Ein Gespräch über
Geschichte und Politik
C.H.Beck
Zwei außergewöhnliche Freunde im Gespräch – Joschka Fischer, Außenminister außer Dienst und langjähriger Spitzenpolitiker der Grünen, hat sich im vergangenen Sommer mit Fritz Stern, dem amerikanischen Historiker deutscher Herkunft und Friedenspreisträger, im Wissenschaftskolleg zu Berlin getroffen, um über die Erfahrungen der Vergangenheit und die Herausforderungen der Gegenwart zu reden.
Ob es dabei um die Finanzkrise und die Europäische Union am Scheideweg geht, um den Ersten Weltkrieg und den misslungenen Frieden von Versailles, um ein heikles Thema wie Israel, die Rolle der Deutschen im Nahost-Konflikt (und das Grass-Gedicht), um die Zukunft der USA und den Aufstieg Chinas – stets geht es scharfsinnig, lebhaft und konkret zu in diesem Dialog zwischen zwei Männern, die jeder auf seine Weise mehr als einmal im Leben gegen den Strom geschwommen sind.
Joschka Fischer, geb. 1948, war von 1998 bis 2005 deutscher Außenminister und Vizekanzler. Er gehört zu den Gründern der Partei Die Grünen und zu den wichtigsten deutschen Politikern seiner Generation.
Fritz Stern, geb. 1926, ist em. Professor für Geschichte an der Columbia University und u.a. Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels. Er gehört zu den bedeutendsten Historikern unserer Zeit. Im Verlag C.H.Beck sind von ihm u.a. erschienen Fünf Deutschland und ein Leben (92009) und (zusammen mit Helmut Schmidt) Unser Jahrhundert (62011).
I Heimat
II Zwei Weltkriege
III Europa braucht Führung
IV Von 68 zu Rot-Grün
V The Beat Generation
VI Israel
VII Die Zukunft des Westens
VIII Zwei letzte Fragen
Postskriptum
Nachwort
Die Gespräche wurden Ende Mai 2012 in Grunewald im Wissenschaftskolleg zu Berlin geführt.
FISCHER Interessante Türen hier.
STERN Gründerzeit.
FISCHER Ja, diese dunklen holzgetäfelten Räume entsprechen wohl dem Geschmack von damals. Das war die Zeit, wo Damen und Herren nach dem Essen noch getrennt saßen und die Herren bei schweren Burgundern und noch schwereren Zigarren ihre trüben Geschäfte regelten. So genannte Herrenzimmer, gibt es heute wohl kaum noch.
STERN Die trüben Geschäfte gibt’s noch.
FISCHER Die ja, aber die Herrenzimmer nicht mehr. Noch in meiner Kindheit erkannte man einen bürgerlichen Haushalt daran, dass es ein Herrenzimmer gab, in das zog sich Vater zum Rauchen zurück.
STERN Das gab es bei Ihnen zu Hause?
FISCHER Nein, wir waren arm, bei uns gab’s so was nicht. Ich bin auf der Bettcouch im Wohnzimmer aufgewachsen; meine zwei Schwestern teilten sich das dritte Zimmer in einer Dreizimmerwohnung ohne Bad.
STERN Aber Ihr Vater war doch Metzger, wenn ich das richtig weiß.
FISCHER Was heißt aber? Er hat Tiere getötet und auseinander genommen. Und sehr gute Wurst gemacht.
STERN Der Beruf des Metzgers spricht für einen gewissen bürgerlichen Wohlstand.
FISCHER Ging alles im Krieg dahin. Bei Kriegsende musste mein Vater für die russische Armee schlachten, die brauchten ja was zu essen. Also wurde erst mal das Vieh im Raum Budapest requiriert, und dann hieß es: «Wer kann schlachten?» Natürlich wurden die Schlachtungen überwacht, aber es fiel immer etwas ab, so die Erzählung. Metzger hungern nicht, so viel kann ich Ihnen zuverlässig mitteilen. Wir hatten auch später Fleisch satt, die ganze Woche über, während es bei anderen lediglich am Sonntag zwei Schnitzel gab.
STERN Eins für den Vater und das andere für die Familie.
FISCHER Richtig, das war die Regel, aber bei uns gab’s für jeden so viele Schnitzel, wie er wollte. Wir haben nie gehungert. Allerdings habe ich immer die Bäckerkinder beneidet, wegen der Süßigkeiten. Also: Essen gab’s immer, Geld nie.
STERN Wann ist Ihr Vater aus Ungarn weggegangen?
FISCHER Die Familie ist 1946, nach ca. zweihundert Jahren, ausgewiesen worden. Meine Mutter erzählte mir einmal, dass man die Mitläufer und Täter der Nazis von den Unbelasteten unter den Ungarndeutschen am Datum unterscheiden könne. Diejenigen, die sich schuldig gemacht hätten, wären mit der Wehrmacht Ende 1944 geflohen. Aber wie gesagt, alles Erzählung. Anläßlich des 50. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs hat «Die Zeit» damals eine längere Artikelserie über diese letzten Monate gebracht, unter anderem einen langen Artikel über die Schlacht um Budapest, da konnte ich die Erzählungen meiner Mutter mit der objektiven Geschichtsschreibung vergleichen, und ich muss sagen, die Oral History meiner Mutter war ziemlich präzise. Meine Mutter hat mir erzählt, dass einer der Todesmärsche Richtung Mauthausen im Winter 1944/45 durchs Dorf kam. Ganz furchtbare Dinge seien da geschehen, Frauen hätten versucht, den Häftlingen Essen zuzustecken, seien aber von der SS weggetrieben worden. Ich war acht oder neun Jahre alt, als meine Mutter mir das erzählte, und so was merkt sich ein Kinderkopf.
