image

 

Kurt Flasch

Meister Eckhart

Philosoph des Christentums

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

Zum Buch

Der große spekulative Denker und Philosoph, Metaphysiker, Theologe und Ethiker Meister Eckhart (um 1260–1328) fasziniert bis heute – durch die Kraft seiner Sprache und die Radikalität seines Denkens.

Die Forschungen der letzten Jahrzehnte haben das Bild Meister Eckharts verändert. Dieses Buch versucht eine Bilanz. Es führt ein in Meister Eckharts Denken und lädt ein, seine Werke zu lesen und seine Aussagen mitzudenken. Kurt Flasch behandelt dabei klar und prägnant alle Werke Eckharts und bezieht sie, wo möglich, auf ihren biographischen Hintergrund und auf die geschichtliche Welt, aus der Eckhart kam und gegen die er sich stellte. Die wichtigen Lebensstationen Paris, Erfurt, Straßburg oder Köln kommen ebenso zur Darstellung wie Eckharts tragisches Schicksal – der Tod in Avignon, der Inquisitionsprozeß und die Verurteilung durch seine Kirche.

Über den Autor

Kurt Flasch ist emeritierter Professor für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum. Er ist als Autor zahlreicher wissenschaftlicher Werke zur Geschichte des philosophischen Denkens hervorgetreten. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: «Meister Eckhart. Die Geburt der deutschen Mystik aus dem Geist der arabischen Philosophie» (2006), «Eva und Adam. Wandlungen eines Mythos» (2005), «Nicolaus Cusanus» (2005), «Vernunft und Vergnügen. Liebesgeschichten aus dem Decameron» (2002), «Das Licht der Vernunft. Anfänge der Aufklärung im Mittelalter» (1997). 2007 erschien in einer zweisprachigen Ausgabe seine Übersetzung von Meister Eckharts Buch der göttlichen Tröstung.

Für

Maria Antonietta Terzoli

 

 

1. Aliter autem loquendum est omnino de rerum rationibus et cognitione ipsarum, aliter de rebus extra in natura, sicut etiam aliter loquendum est de substantia et aliter de accidente. Quod non considerantes frequenter incidunt in errorem.

MEISTER ECKHART, IN IOAN. LW III N. 514 S. 445.

2. omnia aut fere omnia, quae de deo quaeruntur, facile solvuntur, et quae de ipso scribuntur – plerumque etiam obscura et difficili – naturali ratione clare exponuntur.

MEISTER ECKHART, PROLOGUS GENERALIS LW I, 2 S. 39, 3–4.

3. omne quod de trinitate beata scribitur aut dicitur, nequaquam sic se habet aut verum est.

MEISTER ECKHART LW IV SERMO IV 1 S. 31.

4. Ez ist sippeschaft götlicher art, ez ist in im selben ein, ez enhât mit nihte niht gemeine. Hie hinken manige grôze pfaffen ane.

MEISTER ECKHART, PREDIGT 28 DW II 66, 4–5.

5. Verstüenden sie, waz geist ist.

MEISTER ECKHART DW IV, 1 S. 652, ZEILE 211.

Er nennt den Grund seiner Ablehnung aller zeitgenössischen Theologen.

6. Wir haben es hier mit einem Denker zu thun, der wenn auch zuweilen in lockrerer Weise als wir es zu fordern gewohnt sind, Gedanken, nicht Anschauungen mittheilt und streng zu erweisen sucht. Er würde glauben, einen Schlag in’s Wasser zu thun, wenn er seine Sätze nicht erläuterte und bewiese.

ADOLF LASSON, MEISTER ECKHART, DER MYSTIKER, BERLIN 1868, S. 3.

Inhalt

Vorwort

ERSTER TEIL

  1. Leben und Werk um 1300

  2. Ein verschollenes Konzept: Philosophie des Christentums

  3. Selbstauslegungen

  4. Anfänge: Paris und Erfurt 1292–1298

  5. Geburt-Predigtzyklus

  6. Ein zu großer Entwurf: Prologe zum Opus tripartitum

  7. Debatten in Paris. 1302 bis 1303

  8. Programmreden

  9. Goldene Äpfel in silbernen Schalen. Weltentstehung – Erklärung der Genesis

10. Weisheit – In Sapientiam

11. Auszug – In Exodum

ZWEITER TEIL

12. Intermezzo: Über Eckhart schreiben, heute

13. Eckharts Intention – Johanneskommentar I

14. Einheit nach der Art: Auge-Holz – Johanneskommentar II

15. Neues Christentum fürs Volk – Deutsche Predigten I

16. Scharfe Muskatnüsse – Deutsche Predigten II

17. Neuer Trost der Philosophie

18. Der Prozeß – Die Anzeige

19. Der Prozeß – Verteidigung

20. Ende in Avignon – ‹Teufelssaat›

21. Epilog

ANHANG

Anmerkungen
Bibliographische Hinweise
Zeittafel
Abkürzungsverzeichnis
Personenregister
Sachregister

Übersetzung der Motti

1. Gänzlich anders aber ist zu reden von den Wesensgründen der Dinge und ihrer Erkenntnis, anders von den Dingen draußen in der Natur. Ebenso ist anders von der Substanz zu reden und anders von der Eigenschaft. Die das nicht beachten, verfallen oft in Irrtum.

