Nicht nur über ihren Tod, sondern auch darüber, dass ihre Schwester ausgerechnet sie als Vormund für ihre Kinder eingesetzt hat. Soll sie tatsächlich ihre Karriere und ihren gesamten Lebensstil aufgeben, um fünf Amischwaisen aufzuziehen? Und was wird aus Bryan, dem Mann an ihrer Seite?
Sarah reist nach Lancaster County, um eine Amischfamilie zu finden, die die Kinder adoptiert. Doch das Leid ihrer kleinen Nichten und Neffen lässt sie nicht kalt ...

Über die Autorin:
Beverly Lewis wurde im Herzen des Amisch-Landes in Lancaster, Pennsylvania, geboren. Sie hat 3 erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann Dave in Colorado/USA. Ihr Wissen über die Amisch hat sie von ihrer Großmutter, die in einer Mennoniten-Gemeinde alter Ordnung aufwuchs.

6

Sarah nahm sich an diesem Morgen nicht die Zeit, noch eine Weile im Bett sitzen zu bleiben und den vor ihr liegenden Tag im Geiste durchzuspielen. Ihre Fahrt nach Pennsylvania hatte Vorrang. Sie hatte eigentlich auch zu viel zu tun, um sich mit Bryan zu einem gemütlichen Frühstück zu treffen.

Sie nahm das Handy und suchte in den eingespeicherten Daten seine Telefonnummer. Sie machte sie schnell ausfindig. Dann zögerte sie. Konnte sie die halbe Stunde oder mehr nicht doch erübrigen, um die Verabredung mit ihm einzuhalten?

Ihr letzter gemeinsamer Abend als Liebespaar am College fiel ihr wieder ein. Eigensinnig hatten sie bis tief in die Nacht hinein ihre unterschiedlichen Standpunkte diskutiert. Dass sie und Bryan nach diesem Abend immer noch miteinander redeten und gute Freunde waren, schien ihr fast unbegreiflich.

Sie legte das Handy beiseite und entschied sich, ihn doch nicht anzurufen. Sie hatte ihn schon zu sehr verletzt, um jetzt auch noch diese seltsame Verabredung zu einem gemeinsamen Essen abzusagen. Außerdem würde Bryan sie sicher nicht verstehen, wenn sie ihr Rendezvous so kurzfristig absagte. Sie konnte es sich nicht leisten, seine Freundschaft zu verlieren, selbst wenn er ein wenig dominant war. Also stand sie eilig auf und ging daran, zu duschen und sich anzuziehen.

Sie brauchte dazu genau fünfundvierzig Minuten. Sie wusste, was sie anziehen wollte. Sie hatte es sich am Vorabend vor dem Einschlafen überlegt. Jedoch investierte sie nicht übermäßig viel Zeit für ihre Haare und ihr Make-up. Sie ließ die Haare offen und locker über den Rücken fallen und setzte weniger auf zugeknöpftes, strenges Aussehen. Natürlich wollte sie alles tun, um nett auszusehen, wollte sich dabei aber mehr auf ihren üblichen eleganten Stil und weniger auf den Stil, den sie in ihrem Beruf bevorzugte, verlassen. Er war nicht ihr Ziel, Bryan zu beeindrucken.

„Es ist doch nur ein Frühstück“, flüsterte sie spöttisch in den Spiegel. Sie bürstete sich die honigblonden Locken aus dem ovalen Gesicht, beugte den Kopf nach vorne und schüttelte ihre Haare, um eine zusätzliche Fülle zu erreichen. Eines ihrer vielen Morgenrituale.

Mit aufrechtem Kopf sprühte sie sich etwas Haarspray in die Haare und musste an damals denken, als Mutter zugesehen hatte, wie Ivy Sarah die Haare kämmte. Ivy war damals um die fünfzehn gewesen, Sarah erst neun ...

„Du hast Naturlocken“, hatte Sarah zu Ivy gesagt und zugesehen, wie sie mit ihren rotblonden Haaren spielte.

„Sag so etwas nie wieder!“, fuhr Ivy sie wütend an.

„Du solltest doch froh darüber sein“, erwiderte Sarah, fest entschlossen, ihren Standpunkt zu behaupten.

Ivy hörte auf zu bürsten und schaute sie mit finsterer Miene an. „Du weißt ja nicht, was du sagst“, zischte sie.

„Kommt jetzt, Mädchen“, sagte Mutter im Türrahmen. „Versucht doch, netter zueinander zu sein.“

Ivy fuchtelte mit der Bürste vor Sarahs schmalem Gesicht herum. „Sag das ihr!“

Mutter schüttelte den Kopf und stemmte eine Hand in ihre schmale Hüfte. „Es wäre gut, wenn ihr beide eine Weile nicht zusammen seid.“ Sie drohte Sarah mit dem Finger. „Komm jetzt mit mir. Warum musst du denn deine Schwester immer ärgern?“

„Ich habe nur die Wahrheit gesagt.“ Sarah drehte sich um, als Mutter nicht hinschaute, und streckte ihrer Schwester die Zunge heraus. „Ivys Haare haben so natürliche Locken“, sagte sie trotzig.

Mutter war weiser als sie beide. Sie verteidigte ihre ältere Tochter mit keinem Wort. Sie nahm Sarah einfach an der Hand und führte sie aus dem Zimmer und die Treppe hinab. „Es wird Zeit, dass du aufhörst, deine große Schwester aufzuziehen“, schalt Mutter sie und zwang sie, sich ins Wohnzimmer zu setzen. „Du musst lernen, Älteren mit Respekt zu begegnen.“

Aber in Sarahs Augen waren „Ältere“ viel ältere Leute. Leute, die schon über zwanzig oder sogar noch älter waren. Nicht gemeine Teenagerschwestern, die halb blind waren, wenn es um Haare ging. Ihre Haare waren die reinsten Schnittlauchlocken. Und sie wünschte sich so sehr, sie hätte Locken.

* * *

Rückblickend fragte sich Sarah, ob dies auch ein Auslöser für ihre lebenslangen Meinungsverschiedenheiten gewesen sein könnte? Verabscheute Ivy tatsächlich ihre Locken? Wünschte sie sich insgeheim andere Haare?

