Norbert Scheuer, 1951 geboren, studierte physikalische Technik und Philosophie. 1993 erschien sein Erzählband «Der Hahnenkönig», 1997 sein Gedichtband «Ein Echo von allem» und 1999 sein erster Roman «Der Steinesammler» (Neuauflage 2010). Bei C.H.Beck erschienen außerdem der Roman «Flußabwärts» (2002), der Roman in Erzählungen «Kall, Eifel» (2006) und der Roman «Überm Rauschen» (2009), der auf die Shortlist des «Deutschen Buchpreises» kam.
Norbert Scheuer erhielt zahlreiche Literaturpreise, zuletzt den Martha-Saalfeld-Förderpreis (2003), den 3sat-Preis beim Ingeborg Bachmann-Wettbewerb (2006), den Glaser-Preis (2006) und den «d.lit-Literaturpreis» (2010).
«Überm Rauschen» wurde 2010 von der Stadt Köln ausgewählt in der Reihe «Ein Buch für die Stadt». Norbert Scheuer arbeitet als Systemprogrammierer.
Zuerst existierten die Steine, die Steine auf den Feldern und die Steine in den Flüssen. Die Steine sammeln die Erinnerung der Zeit. Wenn die Sonne auf sie scheint, graben sich ihre Strahlen in sie hinein, ein Glitzern, das man mitunter nach Jahrmillionen noch sieht. Es ist, als hätten die Steine eine eigene Individualität, ein Wesen, wodurch sie sich voneinander unterscheiden. Steine sind das, was von allen Kulturen zurückgeblieben ist, auf Steinen standen die ersten Inschriften und Gedichte. Echnaton hatte sein Loblied an die Sonne auf Steinen verfaßt, die ersten Gesetzestexte von Hammurabi waren in Steine gemeißelt, die römischen Wasserleitungen, die das Quellwasser aus der Eifel zu den Thermen in Köln leiteten, waren aus Steinen erbaut. Die Steine waren still. Nie hatte Anton Braden einen Stein gesehen, der nicht schön gewesen wäre, der nicht eine Besonderheit gehabt hätte. Die Steine gruben alles in sich ein und bewahrten es auf. In ihren Poren, in ihren Öffnungen, lebten mitunter winzige Tiere, und in ihrem Inneren waren Labyrinthe, die vielleicht niemals entschlüsselt würden, und winzige Seen mit salzigem Wasser.
Seit seiner Jugend beschäftigte sich Anton Braden mit Steinen. Er kannte den Quarz und den rosafarbenen Rhodochroit, den dunkelgrauen und grünlichen Diorit in seinen Varietäten, die Feldspate und Granite, den tiefschwarzen Obsidian, die Sedimente von den Schotterfeldern und Schwemmkegeln; er kannte die versteinerten, senkrecht stehenden Meere im Inneren der Erde, das Kalkgestein mit den Muscheln und Korallenbänken, den Spermatoiden und Brachiopoden und die ersten Fische und Hautflügler. In den Steinen verbarg sich das Geheimnis seiner hoffnungslosen Liebe zu Milli, einer jungen Frau aus dem Dorf, die – wie man sagte – auf die schiefe Bahn gekommen war und im Drogenmilieu lebte. Vielleicht lag in den Steinen der Grund für sein eigenes beharrliches Schweigen. Die Worte lösten sich von Braden wie Sandkörner, die Regen, Sonne und Frost von der Oberfläche der Felsen lösen und die der Wind fortweht. In einer anderen Gegend, unter anderen Menschen, wäre Braden ein anderer geworden, da er aber zwischen Steinen aufwuchs, wurde er wie Stein.
Johannes Braden, der Vater von Anton, hatte bereits vor dem Krieg im Zementwerk gearbeitet. Bis auf die Unterbrechung durch die Kriegsjahre und die darauf folgende Gefangenschaft war er ununterbrochen dort beschäftigt gewesen und hatte nebenher Landwirtschaft betrieben. Nachdem Anton in der sechsten Klasse wegen dauernder Krankheit das Gymnasium verlassen mußte, begann auch er auf dem Zementwerk zu arbeiten; zunächst in den Steinbrüchen bei Keldenich und später, da er wegen seiner schwächlichen Statur der Arbeit in den Brüchen nicht gewachsen war, im Zementwerk. Anton Braden hatte noch zwei Geschwister, einen älteren Bruder, der in der Stadt lebte und schon seit Jahren nicht mehr in Keldenich gewesen war, und eine Schwester, die im Dorf geblieben und mit dem Bauschlosser Franz Huppertz verheiratet war.