2. Alle Dinge oder fast alle, wonach über Gott gefragt wird, werden auf leichte Weise gelöst. Und was über Gott geschrieben wird – oft auch das Dunkle und Schwierige – wird mit der natürlichen Vernunft klar erklärt.

3. Alles, was über die selige Trinität geschrieben oder gelehrt wird, verhält sich keineswegs so oder ist wahr.

4. Es ist Verwandtschaft göttlicher Art. Es ist eins in sich selbst. Es hat mit nichts etwas gemeinsam. In dieser Sache hinken manche großen Gelehrten.

5. Wenn sie nur verstünden, was Geist ist.

Vorwort

Meister Eckhart zieht an. Die Radikalität des Denkens und die Kraft seiner Sprache faszinieren bis heute. Sein tragisches Schicksal bewegt: sein Tod in Avignon, der Inquisitionsprozess und die Verurteilung durch seine Kirche. Hinzu kommt die gewaltige Nachwirkung: von Seuse zu Cusanus, von Hegel zu Heidegger, von Robert Musil zu Paul Celan. Und darüber hinaus.

Sein Bild schwankt in der Geschichte. Die Forschungen der letzten Jahrzehnte haben es verändert. Dieses Buch versucht eine Bilanz.

Es führt ein in sein Denken. Es lädt ein, Eckhart zu lesen und seine Aussagen mitzudenken, ohne ihn herauszunehmen aus seiner geschichtlichen Welt, aus der es kam und gegen die er sich stellte. Dies alles so klar, so überprüfbar und so kurz wie möglich; größere Vollständigkeit schloß der verabredete Umfang aus.

Wie alle Argumente und Texte stehen auch die Eckharts auf geschichtlichem und biographischem Untergrund. Aber für eine Entwicklungsgeschichte des Eckhartschen Denkens haben wir zu wenig datierte Quellen. Gewiß gab es im Denken und in der literarischen Produktion Eckharts Verschiebungen. Er sprach anders je nach Textsorten (Traktat, Kommentar, Predigt), je nach dem Publikum (gelehrte Leser lateinischer Schriften, Laien als Leser deutscher Texte) und je nach Lebenslage (Paris, Erfurt, Straßburg oder Köln) als Professor oder Prediger. Jedes Detail ist kostbar, aber eine intellektuelle Biographie wie über Goethe läßt sich über Eckhart nicht schreiben. Ich gehe die einzelnen Werke Eckharts durch und folge dabei der heute möglichen Chronologie, lege aber die einzelnen Kapitel so an, daß sie sich umstellen ließen, sollte die Zukunft eine Präzisierung der Zeitabfolge erbringen.

Trotz guter Arbeiten über Eckhart scheint eine neue Gesamtdarstellung fällig. Abgesehen davon, daß philosophische Themen niemals erschöpfend behandelt sind, haben neue Forschungen Präzisionen erbracht. Seit 2006 haben wir die kritische Ausgabe der Prozeßakten durch Loris Sturlese und seine Untersuchungen dazu (Lateinische Werke V); 2007 erschien in Stuttgart sein Homo divinus mit vielen neuen Daten. Georg Steer hat deutsche Predigten neu ediert und erklärt (Deutsche Werke IV, Stuttgart 2003). Eckharts Deutsche Predigten werden seit 1998 in der Reihe der Lectura Eckhardi unter Leitung von Georg Steer und Loris Sturlese kundig kommentiert.

Unser Bild vom Mittelalter ist vielseitiger, bunter, regionaler geworden. Seine Jahrhunderte, seine Regionen waren verschiedener als früher gedacht Die intellektuelle Umgebung Eckharts ist heute besser bekannt, vor allem Albert und Dietrich von Freiberg, denen eine Schlüsselrolle zukommt. Die Verurteilung von 1277 und die intellektuelle Entwicklung der achtziger und neunziger Jahre in Paris wurden genauer studiert, also etwa Aegidius Romanus, Heinrich von Gent und Gottfried von Fontaine. Hinzugekommen ist die reiche Dokumentation zur zeitgenössischen philosophischen Entwicklung in Deutschland, die das von Loris Sturlese und mir begründete CORPUS PHILOSOPHORUM TEUTONICORUM MEDII AEVI (Hamburg 1985ff.) bereitstellt.

Ein kurzes persönliches Wort noch: Mein erstes akademisches Referat über Meister Eckhart habe ich vor genau 60 Jahren gehalten. Ich hatte das Glück, von freundschaftlichen Gesprächen mit den bedeutendsten Eckhartforschern zu profitieren. Ich nenne nur Raymond Klibansky, Josef Koch und Kurt Ruh, unter den Jüngeren Ruedi Imbach, Alain de Libera, Burkhard Mojsisch und Loris Sturlese. Doch habe ich beim Schreiben dieses Buches nicht zurückgeblickt, auch nicht auf eigene frühere Arbeiten zu Eckhart. Ich habe alle Texte Eckharts neu gelesen und lege einen neuen Entwurf vor, keine Spezialuntersuchung, sondern den Versuch eines Gesamtbildes. Ich stelle es unter den heute ungewohnten Titel: Philosoph des Christentums. Was darunter zu verstehen ist, erklärt das zweite Kapitel. Dort präzisiere ich diesen Titel als Hypothese, die in den Folgekapiteln an Eckharts Texten überprüft wird.