STERN Wann waren Sie das erste Mal da?
FISCHER 1987. Und ich muss Ihnen sagen, man sollte das nicht machen. Wenn man als Kind in einem virtuellen Land «gelebt» hat, in einem Land der Träume, sollte man später nicht hin fahren, das ist immer ein Absturz. Ich fand den Friedhof, wo all die Namen standen, die ich in Baden-Württemberg …
STERN … vermisst habe.
FISCHER Nicht vermisst. Ich habe lediglich festgestellt, dass es diese Namen in Baden-Württemberg nicht gab. Und dann tauchten dort auch ca. 160 Lebende auf – das war allerdings bei meinem zweiten Besuch, als ich bereits Minister war –, die alle behaupteten, mit mir verwandt zu sein. Vermutlich waren sie das auch, es handelte sich ja um große Bauernfamilien, die untereinander heirateten und viele Kinder in die Welt setzten, als eine Art Sozialversicherung und gleichzeitig als Arbeitskräfte. Ich bin mit meiner Tante, der Frau des ältesten Bruders meines Vaters, die Hauptstraße runter gelaufen, da steht das Haus der Großeltern. Onkel und Tante hatten das Haus geerbt, sind aber enteignet worden, und zwar gleich doppelt, als Deutsche und als Kulaken, dabei waren sie nur Bauern und Metzger gewesen.
STERN Von den Ungarn?
FISCHER Von den Kommunisten.
STERN Ja, das meinte ich, von ungarischen Kommunisten.
FISCHER Bei diesem Besuch in Budakezi wurde mir zum ersten Mal klar, was Enteignung für die betroffenen Menschen bedeutet hatte! Die Wunde war auch Jahrzehnte danach nicht wirklich geschlossen. Und da dachte ich mir, meine Eltern haben 1946 wirklich die richtige Entscheidung getroffen und sind gegangen. Ich habe nie mit ihnen darüber geredet, warum sie gegangen sind. Sie hätten wohl auch bleiben können, aber ich glaube, die russische Besatzung hat wesentlich zu ihrem Entschluss beigetragen. An dem Ort zu leben, wo einem alles genommen wurde, das ist nicht schön.
STERN So ist es.
FISCHER Wann waren Sie das erste Mal nach der Emigration wieder in Wrocław?
STERN 1979. Ich habe einen Vortrag in Posen gehalten und mir dort einen Wagen gemietet, um nach Breslau zu fahren. Dabei habe ich festgestellt, dass die Ausflüge meiner Eltern immer Richtung Südwesten gingen, ins Riesengebirge, auch auf die tschechische Seite, aber nie nach Norden, nach Polen, und deshalb war die Fahrt nach Breslau für mich sozusagen eine Neueinfahrt in die Stadt.
FISCHER Auf die polnische Seite ist man damals nicht gefahren?
STERN Nein, meine Eltern jedenfalls nicht. Sie fuhren lieber in die Sudeten.
FISCHER Es soll ja auch sehr schön dort sein.
STERN Ist es auch. Das Erste, was ich bei meiner Einfahrt in Breslau erkannt habe, war das Polizeigebäude, wo ich mit elf oder zwölf Jahren früh am Morgen meinen Vater abgegeben habe, weil er die Papiere zur Auswanderung vorbereiten musste. Allein dieses Riesenpolizeigebäude zu sehen, von dem ich schon die Grausamkeiten gehört hatte, und da reinzugehen war für ein Kind schon ein gewaltiger Schrecken – und ausgerechnet dieses Gebäude war das Erste, an dem ich vorbei kam. Allmählich habe ich dann auch anderes wiedererkannt, mein Gymnasium, die Villa meiner Großmutter. Da kam eine junge Dame raus, und ich wollte ihr klar machen, dass in diesem Haus früher meine Großmutter gelebt hatte, ob ich es mir ganz kurz einmal ansehen könnte; es gab Sprachschwierigkeiten zwischen ihr und mir, und sie war nicht besonders freundlich. Dann kam ihr Mann runter, der Französisch sprach und gleich sagte: «Kommen Sie doch rein!» An den Wänden im Wohnzimmer hingen nur Bilder und Zeichnungen aus Auschwitz. Als ich nach dem Grund fragte, öffnete der Mann sein Hemd, auf der Brust die eintätowierte Haftnummer: «Ja, ich war in Auschwitz.» Er war dort als polnischer Offizier gefangen gewesen. Da kam es über mich, und da sagte ich: «Ich bin froh, dass Sie hier sind, das freut mich.» Meine Frau hat dann ein Foto gemacht, wie wir uns die Hand schütteln. Ich fand es irgendwie gerecht, dass jemand, der in Auschwitz gewesen war – ein Schicksal, dem ich entkommen bin –, jetzt im Haus meiner Großmutter lebte.
FISCHER Wenn die Deutschen über Vertreibung reden, muss man immer wieder daran erinnern: Der Überfall auf die Tschechoslowakei und Polen ist der Beginn gewesen, das darf man nicht vergessen.
STERN Nein! Aber wir sollten auch nicht vergessen, dass es angefangen hat mit Deutschen, die andere Deutsche vertrieben haben, und zwar nicht nur die berühmten wie Thomas Mann, Bertolt Brecht und Marlene Dietrich oder politische Gegner wie Ernst Reuter und Willy Brandt, sondern auch die vielen Juden und sogenannte Nicht-Arier, die sich immer als Deutsche gefühlt haben, und wir reden hier über Hunderttausende. Diese Vertreibung war die erste, das wurde gern vergessen, wenn das Wort Vertreibung fiel.