Sarah überprüfte noch einmal ihr Make-up, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, sich wegen ihres Aussehens keine allzu großen Gedanken zu machen. Schnell sprühte sie ihr Lieblingsparfüm Ewigkeit auf, den teuersten Duft, den sie besaß, und fragte sich, ob Bryan sich wohl an diesen Duft erinnerte. Dann trat sie vor den großen Spiegel und betrachtete sich von Kopf bis Fuß. Besonders den heidegrauen Hosenanzug und den hellrosa Schal um ihren Hals.

Ausgezeichnet, dachte sie und hoffte, sie hatte die richtige Entscheidung getroffen, als sie einwilligte, ihn wiederzusehen.

* * *

Lydia war ziemlich sicher, dass Mama sich den Amisch der Alten Ordnung angeschlossen hätte, falls Papa das vor Jahren so gewollt hätte. Aber ihre Eltern hatten die amische Kirche der Neuen Ordnung der strengen, stark traditionellen Gemeinde der Alten Ordnung vorgezogen.

Und sie war froh, dass sie durch Gottes Gnade Erlösung gesucht hatten. Vor allem, weil damit die Vorstellung einherging, dass moderne Elektrizität und Telefone doch nicht so böse waren, wie einige Brüder ursprünglich gedacht hatten. Diese Lehre konnte sie von ganzem Herzen nachvollziehen und genoss die Annehmlichkeiten der modernen Technik. Trotzdem ordnete sie sich gern dem Bischof und den Regeln ihres Gemeindebezirks unter.

Lydia war von Herzen amisch. Für sie gab es nichts Besseres. Vielleicht lag das auch daran, dass sie ihre eigenen Erfahrungen mit der modernen Welt aus den ersten fünf Jahren ihres Lebens mit dem amischen Lebensstil vergleichen konnte.

* * *

Sarah stand in der Nische des Vorraumes. Sie ließ ihren Blick durch das Spezialitätencafé schweifen und hielt nach Bryan Ausschau. Sie erblickte ihn im selben Augenblick, in dem er sie erkannte. Seine Augen nahmen auf der Stelle ein zärtliches Leuchten an.

Er mag mich immer noch, dachte sie, während sie sich ihren Weg zu seinem Tisch bahnte.

Bryan erhob sich und stand groß und schlank vor ihr. Sie ließ sich von ihm auf die Wange küssen. Sie roch sein unaufdringliches Rasierwasser, als er zurücktrat und sie anlächelte. „Du siehst wunderbar aus, Sarah.“ Er zog für sie einen Stuhl zurück, und sie setzte sich.

„Wie geht es dir?“, fragte sie, während ihr gleichzeitig ein Dutzend verschiedener Dinge durch den Kopf schwirrten, besonders ihr bevorstehender Flug nach Lancaster County.

„Die Frage ist, wie es dir geht?“ Er hatte eine unverwechselbare Art, ihre Fragen umzudrehen. Gelegentlich irritierte sie das. Heute wollte sie einfach darüber hinwegsehen.

„Ich habe furchtbar viel zu tun“, erwiderte sie. „Das Immobiliengeschäft erstaunt sogar mich ... besonders um diese Jahreszeit.“ Da sie nicht zu ausführlich über ihren Beruf sprechen wollte, wenigstens nicht heute, griff sie nach der Speisekarte, eine dünne, in Leder gebundene, grüne Mappe. „Was, würdest du sagen, sieht denn gut aus?“

„Du.“ Er grinste.

Sie hätte damit rechnen können, dass er sie mit einer solchen Antwort ködern wollte. „Ich stehe nicht auf der Speisekarte, für den Fall, dass dir das noch nicht aufgefallen sein sollte.“

Er griff nach ihrer Hand. Sie brachte es nicht über das Herz, sie ihm zu entziehen. „Ich habe dich vermisst.“

Sie fühlte die Zärtlichkeit in seiner Handfläche, als sich seine langen warmen Finger um ihre Hand legten. Sie wurde steif und wusste, dass sie doch nicht hätte einwilligen sollen, ihn zu sehen. Sie wich seinem Blick aus.

„Du wirkst aufgewühlt. Irgendetwas macht dir Sorgen, nicht wahr?“

Sah man ihr ihre Verwirrung an? Sollte sie sich ihm anvertrauen, ihm von Ivys Tod erzählen? Was würde er sagen, wenn er wüsste, welche Folgen der Tod ihrer Schwester für sie mit sich brachte?

„Sarah ...?“, beharrte er und schaute sie forschend an.

Sie hielt den Atem an, da sie nicht wusste, was sie antworten wollte. Am liebsten hätte sie überhaupt nicht geantwortet. Aber Bryan Ford war ein direkter und hartnäckiger Mann, wie sie keinen zweiten kannte. Sie war ihm wirklich eine Antwort schuldig.

„Es gibt Familienprobleme“, brachte sie mühsam über die Lippen.

„Oh, Liebes ... was ist denn los?“

Ihre Kehle schnürte sich bei dieser zärtlichen Anrede zusammen. Langsam, aber bestimmt entzog sie ihm ihre Hand.

„Ich glaube, wir sollten jetzt lieber bestellen.“ Abrupt richtete sie ihren Blick auf die Speisekarte, da sie wusste, wenn sie ihn wieder anschaute, könnte ihre Fassade bröckeln und sie würde ihm alles erzählen. Das Wissen um ihre verwaisten Nichten und Neffen würde nur weitere Spannungen zwischen ihnen erzeugen.

Bryan willigte in ihren Vorschlag ein, wie es schien. Beide lasen in der Speisekarte, ohne zu sprechen.

Als die Kellnerin kam, stellte Sarah fest, dass sich das Verhalten ihres Freundes verändert hatte. Er handelte mechanisch. Zu höflich. Sie hatte ihn verletzt ... wieder einmal. Sie hatte versucht, ihn auszusperren, und gehofft, er würde das Thema auf sich beruhen lassen und über etwas anderes sprechen. Sie war unnötig grob gewesen. Aber sie konnte es jetzt nicht mehr rückgängig machen.