Mit dem Verlag war der maßvolle Umfang des Buches vereinbart. Manchen Quellennachweis und manche Diskussion mit Eckhartdeutungen habe ich der Kürze wegen gestrichen. Ich wollte das Neue und Originelle herausarbeiten und historische Rückblicke aufs Nötigste beschränken. Zu diesen gehört allerdings Eckharts Verhältnis zu Dietrich von Freiberg. Seine Beziehungen zu Aristoteles, Avicenna, Averroes, Moses Maimonides, Albert und Thomas von Aquino habe ich belegt und diskutiert in der Forschungsskizze:

Meister Eckhart. Die Geburt der ‹Deutschen Mystik› aus dem Geist der arabischen Philosophie, München C.H.Beck 2006, zitiert als Flasch2. Diese Untersuchungen finden sich weitergeführt bei Loris Sturlese (Hg.), Studi sulle fonti di Meister Eckhart, Fribourg 2008.

Zur allgemeinen Lage von Philosophie/Theologie/Naturforschung um 1300 und zum Ausbildungsgang der Dominikaner sage ich hier nur wenig; sie sind beschrieben in:

Dietrich von Freiberg. Philosophie – Theologie – Naturforschung um 1300. Frankfurt/M. Klostermann 2007, zitiert als Flasch3.

An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bedanken, besonders bei den Freunden Ruedi Imbach (Paris) und Loris Sturlese (Lecce). Beide haben mir eine Reihe von Hinweisen gegeben: Ruedi Imbach hat dieses Buch angeregt und das Manuskript in der vorletzten Fassung genau gelesen und verbessert; Loris Sturlese hat sich drei Tage lang freundschaftlich mit mir über die Frage unterhalten, in welcher Richtung seine vielfachen Entdeckungen das heutige Bild von Meister Eckhart verändert haben. Zu danken habe ich auch meiner Schwester Monika und ihrem Mann Walter Schäfer, die das Manuskript sorgfältig korrigiert haben.

Die Motti, die diesem Buch voranstehen, hätte Eckhart wohl als seine scharfen Muskatnüsse bezeichnet. Wer hineinbeißt, muß hinterher etwas trinken.

Mainz, im Dezember 2009

Kurt Flasch.

ERSTER TEIL

1. KAPITEL
Leben und Werk um 1300

1. Eckharts Leben – ‹Verborgen in Gott›?

Vom dänischen Landesbischof Hans Lassen Martensen (1808–1884) sprach niemand gering – außer Sören Kierkegaard. Der berühmte lutherische Theologe Martensen war seit 1840 Professor für Theologie; 1845 wurde er Hofprediger und schließlich Bischof. Unermüdlich bewies er die Harmonie von Christentum und Vernunft, von Landeskirche und Staat. Er rühmte sich, über Hegel hinausgekommen zu sein, aber wenn er schrieb oder redete, lobte er in verwässerter hegelscher Diktion den Zusammenklang von Neuem Testament, ‹Vernunft› und hohen Ämtern. 1854 hielt er die Leichenpredigt auf den verstorben Landesbischof Mynster und nannte diesen einen «Wahrheitszeugen» – da packte Sören Kierkegaard die Wut: Ihn ekelte dieses angepaßte, ‹affirmative›, vernunftverbrämte Christentum. Kierkegaards ganzes Leben war mit dem von Martensen eng verquickt, wie die Biographie Kierkegaards von Joakim Graff, München 2005, erzählt, aber jetzt griff er ihn an; er schrieb die Artikelserie Der Augenblick. Er anerkannte als ‹Wahrheitszeugen› nur den ‹Märtyrer›, und den gab es nicht im staatsgestützten Christentum Dänemarks. Kierkegaard schrieb:

«Wahrhaftig, es gibt etwas, was dem Christentum und dem Wesen des Christentums heftiger zuwider ist als jegliche Ketzerei, jegliche Spaltung, heftiger zuwider als alle Ketzereien und Spaltungen zusammen, und das ist: Christentum zu spielen.»[1] Christentum spielen, das hieß bei Kierkegaard: Dem Christentum den Gegensatz zur ‹Welt› rauben, ihm Harmonie andichten, ihm die Askese, die Armut, den Verzicht auf Macht und Reichtum nehmen. Bischof Martensen hatte Christentum gespielt und den bestallten Theologen mit dem Märtyrer verwechselt.