FISCHER Richtig. Das ist der Beginn. Diese Tragödie ist der Beginn!
STERN Glauben Sie, dass die Tatsache, dass Sie aus einer Vertriebenenfamilie kommen, Ihre politische Biographie in nennenswerter Weise geprägt hat? Hat diese Herkunft eine Rolle in Ihrer politischen Entwicklung gespielt?
FISCHER Nein. Natürlich wird ein Kind durch den Familiendiskurs geprägt, vor allem emotional. Aber das Milieu der Heimatvertriebenen war bei uns zu Hause nicht das bestimmende, das spielte eher eine untergeordnete Rolle. Meine Eltern gingen zum Donauschwabentag, weil sie da Freunde und Bekannte trafen, mehr nicht. Entscheidend war das Katholische. Im Moment meiner Geburt, als man mich meiner erzkatholischen Mutter in den Arm legte, war ich schon im Würgegriff der Mater Ecclesia. Ich bin in einem streng katholischen Elternhaus großgeworden, meine Eltern waren klassische CDU-Stammwähler. Ein CDU-Landtagsabgeordneter kam aus demselben Dorf wie meine Eltern, er hatte ihnen den Lastenausgleich gemacht, und dafür waren sie ihm ewig dankbar. Wenn Landtagswahlen in Baden-Württemberg waren, sind meine Eltern mit dem Bus gefahren, dann mit der Straßenbahn, dann nochmal umgestiegen, nur um nach einer Stunde in dem Wahlkreis dieses Abgeordneten irgendwo im Großraum Stuttgart ihr Kreuzchen hinter seinem Namen machen zu können. Sie hatten zuvor ein längeres bürokratisches Antragsverfahren durchlaufen müssen, dass sie ihre Stimme nicht an ihrem Wohnort, sondern in diesem bestimmten Wahlkreis abgeben durften. Daran hielten sie fest aus Dankbarkeit. Das waren Parteiloyalitäten, von denen man heute in den Volksparteien nur träumen kann. Als Kind wurde ich halt mitgeschleift, weil Sonntag war, und dann war ich an der Hand mit dabei. Daher dann auch später die Rebellion gegen dieses Milieu, das konservativ-katholisch-kleinbürgerlich-dörfliche. Diese Enge hat mich später rasend gemacht, und in früheren Zeiten wäre ich der typische Kandidat gewesen, der nach Amerika ausgebüxt wäre. Es war wunderschön – bis zu dem Augenblick, wo ich anfing, eigene Gedanken zu haben.
STERN Eigene Gedanken – wann war das ungefähr?
FISCHER Na ja, so mit 15 oder 16.
STERN Das scheint mir recht spät.
FISCHER Es ging ja damals alles sehr viel später los als heute.
STERN Oder gestern, wenn ich an meine Kindheit denke. – Gab es einen besonderen Anlass für die eigenen Gedanken? Ein Ereignis? Ein Buch?
FISCHER Ich war eine Leseratte und habe die ganze Dorfbibliothek leer gelesen. Später als Abgeordneter oder Minister habe ich deshalb immer Wert darauf gelegt, dass öffentliche Bibliotheken weiter gefördert wurden, weil ich wusste, was ich ihnen verdanke. Meine Eltern konnten sich Bücher nicht leisten, zudem war Lesen in unserem Milieu nicht gerade angesagt. Also ich habe von den öffentlichen Bibliotheken gelebt.
STERN Und die hatten genug subversive Literatur?
FISCHER Überhaupt nichts Subversives, da war gar nix. Die Subversion, Fritz, die kam ganz woanders her.
STERN Nämlich?
FISCHER Die prägende Subversion meines Lebens war Bob Dylan, das war die prägende Subversion.
STERN Interessant.
FISCHER Die Musik bringt ja ein Gefühl rüber, selbst wenn du die Texte kaum verstehst – ich konnte ein bisschen Schulenglisch, mehr nicht. Aber der Text war nicht das Entscheidende, sondern die tiefe Sehnsucht, der weite Horizont, den diese Lieder vermitteln. Da fragst du dich, warum es dir hier so schlecht geht, wo es doch auch ganz anders gehen könnte. Die Freiheit aufzubrechen – das war für mich, wenn Sie so wollen, der entscheidende Kick.
STERN Auf Bob Dylan musste man erst einmal kommen, das war doch in der schwäbischen Provinz nicht eben die Hausmusik.
FISCHER Doch, doch, vielleicht mit ein oder zwei Jahren Zeitverzögerung. Es gab ja bei uns früher diese Plattenläden, wo die Platten an der Theke aufgelegt wurden. Da stand ich dann und habe mir die erste Platte auflegen lassen, «The Freewheelin’ Bob Dylan», wo «Blowin in the wind» drauf ist, und das hat mich weggerissen. Das war’s eigentlich.
STERN Und was war der nächste Schritt?
FISCHER Der nächste Schritt war, dass ich die Schule verlassen habe. Ich begann schon vorher beim Lernen zu lahmen. Ich habe dann eine Fotografenlehre begonnen. Inzwischen hatte ich allerdings ein Problem mit der Autorität, und je älter und selbständiger ich wurde, desto weniger konnte ich Autorität ertragen. Ich konnte sie nicht ertragen. So endete die Lehre nach einem Jahr.
STERN Auch nicht familiäre Autorität?
