Meister von heute
Reden und Rezensionen
C.H.Beck
Er ist der Detektiv unter den Literaturkritikern, der genaueste Leser, begabt mit einem analytischen Scharfblick und der Fähigkeit, sprachlich schön und elegant das Besondere eines literarischen Werks auf den Punkt zu bringen und zugleich die Quellen erahnen zu lassen, aus denen es im Leben der Autoren entspringt. In seinen neuen Essays und Reden – einige davon werden hier zum ersten Mal gedruckt – widmet sich Michael Maar manchen uns schon vertrauten Lieben wie den Brüdern Mann oder Martin Mosebach, aber auch Walter Kappacher, Wolfgang Herrndorf oder Brigitte Kronauer. Maars erzählerisches Talent ist enorm, sein Gedächtnis frappierend, der physiognomische Blick auf die für das jeweilige Werk sprechenden Szenen unbeirrbar. Maars Essays zu lesen, ist eine ebenso große Lust wie die, sich von ihm zum Lesen der besprochenen Werke und Autoren verführen zu lassen, ob es sich nun um Julian Barnes oder Richard Yates handelt. Voller Leselust und bereichert geht man aus der Lektüre wieder hervor.
Michael Maar, geboren 1960 in Stuttgart, veröffentlichte u.a. Bücher über Thomas Mann, Vladimir Nabokov, Harry Potter und Marcel Proust, erhielt zahlreiche Preise, u.a. den Heinrich-Mann-Preis der Berliner Akademie der Künste. Er lebt als freier Autor in Berlin. 2012 erschien bei C.H.Beck sein erster Roman „Die Betrogenen“ und 2013 „Heute bedeckt und kühl. Große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf“.
Tamburinis Buckel
Dankrede zum Heinrich-Mann-Preis
Proust, Wagner, Mann
Rede vor der Thomas-Mann-Gesellschaft in Zürich
Ein Denkmal der Pedanterie
Rede auf Julian Barnes
Die Mutprobe
Martin Mosebach, revisited
Robert Gernhardt als Rigorist
Rede zum Heine-Preis
Glück ist ein Sekundenschlaf
Harald Hartungs Gesammelte Gedichte
Kalfatert mit Kunst
Michael Köhlmeiers «Idylle mit ertrinkendem Hund»
Abschied von Kristo
Sibylle Lewitscharoffs «Apostoloff»
Folter und Kamasutra
Burkhard Müllers Geschichtsessays
Dämonen unter sich
Goethe und Napoleon bei Gustav Seibt
Kettenbriefe, Kreuzottern
Walter Kappachers Hofmannsthal
Der Goldtstandard
Die Kunst der Bildlegende: «Gattin aus Holzabfällen»
Das Streichholz im Weinglas
Daniel Kehlmanns Lobreden
Feuersäulen und Sturzfluten
Brigitte Kronauers Essays
«Er hat’s mir gestanden»
Wolfgang Herrndorfs schwarzer Monolith «Sand»
Der amerikanische Flaubert
Aus dem Leben Richard Yates’
Die glitzernden Augen im Dschungel
Julian Barnes’ Buch über den Tod
Kobold mit Schwimmhäuten
John Banvilles «The Sea»
Nachweise
«Wahrhaftig, es lohnt nicht, sich durch Eifersuchtsgram die Verdauung stören zu lassen.» Wer diesen Satz in sein Tagebuch schrieb, neigte offenbar dazu, sich durch Eifersuchtsgram die Verdauung stören zu lassen. Auf wen war der Magenleidende eifersüchtig? Auf H., wie er ihn im Tagebuch abkürzt.
Diesem H. galt die erste schüchterne Veröffentlichung des heute von Ihnen Geehrten. Sie erschien in einer gratis ausliegenden Buchhändlerbroschüre und war eine kurze Hymne auf Die kleine Stadt. Ohne es zu ahnen, hatte der junge Student die heutige Feier also früh angebahnt.