Radikales, ungespieltes Christentum, Weltverzicht und Armut haben viel mit Meister Eckhart zu tun. Er gehörte einem Bettelorden an, der eine arme Kirche wollte. Freilich hatte er um 1310, wie Dante aus dem Mund des Thomas von Aquino im Paradiso XI bezeugt, seinen radikal-reformatorischen Eifer verloren: Für die Kutten armer Ordensleute braucht man wenig Stoff (Dante, Divina Commedia 11, 132). Damit nähern wir uns wieder Eckhart, aber ich muß vorher noch einmal zurück zu Bischof Martensen. Denn Martensen hat 1842 eine Monographie über Eckhart in deutscher Sprache vorgelegt; er stammte übrigens aus Flensburg: Meister Eckhart. Eine theologische Studie, Hamburg 1842. Martensen wußte vom ersten Satz der Einleitung an, was Eckhart wollte: Er war Mystiker, und Martensen beginnt mit der Klage über widersprechende Einschätzungen der Mystik (S. 1). Gleich einleitend bewies er, wie forschungsschädigend das Konzept ‹ Mystik› war und vermutlich noch ist. Denn er bemerkt, von der «äußeren Geschichte dieser Mystiker weiß man nur Weniges. Ihr Leben war verborgen in Gott».[2]

Aber lebte Eckhart, «äußerlich gesehen», nicht auch ein wenig auf der Erde? Und zwar in bevölkerungsreichsten Städten wie Paris und Köln; auch Erfurt war nicht ganz klein. Martensen ergreift kaum das Wort und schon spielt er mit dem Gegensatz von äußerer Geschichte und verinnerlichter Mystik; er schreibt über Eckhart und hat es gleich mit mehreren «Mystikern» zu tun, und statt das Wenige zu vermehren, was man über Eckharts Leben damals wußte, deckt er den Schleier der Erbaulichkeit über seine Bequemlichkeit: «Ihr Leben war verborgen in Gott.» Aber Eckhart ist Gegenstand historischen Wissens. Martensen betreibt Salbung statt Forschung: Forschung nur gespielt.

2. Spuren irdischen Lebens

Eckhart hatte ein irdisches Leben, und seit den Studien von Josef Koch und Loris Sturlese wissen wir davon mehr.[3] Ich fasse deren Ergebnisse hier kurz zusammen und verweise auf die Zeittafel im Anhang.

Doch hinter Geschichtszahlen verbirgt sich Leben. Ich versuche, es in knappen Strichen sichtbar zu machen, aber zunächst noch eine methodologische Vorbemerkung: Wenn man klar sagt, was man weiß, werden auch die Lücken deutlicher: Einige Werke Eckharts sind verloren; andere hat er angekündigt und wohl nicht geschrieben; an einigen Werken hat er längere Zeit gearbeitet, so daß sie im chronologischen Schema schwer unterzubringen sind. Das gilt besonders für die deutschen Predigten, wohl auch für das Opus tripartitum. Sein Geburtsdatum ist nicht belegt, sondern erschlossen aus den Regeln der Ämterlaufbahn, die vorschrieben, daß ein Magister in Paris mindestens 35 Jahre alt sein mußte. Es gab Ausnahmen. Aus all diesen Gründen entstehen weiche Stellen im Gerüst der Chronologie.

Eckhart kommt aus Tambach, nahe Gotha. Der etwa 12 Jahre ältere Dietrich, der im Leben und Denken Eckharts eine wichtige Rolle gespielt hat, kam aus der Silberstadt Freiberg in Sachsen. Vor 1250 tauchten die mitteldeutschen Länder in der Wissenschaftsgeschichte nicht auf: Albert stammte aus Lauingen an der Donau, Bonaventura aus Bagnoreggio, Thomas aus Aquino bei Frosinone.[4] Nach etwa 1230 hat der Dominikanerorden mit seiner Bildungsorganisation – in jedem Konvent ein Lektor; ihr Unterricht war auch für Laien zugänglich – die europäische Kulturlandschaft verändert: Mitteldeutschland bringt Gelehrte hervor, die es bis zum höchsten Punkt der akademischen Karriere, dem Amt des Magisters in Paris, schaffen. «Meister» Eckhart bedeutet ja: Er war Magister in Paris. Wie aus Deutschland Albert und Dietrich.

Eckhart war wie Albert Dominikaner. Die Ordensgründungen der Dominikaner und Franziskaner reagierten auf den ständig wachsenden Reichtum der Städte in Mittel- und Norditalien, in der Provence, der Ile de France, Südengland und dem Rheintal; auch Erfurt gehörte im 13. Jahrhundert zu den Aufsteigern. Der Anblick der neuen Armut weckte die Erinnerung daran, daß Jesus nichts gehabt hatte, wohin er sein Haupt hätte legen können, und daß der Ausdruck ‹das apostolische Leben› noch immer so viel bedeutete wie ‹eigentumsloses Leben›. Mehrere christliche Protestbewegungen opponierten gegen den Reichtum der Kirche. Armut war ein antik-philosophisches Ideal. Sokrates hatte in seinem Prozeß zur Verteidigung vorgebracht, er nenne für sich nur einen einzigen Zeugen: seine Armut. Abaelard hatte im frühen 12. Jahrhundert, lange vorm Poverello, die das philosophische Armutsideal für Christen neu entdeckt.