FISCHER Auch nicht mehr. Das ging alles nicht mehr. Und eines Morgens: Um acht Uhr begann die Arbeit – um fünf nach acht war sie beendet, und zwar dauerhaft. Der Chef raunzte mich an, und da habe ich ihm gesagt, Entschuldigung, er könne mich mal, habe die Türe hinter mir zugeknallt und bin gegangen.
STERN Gewissermaßen das Ende einer katholischen Kindheit.
FISCHER Jedenfalls bin ich dem Katholizismus damals glücklich entronnen. Formal bin ich allerdings immer noch Mitglied, wenn auch ein ungläubiges. Ich brauche keine Rückversicherung nach dem Motto, vielleicht könnte am Ende doch was dran sein. Aber die kulturelle Prägung ist einfach unauslöschlich. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche meinen Eltern in der Zeit des Nationalsozialismus eine wichtige Orientierung gab. Herr Hitler hat bei uns keine Rolle gespielt, weil der Papst nicht gesagt hat, dass der Führer ein heiliger Mann ist. Wenn er das gesagt hätte, wäre meine Mutter dem Führer natürlich mit wehenden Fahnen gefolgt. Aber so lange das nicht der Fall war, galt immer das Wort aus Rom.
STERN Immerhin war dem Papst 1933 das Konkordat mit Hitler willkommen. Das war schon eine Art moralischer Anerkennung.
FISCHER Das waren Feinheiten, die in der donauschwäbischen Provinz wohl kaum zur Kenntnis genommen wurden. Zudem war das eine Unterschrift unter einem Vertrag zwischen dem Vatikan und dem Deutschen Reich, und meine Familie lebte, wie gesagt, seit zweihundert Jahren in Ungarn.
STERN Sind Sie mit Ungarisch aufgewachsen?
FISCHER Ich spreche es nicht, aber ich bin damit aufgewachsen, weil beide Eltern bilingual waren. Das ging ständig hin und her. Ich kann mich deshalb ziemlich gut in die Lage hineinversetzen, in der sich junge Zuwanderer der ersten oder zweiten Generation befinden. Du lebst da zwischen zwei Welten: Die Küche zu Hause ist eine andere Welt als die Welt außerhalb, der Dialekt oder die Sprache ist drinnen eine andere als draußen. Du lebst in einem wirklichen Land, in das du hineingeboren wurdest, und in einem narrativen Land, von dem immer erzählt wird, in einer merkwürdigen Sprache. Also, ich kann mich dadurch ziemlich gut in junge Zuwanderer hineinversetzen. Ich habe ja schon von den Gräbern erzählt: Heimat ist für mich der Ort, wo du Gräber besuchen kannst. Wo ich groß geworden bin, gab es kein Grab meiner Familie. All die Gräber waren in Ungarn. Und so habe ich bis heute kein wirkliches Heimatgefühl in mir. Frankfurt am Main vielleicht ist die Ausnahme, meine erworbene Heimat.
STERN Vor mehr als zwanzig Jahren wurde ich bei einer Diskussion im Goethe-Institut in New York einmal gefragt, was mir bei dem Wort Heimat einfällt. Da sagte ich wie aus der Pistole – es hatte mich noch nie jemand danach gefragt, und die Frage war auch wirklich nicht akut –, bei Heimat fällt mir heimatlos ein. Und wenn Sie sagen, Sie könnten sich gut in die Situation von Zuwanderern einfühlen, dann sage ich: Ich auch, ich habe das ja auch erlebt, dieses Gefühl, nirgendwo wirklich zuhause zu sein. «Ein weites Feld».
FISCHER Sogar in Extremen.
STERN Ja.
FISCHER Spielt der Begriff Heimat bei den Amerikanern überhaupt eine Rolle?
STERN Nein. Home und Heimat sind zwei verschiedene Begriffe. Wissen Sie, Heimat ist ein sehr viel emotionalerer, zum Teil auch sentimentalerer Begriff als Home – aber vielleicht hat sich dieser Unterschied auch erst später entwickelt.
FISCHER Fernweh spielt, glaube ich, eine große Rolle in Amerika – und wo man herkommt.
STERN Ganz richtig, die Gegend. Ob man hier geboren ist oder dort, das ist wichtig.
FISCHER Was versteht man in Amerika unter Gegend? Eine Landschaft?
STERN In erster Linie wohl, jedoch mehr im Sinne einer geographischen und mit gewissen Vorstellungen verknüpften Einordnung wie Süden oder Norden, Kalifornien oder Mittlerer Westen. Aber es hängt natürlich auch mit dem Dialekt zusammen, und der spielt eine entscheidende Rolle, wenn es um Aufstiegsmöglichkeiten geht, früher allerdings sehr viel mehr als heute. Den Boston-Akzent konnte man ganz klar vom Südstaaten-Akzent unterscheiden, wie zum Beispiel den Unterschied zwischen Kennedy und Johnson.
FISCHER Die Südstaatler reden ja nicht, die singen ihre Sprache. Bei uns sind Dialekte wichtig, spielen für die Sozialhierarchie aber keine Rolle. Ob einer kölsch spricht oder bayerisch, ist ziemlich egal. Wenn einer schwäbisch spricht und entsprechend gute Leistungen bringt, kommt er genauso weit, wie wenn er Hochdeutsch spräche. Das ist in Frankreich ganz anders. Da giltst du als Tölpel, wenn du Dialekt sprichst. Es gibt ja viele französische Dialekte, aber egal welchen du sprichst, du bist ein Bauer. Ein dialektfreies, hervorragendes Französisch ist Ausweis der Meritokratie. Auch in Großbritannien erkennt man an der Sprache sofort den Klassenstatus. Bei uns ist die Sprache kein Kriterium für die gesellschaftliche Stellung einer Person. Im Bundestag hören Sie Reden in allen möglichen Dialektfärbungen, und dass die meisten Reden schlecht sind, liegt nicht am Dialekt.
