Über das Buch:
Nicht genug, dass Rick sich Sorgen um seine Zwillingsschwester Elena macht, die so gar nicht mehr sie selbst ist – da gibt es auch noch diesen Neuen an der Schule: einerseits so selbstbewusst, dass er zu jeder Party eingeladen wird, andererseits so abweisend, dass niemand wirklich an ihn herankommt. Und etwas sagt Rick, dass dieser Jim einen Freund brauchen könnte.
Elena wünschte, sie wäre mehr wie ihre große Schwester, die den Mut hatte, ihre langweilige Familie hinter sich zu lassen und ihr eigenes Ding zu machen. Manchmal fragt sie sich, was sie überhaupt noch hier hält.
Jim weiß, wie man sich anpasst. Wie man überlebt. Eigentlich will er sich in diesem Kaff mit niemandem einlassen, aber da hat er die Rechnung ohne Rick und Elena gemacht. Und ohne seine Vergangenheit, die ihn in einer schicksalhaften Nacht wieder einholt …
Über die Autorinnen:
Vanessa Siemens lebt in Detmold und schreibt seit ihrer Teenagerzeit Geschichten, in die sie gern viel Action einarbeitet. Sie liebt es, Zeit mit ihren Freunden und ihrer Familie zu verbringen und zu reisen.
Dorothea Balzer lebt am Fuße des Teutoburger Waldes und schreibt schon, seit sie ein Teenager war. Sie liebt Jesus, Abenteuer und Reisen, hat Germanistik und Literaturwissenschaft studiert und arbeitet als Lektorin in einem christlichen Verlag.
6. Kapitel
Jim war noch nie in einem Gottesdienst gewesen. Nicht einmal an Weihnachten waren Will und Shakira hingegangen, da Will meistens mit der Kanzlei gefeiert hatte.
Ein paarmal war er als Kind in einer katholischen Messe gewesen. Er hatte diese wenigen Male noch ganz deutlich vor Augen; die riesigen, verzierten Hallen und die monotonen Stimmen der Priester. Dann die unheimlichen Gesänge, von denen er ebenso wenig verstanden hatte wie von dem Rest.
Heute Morgen hatte Grace Walter gefragt, ob er denn dieses Mal mit zur Kirche käme, aber er hatte irgendetwas davon gemurmelt, dass bei den Ferienhütten noch so viel Arbeit auf ihn wartete.
Es überraschte Jim wenig, als Grace den Wagen vor der Kirche parkte, die er bei seinem nächtlichen Spaziergang entdeckt hatte. So eine Kirche passte zu ihr. Er hatte schon bemerkt, dass ihre Religion irgendwie anders war.
Jim stieg aus und folgte seiner Tante zum Eingang, wo ein junger Mann an der Tür stand und jeden persönlich begrüßte. Als er Grace die Hand drückte, wanderte sein Blick zu Jim und er musterte ihn interessiert.
»Du musst Jim sein! Grace hat mir bereits erzählt, dass du für einige Zeit zu Besuch kommst.« Er griff herzlich nach Jims Hand. »Freut mich! Ich hoffe, es gefällt dir hier bei uns.«
Jim nickte dankend und folgte Grace ins Innere. Im Foyer begrüßte sie einige Frauen und stellte ihnen Jim als ihren Neffen vor. Irgendwie freute ihn das; Will und Shakira hatten stets betont, dass er adoptiert war, obwohl jeder sehen konnte, dass sie nicht leiblich miteinander verwandt sein konnten. Ja, fast geprahlt hatten sie damit; dadurch standen sie ganz oben auf der Liste derjenigen, die zu den Wohltätigsten ihres Freundeskreises gehörten. Grace hatte bis jetzt niemandem gegenüber ein Wort darüber erwähnt. Vielleicht aber auch nur, weil das zu kompliziert zu erklären war.
Der Saal war ähnlich aufgebaut wie die, an die Jim sich erinnern konnte, doch war die Einrichtung sehr viel moderner und auch irgendwie einladender.
Grace wandte sich zu ihm um. »Willst du bei mir sitzen oder bei den anderen in deinem Alter?« Sie zeigte auf eine Bank, wo schon einige Teenager Platz genommen hatten; er erkannte einige davon aus seinen Kursen wieder und meinte, auch den blonden Haarschopf von Elenas Bruder zu sehen.