Das 12. und das 13. Jahrhundert brachten einen außergewöhnlichen ökonomischen und sozialen Boom; erst um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts war er zu Ende. Reiche Fernkaufleute konkurrierten mit feudalen und kirchlichen Stadtherren und auf der anderen Seite mit aufstrebenden Handwerkern. Blutige Kämpfe waren die Folge, vor allem in großen Städten wie Köln. Der Rheinische Städtebund, von Mainz und Worms ausgegangen, bis Bremen und Aachen reichend, zuletzt fast ganz Deutschland umfassend, zeigte von 1256 an, daß es zwischen König, Territorialfürsten und kleinen Herrschaften eine vierte große Kraft gab. Sein Ziel war Friede und Sicherung der Verkehrswege; der überregionale Handel wuchs. Der neue Reichtum verstärkte das Bewußtsein von Armut als Skandal. Dieses Thema blieb bis zum Ende des Mittelalters auf der Tagesordnung. Ein korrekter Ordensmann wie Albert reiste zu Fuß, auch von Köln nach Paris; Dante ließ den heiligen Petrus vom Himmel her spotten, er sei immer zu Fuß gegangen, habe mit dem einfachsten Essen vorlieb genommen, hohe Kleriker hingegen reisten, wohlgenährt und gewichtig, hoch zu Roß mit großem Gefolge. Die sogenannten Bettelorden suchten einen neuen christlichen Lebensstil, wurden aber bald reich und feist; sie kämpften um Macht, Pariser Lehrstühle und Geld mit Weltgeistlichen und anderen Orden. Dominikaner und Franziskaner bauten gegeneinander philosophischtheologische Ordensdoktrinen aus: Franziskaner glaubten dem Poverello zu folgen, indem sie die Liebe priesen; Dominikaner legten ihre Professoren bereits 1286 fest auf Thomas von Aquino und lehrten den Vorrang des Intellekts vor dem Willen. Diese Rivalitäten und Debatten konnte Eckhart nicht übersehen. Selbst in deutschen Predigten redete er davon.

3. Unordnung im Reich

Eckhart wurde hineingeboren in die Zeit des Interregnum.[5] Es gab keine Zentralgewalt mehr im alten Reich, die Fürsten, vor allem die seit dem 13. Jahrhundert erstarkten Kurfürsten, konsolidierten ihre Herrschaft. Seit 1273 herrschte wieder mit Rudolf von Habsburg ein König, aber er war überbeschäftigt mit Sicherung und Ausdehnung seiner Hausmacht, was zur Ausübung der Königsherrschaft immer unentbehrlicher wurde. Er erregte den Widerstand der Fürsten, die dabei waren, ihre territoriale Herrschaft auszubauen. Sie wählten nach dem Tod Rudolfs den Grafen Adolf von Nassau, dessen Hausmacht zu klein war, sich durchzusetzen. Er wurde abgesetzt und fiel nach sechs Jahren Herrschaft auf dem Schlachtfeld von Göllheim, besiegt von seinem Nachfolger Albrecht von Habsburg, den sein Neffe 1308 ermordete. Früher nahm man an, Eckhart habe sein Buch der göttlichen Tröstung der Tochter Albrechts, Agnes, 1308 anläßlich dieses Todes geschickt. Dies ist nicht zu beweisen, aber sicher ist, daß Eckhart das Trostbuch überhaupt an Agnes geschickt hat, er kannte die blutige deutsche Königsgeschichte: 1298, 1308, 1313. Denn es ging stürmisch weiter: Auf Albrecht folgte 1308 Heinrich VII. aus dem Haus Luxemburg, den Dante als Befreier Italiens begrüßte. Er starb nach fünf Herrschaftsjahren auf der Fahrt nach Rom, 1313. Sein Sohn Johannes erwarb Böhmen und begründete so die Herrschaft der Luxemburger in Böhmen und Brandenburg. Kaiser Karl IV. baute sie seit 1347 glanzvoll aus. Die Auflösung der Ordnung im Reichsgebiet konnte er nicht aufhalten. Es begann die Zeit der mächtigen Kurfürsten und die Konkurrenz der Familien, die Deutschlands Zukunft bestimmen sollten: der Habsburger, der Luxemburger, der Wittelsbacher. Ihre Stammgebiete lagen zersplittert weit auseinander. Neue Verwaltungsregeln, wirtschaftliche und militärische Bedürfnisse drängten zur Arrondierung der Machtgebiete. Daher im Reichsgebiet des 14. Jahrhunderts die ständigen Kriege. Seit 1317 kehrten die großen überregionalen Hungersnöte zurück, die es jahrzehntelang nicht mehr gegeben hatte. Seit 1348 betete die westliche Christenheit, erlöst zu werden von Pest, Hunger und Krieg.