Seit seiner Jugend drängte es Anton in jeder freien Minute zu den Steinbrüchen. Jedesmal war ihm, als würde er in die Erde hineingehen, immer tiefer, bis an den Anfang der Geschichte. Man sah ihn nicht gern dort. Mitunter scheuchten ihn die Arbeiter fort. Wenn Braden jedoch bei Höger, einem der LKW-Fahrer, im Führerhaus saß, ließen sie ihn in Ruhe.
Die LKWs fuhren den ganzen Tag und die Nacht hindurch, vom Keldenicher Steinbruch über Kall nach Sötenich zum Zementwerk, wo sie kalkhaltiges Gestein in den Brecher kippten, um von dort durch das Dalbendener Tal wieder zurück zum Steinbruch zu gelangen. Die Steinlaster fuhren um das Dorf herum, das wie ein altes Krähennest auf einer Anhöhe lag. Es war, als würden die Lastwagen, indem sie immer um Keldenich herumfuhren, eine eigene kleine Welt aus der großen herausstanzen. Anton Braden kannte nur diese Welt.
Als Bradens Nachtschicht vorüber war, setzte Höger gerade seinen LKW, einen großen, von Steinen zerbeulten Büssing, rückwärts an das Schüttloch und betätigte die Hydraulik; der Kipper richtete sich langsam auf, Kalkgestein und Dreck rutschten herab. Braden lief zum LKW, öffnete die Beifahrertür und kletterte hinein. Er sagte nichts, sondern holte nur einige Steine aus seiner Arbeitstasche, die er eine Weile untersuchte und dann neben sich auf den Sitz legte. Danach zog er ein Heft hervor und machte Notizen.
«Was Besonderes?» fragte Höger, als Braden einen Stein näher betrachtete.
«Ja, vielleicht.» Sanft fuhr Braden mit den Fingern über die rauhe Oberfläche. Es schien Höger, als würde er über ein Lebewesen streicheln. Für Höger war es ein gewöhnlicher Kalkstein.
«Was ist es denn?»
«Eine Alge.»
«Ich sehe nur Dreck und ein paar Kratzer.»
«Es sind feine Fäden, die sich in der Meeresströmung bewegt haben. Ich meine, daß man es sogar riechen kann.»
«Was soll man riechen können?»
«Das Meer, das vor Millionen von Jahren hier gewesen ist. Es war seicht, wie eine Badewanne. Hier, riech mal dran.»
Braden hielt Höger den Stein unter die Nase.
«Geh weg damit, du spinnst. Du solltest dich mit anderen Sachen beschäftigen.»
Höger sah zum Straßenrand, wo eine Frau entlangradelte. Er küßte die Luft, und die Luft küßte die Frau, deren Rock von den Beinen wehte. Er hupte und winkte aus dem Fenster, als sie an ihr vorbeifuhren.
«Nicht schlecht, was, die sieht nicht schlecht aus, was«, rief er und fuhr eine Schlangenlinie. Braden lachte und sah wieder auf seinen Stein, wie auf etwas, auf dem sich eine verwitterte, verborgene Inschrift befindet. Höger gefiel sein Lachen. Besser das als gar nichts, dachte er, trat auf die Kupplung, stocherte nach dem ersten Gang. Er war so klein, daß er die Kupplung gerade so mit der Schuhspitze erreichte. Den ganzen Tag – manchmal auch die Nacht hindurch – kutschierte er kalkhaltiges Gestein zum Zementwerk. Das war so langweilig, daß ihm jede Abwechslung recht war. Sie fuhren vom Platz vor den Drehmühlen auf die Straße, die aus dem Zementwerk hinausführte. Braden spuckte auf den Stein und rieb eine Stelle mit dem Jackenärmel sauber.
«Es ist eine Alge, wie sie nur in tropischen Meeren vorkam», sagte er.
Doch Höger hörte nicht zu. «Hast du die eben gesehen, sollen wir warten, bis sie vorbeikommt?»