Seine zweite Veröffentlichung, in einer kurz darauf kollabierenden Quartalsschrift namens Joseph & Suleika, galt dann schon dem jüngeren eifersuchtsgramen Bruder. Auch sie spann, in der Rückschau, schon feine Fäden in die Zukunft. Nicht darum, weil sie auf den Josephsroman vorausdeutete, sondern weil sie zum ersten Mal ein von den Biographen übersehenes Rätsel behandelte. Das Rätsel stellte sich, wenn man Zeitzeugen über ihre Begegnung mit dem Dichter vernahm, beziehungsweise ihre Zeugenaussagen miteinander verglich.
Der Blick seiner blauen Augen sei durchdringend, hieß es da bei einem Besucher. Ein anderer sah «große graue Augen unter einer typisch durchgearbeiteten Beobachterstirn». Seine «verblüffend lebhaften braunen Augen starren manchmal ernst», war an anderer Stelle beobachtet worden, bestätigt von einem weiteren Besucher, der Manns «tiefe, nußbraune Augen» hervorhob, damit freilich einem weiteren Zeugen in den Rücken fiel, der sich von den «grauen Augen des Nordländers» beeindruckt gezeigt hatte. Wieder einem anderen schien, als ob in den «offen blickenden blauen Augen» ein wenig harmloser Neid aufleuchte.
Blau, grau oder braun? So vielfarbig schillernd wie die Iris dieses Mannes war das Verhältnis der beiden Brüder. Ganz offensichtlich spielte nicht nur harmloser Neid bei diesem Verhältnis eine gewisse Rolle.
Das letzte Wort hatte die Liebe. Aber schon in der Kindheit war es vorgekommen, daß die beiden über ein Jahr lang nicht miteinander gesprochen hatten, weil ihnen eine bis heute unbekannte Laus über die Brüderlebern gelaufen war. Sobald sie beide Schriftsteller waren, folgten ständige Konkurrenz, magenbelastender Eifersuchtsgram, Kriechströme, die zu Explosionen führten; zu Zeiten Feindschaft bis zum Haß. Als sie sich wegen ihrer Gedanken zum Kriege entzweit hatten und jahrelang aus dem Weg gingen, hatte sich die Laus monströs zu der Frage vergrößert: Er oder ich?
Was umgekehrt hieß, daß es im Grunde nur auf den andern ankam. Thomas Mann hat das Bruderproblem in der Zeit ihres Zerwürfnisses das größte seines Lebens genannt. Der positive Ausdruck desselben Gefühls schlägt sich in der Widmung nieder, die Heinrich seinem Bruder in den Henri Quatre schrieb: «Dem Einzigen, der mir nahe ist.»
Thomas Manns Tochter Erika hatte die Brüder über die Jahrzehnte erlebt und ihr Verhältnis wie folgt resümiert: «Bis zur Lebensmitte – bis zu Bruch und Versöhnung – war Thomas der Liebende (weil Leidende) gewesen. Schließlich, gegen Ende, stand es umgekehrt. Heinrich liebte, wahrscheinlich litt er.»
Dieses Resümee trifft im zweiten Teil genauer zu als im ersten. Es stimmt, daß Heinrich vor allem im letzten vereinsamten Jahrzehnt des kalifornischen Exils rührend an dem Bruder hing, der seinerseits den wunderlich werdenden Greis mit nur notdürftig verborgener Kühle auf Distanz hielt und noch in dessen schwerster Stunde, dem Selbstmord seiner Frau Nelly, über den Heinrich nie hinwegkam, ein erleichtertes Aufseufzen nicht unterdrücken konnte. In seinen Augen blieb Nelly, die ehemalige Animierdame, eine «schreckliche Trulle».