»Ich denke, ich sitze bei dir. Ich kenne da noch nicht so viele.«
Grace führte ihn zu einem Platz, der nicht allzu weit vorn war, und setzte sich.
Als der Gottesdienst mit einigen Liedern begann, fing Jim an, die Besucher zu studieren. Einige schienen von ganzem Herzen zu meinen, was sie da sangen. Andere unterhielten sich noch. Ein paar der Kinder, die weiter vorne saßen, hatten bereits ihre Malsachen ausgepackt. Jim fragte sich, warum sie überhaupt herkamen, aber wahrscheinlich verstanden sie genauso wenig wie er damals.
Das nächste Lied wurde angestimmt und der Gesangsleiter bat die Versammlung aufzustehen. Die Musik war nicht wirklich nach Jims Geschmack, aber die Musiker waren nicht schlecht. Als Nächstes kam ein Mann nach vorn, der ihm vage bekannt vorkam. Als er anfing, die Termine und Ansagen weiterzugeben, fiel Jim ein, dass er ihn schon einmal auf dem Schulhof gesehen hatte. Wahrscheinlich ein Lehrer.
Die Predigt begann und Jim lehnte sich zurück. Ein wenig neugierig war er schon.
* * *
»Meine Brüder, achtet es für lauter Freude, wenn ihr in mancherlei Anfechtungen geratet, da ihr ja wisst, dass die Bewährung eures Glaubens Standhaftigkeit bewirkt.«
Rick verfolgte mit den Augen die Verse in seiner Bibel, die Mr Jordan aus dem Jakobusbrief vorlas. Er versuchte, sich auf die Predigt zu konzentrieren, aber seine Gedanken schweiften immer wieder zu den letzten Tagen ab. Elenas komisches Verhalten am Freitag. Ihr Geständnis gestern. Und dann war sie am Abend wieder feiern gegangen, als wäre nichts gewesen. Hatte sie denn gar nichts aus der Situation gelernt?!
»Wir können uns also insofern glücklich schätzen, dass der Herr die schweren Zeiten in unserem Leben gebraucht, um uns zu formen.«
Rick horchte auf. Schwere Zeiten? Natürlich hatte er sich in den letzten Monaten gefragt, warum erst das mit Mari und dann das mit Elena passieren musste. War mit den schweren Zeiten und Anfechtungen so etwas auch gemeint? Er hatte noch nie mit dem Gedanken gespielt, den Glauben an Gott aufzugeben. Warum auch? Er wusste, dass er Gott brauchte.
»In Anfechtungen macht Gott uns stark für noch schwerere Prüfungen. Wenn unser Glaube sich in diesen Prüfungen bewährt, wird er noch stärker.«
Plötzlich unruhig rutschte Rick auf der Bank hin und her. Was sollte das bedeuten? Etwas wie eine Vorahnung oder Angst vor etwas Großem erfasste ihn. Wofür könnte Gott ihn durch die Sache mit seinen Schwestern vorbereiten wollen? Würde die Situation mit Elena vielleicht noch schlimmer werden?
Den Rest der Predigt bekam Rick kaum noch mit, so tief war er in Gedanken versunken. Was, wenn Elena auf einmal abhaute, so wie Mari? Oder wenn sie plötzlich schwanger nach Hause kommen würde? Brian würde sich holen, was er wollte, und ihm war egal, welche Konsequenzen das für Elena haben würde.
Nach dem Schlussgebet stieß sein Kumpel Ben ihn in die Seite. »Schau mal, da hinten ist Jim!«
Tatsächlich. Rick hatte irgendwie nicht erwartet, ihn in der Kirche anzutreffen.
Ben stand auf. »Komm, wir sagen Hallo! Er sieht da neben Miss Grace und den alten Damen ganz hilflos aus.«
Rick folgte seinem Kumpel durch die dichte Menge der Gottesdienstbesucher, die plaudernd umherstanden und ein Durchkommen beinahe unmöglich machten.
Jims Gesicht erhellte sich, als er sie erblickte. »Hi. Schön, euch zu sehen.«
»Cool, dass du da bist«, erwiderte Rick.