STERN Aber gibt es nicht überall den Ehrgeiz, hochdeutsch zu sprechen? Ist nicht in allen Schichten das Bewusstsein vorhanden, dass man mit Hochdeutsch besser vorankommt und es gesellschaftlich weiter bringt?
FISCHER Das würde ich so nicht sagen. Für mich ist der freizügige Gebrauch der Sprache Ausdruck eines egalitären und föderalen Verständnisses. In Deutschland gab es keinen Anspruch des Zentralstaates auf sprachliche Homogenisierung. Dann wären weder Adenauer noch Schmidt noch Kohl Kanzler geworden. Helmut Schmidts Hamburgisch: Jeder, der Ohren hat zu hören, hört sofort, wo er herkommt. Seit die Einheit da ist, macht sogar das sächsische Idiom wieder Karriere. Mit dem hatte ich schon zu tun, als mein Interesse am anderen Geschlecht erwachte. Eines Tages erschien ein Mädchen in unserer Klasse, die einen ganz schweren sächsischen Dialekt sprach; sie gehörte zu den Flüchtlingskindern aus der DDR, von denen pro Halbjahr ein oder zwei in unsere Klasse kamen. Sie konnte sich nur mühsam verständlich machen und verstand ihrerseits kaum den schwäbischen Dialekt.
STERN Der Dialekt gehört für viele wohl ganz elementar zu der Vorstellung von Heimat. Aber Ihren Vorschlag, Heimat über die Namen auf den Grabsteinen zu definieren, finde ich eigentlich recht überzeugend. Es erinnert an die schöne Formulierung von Carl Zuckmayer, Heimat sei da, wo man begraben werden möchte.
FISCHER Sie müssen sich ein streng katholisches Dorf im Schwäbischen vorstellen, dessen Bevölkerung Anfang der fünfziger Jahre durch die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen plötzlich verdoppelt wird. Die Fremden ziehen in die Neubausiedlungen am Rande des Dorfes, und mit ihnen kommen die ersten Evangelischen ins Dorf. Ich bin gewissermaßen mit den Feindschaften des Dreißigjährigen Krieges groß geworden, weil das Dorf eine Enklave bildete, die bis Napoleons Zeiten zum Bistum Augsburg gehörte in einem rein pietistisch-protestantisch-württembergischen Umfeld. Alle Nachbardörfer bis auf eines waren streng protestantisch. Als Anfang der sechziger Jahre in einem Nachbardorf die erste katholische Kirche gebaut wurde, erregte das genau so großes Aufsehen wie der Bau der ersten protestantischen Kirche bei uns. Heute gehören beide Gemeinden zu Fellbach am Ortsrand von Stuttgart, und es ist eine völlig andere Lage. Damals gab es die Einheimischen, und es gab die Zugezogenen, die Reing’schmeckten. Als Kind spürst du den Unterschied sehr genau.
STERN Sie sind dort geboren?
FISCHER Nein, nein. Als wir nach Oeffingen kamen, war ich sechs, als ich weg bin, 16. Das waren entscheidende Jahre, aber geboren bin ich in einer wunderschönen Gegend, an der Jagst in Hohenlohe. Das war ein von der Industrialisierung verschonter Winkel; erst als in den siebziger Jahren die Autobahn gebaut wurde, zog da die Moderne ein. Als ich 2006/07 in Princeton war, fragte mich einer der alten Alumni, die mich zum Mittagessen eingeladen hatten, in sehr gutem Deutsch, wo ich denn herkomme. Den Ort kennen Sie nicht, meinte ich. Oh, sagte er, sagen Sie mir von wo. Sage ich, Langenburg. Ja, natürlich kenne ich das, ich war beim Militär in Crailsheim stationiert. In Schwäbisch Hall und Crailsheim war eine große amerikanische Garnison, und die fuhren da oft vorbei.
STERN Aus Schwäbisch Hall stammt die Familie Bonhoeffer. Ich beschäftige mich zur Zeit mit Karl Bonhoeffer, dem berühmten Psychiater, und seiner großen Familie.
FISCHER Eine wunderschöne Gegend. Auch heute noch. Eine Hochebene mit zwei Einschnitten, Kocher- und Jagsttal.
STERN Wunderbar.
FISCHER Und sehr romantisch. Eine gute Mischung aus schwäbischen und fränkischen Elementen. An der Jagst ist es fränkisch, das heißt konservativ und doch sehr offen. Am Kocher schlägt die schwäbische Mentalität stärker durch.
STERN Sie scheinen diese Gegend wirklich sehr zu lieben. Das führt mich noch mal zurück zu der Frage nach der Heimat. Viele Heimatvertriebene haben sich ja offenbar als Menschen zweiter Klasse gefühlt. Sie selber haben eben erwähnt, dass Sie die «feinen Unterschiede», wie Pierre Bourdieu sie nennt, als Kind sehr genau gespürt haben. Trotzdem identifizieren Sie sich heute mit der Gegend, in der Sie Ihre ersten Jahre verbracht haben. Fällt Ihnen das leichter, weil Sie bereits hier geboren wurden, oder haben Sie die neue Heimat irgendwann einfach akzeptiert?