Aber stimmt es, daß es bis zur Lebensmitte umgekehrt und nur Thomas der Liebende, weil Leidende war? Daß er litt, ist glaubwürdig bezeugt. «Weich, verwundbar, liebebedürftig», hatte der junge Thomas Mann, wie Erika schrieb, keine Waffe gegen den kühlen Hochmut des Älteren, der den Bruder mit ein paar hingeworfenen Sätzen «aufs Blut verletzen» konnte.
1915 hatte ein einziger solcher Satz genügt, um das Verhältnis fürs erste zu sprengen. Man muß sich vor Augen halten, in welcher Lage Thomas Mann dieser Satz traf. Er war zwar mit den Buddenbrooks an dem Bruder, der lange der Erfolgreichere war, vorbeigezogen. Aber seit diesem frühen Meisterwerk hatte er nichts mehr zuwege gebracht, was dem Vergleich mit dem Debut standhalten konnte. Er freue sich mehr auf Heinrichs Werke als auf seine eigenen, hatte er 1913 in einer düsteren Novemberstunde dem Bruder geschrieben; er für sein Teil sei ausgedient und hätte wohl nie Schriftsteller werden dürfen. Tonio Kröger sei bloß larmoyant gewesen, Königliche Hoheit eitel, der Tod in Venedig «halb gebildet und falsch».
Zwei Jahre später las der Absender dieser scharfblickenden Selbstabrechnung im Zola-Essay seines Bruders, daß es Sache derer sei, die früh vertrocknen sollten, schon zu Anfang ihrer zwanzig Jahre bewußt und weltgerecht hinzutreten. Gerade noch, daß der Name Buddenbrooks nicht fiel.
Das war ein Pfeil in die wunde Stelle. Thomas war eine Woche lang krank und machte sich anschließend an die Betrachtungen eines Unpolitischen, in denen er zwei Jahre lang nicht nur Pfeile abschoß, sondern pro Kapitel ein Dutzend Katapulte gegen den brüderlichen Zivilisationsliteraten auffuhr. Heinrich duckte sich darunter hinweg, indem er das Buch nie las.
Aber auch Heinrich, und das übersieht Erika, litt schon vor dem Bruch an den Haß- und Racheattacken des Jüngeren. Bezeichnend ist ein Bekenntnis aus seinem 1918 begonnenen Roman Der Kopf, dem dritten Band der sogenannten Kaiserreich-Trilogie, die mit dem Untertan begann. Es ist eine Passage, die wiederum Thomas nicht gelesen hat, nicht lesen konnte, weil Heinrich sie für den Druck gestrichen hatte.
Er erzählt darin eine Szene, die wir aus einem Brief Heinrichs an Thomas als Reminiszenz an den gemeinsamen Rom-Aufenthalt von 1897 wiedererkennen. Thomas hatte damals, auf dem Klavier aus dem Tristan spielend, ein vernichtendes Wort in den Raum gesprochen. Im Roman ist es der nach Thomas gezeichnete Mangolf, der es ihm nachspricht. «Deine Vernunft ist die ärgste Tyrannei», sagt er, Tristan spielend, zur Hauptfigur Terra, dem Alter ego Heinrichs. «Du sollst mich mit ihr nicht länger unterjochen. In inimicos!»
Das ist die Formel, wie wir sie aus dem Brief Heinrichs kennen. In der Handschrift seines Romans gesteht er, anders als im Brief, wie sehr ihn diese Erklärung erschüttert hatte. «Terra hörte das Wort und wußte sogleich, niemals werde er es vergessen. Unzählige Male im Leben werde er dies an ihm vorbeigewendete, erbitterte Gesicht wiedersehen und den Freund sagen hören: ‹Mein Feind bist nur du.›»
Wer dies schrieb, liebte und litt nicht weniger. Und wie kein anderer durchschaute er den jüngeren Bruder und dessen «wüthende Leidenschaft für das eigene Ich», wie es in dem großen, auf dem Höhepunkt ihres Konflikts geschriebenen und nie abgeschickten Brief an ihn hieß.