Jim zuckte mit den Schultern. »Die andere Option heute Morgen wäre gewesen, Walter bei den Hütten zu helfen, und … na ja, einen Gottesdienst zu besuchen, klang weniger anstrengend.«
Ben grinste breit. »Wahre Worte.«
Rick war etwas verlegen und wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
Jim bemerkte seinen Blick und sagte: »Es war aber ungewöhnlich … interessant.«
Miss Grace drehte sich zu ihnen um und rettete die Situation: »Ah, guten Morgen, ihr beiden! Wie hat euch der Gottesdienst gefallen?«
Ben setzte zu einer Antwort an, als die ältere Dame auch schon fortfuhr: »Habt ihr auch schon so einen Hunger wie ich? Also, ich kann euch sagen, dass Walter gestern von nichts anderem als von dem Barbecue heute geredet hat; der alte Junge freut sich immer über ein gutes Steak.« Grace lachte und legte Jim eine Hand auf den Arm. »Komm, Jim, wir holen ihn ab – ich bin mir sicher, er wartet schon ganz ungeduldig auf uns.« Sie winkte Rick und Ben zu. »Bis später!«
Jim hob zum Abschied die Hand und ließ sich von Grace zum Ausgang ziehen.
»Barbecue?«, fragte Ben neugierig.
»Ja, meine Mom hat die Dunlaps mit Jim eingeladen. Willst du auch kommen?«
»Würde ich voll gern! Die Steaks deines Vaters sind ja der Wahnsinn! Aber ich muss heute leider mit meinen Eltern meinen Onkel besuchen.« Er verdrehte die Augen. »Und Jim kommt auch, ja?«
Rick hob die Schultern. »Ich denke schon.«
»Bin ja gespannt, wie der so drauf ist.«
»Ich auch.«
Ben sah sich um. »Ich glaub, meine Eltern sind schon zum Auto gegangen. Wir sehen uns morgen in Bio, dann kannst du mir ja alles erzählen.«
Rick winkte und sah sich nach seinen eigenen Eltern um, die aber noch im Gespräch waren. Also ging er nach draußen zum Auto, um dort zu warten.
Auf der anderen Seite des Parkplatzes konnte er Chelsea mit den anderen Mädels aus der Teeny sehen, die zusammenstanden und über irgendetwas lachten. Es tat ihm irgendwie weh, weil Elena in diesem Bild einfach fehlte. Chelsea war ihre beste Freundin gewesen, aber Elena hatte sich auch von all ihren Teenyfreunden distanziert. In der Schule redete sie noch mit ihnen, wenn sie musste, und ignorierte sie sonst völlig.
Rick seufzte tief. Er vermisste die alte Elena, die mit ihm auf dem Mountainbike durch den Wald raste, das Abc rülpste und ihn in Need For Speed schlug, wenn er nicht aufpasste.
»Oh, Gott«, murmelte er leise. »Bitte bring sie zurück …«
* * *
Voller Vorfreude verteilte Rick eine großzügige Menge Texas-Soße auf seinem Steak und bot Jim, der ihm gegenübersaß, auch davon an. Jim tat es ihm gleich und reichte sie daraufhin an Elena weiter, die die ganze Zeit über geschwiegen hatte.
Genüsslich kaute Rick und fragte sich, worüber er mit Jim reden sollte. Er hatte ihm schon ein paar Fragen zu seinen Kursen und einigen Lehrern gestellt, aber was ihn am meisten interessierte, traute er sich nicht anzusprechen. Nämlich, warum er plötzlich zu seinem Onkel und seiner Tante hatte ziehen müssen. Woher die Narbe über seinem Auge stammte. Warum er ständig so müde war. Oder warum er mit Brian und seinen Leuten abhing. Letzteres konnte Rick sich eigentlich denken. Wenn man als Neuer an die Schule kam, war es sicher nicht schlecht, sich mit den Beliebten anzufreunden.