Braden behielt die Versteinerung in der Hand, lehnte sich mit dem Kopf an die Seitenscheibe und blickte nach draußen. Manchmal hatte er den Eindruck, als würde sich die Zeit zurückbewegen wie ein Videoband, das man sehr langsam zurückspult, aber die Dinge würden bleiben, wie sie immer gewesen waren.
«Wie lange fährst du heute mit?», fragte Höger.
«Vielleicht bis zur Nachtschicht.»
«Hast du denn nichts Besseres zu tun?»
«Was soll ich sonst machen?»
«Wenn dir nichts einfällt.»
«Bin ich dir lästig?»
«Nein, bist du nicht. Brauchst nicht gleich beleidigt zu sein», sagte Höger, er lächelte Braden zu. Sie fuhren durch das Dalbendener Tal in Richtung Urft – zum Steinbruch zurück, um wieder aufzuladen. Es war wie eine Karussellfahrt. Höger wurde übel davon. Er redete davon, mal wieder etwas anderes zu machen, stellte sich vor, auf Auslandstour zu sein, gab den Ortschaften und Gegenden Namen ferner Städte und Länder. Früher hatte er viele Auslandstouren gefahren, nach Italien und Istanbul hinunter.
Die Urft, die hinter den Bahngleisen durch das Tal floß, hatte Hochwasser, war übers Ufer getreten; matschiges, aufgewühltes Wasser umspülte die auf den Wiesen stehenden Bäume und Sträucher, in deren Geäst Papier, Stroh und Düngersäcke hingen. Über den Ufersträuchern flatterten Krähen. Sie verschwanden plötzlich, als gäbe es unsichtbare Höhlen in der Luft.
«Da ist was», sagte Höger, «vielleicht eine verendete Kuh.»
Er stoppte den LKW am Straßenrand, stieg aus, kletterte die Böschung hinunter und lief bis zur Urft, die hinter einem Feldstück neben den Bahngleisen floß. Brader sah seine Halbschuhe im Matsch versinken, dann machte er einen vorsichtigen Schritt, erstarrte und blickte starr auf eine Stelle am Ufer. Da war ein Mann, der mit seiner Kleidung an den Wurzeln des Uferbaumes hing, in der Strömung trieb wie ein mit Luft aufgeblähter Sack. Er rannte dann zurück, ohne darauf zu achten, wo er hintrat, stürzte in den Matsch, rappelte sich auf und lief weiter. Als er wieder hinter dem Steuer saß, war ihm übel, seine Kleidung triefte vor Nässe.
«Wir müssen Schorn anrufen», keuchte er. «Da liegt ein Toter, wahrhaftig ein Toter.»
Als Höger und Brader später wieder an der Stelle vorbeifuhren, parkten bereits Polizeiwagen am Straßenrand. Höger hielt an, lief zu Schorn hinunter, erzählte, was er gesehen hatte. Wieder im LKW, wußte er Braden zu berichten, daß der Tote ein Bauarbeiter war, der an den Gasleitungen gearbeitet hatte. Seit einem Jahr wohnten mehrere Bauarbeiter in Keldenich, sie verlegten Rohre, deren riesige Trassen quer durch die Täler führten. Die Rohre wurden mit einem Kran vom Lastwagen gehoben, in die Gräben gelegt und verschweißt. In der Nähe des Dorfes war die Trasse bereits wieder zugeschüttet. Einige der Bauarbeiter logierten bei Dahmen, der die Kneipe im Dorf mit ein paar Fremdenzimmern hatte, andere, die ihre Auslösung sparten, übernachteten in Wohnwagen in der Nähe der Baustelle.
«Hatten nicht Frauen aus dem Dorf mit den Bauarbeitern Verhältnisse? Mättes erzählte mir einmal, in einem der Wohnwagen hingen Miederhöschen an der Wand.» Höger spekulierte, ob es vielleicht damit zusammenhinge.
«Könnte doch sein, Braden, oder?»
«Was sagt Schorn denn?»
«Der hat doch auch keine Ahnung, wartet auf seine Kollegen aus der Stadt.»
Jedesmal, wenn sie an der Stelle vorbeifuhren, äußerte Höger eine neue Vermutung. Braden interessierte sich nicht besonders dafür. Er las in einem Buch und versuchte, einen Stein zu identifizieren. Um die Mittagszeit kletterte er aus dem LKW.