Bald war die Kellnerin verschwunden, und sie waren wieder allein. Nervös spielte sie mit ihrem rosafarbenen Ring.

„Neu?“ Er betrachtete ihren Finger.

„Der Weihnachtsmann hat ihn gebracht ... dieses Jahr.“ Sie betrachtete den Ring liebevoll, dann versteckte sie ihre Hände auf ihrem Schoß.

„Wie viele Diamanten braucht ein Mädchen?“, neckte er sie.

Sie lachte und war dankbar, dass die Spannung zwischen ihnen nachließ. „Oh, du kennst mich. Ich mag schöne Sachen ... viele schöne Sachen. Was soll ich dazu sagen?“

Seine Augen schauten sie durchdringend an. „Das sind nur leblose Dinge, Sarah. Du kannst davon nichts mitnehmen.“

Jetzt redet er vom Tod. Das ist Ivys Spezialgebiet, dachte sie und wünschte, ihr Gespräch schlüge eine andere Richtung ein. Ach, am liebsten würde sie einfach über irgendetwas Unwichtiges plaudern. Über irgendetwas, nur nicht über ihr unstillbares Bedürfnis nach materiellen Dingen.

„Mein materialistisches Mädchen“, sagte er zärtlich.

Seine dunklen Augen, der intensive Ausdruck auf seinem gut aussehenden Gesicht zogen sie in ihren Bann. „Du weißt, dass ich das nicht bin ... Ich bin nicht dein Mädchen.“ Ihre Nervosität und Unruhe waren unübersehbar.

„Aber du könntest es sein. Du brauchst nur ein Wort zu sagen.“

Sie schwieg und überlegte, wie sie das Thema wechseln könnte. Schließlich platzte sie heraus: „Meine Schwester ist gestorben. Sie starb letzte Woche.“

„Ivy?“

Sie nickte. Plötzlich traten ihr Tränen in die Augen.

Er runzelte die Stirn, als könnte er ihre plötzliche Trauer nicht verstehen. Zweifellos erinnerte er sich, dass Sarah sich im Laufe der Jahre immer weiter von Ivy distanziert hatte. Wahrscheinlich gingen ihm solche Gedanken durch den Kopf, schloss sie aus seiner besorgten Miene.

Aber sie wollte sich keine Gedanken um seine Reaktion machen. „Sie hat mich zum Vormund ihrer fünf Kinder bestimmt“, berichtete Sarah. „Kannst du dir das vorstellen?“

Bryan schaute sie verwirrt an. „Ich bin sprachlos.“

„Ich fliege heute nach Lancaster, Pennsylvania.“

Seine Augen waren freundlich und mitfühlend. „Wie lange wirst du dort bleiben?“

Sie schüttelte den Kopf und spürte erneut eine Feindseligkeit in sich aufsteigen. „Ich hoffe, dieses Problem lässt sich in ein paar Tagen lösen. Nur Gott weiß, was für eine Mutter ich wäre. Und ich bezweifle, dass ich von diesem einfachen, schlichten Leben besonders begeistert wäre. Ich ziehe einen teuren, komplizierten, extravaganten Lebensstil allemal vor.“

Bryan grinste leicht. „Ein paar Tage bei den Amisch tun dir vielleicht gut. Du wirst überrascht sein.“

„Aha ... wir reden also wieder davon, dass ich zu materialistisch bin?“

Bei seinem unwiderstehlichen Lächeln konnte sie ihm nicht böse sein. „Ivys Kinder sind mit dir blutsverwandt, Sarah. Ich kann mir vorstellen, dass du dich an ihnen freuen könntest, wenn du dir selbst nur eine kleine Chance geben würdest.“

Eine kleine Chance ...

Wo hatte sie das schon gehört? Ivy hatte sie immer wieder eingeladen: „Komm doch und besuch uns auf dem Land.“ Dahinter steckte immer etwas von dem, was Bryan soeben gesagt hatte.

Gab es denn auf diesem Planeten niemand, der sie verstand? Sie wollte absolut nicht daran denken, eine lukrative Karriere aufzugeben, um eine fremde Familie aufzuziehen. Sie liebte ihren Beruf, ihr Leben, ihr Geld zu sehr, um alles einfach loszulassen. Und wofür? Für amische Kinder ... Ivys Kinder?

„Lassen wir dieses Gespräch lieber.“ Sie betrachtete sein Gesicht, seine Stirn, seine Augen.

Er zwinkerte sie an. „Wenn du mit mir nicht darüber reden kannst, mit wem dann?“

Ein berechtigter Einwand. Niemand in ihrem Leben hatte das Thema Ivy – Sarah im Laufe der Jahre so miterlebt wie Bryan Ford. Niemand außer Bryan hatte sich je die Zeit genommen, der Frustration in ihrer Stimme am Telefon auf den Grund zu gehen. Die unzähligen Male, in denen sie voller Schuldgefühle gewesen war, wenn sie wieder einen Brief von ihrer engstirnigen Schwester bekommen hatte.

„Darf ich wenigstens in Kontakt zu dir bleiben, während du dort bist?“

„Ob du es glaubst oder nicht, in dem Haus gibt es tatsächlich ein Telefon. Aber ich nehme trotzdem mein Handy mit“, erwiderte sie und strich über ihre Handtasche.

„Und deinen Laptop-Computer, nehme ich an?“ Dabei grinste er.

„Ich kann doch nicht auf meine E-Mails verzichten.“

Ihr Frühstück kam: Eier und Waffeln für Bryan, eine Obstplatte und Hüttenkäse für Sarah. Als ihnen das Essen serviert wurde, fiel ihr plötzlich auf, dass sie sich mit keiner einzigen Frage danach erkundigt hatte, wie es ihm ging, wie in Boston alles lief.