Plötzlich bemerkte er, wie Jim ihn musterte. Er hob fragend die Augenbrauen, weil er den Mund gerade voll mit zartem Schweinefleisch hatte. Jim schaute weg. Jetzt musste Rick wohl irgendetwas sagen. Er schluckte und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Hast du Lust, ein bisschen die Gegend zu erkunden? Ich könnte dir ein paar coole Plätze zeigen. Also, wenn du willst …«
Jim zuckte die Achseln. »Klar, warum nicht?«
»Super! Dann können wir ja gleich los.«
Und wieder schwiegen sie. Jim tat von sich aus auch nichts, um das Schweigen zu brechen. Außer, wenn jemand von den Erwachsenen ihn etwas fragte. Dann schien er plötzlich ein ganz anderer Typ Mensch zu sein. Megahöflich, Augenkontakt, aufmerksames Zuhören, Lächeln hier, Nicken da … Fast wie ein Politiker vor der Kamera, der gut dastehen musste.
»Von den Ferienhütten hast du sicher schon ein paar gesehen.«
Jim nickte kurz.
»Wusstest du, dass ein Campingplatz unten im Tal auch zu euch gehört? Er liegt direkt am Fluss auf einer Lichtung im Wald. Es ist total schön dort; da haben wir immer unsere Freizeiten mit der Teeny.«
Jim schaute auf. »Was für eine Teeny?«
»Das ist eine Gruppe von Teenagern. Wir treffen uns einmal in der Woche in der Kirche, um in der Bibel zu lesen und Spiele zu spielen und so. Einige aus unserer Stufe gehen auch dorthin.«
»Ach so.« Jim beugte sich wieder über seinen Teller und stocherte im Salat herum.
»Jim, wenn du willst, kannst du ja mal mitgehen«, schlug Mrs Anderson vor, die bei dem Thema offensichtlich aufgehorcht hatte. »Das wäre doch sicher eine gute Gelegenheit, neue Leute kennenzulernen.«
Ein unschönes Schnauben kam aus Elenas Richtung. »Der hat es doch nicht nötig, in die Kirche zu rennen, um Freunde zu finden.«
Jim setzte wieder sein diplomatisches Lächeln auf. »Warum nicht? Wann ist das denn?«
Rick verschluckte sich fast an seinem Eistee. »Äh, hm, freitags um sechs.«
»Na dann. Vielleicht komm ich mal vorbei.«
Rick konnte Elenas Gesichtsausdruck nicht einschätzen, aber sie kaufte Jim das mit Sicherheit nicht ab.
Als Rick wenig später aufsprang und zu Jim meinte, dass er ihm den Klettersteig zeigen würde, sagte sie plötzlich: »Ich komme mit.«
Wieder fragte Rick sich, ob sie das nur wegen Jim wollte. Aber Hauptsache, sie war überhaupt dabei.
* * *
Rick benahm sich auf dem Weg durch den Wald wie ein Fremdenführer und ignorierte dabei völlig, dass Jim und sie beharrlich schwiegen. Rick erzählte einfach, was er über die Geschichte ihres kleinen Ortes wusste. Viel gab es da nicht zu sagen, denn ihr Städtchen war noch ziemlich jung. Um 1900 hatte es einmal eine Kupfermine im Tal gegeben, welche jedoch nach ein paar Jahren wieder geschlossen worden war, da man schnell feststellte, dass es sich bei dem angeblichen Fund einer Bodenschatzquelle um einen Irrtum gehandelt hatte. In den Achtzigerjahren hatte irgendein reicher Geschäftsmann dann angefangen, den Ort in einen Kurort umzuwandeln. Die Reste seiner Anlage waren von Walter und Grace übernommen worden, als der Geschäftsmann sich nach ergiebigeren Ideen weiter im Osten umschaute.
Elena trottete mit etwas Abstand hinter den beiden Jungs her. Sie wusste nicht genau, warum sie unbedingt hatte mitkommen wollen. Wahrscheinlich vor allem wegen Jim. Seit dem Vorfall nach der Party war er ihr größter Held. Anscheinend hatte er zu Hause auch kein Wort darüber verloren, was geschehen war, denn weder Grace noch Walter hatten irgendwelche Andeutungen gemacht. Was sie geärgert hatte, war, dass ihre Mutter Jim sofort zur Teeny hatte einladen müssen. Wie peinlich! Was musste er jetzt von ihr denken? Dass sie die absolute Spießerin war? Genau das Image versuchte sie doch gerade loszuwerden!
»Ey, Jim, du brauchst dich nicht verpflichtet zu fühlen, zur Teeny zu gehen, nur weil die Erwachsenen das für eine gute Idee halten.« Sie versuchte, es ganz locker und beiläufig klingen zu lassen.