4. Korruption der Kirche

Eckhart hielt 1294 in Paris die Osterpredigt, an Weihnachten kam in Rom Bonifaz VIII. an die Macht. Er drängte seinen Vorgänger, Coelestin V., den Engelpapst, zur Abdankung. Man muß sein Portrait gesehen haben – die Skulptur des Arnolfo da Cambio in Florenz: Eine machtvolle Persönlichkeit, verstand er sich als der Vertreter Gottes auf Erden, als Oberherrscher Europas, als Lehnsherr der Kaiser. Die seit Gregor VII. und Innozenz III. konzipierte Idee der päpstlichen Weltherrschaft trieb er auf die Spitze. In der Bulle Unam sanctam gab er ihr die schärfste Formulierung. Frankreich widerstand und demütigte den Papst mit der Ohrfeige von Anagni. Bonifaz war ein gebrochener Mann; er starb kurz darauf, Oktober 1303.

image

Arnolfo da Cambio, Büste von Bonifaz VIII. mit Tiara, 1296, Marmor, Vatikan, Apostolischer Palast

Der Konflikt Philipps des Schönen mit Bonifaz zeigte an: Die Weltmachtpläne der Päpste hatten immer weniger Chancen; neue Mächte kündigten sich an, die nationalen Staaten, Frankreich zuerst, dann Spanien und England; das Reich wurde aber schwächer. Nikolaus von Kues stellte noch hundert Jahre später fest: Weil es keine eigene Finanzhoheit und Militärmacht hatte, wurde es immer mehr zum Ausbeutungsobjekt der kurialen Finanzpolitik; die westlichen Monarchien hätten sich dagegen besser zu schützen gewußt. Dante hat sämtliche Päpste, die zu seinen Lebzeiten regierten, in die Hölle versetzt. Vor allem, weil sie den Frieden Italiens ruinierten, aber auch wegen ihrer Geldpolitik, ihrer Herrsch-, Macht- und Genußsucht. Seit 1309 residierten die Päpste in Avignon, dem ‹Babylon› Petrarcas. Sie unterlagen durchweg der französischen Übermacht. Das hat das Schicksal der Templer besiegelt, deren Reichtum Philipp IV. zu ihrer Vernichtung lockte. Das rigorose Finanzgenie Johannes XXII. überzog die christliche Welt mit Geldforderungen, verurteilte die konsequenten Franziskaner, sprach vom armen Jesus als habe er Immobilien besessen und verurteilte 1329 Meister Eckhart.

Johannes XXII. wurde 1316 nach zweijähriger Sedisvakanz gewählt. Er war 72 (?) Jahre alt; seine Gegner blickten hoffnungsvoll in die Zukunft. Aber sie täuschten sich; er regierte bis 1334. Und er regierte hart. Ein großer Kirchenhistoriker, Albert Hauck, charakterisiert ihn: «Ein unscheinbares Männlein, klein, mager, blaß, kahlköpfig, mit unschönen Zügen und einer dünnen Stimme. Aber von der Ermüdung des Alters merkte man dem rastlos Tätigen nichts an. Alles interessierte ihn: die Politik und die Dogmatik, Kunst und Wissenschaft, die Streitigkeiten der Mönche und die Händel der Gelehrten, die Kreuzzüge und besonders Geldsachen jeglicher Art».[6]

Johannes XXII. sorgte für Unruhe in den letzten Lebensjahrzehnten Eckharts: 1314 gab es eine Doppelwahl; zwei deutsche Könige standen sich gegenüber; der Papst unterstützte Friedrich von Österreich gegen Ludwig den Bayern. Diesen Friedrich hatte der Kölner Erzbischof Heinrich II. von Virneburg gekrönt; er hielt weiterhin zu ihm, auch nachdem ihn Ludwig 1322 in der Schlacht bei Mühldorf besiegt hatte. Wir blicken ein wenig in die Machtverhältnisse: Der in Avignon residierende Papst war verbündet mit Paris und den Habsburgern. Der deutsche Episkopat schwankte, aber Köln stand für Avignon und gegen Kaiser Ludwig, für den die reicheren Städte eintraten. Der Dominikanerorden war gespalten. Die Ordensspitze stand beim Papst, aber deutsche Prediger wurden 1325 und 1327 vom Generalkapitel getadelt, weil sie gegen den Papst predigten. Die Politik entwickelte sich dramatisch in den letzten Lebensjahren Eckharts: Ludwig der Bayer griff seit Ende 1323 den Papst öffentlich an, eröffnete einen Prozeß gegen ihn; er appellierte an den Heiligen Stuhl gegen den Papst. 1324 verhängt der Papst den Bann gegen ihn. Im selben Jahr feiert Ludwig seine Hochzeit in Köln, im Einvernehmen mit der Bürgerschaft; der Erzbischof bleibt der Feier fern. Im Mai 1324 legt der König gegen den päpstlichen Bann die sogenannte Sachsenhäuser Appellation ein; bald danach bannt der Papst ihn und seine Anhänger. Ludwig bricht 1327 nach Rom auf. Im Januar 1328 zieht er in Rom ein, erklärt den Papst zum Häretiker wegen der Armutsfrage und setzt ihn ab, was kirchlich fast ohne Folgen blieb. Man fragt, wie Eckhart sich in den Kämpfen verhielt. Wollte der Erzbischof die Dominikaner wegen ihrer Beziehungen zur Bürgerschaft treffen? Hat Eckhart Partei ergriffen? Gelegentlich sagte er, man solle Vater und Mutter ehren, auch alle, die geistliche Gewalt haben (Predigt 51 DW II S. 468, 1–3), aber er nannte dabei weder den Papst, noch den Erzbischof noch Ludwig. Erwähnte er den Papst, was selten geschah, sprach er von ihm wie von einem fernen, mächtigen und reichen Mann, so im Buch der göttlichen Tröstung (DW V 51. 18–23); in Predigt 25 (DW II 18. 1–2) beschreibt er die Bedeutung der Intention, indem er das Beispiel bringt: Würde ich den Papst ungewollt totschlagen, würde ich danach unbedenklich an den Altar treten. Ein andermal predigt er, man brauche den Papst nicht zu beneiden; jeder könne dieselbe Tugend haben wie der Papst, und zwar ohne die Unruhe, die den Papst umgibt (Predigt 27 DW II 46. 2–6).