Plötzlich war sie verlegen. Sie kam sich lächerlich egoistisch vor. „Vergib mir, Bryan, dass ich nur von mir spreche. Wie geht es dir?“

„Ich dachte schon, du würdest nie fragen.“ Er beugte sich vor und betrachtete sie über den Tisch hinweg forschend. „Ehrlich gesagt, läuft meine Arbeit besser als je zuvor. Es ist sehr gut möglich, dass ich mich für ein paar Tage frei machen und dich besuchen kann. Du bist dann in Lancaster, sagtest du?“

„Du musst nicht kommen. Ivys Kinder sind nicht dein Problem.“

Er lächelte wissend. „Aber ... wir sind Freunde, nicht wahr?“

„Danke.“ Dann fügte sie schnell hinzu: „Ich meine für deine Freundschaft.“

Er nickte. „Aber du meintest ‚nein danke‘ zu meinem Vorschlag, dich in Lancaster zu besuchen?“

Sie war beschämt. „Ja“, sagte sie so leise, dass sie sich fragte, ob er ihre Worte überhaupt gehört hatte. Bryan kannte sie viel zu gut. Aber er liebte sie trotzdem. Anscheinend konnte sie nichts sagen oder tun, was seine Meinung über sie geändert hätte.

* * *

Sonntagnachmittag, 23. Januar

Ach, was war das für ein aufregender Tag!
Levi King fragte, ob Caleb mich in unserem Einspänner nicht heute Abend zum Singen fahren könnte. Herrlich! Aber ich erklärte ihm, dass ich wohl lieber bei meinen Geschwistern zu Hause bleiben sollte. Natürlich habe ich mich bei ihm dafür bedankt, dass er gefragt hat.
„Vielleicht könnte jemand Fannie Flaud auf die Idee bringen, auf deine Geschwister aufzupassen ... nur für heute Abend.“ Er zwinkerte mir zu, als er das sagte.
Natürlich wusste ich, worauf er anspielte. Er wollte, dass eine meiner anderen Freundinnen Fannie darauf anspräche, ob sie mich nicht hier im Haus vertreten könnte, während ich zum Singen in die große Scheune auf dem Esh-Hof fahre.
Aber dann überlegte ich, dass die arme Fannie ja dann selbst auf einen schönen Abend verzichten müsste, und ich wusste, es wäre nicht fair, sie um ihr Vergnügen zu bringen. Nein, ich werde zu Hause bleiben ... wo ich momentan auch hingehöre. Ich muss nur dieses eine Mal darauf verzichten, mit Levi zusammen zu sein.
Ja, ich konnte an seiner Miene erkennen, dass er sehr enttäuscht war. Aber nicht so sehr, dass er sich eine andere Freundin suchen würde. Er ergriff meine Hände und drückte sie zärtlich. „Ich werde dich vermissen, Lyddie. Aber für uns werden noch andere Zeiten kommen. Das weiß ich.“
Ich werde den Klang dieser Worte nie vergessen. Jetzt denke ich und bin davon mehr denn je überzeugt, dass er mich wirklich liebt. Aber ich wage nicht, Caleb oder den anderen etwas davon zu verraten. Diese Freundschaft muss geheim gehalten werden. So ist es schon seit fast dreihundert Jahren bei den Amisch üblich. Ich finde es auch ganz sinnvoll, so wie es ist.
Trotz allem, was ich in Bezug auf Tante Sarah denke und befürchte, hofft ein Teil von mir immer noch, dass es eine Möglichkeit geben könnte, Sarah Cain dazu zu bewegen, recht bald hierherzukommen und vielleicht sogar hierzubleiben. Mehr als alles andere auf der Welt möchte ich eines Tages Levis Frau werden. Aber ich habe Mama ein Versprechen gegeben, das ich unbedingt halten will.

7

Sarah legte ihre Wäsche zusammen und packte Stück für Stück in die weichen Taschen ihres eleganten Koffers. Systematisch hakte sie die Kleidungsstücke ab, die sie für ihre Fahrt einpacken wollte, genügend für eine ganze Woche. Unterwäsche, Strümpfe, Seidenpyjamas und einen Morgenmantel, Hausschuhe, zwei Kostüme, drei Röcke und Blusen, Hosenanzüge zum Kombinieren, zwei Pullover aus Angorawolle, elegante Schuhe, zwei Paar Freizeitschuhe, Schmuck und notwendige Toilettenartikel, darunter Schminksachen und Accessoires für die Haare.

Eines stand für sie fest: Sie würde nicht länger als unbedingt nötig in Lancaster County bleiben. Sie hatte die feste Absicht, alles für Ivys Kinder zu klären und zu regeln, und zwar innerhalb einer Woche. Psychisch könnte sie die stressige, komplizierte Situation besser bewältigen, wenn sie die Zeit, die sie auf Ivy Cottrells amischem Bauernhof verbrachte, begrenzte.

Liebevoll ließ sie den Blick durch ihre Wohnung schweifen. Ihre Augen wanderten über das noble Bett mit einer zarten, kunstvollen Polsterung mit Blumenmuster und einer elfenbeinfarbenen Decke. Ein weißer Holzkamin mit Bücherregalen über dem Kaminsims zierte eine Ecke des Raumes, umgeben von eleganten, hellrosafarbenen Polstersesseln.

Sie würde dieses luxuriöse Zimmer vermissen. Wie sollte es auch anders sein? Sie hatte sich leidenschaftlich engagiert und mit einem exklusiven Innendekorateur zusammengearbeitet, um das Äußerste an elegantem Design in ihrer Einrichtung zu verwirklichen. Dieses Haus, ihr Haus in der Stadt, mit seinen zweihundertachtzig Quadratmetern Grundfläche stand für alles, wofür sie je in ihrem Leben gearbeitet hatte. Es war ihr Shangri-La, ihre Zuflucht in den Stürmen des Lebens.

Hatte sie etwas vergessen? Aufmerksam ließ Sarah ihren Blick noch einmal durch die Räume wandern, einen Blick, den jemand hat, dem davor graut, einen Schrein aufzugeben.

Dann erspähte sie den winzigen Goldrahmen auf dem Nachttisch, das Bild ihrer verstorbenen Schülerin, der goldigen und leicht behinderten Megan Holmes. Ihre Freunde hatten sie „Meggie“ genannt. Das Kind war in Sarahs zweite Klasse in Stonington, Connecticut, gegangen.

Liebevoll wickelte sie das Bild in mehrere Stoffschichten und legte es neben ihren Seidenpyjama in den Koffer. Hier ist es sicher, beschloss sie und widerstand dem Impuls, das Bild länger zu betrachten.