«Ich weiß nicht, ob heut abend noch LKWs fahren», rief Höger hinter ihm her, «wenn nicht, mußt du sehen, wie du ins Dorf kommst.»
Im Rückspiegel sah er, wie Braden die Straße zu Delamots Friseurladen hinunterging. Ihm fiel plötzlich wieder ein, daß Milli in Kall gesehen worden war, er hatte wegen des toten Bauarbeiters nicht mehr daran gedacht. Jetzt wird er es ohnehin erfahren, Delamot weiß es bestimmt schon. Höger verstand nicht, was Braden an Milli fand. Früher war er völlig verrückt nach ihr gewesen.
Im Schaufenster des Ladens standen staubige, ausgeblichene Haarwasserfläschchen; Spraydosen, Kämme und Haarspangen lagen auf einem verblaßten Samtstoff. Braden blieb eine Weile vor dem Fenster stehen, kratzte sich am Kopf, ging dann die Treppe hinauf, die zu einem schmalen Flur führte, an dessen Ende sich die Tür zum Herrensalon befand. Als er die Tür öffnete, bimmelte die Ladenglocke, es roch nach Parfüm und modrigen Haaren. Man erzählte sich, Delamot werfe die abgeschnittenen Haare nicht weg, sondern es gebe ein Loch im Fußboden, durch das die Haare in den Keller fielen, wo sie angeblich schon bis unter die Decke reichten.
Delamot döste auf einem der Frisierstühle. Die Sonne fiel durch das Schaufenster und blitzte im großen Frisierspiegel. Der Stuhl war so weit hochgepumpt, daß man über die Gardine des Schaufensters hinweg auf die Straße sehen konnte. Delamot hing über der Lehne, mitunter seufzte er im Schlaf. Außer ihm war nur noch Mättes im Frisiersalon, er saß auf einem der Stühle, die hinter dem Regalschrank standen. Mättes stammte wie Braden aus Keldenich. Er schnarchte; aus seiner großporigen, knolligen Nase wuchsen graue, drahtige Haare, die bei jedem Atemzug zitterten. Zwischen seinen Beinen klemmte ein Gehstock, auf seinem Schoß lag eine Illustrierte. Er kippte im Schlaf zur Seite, ruckte auf, bevor er vom Stuhl zu fallen drohte, öffnete für einen Moment erschrocken die Augen, dann schlief er weiter. Mättes kam seit zehn Jahren täglich zu Delamot, seitdem er Rente bezog. Vor seiner Pensionierung hatte er wie Braden im Zementwerk gearbeitet. Es gab nicht viele Arbeitsstellen in der Gegend, und wer nicht im Zementwerk oder in einem der kleinen Handwerksbetriebe beschäftigt war, mußte jeden Morgen bis nach Köln zur Arbeit fahren. Mättes saß die ganze Zeit nur auf dem Stuhl, blätterte in Illustrierten und hörte den Gesprächen zu.
Als Delamot wach wurde, räkelte er sich, rieb den Schlaf aus den listigen Augen, sah zur leise tickenden Uhr über dem großen Spiegel, blickte sich um und stand vom Frisierstuhl auf.
«Na, Braden», sagte er mit schnippischer Stimme, «auch wieder im Land? Wie spät ist es … hab eigentlich Mittagspause … was willst du?» Er musterte ihn.
«Weiß nicht», sagte Braden, «blaue Haare mit Dauerwelle vielleicht?»