image

Papstpalast in Avignon, Miniatur, Anfang 15. Jahrhundert, aus der Werkstatt des Maître de Boucicaut

In religiöser Hinsicht kommt der Papst bei Eckhart nicht vor. Dante dachte politischer: Er wütete gegen die Politik der Päpste, anerkannte aber ihre geistliche Aufgabe. Eckhart ignorierte ihn, sowohl als geistliches Oberhaupt wie als Politiker.

5. Intellektuelle Entwicklungen

Eckhart lebte in Jahrzehnten blutiger Zwischenfälle, militärischer und geistiger Kämpfe in Kirche und Reich. Wenden wir uns den Wissenschaften zu. Eckhart profitierte von der enormen intellektuellen Entwicklung des Westens seit Beginn des 13. Jahrhunderts. Begleitet von Mahnungen und Verboten hatten die christlichen Gelehrten die Wissensmasse der griechischen und arabischen Welt studiert und nach Kämpfen weitgehend rezipiert. Eine neue Rationalität war entstanden durch jahrhundertelangen Unterricht in der aristotelischen Logik. Daß Vernunft gestalten und gewinnen kann, das bewiesen Erfahrungen der überregionalen Kirchenverwaltung, neue Ordnungen der Staatsfinanzen und die Organisation der Handelsverbindungen, militärische und städtebauliche Aktionen. Herrscher wie Handwerker entwickelten neues Vernunftvertrauen, gestärkt durch die griechisch-arabischen Wissenschaften, die völlig neue Wissensgebiete brachten: Metaphysik, Ethik, Chemie und Optik, Ökonomie und Politik. Albert hatte seit 1248 zwei Jahrzehnte lang als Professor der Theologie Aristoteles erklärt. Die Studienordnung der Dominikaner von 1259, an der Albert und Thomas mitgearbeitet hatten, gab der Philosophie, auch der zunächst untersagten Naturphilosophie, großes Gewicht in der Ausbildung.

Für den Bildungsgang Eckharts können wir ansetzen: Wer ins Noviziat eintreten wollte, mußte Lesen und Schreiben können, sowie Lateinisch verstehen und sprechen; er hatte die Grammatikschule hinter sich. Es folgte das Noviziatsjahr, das monastische Gesinnung und Ordensvorschriften einüben sollte. Es folgten zwei bis drei Jahre Logikstudium, dann zwei bis drei Jahre Naturphilosophie. Dann erst kam die Theologie. Diese war wie die Philosophie seit dem Auftreten der griechisch-arabischen Texte in lebhafter Entwicklung. Albert hatte die Mängel der lateinischen Gelehrten scharf kritisiert. Er wollte nicht Aristoteles, Avicenna und Averroes in einen angeblich vorhandenen harmonischen Kosmos der christlichen Weisheit einfügen, sondern alle Wissenschaften, auch die Theologie, allererst neu entwickeln. Er betonte das selbständige Vorgehen der Philosophie. Er beklagte den Obskurantismus insbesondere vieler Dominikaner; er zeigte, daß Wunder keine Rolle spielen dürfen, wenn es um Physik geht. Auf dem Weg selbständiger philosophischer Forschung sind ihm Siger von Brabant und Boethius von Dacien gefolgt. Thomas von Aquino verfolgte einen Mittelweg. Dieser wurde besonders nach seinem Tod 1274 von mehreren Seiten als inkonsequent kritisiert. Sein Umgang mit Augustin und Aristoteles sei zu ungenau gewesen, wandten Heinrich von Gent, Dietrich von Freiberg und Johannes Duns Scotus ein. Die innerkirchliche Entwicklung gestand Thomas eine zunehmend größere Rolle zu: Sie sanktionierte seine Ansicht von der Seele als Form des Leibes und von der Zusatzausstattung der seligen Seele im Jenseits mit einer speziellen Erleuchtung, dem lumen gloriae. Sie betrieb seine Vorherrschaft, die trotz wiederholter Androhung schwerer Strafen nie vollständig durchgesetzt werden konnte, durch die Heiligsprechung im Jahr 1323. Die Kritik an ihm durch Durandus a San Porciano und Dietrich von Freiberg wurde diskutiert, aber bald unterdrückt. Die neue politische Philosophie bei Dante (Monarchia) und Marsilius von Padua, Defensor pacis 1324, wurde verboten. Sie hat Eckhart nicht mehr erreicht.