FISCHER Ich bin jedenfalls kein Heimatmensch, aber ich muss zugeben, dass, je älter ich werde, ich mich wieder stärker nach Hohenlohe zurücksehne. Die Landschaft bringt etwas zum Klingen in mir. Politisch finde ich es nach wie vor eine der ganz großen Leistungen der alten Bundesrepublik, 12 bis 14 Millionen Menschen aus dem Osten integriert zu haben. Man muss das allerdings vor dem Hintergrund der gewaltigen Verbrechen sehen, die Deutschland begangen hat, nur so wird verstehbar, dass dieser Prozess von den Deutschen akzeptiert wurde. Heute ist das überhaupt kein Thema mehr, wenn wir mal von den Vertriebenenverbänden absehen, deren Mitglieder aber genauso wenig vertrieben wurden wie ich – jedenfalls die, die unter 70 sind.
STERN Eine Riesenleistung, zweifellos, aber auch nützlich für den wirtschaftlichen Wiederaufstieg.
FISCHER Das waren zum Teil hoch qualifizierte Leute, die nur eines wollten: den Kopf wieder über die Wasserlinie kriegen. Wenn ich heute in China unterwegs bin, sehe ich immer die Bundesrepublik der fünfziger Jahre vor mir – und nicht zuletzt die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge. Umso schlimmer ist es, dass sie identifiziert werden mit Erika Steinbach, deren Vater aus Hanau stammt und im Krieg als Feldwebel der Besatzungsarmee nach Westpreußen, also in das okkupierte und gequälte Polen kam. Keine Heimatvertriebene, aber Präsidentin dieses Vereins.
STERN Heimat, das sind allzu oft auch verklärte Erinnerungen. Und das verführt dann leicht zu der Frage, wer hat mir meine Heimat «gestohlen»? Was haben damals die Heimatvertriebenen falsch gemacht, dass sie politisch dieses schlechte Image bekamen?
FISCHER Die übergroße Mehrheit hat gar nichts falsch gemacht, wenn man die Menschen und nicht die Organisation nimmt. Sie hatten teilweise Furchtbares erlebt und versuchten, neue Wurzeln zu schlagen. Der BdV war aber ganz offensichtlich durchsetzt mit ehemaligen Nazis. Ich saß neulich mit meinem Sohn zusammen, 33 Jahre alt, und wir haben darüber geredet. Er hat mittlerweile selbst zwei Töchter. «Wenn sie mich zurückschicken würden», sagte ich zu ihm, «wäre das grotesk. Wenn sie dich zurückschicken würden, wäre es furchtbar, und wenn sie deine Töchter zurückschicken würden, wäre es ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.» Das alles ist doch völlig absurd. Inzwischen ist es ja so, dass sich nicht einmal mehr die übergroße Mehrheit der Heimatvertriebenen selbst oder ihre Nachkommen für den ganzen Zinnober der Verbände interessieren.
STERN Aber sie waren natürlich ein politischer Faktor in der frühen Bundesrepublik, und was für einer!
FISCHER Und was für einer! Sind sie heute nicht mehr.
STERN Nein. Was der ganzen Debatte mit den Heimatvertriebenen einen so unangenehmen Beigeschmack gab, war deren fortwährende Betonung ihrer Opferrolle. Als sie Anfang der siebziger Jahre einsehen mussten, dass sie mit ihren Forderungen nach Grenzkorrekturen in Europa keine Verbündeten mehr finden würden, zogen sie sich in den Schmollwinkel zurück. Man hätte nicht verschweigen sollen, wie viel Unrecht den Einzelnen widerfahren ist und wie entsetzlich die Umstände der Vertreibung häufig gewesen sind. Das hartnäckige Verweigern der Anerkennung der bestehenden Grenzen war insgesamt aber ein Störfaktor für den Versöhnungsprozess. Wenn die Vertriebenen sich angemessen klar gemacht hätten, dass der Verlust ihrer Gebiete das Resultat eines verbrecherischen deutschen Überfalls war, dann hätten sie sich vielleicht etwas mehr zurückgehalten und das rein Menschliche mehr betont.
FISCHER Ich kann diese ganze Opfer- und Unrechtsdebatte, die ja im Zuge der Wiedervereinigung noch einmal ganz vehement aufgebrochen ist, wirklich nicht nachvollziehen. Als Kind in den fünfziger Jahren war ich nämlich nur mit deutschen «Opfern» konfrontiert worden.
STERN Das verstehe ich nicht.
FISCHER Deutsche Täter gab es für mich erst viel später. Auf dem Gymnasium wurde uns der Film «Hitler – Mein Kampf» von Erwin Leiser gezeigt. Dann Eichmann, dann der Auschwitzprozess – da erst wurde ich mit den deutschen Verbrechen konfrontiert, in der ersten Hälfte der sechziger Jahre. Nach dem Film von Leiser war ich tief schockiert und verstört. Während meiner Kindheit war es doch dauernd nur um die Frage gegangen, wer lebt noch, wer ist gestorben, wo sind die Freunde, die von früher erzählen. Wisst ihr noch, damals? Dann wurden die Vertreibungsverbrechen rauf und runter erzählt, und alle waren «Opfer». Ich brauchte deshalb 2002 auch kein Buch über den «Brand», um mich über die Bombardierungen deutscher Städte aufklären zu lassen, das kannte ich alles schon. Und wenn man sich mal in den einzelnen Bundesländern umschaut, wie viele offizielle «Erinnerungsorte» für die Vertriebenen es dort gibt, allesamt finanziert aus Steuergeldern, dann kann man nicht behaupten, dass da irgend etwas ausgeklammert oder verschwiegen oder nicht anerkannt worden wäre, das ist alles dummes Zeug. Eine mehrbändige, von der Bundesregierung finanzierte wissenschaftliche Dokumentation über die Vertreibung einschließlich der dabei begangenen Verbrechen liegt seit Jahrzehnten vor. Nein, hier herrscht wahrlich kein Mangel. Man muss doch einmal die Gegenfrage stellen: Was wäre denn passiert, wenn die Deutschen geblieben wären, zum Beispiel in Polen? Hat schon mal einer diese Frage gestellt?