Zufrieden, dass sie mit dem Packen fertig war, trat sie an ihren Schreibtisch und zog die tiefe mittlere Schublade auf, in der sie Ivys letzte Briefe aufbewahrte.

Sie öffnete den ersten Umschlag, den ihre Finger berührten, und betrachtete die Briefmarke. Dezember 1997. Sie faltete das schlichte weiße Briefpapier auseinander und betrachtete die Begrüßung. Es waren Ivys übliche Begrüßungsworte. Sei gegrüßt, meine liebe Schwester, im Namen unseres geliebten Herrn und Erlösers, Jesus Christus.

Oft hatte Sarah sich gefragt, ob Ivys Bezeichnung, unser Herr, der unbewusste Beginn einer „Predigt“ war oder ob ihre Schwester absichtlich einen geistlichen Ton für ihren Brief gewählt hatte. Während sie diese Worte noch einmal las, stellte Sarah fest, dass kein einziger Vorwurf darin zu finden war.

Wir haben in letzter Zeit ziemlich kaltes Wetter hier. Auch jetzt, während ich diesen Brief schreibe, fällt der Schnee und weht der Wind. Einige der Frauen werden in der nächsten Woche von Haus zu Haus gehen und alte Quiltdecken flicken und neue Decken nähen. Das ist nicht nur Arbeit, sondern macht auch viel Spaß. Du kannst dir nicht vorstellen, wie herrlich es ist, wenn bei solchen Arbeitseinsätzen die Frauen anfangen zu erzählen. Ich glaube, meine Lydia wird auch bald eine ausgezeichnete Geschichtenerzählerin sein.
Susie Lapp, ihre Tochter Emma und ihre Enkelin Fannie werden bald kommen und helfen, Kohlfischsuppe zu kochen. Wir werden
einen riesengroßen Topf kochen, denn ich weiß, wie gern ihre und meine Familie an einem so stürmischen Tag wie heute eine warme Suppe mögen.
Am Dienstag in zwei Wochen plant eine Gruppe von uns, eine Ladung selbst gebackener Krapfen zu machen, so der Herr will. Ich wünschte, du könntest den Duft riechen, wenn er das ganze Haus erfüllt. Sarah, erinnerst du dich daran, wie wir Mutter damals in Connecticut halfen, einmal im Jahr Krapfen zu backen? Erinnerst du dich an das Jahr, in dem wir eingeschneit wurden? Ende Februar war es, glaube ich, irgendwann nach dem Valentinstag. Papa wollte Schneeketten aufziehen und zu dem kleinen Einkaufszentrum fahren und welche kaufen. Aber schließlich setzte Mutter ihren Kopf durch. Erinnerst du dich? Du und ich schliefen bei den köstlichen Gerüchen nach Hefe und Teig ein, und unser Bauch war voll mit süßen, warmen Krapfen. Ich bin mir nicht sicher, aber es ist gut möglich, dass dieses Krapfenbacken mit unserer Mutter meine Begeisterung für das Backen auslöste.

Sarah erinnerte sich an jenen Wintertag. Der Wind hatte in den Bäumen hinter dem Zaun geheult, während sich der Schnee in hohen Schneewehen an der Haustür auftürmte und jeden Baum und jeden Strauch wie mit süßem weißem Zuckerguss überzog. Die Katze kuschelte sich nahe an den Ofen, und die duftende Wärme aus der Küche war trügerisch und vermittelte die Illusion, alles sei in bester Ordnung. Wie gewöhnlich fühlte Sarah jedoch den starken, unterschwelligen Konflikt, der aus Ivys Bedürfnis, „das Sagen zu haben,“ herrührte, sei es bei der Zuteilung von Schürzen oder der Backzutaten.

Für Sarah waren die häufigen Sommerbesuche am Strand mit ihrem Vater die Kindheitserlebnisse, an die sie sich am liebsten erinnerte. Ihren Vater hatten Muscheln, die an den Strand gespült wurden, immer fasziniert. Sie gingen oft im Frühling, im Sommer und im Herbst mit über den Waden aufgerollten Hosenbeinen barfuß am Strand spazieren und streichelten jede einzelne Muschel, ob Wellhornschnecke oder Mondschnecke. Ihr Vater redete so, als gäbe jede Schnecke eine wichtige Lektion für das Leben weiter. Für ihn hatten die Muscheln wirklich etwas herrlich Erleuchtendes an sich, das sie ihm weitergaben. Jeder Bereich der Natur schien mit Alfred Cain zu sprechen, sich ihm im Innersten zu offenbaren. Nie hatte irgendein Zweifel daran bestanden: Ihr Vater lebte in Einklang mit dem Schöpfer aller Dinge. Sarah war sehr dankbar dafür, dass er ihr seine Theologie nie aufdrängen wollte, so wie Ivy es in den letzten Jahren versucht hatte.

Sarah faltete Ivys Brief wieder zusammen und steckte ihn in den Umschlag zurück. Sie nahm eine Hand voll Briefe, stand auf und legte sie in ihren Koffer. Dann machte sie ihn zu.

Unerwartet drängten sich Gedanken an Megan Holmes in ihren Kopf. Vielleicht war es die Erinnerung an Meerestiere; besonders an Mondmuscheln mit ihrer glatten, glänzenden Oberfläche und ihrer makellosen Spiralform. „Das Herzstück in der Mitte ist wie eine Insel“, würde ihr Vater sagen und auf das „dunkle Auge“ deuten.

Vielleicht war es die unbewusste Assoziation mit einer Insel, die sie an Meggie denken ließ. Wie dem auch sei, sie spürte eine tiefe Sehnsucht nach dem lieben Mädchen und wurde erneut von Schuldgefühlen überwältigt.

Atemlos zog Sarah den Reißverschluss an dem Kofferfach auf, in dem mehrere Pyjamas eingepackt waren, und holte Meggies Bild heraus. Sie entschied sich, es nicht im Koffer, sondern lieber in ihrem Handgepäck zu verstauen. Wenigstens wäre es hier sicher für den Fall, dass ihr Gepäck verloren ginge.