Jim blieb stehen und sah sie fragend an. »Elena … würdest du sagen, dass ich dich kenne?«
Perplex zog sie die Augenbrauen hoch. »Äh, nein? Ganz sicher nicht.«
»Dann tu nicht so, als würdest du mich kennen.«
»Du … du scheinst mir einfach nicht der Typ zu sein, der freiwillig in die Kirche geht«, stotterte sie.
»Und du scheinst mir nicht der Typ zu sein, der freiwillig nicht hingeht. Wie man sich täuschen kann.«
Rick entfuhr ein ungläubiges Lachen und er sah mit gehobenen Brauen zwischen den beiden hin und her.
Elena biss sich auf die Lippen. Sie sollte am besten einfach die Klappe halten. Wieso machte sie bloß alles falsch?! War Jim jetzt sauer auf sie?
Ihr Bruder bedachte sie mit einem Blick, den sie nicht ganz deuten konnte, dann rettete er die Situation und meinte: »Wir lernen uns schon noch alle kennen. Da drüben geht es übrigens zur Kletterwand.«
Klettern? Oh, nee. Elena hatte definitiv die falschen Klamotten dafür an. Sie hatte gedacht, dass sie nur ein bisschen herumlaufen würden …
»Was ist das für ein Geräusch?«, fragte Jim.
Elena und Rick sahen ihn etwas verständnislos an, aber dann begriff Elena. »Das wird der Wasserfall sein, den du hörst! Kommt, wir gehen hin!«
Sie ging voraus zur Lichtung am Fluss und die Jungen folgten ihr und dem lauter werdenden Geräusch des in die Tiefe stürzenden Wassers. Die drei wanderten schweigend den Weg flussabwärts und blieben auf dem kleinen Pfad, der den Felshang hinabführte. Am Abhang angelangt, setzten sie sich auf die Felsen und blickten ins Tal hinunter. Vor ihnen erstreckte sich der Wald und in der Ferne sah man die vereinzelten Hütten und Häuser zwischen den Wiesen. Darüber spannte sich der Himmel in Azurblau, verziert mit einzelnen weißen Tupfern. Das Donnern des Wasserfalls machte ein Gespräch schwierig, aber Elena war sowieso nicht danach zumute.
Wann hatte sich ihre Denkweise so verändert? Vor einem Jahr noch war es für sie ganz normal gewesen, zur Teeny zu gehen. Sie hatte sogar die Mädels in der Schule bemitleidet, die so sehr nach der Aufmerksamkeit der Jungs gestrebt hatten. Das alles war ihr oberflächlich und sinnlos vorgekommen und sie war froh gewesen, nicht in deren Haut zu stecken.
Und jetzt? Wann war sie zu diesem Mädchen geworden, das Angst hatte, ein Oberteil zweimal zur Schule anzuziehen? Eine, die sich eine Stunde vor Unterrichtsbeginn vor den Spiegel stellte und begann, sich zu schminken, damit auch jedes Detail saß? Eine, die in der Öffentlichkeit nicht mehr mit ihren alten Freundinnen redete, weil das ja ihren Status runterziehen könnte?
Ein wenig neidisch war sie ja schon auf die beiden Jungs, die neben ihr saßen. Rick scherte sich überhaupt nicht darum, was andere über ihn dachten. Und Jim war der Neue. Da war er automatisch eine Hauptattraktion, wenn er sich auch nur ansatzweise richtig benahm. Und darin schien er Meister zu sein.
Was war denn überhaupt wichtig im Leben? Ansehen? Beliebtheit? Aussehen? Wie viele Follower man auf Instagram hatte? Ob man die Menschen beeindruckte und sie einen als Vorbild sahen? Erfolg? Karriere? In welchen Freundeskreisen man sich bewegte? Welchen Job man später hatte und welches Auto man fuhr? Oder wie viel man erlebt hatte? Wen man heiratete und wie viele Kinder man haben würde? Was davon hatte Bedeutung?
Elena sah kurz zu ihrem Bruder. Eigentlich wusste sie es. Zumindest war sie sich einmal ganz sicher gewesen. Sie hatte ihren Sinn immer im Glauben gesehen, hatte ihr Leben darauf bauen wollen, genau wie ihre Familie.