Aber auch im veröffentlichten Werk des Bruders konnte Thomas Mann genügend über sich selbst erfahren. Was genau hatte Heinrich im Sinn, wenn er jenen Mangolf bekennen ließ, er stehe «in steter, geheimnisvoller Verbindung mit dunklen Kräften» – spielte er damit auf die Teufelsvision an, die Thomas in Palestrina gehabt hatte und prompt in Buddenbrooks hatte einfließen lassen –, tückischerweise als eine Vision des nach Heinrich gezeichneten leichtfertigen Bruders? Teufelsbesuch hin oder her, etwas anderes war vielleicht noch bedenklicher. Auch daß Mangolf ein «großer Streber» und von Ehrgeiz zerfressen sei, konnte Thomas aus dem Roman erfahren. Dann aber auch wieder, daß sie alle beide, Mangolf wie Terra, herrschsüchtig seien. «Jeder für sich», stand hier zu lesen, «litt köstlich unter seiner tiefen Ähnlichkeit mit dem andern.»
Trotz dieses so aufschlußreichen intimen Austauschs über das Bruderproblem ist Heinrichs Roman Der Kopf, wenn denn jetzt endlich über Heinrich geredet werden soll, nicht unbedingt das Buch, das man auf die famose einsame Insel mitnehmen würde. Um die ganze Wahrheit zu sagen, ist es ein Buch, das man selbst, wenn es auf dieser Insel als Strandgut angeschwemmt würde, nur unter gewissen Mühen zu Ende brächte.
Heinrich Mann zu lesen, hat mitunter etwas von einer gymnastischen Übung. Weil er fast prinzipiell die ungewöhnlichste, gerade noch zulässige Wortstellung wählt, muß man immerzu Denkmuskeln dehnen, die man gar nicht mehr gespürt hat. Auch seine Syntax ist anstrengend. Anders als Thomas lehnt Heinrich untergeordnete Satzglieder ab; das ist die Demokratie der Grammatik. Auf dem Felde des Stils bekämpfen sich die Brüder mit ungleichen Waffen: der Zierdegen der Hypotaxe trifft auf das Krummschwert der Parataxe. Die langen gedrechselten und im besten Fall federnden Perioden, das ist Thomas. Heinrich stellt oft Hauptsätze nebeneinander, am liebsten drei, und verbindet sie durch ein Komma. Relativsätze sind selten. Er schreibt nicht: «Eine Stimme, der keine gleicht», sondern: «Eine Stimme, keine andere gleicht ihr».
Weitere Merkmale eines Heinrich-Satzes sind die größtmögliche Verknappung, die möglichst steile Ellipse; im besten Fall das locker Lapidare. Daß es nicht brechtisch werde, dafür sorgt der Patriziersohn, indem er den Genitiv sucht und immer, wenn es irgend geht, den Konjunktiv wählt. Seine Figuren sprechen oft alle in der gleichen Kunstsprache, einem Esperanto, das keinerlei mimetische Ambitionen hegt. Manches liest sich wie von Google übersetzt.
Die Summe oder das Integral dieser Stilmittel führen zu dem unverwechselbaren, nach zwei Sätzen zu erkennenden Heinrich-Ton. In der Kleinen Stadt, dem Henri Quatre oder den Memoiren Ein Zeitalter wird besichtigt gelingt ihm damit Außerordentliches – wie auch der Bruder neidlos anerkannte. In anderen Romanen, wie etwa dem Kopf, wirken die Stilmittel grell. Man muß es einmal zitieren, wie er die erlebte Rede durch Exklamationen recht farbig zu machen sucht:
Die Frau, die er liebte, um derentwillen er floh, alles abbrach, alles wagte! Kommt sie schon? Die verabredete Stunde! Aber daß sie nur jetzt mich nicht ertappt! Jetzt, da ich die Beute meiner Zweifel bin. Erhabenheit des unbeugsamen Geistes, Empörung noch unerbittlicher Moral – sollten sie nichts weiter gewesen sein als Fallstricke der Sinne? Flucht! Aufruhr! – aber wann, in welchem Zeitpunkt?