«Wie du willst», antwortete Delamot grinsend, machte eine höfische Verbeugung, zeigte einladend auf den Frisierstuhl. Er legte Braden eine Papierkrempe um den Hals, schüttelte einen schmuddeligen weißen Umhang aus, ehe er ihn über Braden flattern ließ, verknotete die Bänder im Nacken und faltete die Krempe um. Delamots Hände rochen nach Haarwasser. Er hatte von einem Kunden erfahren, daß Milli wieder im Ort war. Ob Braden schon davon wußte? Er würde es schon herausbekommen. Delamot hatte eine Methode, alles von den Leuten zu erfahren, indem er mit den Fingerspitzen ihren Kopf massierte und irgendein Stichwort gab. Die meisten wurden dann zu einer weichen, schwammigen, nur noch aus Worten und Erinnerung bestehenden Masse, die unaufhörlich erzählte. So erfuhr er alles, was er wissen wollte. Bei Braden funktionierte diese Methode nicht. Er trat von hinten an Bradens Stuhl, pumpte ihn hoch und beobachtete ihn im Frisierspiegel, während er die Haare durchkämmte. Er müßte nur das richtige Wort sagen. Natürlich kannte er dieses Wort. Dann brauchte er nur in seinem Gesicht zu lesen. Er würde sich Zeit lassen, den günstigsten Moment abpassen. Eile mit Weile, dachte er, ließ sich Zeit, zupfte die Haare aus dem Kamm, begann das Haar zu kürzen, indem er einzelne Büschel zwischen die Finger klemmte und die Spitzen abschnitt. Braden hielt die Augen geschlossen. Delamots Schere schnatterte. Von draußen drangen Geräusche vorbeifahrender Autos in den Frisiersalon. Wenn ein LKW mit laufendem Motor vor der Ampel hielt, zitterten die Parfümfläschchen auf der Ablage vor dem großen Spiegel. Bradens Haare fielen am Kittel entlang zu Boden, Delamot schob sie mit der Fußspitze zur Seite. Einige der herab fallenden Härchen blieben in Bradens Nacken hängen. Delamot zog einen Quast aus der Kitteltasche, knickte Bradens Ohr, um dahinter Haare wegzubürsten, beobachtete Bradens Gesicht im Spiegel, unterhielt sich mit diesem Spiegelgesicht.
«Du warst lange nicht hier. Was gibt’s Neues? Arbeitest du wieder an den Drehmühlen?»
Braden nickte. Delamot fuhr mit den Fingerspitzen durch seine Haare.
«Alles voller Zementstaub», sagte er, die Nase rümpfend. «Wie man hört, warst du dabei, als man den Bauarbeiter heute morgen gefunden hat.» Er kämmte die Haare durch und wartete darauf, daß Braden erzählen würde. «Sie werden nicht mehr herausfinden, wer es gewesen ist», sagte er schließlich, während er Bradens Gesicht im Spiegel beobachtete, ein schmales Gesicht mit eingefallenen Wangen und großen, ruhigen Augen.
«Ist der Bauarbeiter nicht im letzten Jahr nach eurer Kirmes verschwunden? Wie hieß der Kerl noch gleich, der hat doch was mit der Johanna gehabt. Wie hieß der noch? Das Gedächtnis wird immer schlechter, man wird älter, wie hieß der noch, verdammtnochmal.»
Delamot biß die Zähne zusammen und verzog sein Gesicht, ein Gesicht mit wulstigen Lippen, pomadigen, schwarzen, nach hinten gekämmten Haaren, einem kleinen Oberlippenbart, einer seiner vergoldeten Augenzähne blinkte.
«Ich hab’s, Janker hieß der Kerl, war doch ein Österreicher, oder nicht?»
Delamot horchte plötzlich auf, lief zum Fenster, stellte sich auf die Zehenspitzen und sah über die Gardine hinweg nach draußen.
«Da kommt Dahmen, vielleicht weiß der was, dieser Janker hat doch bei ihm logiert.»
Dahmen hatte seinen Transitbus an der gegenüberliegenden Straßenseite geparkt, er lief über die Straße. Delamot stand bereits hinter der Theke, als Dahmen durch die Tür trat und in seiner Tasche nach dem Lottozettel wühlte.
«Sag mal, der Kerl, der letztes Jahr bei dir logiert hat und mit Johanna fortgelaufen ist, wie hieß der noch mal?»
«Bei mir hat der nicht gewohnt.»
«Egal, aber der hieß doch Janker!»
«Glaube ja», sagte Dahmen, «der lebte in einem der Wohnwagen.»
Er hatte den Lottozettel endlich gefunden und faltete das zerknitterte Stück Papier auseinander.
«Weißt du, was mit dem passiert ist?»
«Keine Ahnung, interessiert mich auch nicht.»
«So dürfte ich den Schein eigentlich nicht annehmen», sagte Delamot.
«Stell dich nicht so an, damit gewinne ich eine Million.»
«Ich gönn’s dir ja», sagte Delamot, strich den Lottoschein mit der Handkante glatt, steckte ihn in die Stempelmaschine und gab Dahmen den Durchschlag zurück.