Sie konnte es nicht riskieren, die einzige greifbare Erinnerung an dieses kostbare Leben zu verlieren. Ein junges Leben, das es wegen Sarahs falscher Entscheidung nicht mehr gab.

* * *

Die Stunden, in denen sie am Strand von Watch Hill Muscheln gesammelt hatte, hatten die junge Lydia wichtige Dinge gelehrt. Dinge, die ein Mensch nicht in der Schule lernte. Schon gar nicht in der staatlichen Schule. In amischen Schulen dagegen schon. Aber dank Opa Cain hatte sie schon sehr früh die Kunst gelernt, sich von Unnötigem zu befreien.

„Schau dir den Einsiedlerkrebs gut an“, sagte er und hob ein leeres Schneckenhaus auf. „Siehst du, mit wie wenig er auskommt?“

Sie hatte Hunderte von Muscheln beobachtet, zu viele, um sie zählen zu können, hübsche, einfache Muscheln, die von früheren Schneckenbewohnern verlassen worden waren. Kein Wunder, dass sein Rat, Eitelkeit abzuwerfen, bei ihrem Vater nicht ohne Wirkung geblieben war. Er hatte ihn ebenfalls oft aus Großvaters Mund gehört. Lange, bevor sie überhaupt daran dachten, sich den Amisch anzuschließen.

An solche Dinge musste sie denken, während das Klappern der Pferdehufe auf der mit einer festen Schneeschicht überzogenen Straße an ihre Ohren drang. Sie war so dankbar dafür, dass Caleb heute mit seinen starken Armen die Zügel von Dobbin, einem ihrer zuverlässigsten Zugpferde, in der Hand hielt. Dankbar war sie auch, dass Josiah und Hannah sich hinter ihr auf dem Rücksitz des Wagens so ruhig verhielten. Anna Mae, die Stillste von allen, saß zwischen ihrem jüngeren Bruder und ihrer kleinen Schwester. Aber hin und wieder konnte Lydia Anna Mae etwas murmeln hören, so als spräche sie mit jemandem, aber niemand höre zu.

Josiah ergriff vom Rücksitz aus das Wort. „Prediger Esh hat heute ziemlich weit ausgeholt.“

„So etwas sollst du aber über einen Mann Gottes nicht sagen“, schalt Lydia ihn.

„Josiah hat trotzdem recht“, mischte sich Anna Mae ein. „Ich sehe kein Grund, warum man das nicht sagen dürfte.“

„Keinen Grund“, korrigierte Lydia ihre Schwester gewohnheitsmäßig, obwohl sie wusste, dass sie bei Anna Mae wesentlich mehr kritisieren müsste als nur ihre schlechte Grammatik. Ihre Schwester war seit Mamas Tod recht eigensinnig. Vielleicht könnte Lydia eine der älteren Frauen fragen, wie sie sich Anna Mae gegenüber verhalten sollte.

Aber nein, Sarah Cain war unterwegs. Wahrscheinlich sollte sie einfach abwarten und ihrer Tante die Entscheidung überlassen, wie sie Anna Mae anpacken wollte.

„Wann sagtest du, wollte Mamas Schwester kommen?“, brach Caleb das Schweigen.

Sie hatte es ihnen schon ein Dutzend Mal gesagt. Dabei hatten es alle beim ersten Mal bereits sehr wohl verstanden, als an diesem Morgen Mr. Eberley anrief. Und das auch noch an einem Sonntagmorgen. Aber anscheinend mussten ihre Geschwister es immer und immer wieder hören, damit sie es glauben konnten.

Sie konnte ihnen daraus keinen Vorwurf machen, denn es kam ihr selbst wie ein Traum vor, dass Mamas jüngere Schwester tatsächlich kommen und die Vormundschaft für sie übernehmen wollte. „Ihr Flugzeug landet bald in Harrisburg, und Mr. Eberley sagte, sie brauche gute vierzig Minuten, um vom Flughafen hierherzukommen.“

„Ach, wie es wohl ist, in einem Flugzeug hoch oben am Himmel zu fliegen“, murmelte Josiah und gab hinter ihrem Kopf summende Geräusche von sich.

„Gott hatte nie geplant, dass Menschen sich so furchtbar schnell fortbewegen“, entgegnete Lydia und gebrauchte die Worte, mit denen ihr Vater das ungeheure Tempo ihrer Zeit manchmal kommentiert hatte. „Das Leben geht auch so schon schnell genug vorbei. Man muss es nicht zwingen, noch schneller zu vergehen.“ Sie hatte den Eindruck, Josiah mit diesen Worten auf den Boden der Tatsachen zurückholen zu müssen.

Es funktionierte. Er hörte ziemlich schnell auf, surrende Geräusche von sich zu geben, und fing an, mit Hannah zu plaudern. Während der ganzen Zeit setzte Anna Mae ihr persönliches Gespräch mit sich selbst fort.

„Woher werden wir wissen, dass es Tante Sarah ist, wenn sie kommt?“, fragte Caleb leise und legte seine linke Hand auf seinen Oberschenkel. Mit der rechten Hand hielt er locker die Zügel.

„Oh, ich glaube, das werden wir sofort wissen.“

Anna Mae flüsterte: „Sicher?“

„Ja, sie muss inzwischen eine reiche Dame sein, nach allem, was Mama immer sagte. Tante Sarah fährt schnelle Autos und legt sehr viel Wert auf schöne Kleidung. Sie sieht also wahrscheinlich ziemlich eitel aus.“

„Sie zieht überallhin Sonntagskleider an?“, fragte Hannah mit vor Erstaunen weit aufgerissenem Mund.

„Ja, aber es ist bestimmt am besten, wenn wir sie nicht anstarren oder irgendetwas über ihr Aussehen sagen. Versprecht ihr mir das?“ Lydia drehte sich auf ihrem Sitz herum und schaute Josiah und Hannah streng an. Mit einem schnellen Blick auf Anna Mae drehte sich Lydia noch weiter herum und streichelte die unter dem langen Wollmantel dick eingepackten Knie ihrer Schwester. „Ich bin ganz sicher, dass wir sie erkennen werden. Sie muss immerhin so ähnlich wie Mama aussehen.“

„Nein ... du siehst doch wie Mama aus“, stellte Anna Mae schnell fest.