Ein Absatz später, der Held sucht jene Frau auf dem Bahnhof: «Der Zug – da bin ich! Aufgerissen die Türen, sie saß hinter keiner.»
Vielleicht versteht man ein auch ästhetisch begründetes Unbehagen, das Thomas, der gerade den Zauberberg abgeschlossen hatte, bei der Lektüre dieser Werke empfinden mußte.
Zu diesen ästhetischen Gründen traten nun die privaten, die nach der Versöhnung an Heinrichs Krankenbett im Jahr 1922 jedoch an Schärfe verloren. «Mir träumte», hatte Thomas Mann schon vier Jahre zuvor notiert, «ich [sei] in bester Freundschaft mit Heinrich zusammen und ließe [ihn] aus Gutmütigkeit eine ganze Anzahl Kuchen, kleine à la crème und zwei Bäcker-Tortenstücke, allein aufessen, indem ich auf meinen Anteil verzichtete. Gefühl der Ratlosigkeit, wie sich denn diese Freundschaft mit dem Erscheinen der Betrachtungen vertrage. Das gehe doch nicht an und sei eine völlig unmögliche Lage. Gefühl der Erleichterung beim Aufwachen, daß es ein Traum gewesen.»
Mit diesem Traum deutet sich schon an, daß es, nachdem die Katapulte sich einmal ihrer Brandfackeln entledigt hatten, milder zuging in seiner Bruderseele. 1921 meldet ihm ein Freund einen schwedischen Besucher an, der ihn als nächsten Anwärter auf den Nobelpreis designiert habe. Jetzt hätte er einmal sagen können: «Der Zug – da bin ich! Aufgerissen die Türen!»
Aber er reagiert ganz anders. «Ich wollte, diesen Preis gäbe es nicht», schreibt er im Tagebuch, «denn wenn ich ihn erhalte, wird es heißen, daß er H. zugekommen wäre, und wenn dieser ihn erhält, werde ich darunter leiden. Das Wohlthuendste wäre, wenn man ihn zwischen uns teilte. Aber dieser Gedanke ist, fürchte ich, zu fein für die Preisrichter.»
Acht Jahre später war er zu fein für die Preisrichter. Heinrich sah, wie der kleine Bruder zu Weltruhm aufstieg. Hatte er deswegen, was nur zu verständlich wäre, Ressentiments? Oder hatte er den Wettkampf innerlich aufgegeben? Die Sache ist psychologisch komplex. Und wieder ist es das Werk, das der Wahrheit am nächsten kommt. Wie man seit langem weiß, führen die Brüder in ihren Romanen ein nie unterbrochenes wisperndes Zwiegespräch. Alles, was sie sich nicht persönlich sagen konnten, vertrauten sie ihren Fiktionen an. Jeder konnte vom andern annehmen, er würde lesen und verstehen. Wenn die Brüder der leichten Tarnung halber als Schwestern auftraten, änderte es nichts am seelischen Gehalt.
Vor allem in Heinrichs Spätwerk nimmt das Gewisper zu. In seinem vorletzten Roman Empfang bei der Welt ist die weibliche Hauptfigur Melusine eine Opernsängerin, deren Karriere einen Knick gemacht hat. Ganz anders ihre haßgeliebte Jugendfreundin Alice, die noch immer ein Stern der Opernbühnen ist. Ihr Aufstieg hatte eingesetzt «mit dem Augenblick, als Melusine nachließ und abtrat».
Abtrat oder abdankte, wie Thomas es in der Königlichen Hoheit dem älteren Bruder und Thronfolger unter großen Respektbezeugungen unmißverständlich angeraten hatte. Melusine hegt über den Aufstieg der Konkurrentin und den eigenen Niedergang einen, wie es heißt, «tiefsinnigen Aberglauben», den sie vor der Welt verheimlicht. Sie glaubt, der Verlust ihrer Stimme sei nicht so sehr einer falschen Diät geschuldet, sondern die erfolgreiche Mitbewerberin habe sie ihr geraubt. Die Kraft und Ausdauer Alices nährten sich eigentlich von ihrer entschwundenen Begabung.