«Hast du doch bald nicht mehr nötig; wie ich höre, machst du jetzt das große Geld mit Kaffeefahrten.»
«Hab keine Zeit, der Wagen steht im Halteverbot.»
Dahmen steckte den Lottoschein in die Tasche, grüßte zu Braden hinüber und lief nach draußen.
Delamot spinkte über die Gardine hinweg bis Dahmen abgefahren war, dann kehrte er zu Braden zurück.
«Gibt sich alle Mühe, die Schulden zu bezahlen. Schafft es aber nicht, jedenfalls nicht auf ehrliche Art und Weise. Bei euch ist am Wochenende Kirmes.»
Braden nickte nur.
«Dann geht’s ja wieder rund, was … gehst du auch tanzen? Für dich wird’s ja langsam Zeit.»
«Was meinst du damit?»
«Die warten doch alle nur darauf, geheiratet zu werden … Wenn ich meine Mädchen hier sehe, kaum haben sie jemanden an der Angel, hören sie auf zu arbeiten.»
«Ich komm ganz gut ohne zurecht.»
«Erzähl mir nichts, Braden, jeder Topf braucht einen Deckel. Gestern erzählte doch einer meiner Kunden, er habe die Tochter vom Krämer in Kall gesehen.»
Delamot sah im Spiegel das erschrockene Gesicht von Braden.
«Die ist doch aus Keldenich, oder täusche ich mich, hast du nicht mal was mit der gehabt?»
Braden konnte nicht antworten, er sah Milli vor sich, so lange hatte er sie nicht mehr gesehen, seine Hände zitterten unter dem Kittel, er versuchte sie festzuhalten. Delamot spürte, daß er zu weit gegangen war. Braden war ein sympathischer Kerl, das wäre nicht nötig gewesen. Nur, weil er es wieder genau wissen wollte … was wollte er eigentlich wissen … daß Braden in diese Milli vernarrt war? Das wußte doch jeder. Er wollte es nicht nur wissen, er wollte es fühlen. Jetzt aber spürte er, daß er zu weit gegangen war, er bereute es, suchte nach einer Möglichkeit, aus der Situation herauszukommen, war heilfroh, als das Ladenglöckchen bimmelte und Kundschaft hereinkam.
Pauli stiefelte durch den Laden, setzte sich neben Mättes, streckte die Füße von sich, betrachtete seine Schuhe, an denen das Leder abgewetzt war, so daß die Metallkappen zum Vorschein kamen.
«Hast du was Neues von dem Bauarbeiter gehört?» fragte Delamot.
«Sie wissen nicht mal genau, ob es einer von denen ist. Hat lange in der Urft gelegen. Wahrscheinlich hat ihn das Hochwasser dahin geschwemmt. Den Mund soll er voller Mist gehabt haben. Braden, du hast doch bei Höger im LKW gesessen.»
Braden wollte weg, irgendwo in Kall würde Milli sein, er versuchte aufzustehen, aber Delamot hielt ihn fest, bestäubte ihn mit Parfüm, zeigte ihm den ausrasierten Nacken mit dem Handspiegel.
«Jetzt siehst du wieder vernünftig aus.»
Er nahm Braden den Kittel ab und eilte voraus zur Kasse.
«Treib’s nicht zu toll auf der Kirmes», rief er ihm nach. Als er zu Pauli kam, der schon auf dem Frisierstuhl Platz genommen hatte, schüttelte er den Kopf.
«Der Braden, der Braden», sagte er nachdenklich.
Pauli beugte den Kopf nach vorn, damit Delamot ihm die Papierkrempe anlegen konnte.