Aber dann war so viel davon zerbrochen. Sie hatte nicht den versprochenen Trost bei Gott gefunden, von dem alle redeten.
»Kommt mit!«, rief Rick über das Tosen hinweg.
Sie entfernten sich vom Wasserfall und Elena meinte einen sehnsüchtigen Ausdruck auf Jims Gesicht erhaschen zu können, als er auf den reißenden Fluss sah.
»Das hier ist der Klettersteig.« Rick zeigte auf den Felsenhang, der sich bis ins Tal zog. An einigen Stellen war er ziemlich steil, aber sonst konnte man dort meist ohne Probleme herunterklettern und auch wieder hoch, wenn man ein bisschen sportlich war. Hier war das Rauschen immer noch zu hören, doch man konnte sich normal unterhalten. »Man muss nur aufpassen, wenn es geregnet hat oder der Wind den Sprühnebel vom Wasserfall herträgt, dann kann es sein, dass er an einigen Stellen ziemlich glatt ist.«
Jim warf einen Blick über die Kante. »Wie schnell kann man unten sein?«
Rick hob die Schultern. »Kommt drauf an, wie risikofreudig du bist.«
Jim legte den Kopf schief und streifte die Jacke ab, wobei seine sehnigen Unterarme zum Vorschein kamen. »Finde es heraus.«
Rick grinste und ging in die Hocke, um das Moos auf dem oberen Felsen zu befühlen. »Geht klar.«
Elena öffnete den Mund, um zu protestieren, doch da sprangen die beiden schon die ersten Felsen hinunter. Unschlüssig beobachtete sie, wie sie in wahrhaft halsbrecherischem Tempo immer weiter hinabkletterten. Elena sah auf ihre High Heels hinunter. »Wer zieht so was auch zum Spazierengehen im Wald an?«, murmelte sie ärgerlich vor sich hin und nestelte an den Riemchen herum. Gut. Sie würde hier nicht die ganze Zeit herumstehen und warten.
Überrascht zog sie die Luft ein, als ihre nackten Füße das feuchte, kühle Gras berührten. Wann war sie das letzte Mal barfuß gewesen? Lächelnd vergrub sie ihre Zehen in den Halmen und beeilte sich, den Cardigan abzustreifen. Zum Glück hatte sie Shorts und keinen Rock angezogen …
Achtlos ließ sie das Jäckchen auf ihre Schuhe fallen und kletterte die ersten Felsen hinab. Die Jungs hatten schon über die Hälfte des Steigs zurückgelegt, wobei Jim einen beachtlichen Vorsprung hatte. Hätte sie einem Stadtjungen niemals zugetraut.
Sie nahm sich Zeit, ihren Weg zu suchen. Es war ein wenig her, seit sie hier mit Rick das letzte Mal hinuntergeklettert war. Nach einigen Metern kehrte die alte Sicherheit zurück und sie sprang beherzter von Felsen zu Felsen.
Sie wurde immer schneller und war fast bei der Mitte, als die Jungs ihr schon wieder entgegenkamen. Rick sah sie völlig überrascht an, sagte aber zum Glück nichts und lächelte nur breit.
Jims Miene dagegen versteinerte, als er ihre Abschürfungen entdeckte.
»Mir geht’s gut«, beeilte sie sich zu sagen. »Das sind nur ein paar Kratzer.«
Jim sah zu Rick und schien ihm am Gesicht ablesen zu können, dass er Bescheid wusste. »Wieso hast du es nicht deinen Eltern gesagt?«
Elena wand sich. »Weil ich nicht wollte.«
Jim hob eine Augenbraue. »Okay?«
»Was okay?«, fragte sie leicht gereizt.
»Du findest es also okay, überfallen zu werden? Und dass diese Typen noch frei rumlaufen? Dass sich der Sheriff nicht drum kümmert?«
»Was soll das denn bringen? Du hast die Typen doch auch kaum gesehen, oder? Ich könnte sie jedenfalls nicht mal beschreiben. Und wegen der Ferienhütten kommen hier ständig Fremde in die Gegend, die könnten also auch schon längst weg sein. Außerdem würde das nur Gerede geben und darauf hab ich nun wirklich keine Lust!« Sie reckte das Kinn vor. »Wieso hast du denn nichts gesagt? Du wohnst doch beim Sheriff!«
Jim kniff die Augen zusammen. »Weil das deine Sache ist, nicht meine.«
»Ja, es ist meine Sache. Und ich hab entschieden, niemandem davon zu erzählen.« Elena hasste es, dass sie wie ein kleines, bockiges Kind klang. Aber sie wollte vor den Jungs nicht zugeben, dass ihr jedes Mal übel wurde, wenn sie daran dachte, und dass sie Panik bekam. Sie wollte es einfach vergessen.