Hatte Heinrich damit einen eigenen geheimen Aberglauben ausgedrückt? Auszuschließen ist es nicht. Dabei hatte er mit dem Henri Quatre noch einen Roman vorgelegt, der das Gegenteil von entschwundener Begabung bewies und es mit allen Werken des Bruders aufnehmen konnte. Und er war, was immer sein geheimer Aberglaube sein mochte, souverän genug, Thomas eines seiner letzten Bücher mit den Worten zu widmen: «Meinem großen Bruder, der den Doktor Faustus schrieb». «Wie? Was?», kommentierte Thomas tief erschüttert: «Der große Bruder war doch immer er gewesen!» Man darf sich diese Widmung als einen Höhepunkt seines Lebens vorstellen. Es war die offizielle Abdankung.
In seinem letzten Roman Der Atem nahm der große Bruder von Thomas dann feierlich Abschied. Die verarmte Baronin Kobalt spricht im Geiste mit ihrer ruhmreichen Schwester. Direkter hat Heinrich nie mit seinem Bruder gesprochen. «Dich verstimmte», sagt er ihm hier, «daß ich den Wettbewerb ausschlug, anstatt trotz Widerstand besiegt zu werden. [...] Wir kränkten uns mit unserer Unabänderlichkeit, gleichwohl habe ich dich geliebt […], am meisten, wenn wir verfeindet waren. Du weißt es. Weißt du es nicht?»
Das war das letzte Wort der Liebe. Thomas Mann wird es nicht ohne Bewegung gelesen haben. Und er wird sich ertappt gefühlt haben bei der Bemerkung über den Wettbewerb. Er hätte Heinrich gerne gegen dessen Widerstand besiegt. Woran aber lag es, daß der große Bruder den Kampf nicht fortführte, daß er, wie es Berliner Kinder auf dem Spielplatz tun, «Klippo» gerufen und die Jagd zum Verdruß des Verfolgers abgebrochen hatte?
Die Antwort auf diese Frage führt uns zu einem feinen, aber wesentlichen Unterschied der unter ihrer Ähnlichkeit ächzenden Brüder. Wenn wir diesen Unterschied fassen wollen, ist es hilfreich, sich an eine Bemerkung von Thomas Manns Bewunderer und Ratgeber Theodor W. Adorno zu erinnern.
Adorno war ein genauer Beobachter. Nicht nur, daß er das Rätsel der drei Augenfarben gelöst hatte, von dem eingangs die Rede war. Thomas Manns Augen, schrieb er, seien zwar eigentlich blau oder graublau gewesen, hätten in manchen Momenten aber «schwarz und brasilianisch» geblitzt – die Synthese, wie sie nur einem Hegelianer gelingen konnte.
Nein, darüber hinaus hatte Adorno in seiner Würdigung des Faustus-Verfassers auf eine Eigenart hingewiesen, die von den Hagiographen vielleicht blauäugig verschwiegen worden wäre. Thomas Mann sei zwar nicht eitel gewesen, wie das Klischee es fand, aber kokett. «Er wollte reizen und gefallen».
Ob eitel oder kokett – Heinrich war keines von beiden. Heinrich war stolz. Er mochte verarmt und vereinsamt sein, der Bruder mochte ihn überstrahlen, der eigene Ruhm mochte verblassen – seinen Stolz verlor er nie. Heinrich war zu stolz, um zu kämpfen. Auch sein Stil war Form gewordener Stolz. Wenn Thomas den Leser überreden oder bezirzen wollte – Heinrich machte sich nicht mit ihm gemein. Ich biedere mich dem Leser nicht an, wollen seine steilen Sätze sagen: ich habe es nicht nötig, verstehe mich, wer will oder kann.