Lydia wusste, dass ihre Schwester recht hatte. Von ihrer Geburt bis zu Mamas Tod hatte jeder gesagt, dass sie ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war. Und sie war ziemlich stolz darauf, in aller Demut natürlich, versteht sich. Sie hatte Mamas Gesichtszüge und goldbraunen Augen und Haare geerbt, nur nicht dieselben rötlichen Töne, die Mamas flachsblonde Haare durchzogen hatten. Nein, Lydias Haare waren wie Weizen nach einem schweren Regenschauer, ein helles Nussbraun ohne irgendeine Spur von Rot. Aber sie hatte dieselben hartnäckigen Wellen, die sich manchmal an heißen Sommertagen an ihrem Haaransatz zu Löckchen wellten.

„Wo wird Tante Sarah schlafen?“, fragte Hannah.

„In Mamas altem Zimmer.“

In dem geschlossenen Einspänner wurde es still. Nur das leise Schnauben des Pferdes war zu hören.

Seufzend überlegte Lydia, dass sie vielleicht nicht so vorschnell das frühere Zimmer ihrer Mutter hätte anbieten sollen. Sicher beunruhigte die Kinder die Vorstellung, dass Tante Sarah zu schnell den Platz ihrer geliebten Mutter im Haus einnähme.

In letzter Zeit wünschte sie manchmal, sie müsste nicht so viele Entscheidungen für ihre Geschwister treffen, sondern wäre so klein, dass sie in die verwitterten Wellhornschnecken passen würde, die ihr Großvater immer gesammelt und über die er so fröhlich geredet hatte. Hinauf ... hinauf auf der winzigen Wendeltreppe, geschützt vor Gefahr, sicher in seiner starken, faltigen Hand.

8

In Chicago erwischte Sarah mühelos ihren Anschlussflug. An Bord des Flugzeugs fand sie schnell ihren Sitz am Mittelgang und setzte sich in Reihe zehn. Sofort wurde sie von der Reisenden auf dem Nachbarsitz begrüßt. „Guten Tag, wie geht’s?“

„Guten Tag. Danke, gut“, antwortete sie, nicht sonderlich darauf erpicht, sich auf ein Gespräch mit der Frau einzulassen.

„Wohin fliegen Sie?“, erkundigte sich die Frau, die nicht viel älter als Mitte dreißig war.

„Nach Harrisburg.“

„Ich fliege nach Lancaster zurück“, erklärte die braunhaarige Frau. „Ich besuche dort eine Bibelschule.“

Sarah nickte höflich, sagte aber nichts mehr, da sie gern in ihrem Roman weiterlesen wollte.

„Stammen Sie aus Harrisburg?“, erkundigte sich die Frau.

Sarah wollte nicht mehr als nötig über sich preisgeben. „Ich bin in Neuengland zu Hause.“

Die Augen der Frau leuchteten entzückt auf. „Wissen Sie, ich dachte mir schon, dass Sie von irgendwo da oben kommen. Ich habe Verwandte in New Hampshire. Sie sprechen genauso wie Sie.“ Sie schwieg nur ganz kurz, dann fragte sie weiter: „Aus welchem Teil Neuenglands?“

Sarah wollte nicht grob erscheinen, aber sie wollte sich auf keinen Fall auf ein langes Gespräch mit einer Fremden einlassen und lieber in ihrem Buch weiterlesen. „Nicht weit von Mystic, Connecticut.“

„Da oben ist es wunderschön.“

„Ja.“

„Ich habe als Jugendliche mehrere Jahre den Sommer in Stonington verbracht“, erzählte die junge Frau. „Das ist jetzt aber schon lange her.“

Sarah weigerte sich, ihr zu verraten, dass sie genau dort geboren und aufgewachsen war. Die Wunden waren noch zu frisch.

„Ich liebe Lancaster County. Waren Sie schon einmal da?“

„Dies ist mein erster Besuch in dieser Gegend.“

„Oh, dann sollten Sie unbedingt eine Busfahrt in die amischen Gegenden unternehmen, solange Sie dort sind. So etwas müssen Sie einfach gesehen haben.“

„Wirklich?“

Die Frau nickte und schaute sie mit großen Augen an. „Sie haben das Gefühl, Sie hätten eine Reise in die Vergangenheit angetreten ... mindestens in das neunzehnte Jahrhundert oder sogar noch weiter zurück. Es ist ja so erstaunlich, wie die Amisch mit ihren Pferden und Einspännern herumfahren, und das auch auf den Hauptdurchgangsstraßen. Man stelle sich das nur vor! Die Frauen und Mädchen tragen herrlich verschrobene Hüte. So wie man sie bei einem Theaterstück aus früheren Zeiten erwarten würde.“

Kleidung wie in einem Theaterstück ...

Sie hatte sich nie Gedanken über amische Kleidung gemacht. Ihre eigenen Nichten und Neffen waren höchstwahrscheinlich genauso schlicht und altmodisch gekleidet wie alle anderen amischen Sekten in Lancaster County.

„Kleiden sie sich alle gleich?“, erkundigte sich Sarah.

„Die Amisch, meinen Sie?“

Sarah nickte. Gleichzeitig hatte sie ein schlechtes Gewissen, so als rede sie über jemanden hinter dessen Rücken. Hinter dem Rücken ihrer verstorbenen Schwester ...

„Es ist schwer, die Amisch der Alten Ordnung von den Amisch der Neuen Ordnung oder den Beachy-Amisch oder Amisch aus anderen konservativen Kreisen auseinanderzuhalten. Sie wissen bestimmt, dass es viele verschiedene Gruppierungen gibt. Fast in jedem Gemeindebezirk gibt es eine eigene Ordnung, soweit das überhaupt möglich ist, die den Leuten sagt, was erlaubt ist und was nicht. Die meisten Amisch halten sich streng an das Alte Testament, aber in ihren Predigtgottesdiensten wird nur über bestimmte Stellen aus der Bibel gepredigt.“

Sarah war überrascht, dass diese Frau so viel über Ivys geistliche Geschwister wusste. „Woher wissen Sie so viel über die Amisch?“, erkundigte sie sich zögernd.