STERN Von welchem Standpunkt?
FISCHER Vom Standpunkt der Rache aus. Wie wäre denn die Rache ausgefallen? Jedes Mal, wenn ich in Polen bin, werde ich damit konfrontiert, was die Deutschen dort angerichtet haben. Da wurden ganze Universitätskollegien liquidiert, nur weil die Professoren Polen waren und zur Elite gehörten. Und nicht irgendwann, sondern ziemlich bald nach dem Einmarsch, die Listen waren vorbereitet. Solche Geschichten werden hier bei uns weitgehend verdrängt. Bevor einer über die Zerstörung deutscher Städte klagt, sollte er mal nach Warschau fahren. Und bevor wir über die Rückgabe deutscher Kulturgüter verhandeln, sollten wir mal die Polen fragen, was dort willentlich und wissentlich an unschätzbaren Werten polnischer Nationalkultur für immer zerstört wurde. Das wäre doch eine biblische Rache geworden! Diejenigen, die Blut an den Händen hatten unter den sogenannten «Volksdeutschen», sind die Ersten gewesen, die sich mit der Wehrmacht nach Westen absetzten, weil sie wussten, dass sie keine Gnade zu erwarten hatten. Die Rache hat leider meistens diejenigen getroffen, die meinten, ihnen passiere schon nichts, weil sie sich nichts vorzuwerfen hatten.
STERN Sie haben die Integration der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge mit Recht eine große Leistung der Bundesrepublik genannt. Das wichtigste Instrument dabei war der Lastenausgleich, der für eine angemessene materielle Entschädigung sorgte. Deswegen konnte ich die Ostdeutschen gut verstehen, die sich bei der Wiedervereinigung auf dieses Modell beriefen und ebenfalls einen Ausgleich forderten.
FISCHER Ein völlig legitimer Anspruch der Bewohner der ehemaligen DDR, die den Krieg ja nicht mehr verloren hatten als die Westdeutschen.
STERN Aber mehr bezahlt haben.
FISCHER Viel mehr bezahlt. Dass sie erst Jahrzehnte nach den Westdeutschen in den Genuss der Freiheit kamen, hat die Rechnung für sie nur noch bitterer gemacht.
STERN Man darf die Parallele zwischen der Integration der Heimatvertriebenen, die in den fünfziger und sechziger Jahren in die westdeutsche Gesellschaft hineinwuchsen, und dem späteren Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes natürlich nicht überstrapazieren. Beide Male spielte das Geld eine herausragende Rolle. Aber die Vertriebenen wurden schließlich wirklich aus ihrer Heimat rausgeworfen. Die Bürger der DDR, die mir immer sehr leid getan haben, weil sie den Krieg doppelt bezahlen mussten, konnten wenigstens bleiben, wo sie in den letzten vierzig Jahren gelebt hatten.
FISCHER Das sehe ich genau so. Den Verlust von Heimat und all die furchtbaren Dinge, die bei der Vertreibung passiert sind, kann man mit noch so viel Geld nicht ausgleichen. – Was mich interessiert, Fritz: Hat denn eigentlich das Thema Vertreibung nach dem Krieg bei Ihnen in Amerika eine Rolle gespielt? Ist in Emigranten-Kreisen überhaupt darüber gesprochen worden?
STERN Im Großen und Ganzen wohl nicht. Aber es gab bedeutende Ausnahmen, wie zum Beispiel den Streit zwischen zwei deutschen Nobelpreisträgern, die ihr Land verlassen mussten, Albert Einstein und James Franck. Während Franck sich für die Unterstützung hungernder Deutscher einsetzte, lehnte Einstein jegliche Hilfe für das «Land der Massenmörder» entschieden ab. Übrigens erinnert mich das daran, dass meine Eltern ihren Freunden nach dem Krieg sofort Care-Pakete geschickt haben und ich selbst als junger Mann Hilfspakete an vertriebene sudetendeutsche Freunde, die nach Deutschland geflohen waren, zur Post gebracht habe. 1990, als Václav Havel sich bei den Deutschen für die Vertreibungen entschuldigt hat, schrieb ich in der «New York Times» einen Kommentar, in dem ich Havels Rede eine Geste der Großmut und eine historische Leistung nannte. Ich bekam auf diesen Artikel viele hasserfüllte Briefe, die meisten von Slowaken, die mich darüber aufklärten, dass die eigentlichen Schweine die Tschechen seien. Nun gut. Dann bekam ich aber einen Brief von einem Rabbiner, der sich wahnsinnig beschwerte. Ich hatte in meinem Artikel eine Freundin meiner Eltern erwähnt, eine Sozialdemokratin aus dem sogenannten Sudetenland, deren Familie seit Jahrhunderten dort gelebt hatte und die bei der Vertreibung umgekommen war. Wie können Sie sich hinstellen und diese Frau erwähnen, wo sechs Millionen gestorben sind, empörte sich der Rabbiner. Natürlich konnte ich es. Aber die Reaktion zeigte mir, wie schwierig das Gespräch noch werden würde.
FISCHER Meine Frage zielte eigentlich in eine andere Richtung.