Heinrichs Stolz ist das eine. Aber es fehlt noch ein anderes Element im Drama dieser Brüderschaft. Gehen wir noch einmal zurück zu dem späten Roman Empfang bei der Welt. Heinrich hat dort alles Zweideutige und alle Laster auf die alte Generation verteilt und alle Hoffnung auf die junge. Vor allem eines ist es, wodurch der junge Held seiner Geliebten imponiert. Mit seiner Leidenschaft, sagt sie ihm, könne er es weit bringen: «Bis zum großen Mann. Einfacher: zum Mann.»
Ein großer Mann sollte Thomas werden. Als ein Mann, tout court, verstand sich Heinrich. Ihm war Eros nicht fernes Trugbild, und wenn er die Schönheit anschaute mit Augen, war er kein bißchen dem Tod anheimgegeben. Das Platen-Zitat, das er im Empfang bei der Welt einflicht, gehört nicht in Heinrichs Sphäre, es ist eine melancholische Spitze gegen den Bruder.
Bei dem hatte der goldene Tip, den der junge Heinrich ihm über einen gemeinsamen Freund hatte angedeihen lassen, die «tüchtige Schlafkur mit einem nicht allzu angefressenen Mädel», nicht angeschlagen. Hier lagen die Verhältnisse anders. Hier wurde sublimiert. Wer den Schreibtisch Thomas Manns nach dessen Tod geöffnet hätte, wäre gewiß nicht auf obszöne Zeichnungen gestoßen, und schon gar nicht auf solche von «dicken nackten Weibern», wie man sie zu Thomas’ Indignation in Heinrichs Schublade fand.
Heinrich war sich dieses elementaren Unterschieds nicht nur bewußt. Er hat ihn in seinem Roman Empfang bei der Welt gestaltet. Dort finden wir an wenig beachteter Stelle alles über das Brüderpaar in einer Vignette zusammengefaßt. Sie zeigt uns einen knieenden Mann.
Dieser Mann heißt Tamburini, er ist die geheime Hauptfigur dieses späten, geisterhaften Romans. Tamburini ist ein buckliger Opernsänger, dessen Stimme sein körperliches Gebrechen vergessen läßt. Wenn er auf die Bühne tritt, löst sich Gelächter aus dem Publikum, sowie es seines Buckels ansichtig wird. Aber sobald seine Stimme ertönt, verstummen die Lacher, und am Ende ist der Beifall frenetisch. Tamburini hat zwar den Verdruß im Rücken, wie es heißt, kann sich aber gerade deswegen vor erotischen Anträgen kaum retten. Tamburinis Gedanken über seine durch «Herrlichkeit und Schande» bestimmte Existenz zählen zu den stärksten Passagen des Romans. Und zwei Mal in diesen Passagen passiert nun etwas ganz Seltsames.
Mitten in der erlebten Rede fällt Heinrich Mann plötzlich von der Er- in die Ich-Form. Tamburini spricht von der Demut – «die mir versagt ist. Ich beuge mich keinem Gelächter […].» Da ist er, unverkennbar, der Heinrichsche Stolz.
Und noch ein zweites Mal wechselt er unauffällig von der dritten Person zur ersten, diesmal vom «Er» zum «Wir». Es ist die Szene, in der er am tiefsinnigsten überhaupt auf seinen Bruder antwortet.
Auch Thomas Mann hatte die Geschichte eines Buckligen geschrieben. Es war nicht irgendeine Geschichte, sondern die Erzählung, mit der ihm der künstlerische Durchbruch gelang: Der kleine Herr Friedemann. Mit dem Friedemann war es ihm zum ersten Mal gelungen, die «diskreten Masken und Formen» zu finden, in denen er mit seinen Erlebnissen unter die Leute gehen konnte. Der Buckel, man muß es nicht lästig dechiffrieren, übersetzte eine seelisch-sexuelle Abweichung in eine körperliche Deformation.