Als Braden sich der Bushaltestelle näherte, sah er Milli auf der Bank im Unterstand sitzen. Sie trug einen Walkman, bewegte den Kopf rhythmisch, schnippte unentwegt mit einem Feuerzeug. Langes glattes Haar fiel über ihr Gesicht. Als er vor dem Schallplattengeschäft stand, sah sie zu ihm hinüber, ihre Pupillen waren groß und schwarz, wie von einer Katze, die ins Dunkel hineinblickt, sie erkannte Braden nicht, es schien, als würde sie durch alles hindurchsehen. Er ging weiter, zu oft war er von ihr abgewiesen worden. Früher hatte Krämer immer erzählt, seine Tochter besuche in Köln eine Schule. Jetzt sprach er gar nicht mehr von ihr, wollte nicht einmal mehr, daß sie nach Hause kam. Braden wußte nicht, was er machen sollte. Er blieb kurz vor dem Fotogeschäft stehen, sah auf die Hochzeits- und Kommunionsbilder, lief weiter an der alten Molkerei vorbei bis zum Einkaufsmarkt, kehrte wieder zurück, er wollte mit ihr sprechen, er glaubte, jetzt genügend Mut gefaßt zu haben, aber Milli war nicht mehr da. Er lief in Kall herum, suchte in der Bahnhofswirtschaft, in den Spielhallen, rannte die Hauptstraße hinunter am Gemeindeamt und der Post vorbei, bis er nicht mehr wusste, wo er noch suchen sollte. Es wimmelte um diese Zeit in Kall von Leuten, die aus den umliegenden Dörfern zum Einkaufen kamen oder den Arzt aufsuchten. Die Sandsteinfelsen an der Straße schimmerten rötlich. Braden hatte in der Bahnhofsgaststätte zuviel getrunken. Vielleicht war sie wieder fortgefahren, oder sie saß im Restaurant des Einkaufsmarktes. Er lief nochmals dorthin, ging die Treppe zum Restaurant hinauf, hielt sich einen Moment mit beiden Händen am Geländer fest. In der Einkaufshalle tönte leise Musik. Oben auf dem Absatz angelangt, öffnete er die Tür zum Restaurant. Johanna, Zeisers Frau, stand hinter der Theke. Sie unterhielt sich mit Klöcker und Littwin. Klöcker hatte sich die Augen beim Schweißen verblitzt, sie waren verklebt und rot wie bei einem Kaninchen. Da er kaum noch sehen konnte, versuchte er über die Theke hinweg Johanna zu ertasten; als er sich ihr näherte, lachte sie und wich zurück. Die Bauarbeiter kamen nur wegen Johanna ins Restaurant. Vor einem Jahr hatte Johanna ihren Mann wegen des Österreichers verlassen, war jedoch nach einigen Wochen wieder zu Zeiser zurückgekehrt.
Littwin rief Braden zu, er solle an die Theke kommen. Braden schwankte jedoch zu einem Tisch, von dem er in die Einkaufshalle hinuntersehen konnte. Früher hatte er sehr oft an diesem Tisch gesessen, hatte zu Milli hinuntergesehen, die damals an einer der Kassen arbeitete. Manchmal hatte sie ihm zugewinkt, und nach Geschäftsschluß waren sie mit dem Motorrad zum Bruckshaus gefahren, einem verlassenen alten Haus, das im Gelände außerhalb von Keldenich lag. Er hatte lange nicht mehr an diese Zeit gedacht, hatte sie fast vergessen. Johanna erzählte den Bauarbeitern leise, daß Braden bereits am Nachmittag im Restaurant gewesen sei und Milli gesucht habe.
«Sie ist nicht hiergewesen, Braden», rief sie.
Im Radio berichteten sie von einer Weltraummission. Seit einem halben Jahr lebte der Astronaut in einer Weltraumkapsel, führte Experimente in der Schwerelosigkeit durch, Froschlaich, aus dem Kaulquappen entstanden, die Wirkungen der Erdmagnetfelder, die Veränderungen von Metallstrukturen unter Bedingungen der Schwerelosigkeit, erläuterte der Nachrichtensprecher. Braden erwachte manchmal nachts aus einem Traum, in dem er in einem Raumanzug an einem Verbindungskabel durch den Weltraum taumelte, es gab nur die Schwärze des Weltraums, die sich weiter und weiter entfernende Raumkapsel, zu der er nicht mehr zurückkehren würde. Braden sah, wie die Kerle unten in der Halle heimlich mit einem Messer in Kartons stießen, ein Mädchen eine Schnapsflasche unter ihren Pullover steckte.
«Wenn du was trinken willst, mußt du es dir schon holen kommen», rief Johanna.
Littwin drehte sich nach Braden um und grinste, zwinkerte ihm zu, winkte ihn zur Theke und rief: «Komm, Braden, trink einen mit uns!»