* * *
Elena begann, ohne ein weiteres Wort weiter hinabzuklettern. Rick überlegte kurz, ihr zu folgen, entschied sich dann aber dagegen. Sie brauchte vielleicht einfach ihre Ruhe. Jim starrte ihr hinterher und schien das Gleiche zu denken.
»Übrigens«, holte Rick ihn vorsichtig wieder in die Gegenwart. »Danke, Jim.« Er sah ihn ernst an. »Ich glaube, Gott hat dich geschickt. Wärst du nicht dazwischengegangen, hätte wer weiß was passieren können.«
Jim schoss einen wütenden Blick in seine Richtung. »Pass besser auf deine Schwester auf.«
Rick lachte freudlos. »Das versuche ich ja. Sie hört nicht auf, sich zu wehren. Ich sag ihr immer wieder, dass das keine wahren Freunde sind, aber will sie ja nicht hören.«
»Wahre Freunde.«
Rick wusste nicht genau, ob das eine Frage war oder Jim es einfach nur laut wiederholt hatte. »Ja genau. Die Mädels können echte Biester sein. Die haben Elena einmal fast zum Heulen gebracht, weil sie einen Pullover in einer Woche zwei Mal angezogen hat. Ich meine, was soll der Müll?«
Jim setzte sich auf den Felsen und sah wieder zu Elena. »Das heißt, sie war nicht immer so?«
»Nee.«
»Dachte ich mir.«
Rick setzte sich ebenfalls. »Echt? Wieso?«
»Weil sie anders ist. Egal, wie sehr sie versucht, wie die anderen zu sein.«
Rick seufzte. »Du solltest sie kennenlernen, wie sie vorher war. Die hat jeden Quatsch mit mir gemacht und nichts war ihr peinlich.«
»Vorher?«
Mist. Jim war ein zu aufmerksamer Zuhörer. »Hm, ja …« Rick überlegte kurz, dann entschied er sich, es zu erzählen. Es war hier ja sowieso kein Geheimnis, irgendwann würde er es ohnehin erfahren.
»Meine große Schwester Mari ist vor einem Jahr ausgerissen und seitdem nicht mehr wiedergekommen. Das hat Elena mega mitgenommen. Na ja, uns alle. Aber Elena kommt am wenigsten damit klar.«
Jim nickte kurz und schwieg.
Rick überlegte, noch mehr zu sagen, aber wahrscheinlich musste er das nicht. Jim schien zu verstehen.
»Lass sie bloß nicht los«, sagte Jim nach einer Weile so leise, dass Rick es kaum verstand.
Rick schüttelte den Kopf. »Niemals.«
* * *
Jim beobachtete Elena, die schon fast unten angekommen war.
Rick glaubte also, dass es Gottes Eingreifen gewesen war, dass er zur richtigen Zeit da gewesen war, um Elena zu helfen. Irgendetwas zog an seinem Herzen bei diesem Gedanken. Es erinnerte ihn an Rico, der auch immer davon geredet hatte, dass Gott einem helfen könne, also schob er diese Erinnerungen schnell wieder fort. Es half doch nichts. Er hatte damals schon fast angefangen, Rico zu glauben, einfach weil es sein einziger Hoffnungsanker gewesen war. Der Glaube schien Rico wirklich viel Kraft gegeben zu haben. Doch anscheinend nicht genug.
Jim knirschte mit den Zähnen. Wieso musste er ausgerechnet jetzt wieder daran denken? Oh, wie hatte er gebetet damals! Angefleht hatte er Gott. Aber Gott hatte geschwiegen. Schön, wenn er wenigstens Elena beigestanden hatte, aber die hatte ja auch längst nicht so viel Schlechtes getan wie er. Er war einfach ein hoffnungsloser Fall.