Der kleine Herr Friedemann verfällt einer Frau, die neu in die Stadt gezogen ist, der peitschenschwingenden Gerda von Rinnlingen. Sie ist selbst eine Außenseiterin und betrachtet das Gebrechen des kleinen Manns zunächst mit freundlichem Wohlwollen. Doch als ihr Friedemann in der Schlußszene auf Knien sein übervolles Herz ausschütten will, gibt es eine unerwartete Wendung.
Es ist diese Szene, die Heinrich nach fünfzig Jahren fast wörtlich wiederaufgreift und in einem entscheidenden Detail verändert. Auch der bucklige Tamburini kniet vor seiner angebeteten Frau. «Die Augen geschlossen, ein jählings abgestorbenes Gesicht, lag er auf den Knien, rührte sich nicht, wartete, was sie beschließe. Ihn mit der Fußspitze vollends umzustoßen, lag nahe. Auch das grausame Lachen, das sie haben, wenn wir versagen.»
Beide Bucklige liegen so vor ihrer Schicksalsgöttin. Was wird aus Friedemann? Frau von Rinnlingen läßt es zu, daß «dieser kleine, gänzlich verwachsene Mensch zitternd und zuckend vor ihr auf den Knien lag und sein Gesicht in ihren Schoß drückte». Doch dann, «plötzlich, mit einem Ruck, mit einem kurzen, stolzen, verächtlichen Lachen» – dem das «grausame Lachen» Heinrichs antwortet –, packt sie ihn am Arm, schleudert ihn seitwärts «vollends zu Boden», springt auf und verschwindet.
Worauf der gedemütigte Herr Friedemann zum Fluß robbt und sich ertränkt – einer der exotischeren Freitode der jüngeren deutschen Literatur.
Und Tamburini? Ganz anders bei ihm. Die Frau faßt ihn unter beide Achseln, zieht ihn hinan, legt ihm wie einem Knaben den Kopf zurecht und spricht mit ihm. Heinrichs Buckliger wird von der Frau erlöst.
Das war der Unterschied. Der eine Mann wurde zurückgestoßen und hatte nur die Kunst, um sich wieder aufzurichten. Der andere Mann wurde erhöht und hatte neben der Kunst auch noch Geschmack fürs Leben.
Am 18. Mai 1922 kam es zu einem denkwürdigen Gipfeltreffen in der Geschichte der modernen Kunst. Im Hotel Majestic in Paris trafen sich nach einer Ballett-Premiere unter anderem Igor Strawinsky, Pablo Picasso, Marcel Proust und James Joyce.
Der Abend war ein Desaster. Schon beim Eintritt Prousts rauschte eine Prinzessin aus dem Saal, weil Proust sie in seinem letzten Buch karikiert hatte. Proust, bleich wie der Abendmond, wurde neben Strawinsky gesetzt und schwärmte ihm von Beethoven vor. Strawinsky haßte Beethoven und war beleidigt. Joyce sagte kein Wort oder wenn, dann war es «No». Dann schlief er bei Tisch ein und erwachte mit einem lauten Schnarchen (man hoffte, es sei ein Schnarchen gewesen). Man hatte sich nichts zu sagen und verabschiedete sich früh. Auf der Rückfahrt im Taxi machte Joyce das Fenster auf. Proust, der Asthmatiker, bekam von der Zugluft fast einen Anfall.
Es müssen nicht immer Funken sprühen, wenn die großen Geister aufeinandertreffen. Wir wollen es einmal ausprobieren, nicht als Gastgeber, sondern, wenn wir das Bild wechseln dürfen, als Jongleur. Für einen echten Jongleur ist es eine leichte Übung, drei Bälle in der Luft zu halten. Für unsereins ist es ein bißchen schwieriger – um Nachsicht, wenn ab und zu ein Ball auf den Boden plumpst!