STERN Das habe ich schon verstanden, und ich will Ihnen auch gern eine Antwort geben. Für den Großteil der europäischen Bevölkerung waren die Jahre des Krieges und die ersten Nachkriegsjahre eine Zeit der Deportationen, der Bombardierungen und der entsetzlichen Verluste, der Vertreibungen und des Mangels. Die Deutschen waren davon erst in den letzten Kriegsjahren betroffen, erst 1943/44, mit den Bombardements, hat sich die Ausgangssituation geändert, da war es nicht mehr so angenehm in Deutschland. Das Schicksal der Bonhoeffer-Familie, mit dem ich mich zur Zeit intensiv beschäftige, hat mir das noch einmal sehr nahegebracht. Während für die Deutschen die Zeit des Mangels und der Flucht also eher kurz war, war sie für weite Teile Europas unendlich lang. Man soll die ansteckende Verrohung unter allen europäischen Nationen nicht unterschätzen. Und deshalb hat man sich nach dem Krieg außerhalb Deutschlands für das Schicksal der aus den Ostgebieten vertriebenen Deutschen eigentlich nicht sonderlich interessiert. – Den meisten Deutschen ging es während des Krieges recht gut, und nach einer relativ kurzen Zeit ging es ihnen relativ schnell wieder gut, jedenfalls in den westlichen Besatzungszonen. Man hat mir erzählt, dass man eine Woche nach den schweren Luftangriffen auf Berlin im November 1943 bei Horcher wieder Austern essen konnte.
FISCHER Wenn man zu den richtigen Kreisen gehörte, Fritz! Und im Ghetto von Lodz gab’s keine Austern.
STERN Das Böse war überall.
FISCHER Ja, aber im Ghetto von Lodz herrschte es mit sadistischer Perfidie.
STERN Auch die war leider weit verbreitet. – Die große Frage, die wir überhaupt noch nicht angesprochen haben, lautet, wer wusste von diesen Sachen. Die Legende von der sauberen Wehrmacht ist ja gründlich widerlegt. Aber es gab Einzelne, Soldaten und Offiziere, die genau beobachteten, sich ihre Gedanken machten und spätestens auf Heimaturlaub auch davon erzählten.
FISCHER Ich bin kein Historiker. Aber in einem Buch über die Weiße Rose las ich Ausschnitte aus Briefen, die Hans Scholl und sein Freund 1942 als Wehrmachtsoldaten im Osten geschrieben hatten, und da wird sehr klar, was Wehrmachtsoldaten gesehen haben.
STERN Vieles in solchen Briefen war verschlüsselt, manches nur angedeutet, aber wenn man ein Gespür hatte, dann wusste man, was los war. Man musste ja nur den Gerüchten nachgehen und 1 und 1 zusammenzählen.
FISCHER Da komme ich jetzt wieder zu meiner katholischen Vergangenheit. Erzkonservativer Katholizismus, aber nicht regimetreu. In dieser Welt hat die Ermordung der geistig Behinderten eine Riesenrolle gespielt. Und von da ab konnte man eigentlich wissen, wozu dieses Regime bereit und in der Lage war.
STERN War das ein Thema in Ihrem familiären Kontext?
FISCHER Nein. Ich rede jetzt von dem Dorf bei Stuttgart, in dem ich aufgewachsen bin. Da wusste auch jeder, was in Dachau geschah. Es durfte zwar offiziell nicht darüber geredet werden …
STERN Es stand sogar in der Zeitung! Im März 1933, bei der Gründung von Dachau, wurde genau erklärt, wozu ein Konzentrationslager dient. Und jeder Leser verstand: Da kommst du hin, wenn du nicht parierst.
FISCHER Über die Frage der Euthanasie kam es sogar zu einer öffentlichen Auseinandersetzung. Das darf man nicht vergessen. Und auch die sogenannte «Reichskristallnacht» fand in aller Öffentlichkeit statt.
STERN Das war ja der Sinn der Sache: in aller Öffentlichkeit. Aber da haben die Kirchen geschwiegen.
FISCHER Nichts liegt mir ferner, als die damalige Amtskirche zu verteidigen. Mir geht es hier nur um die Frage des Kenntnisstandes. In diesem Zusammenhang habe ich eine Frage an Sie, Fritz. Die Zeitzeugen sterben allmählich aus. Es interessiert mich, weil Ihre Generation jetzt in ein Alter kommt, wo man nicht weiß, wie lange …
STERN Wie lange wir noch da sind.
FISCHER So ist es. Und deshalb interessiert mich, wie Sie als junger Emigrant die Nachkriegszeit, sagen wir, die fünfziger Jahre erlebt haben, mit welchen Empfindungen Sie nach Deutschland gekommen sind? Es wimmelte doch damals noch überall von Mitläufern oder gar Tätern. Wie war das für Sie?
STERN Wissen Sie, Joschka, irgendwann hat man aufgehört, sich als Emigrant zu fühlen, und begann, sich als Immigrant zu empfinden. Es ist ein großer Irrtum gerade auch der Jüngeren, zu glauben, dass wir alle als Emigranten zusammengehockt hätten. Aber die Frage ist, was ich empfunden habe, als ich zum ersten Mal zurück nach Deutschland gekommen bin?
FISCHER Ja. Ihre Erinnerungen tragen ja den schönen Titel «Fünf Deutschland und ein Leben». Wenn ich richtig gezählt habe, war die alte Bundesrepublik für Sie das vierte Deutschland – nach Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus das vierte. Ich will Ihrer Antwort vorweg schicken, dass sich die fünfziger und frühen sechziger Jahre für mich ganz klar in einem Wort zusammenfassen lassen: Für mich ist diese Zeit «a Twilight Zone», eine Periode des Zwielichts.
STERN