„Ich habe viele Freunde unter den jüngeren Mennoniten. Einige von ihnen sind mit Amischen verwandt. Eines der Mädchen hat sich sogar schon mit Jungen aus der Alten Ordnung verabredet. Können Sie sich das vorstellen?“

Das konnte Sarah natürlich nicht. Mit einer gewissen Erleichterung hörte sie die Stimme des Piloten über die Lautsprecheranlage. Das Flugzeug würde jeden Augenblick auf die Startbahn rollen und abheben.

„Es war nett, Sie kennenzulernen“, murmelte sie.

„Oh, ich glaube, ich habe mich nicht einmal richtig vorgestellt. Ich heiße Theresa Barrows. Wie heißen Sie?“

Sarah zwang sich zu einem Lächeln. „Sarah Cain.“

„Das klingt amisch. Wissen Sie das? Ganz ehrlich. Ich glaube, Sie würden drüben in Lancaster County sehr gut dazupassen.“

Sarah stieß ein unverständliches Murmeln aus. Dann bückte sie sich zu ihrer Handtasche und holte ihren Roman heraus. Jemand, der während eines Fluges in ein Buch vertieft war, konnte normalerweise einem Gespräch aus dem Weg gehen. Sie würde bald erfahren, ob dem tatsächlich so war.

Der historische Roman, Schwarzer Falke, war eine fesselnde Geschichte, die im Nordwesten der USA, in Idaho, in der Nähe eines bekannten Herrenhauses am Lake Hayden im Jahr 1910 spielte. Eine Saga über die amerikanische Geschichte und zugleich eine Liebesgeschichte.

Sie las, aber sie ertappte sich dabei, dass sie ein und denselben Satz oder Absatz drei Mal oder noch öfter las. Die Bemerkungen der jungen Frau beschäftigten sie mehr, als sie zugeben wollte.

„Sie haben das Gefühl, Sie hätten eine Reise in die Vergangenheit angetreten ...“

Genau das, was sie nicht wollte: eine Flucht vor der Wirklichkeit. Sie war zufrieden mit ihrem kleinen, selbst geschaffenen „Reich“ in Portland. Eine „Welt“, die lange gebraucht hatte, bis sie sich zu dem entwickelt hatte, was sie war. Sie wäre klug genug, sich nicht im neunzehnten Jahrhundert festhalten zu lassen.

Frustriert schloss sie die Augen, ließ aber das Buch aufgeschlagen vor sich liegen. Ihre Gedanken gingen ganz andere Wege ...

* * *

Als Mutter krank geworden war und sich nicht um Sarah kümmern konnte, hatte Ivy sich häufig angeboten zu helfen. Viel zu bereitwillig. Die dominante Art, die sie schon als Jugendliche an den Tag legte, hatte Sarah schier die Luft zum Atmen geraubt. Sie hatte Ivys lästiges Benehmen unter dem Vorwand, „Mutter zu helfen“, kaum ertragen können. Sarah war oft so verzweifelt gewesen, dass sie sich mit beiden Händen die Ohren zuhielt. Viel lieber wollte sie, dass ihre Mutter sich um sie kümmerte. Aber ihre Mutter war oft krank und zu schwach, um Sarahs forschem Verstand und ihren geschickten Fingern Einhalt zu gebieten.

Also versuchte Ivy, als dominante Schwester, die sie nun einmal war, Sarah an die Kandare zu nehmen. „Du solltest froh sein, dass ich hier bin und mich um dich kümmere“, sagte Ivy immer, wenn sie mit den Händen in ihre gut geformten Hüften gestemmt mit einer von Mutters selbst genähten Rüschenschürzen bekleidet in der Küchentür stand und darauf beharrte, dass Sarah „sofort ins Haus kommen und sich den Dreck abwaschen solle“.

* * *

Als sie an diese Tage zurückdachte, wurde Sarah erneut bewusst, dass die lächerlichen Schürzen, die Ivy in ihren Jugendjahren trug, bereits einen Schatten auf die altmodischen, unförmigen Kleider geworfen hatten, die sie später als amische Ehefrau und Mutter von fünf Kindern tragen würde. Einfach lachhaft. Doch jetzt, da Ivys Leben unerwartet ein jähes Ende gefunden hatte, fragte sich Sarah, ob ihr damals vielleicht etwas Wichtiges entgangen sei. Etwas, was ihr einen Hinweis hätte geben können, etwas, was ihr erklärt hätte, warum Ivy sich entschieden hatte, ihr modernes Erbe hinter sich zu lassen und sich freiwillig einer amischen Gemeinschaft anzuschließen. Was in ihrer und Ivys gemeinsamer Erziehung und Kindheit hatte ihrer Schwester die Energie gegeben, eine solche Veränderung herbeizuführen? War es wirklich eine Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“, wie Ivy so oft schrieb? Mit ruhiger Hand auf einfachem, schmucklosem Papier. Hatte Sarah es versäumt, zwischen den Zeilen zu lesen?

Was hatte sie übersehen?

Die Stimme des Piloten, der erklärte, dass sie sich über Cleveland, Ohio, befänden, und der die aktuellen Wetterwerte von Harrisburg bekannt gab, riss sie aus ihren Gedanken.

Sarah richtete sich in ihrem Sitz auf, klappte das Buch zu und konnte es kaum erwarten, dass die Flugbegleiter etwas Kaltes zum Trinken servierten. Mit einem Blick aus dem Augenwinkel stellte sie dankbar fest, dass die Bibelschülerin in ein Buch vertieft war, das aussah wie ein amisches Kochbuch.

Faszinierend, dachte sie. Als sie die Flugbegleiterin erblickte, spielte sie kurz mit dem Gedanken, sich ein oder zwei alkoholische Getränke zu bestellen. Bei genauerem Nachdenken entschied sie jedoch, dass sie vielleicht in nüchternem Zustand auf sich wirken lassen sollte, was auch immer sie in der rückständigen Gegend von Grasshopper Level erwartete.