Hier ist noch eine mentale Wandlung zu erwähnen. Sie war seit dem 12. Jahrhundert in Westeuropa im Gange und brachte eine neue Sensibilität für das menschliche Individuum, seine rationalen und organisatorischen Kompetenzen. Es war nicht mehr selbstverständlich, daß der Mensch Objekt von Herrschaft war. Wer Herr sein wollte, mußte sich rechtfertigen. Autoritäten wurden hinterfragt. Einige antike Texte – die Logik des Aristoteles, Cicero und Seneca, auch der Augustin von vor 397 und vor allem Boethius – halfen dazu, in den kulturell fortgeschrittensten Regionen Europas neues Vernunftvertrauen zu stärken. Die Erfahrung des städtischen Lebens, die Organisation seiner Korporationen, die Erfahrung mit Rechtssetzungen, die weder aus dem Herkommen noch vom bischöflichen Stadtherrn stammten, der überregionale Handel und Geldverkehr, der Blick auf fremde Kulturen, Religionen und Wertsysteme – dies alles hatte ein neues Erklärungsbedürfnis erzeugt, das vor Machthabern und religiösen Themen nicht haltmachte. Die damals noch flexible kirchliche Autorität nahm an diesem Wandel teil und suchte ihn in ihren Bahnen zu halten: Ein neues, geordnetes dogmatisches Lehrgerüst (Petrus Lombardus) und eine umfassende Zusammenstellung und Gliederung ihrer Rechtsordnungen (Gratian) lagen seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts vor. Es entstanden Regeln der Papstwahl und der internationalen Präsenz der päpstlichen Verwaltung; Päpste und Bischöfe arbeiteten an der Förderung und Kontrolle der Universitäten. Es war kein Makel mehr, wenn etwas neu war. Die Autoren schrieben nun im Bewußtsein berechtigter Neuerung. Die geäußerten Meinungen wurden vielfältiger; es entstand eine überregionale Dauerdiskussion über ihre Bewertung, also eine literarische Öffentlichkeit mit wechselseitiger Kritik. Der Einzelne achtete mehr als früher auf sich selbst, sprach sich Wert zu. Auch schriftlich vor anderen. Er war nicht nur ein Ausbund von Elend, nicht nur ein Glied der Sündenmasse. Er hatte etwas Göttliches. In der Bibel stand von jeher, er sei nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen; aber nun segnete dieser Gedanke die soziale, die städtebauliche, die intellektuelle und die religiöse Produktivität, deren Tempo akzelerierte. 20 Jahre – das war um 1300 etwas recht anderes als um 900. Das christliche Selbstbewußtsein schuf sich in wissenschaftlicher, philosophischer und organisatorischer Hinsicht in ständigen Diskussionen immer wieder neu, nach vielen, oft einander widersprechenden Richtungen. Ohne diese geschichtlich-kulturelle Multiplikation und Unruhe wäre Meister Eckhart nicht möglich gewesen. Man hat ihn allzu oft isoliert betrachtet, als wäre sein Leben, wie Professor Martensen sagte, verborgen gewesen in Gott.

6. Ausblick auf die Rezeption

Zur Bewertung geschichtlicher Vorgänge gehört ihre Rezeption. Wie wurde Eckhart von Zeitgenossen wahrgenommen? Wie wurde er aufgenommen? Die Aufmerksamkeit auf die Rezeptionsgeschichte vermindert ein wenig die fast unvermeidliche Befangenheit in unseren gegenwärtigen Denkschablonen. Über die Wirkungsgeschichte Eckharts wissen wir inzwischen ziemlich viel.[7] Er war außerordentlich wichtig für Seuse und Tauler. Wegen ihrer Nähe zu Eckhart wurde ihnen eine akademische Karriere verwehrt; sie führten einige seiner Motive volkssprachlich-literarisch und seelsorgerlich-praktisch fort. Nikolaus von Kues hat ihn früh studiert und mit diplomatischem Geschick weitergedacht.

Für die Folgezeit war es wichtig, daß einige Predigten Eckharts unter dem Namen Taulers in dem Basler Taulerdruck von 1522, von mir 1966 nachgedruckt, erreichbar waren. Franz von Baader hat ihn neu entdeckt und hat Hegel auf Eckhart hingewiesen, und Hegel habe begeistert ausgerufen: «Da haben wir ja, was wir suchen.»

Der Beginn des 20. Jahrhunderts brachte eine Eckhartrenaissance: Robert Musil und Karl Mannheim, Martin Buber und Martin Heidegger, Gustav Landauer und Georg von Lukács, sie alle lasen Eckharts deutsche Schriften, auch Alfred Rosenberg. Dessen Mythus des 20. Jahrhunderts ist zu einem guten Drittel ein Buch über Eckhart. Diese Entwicklungen in der deutschen Literatur, Philosophie und Soziologie liefen außerhalb seiner Kirche. In ihr galt die Verurteilung durch Johannes XXII. Sie war klar und scharf: Teufelssaat nannte er die Lehre Eckharts. Ich komme später auf Eckharts Prozeß ausführlich zurück, hier geht es mir um das geschichtliche Gesamtbild: Von den Anklagen in Köln 1325/26 bis zum Abschluß des Prozesses 1329 vergingen drei Jahre gründlicher Prüfung. Der Papst hebt hervor, er habe «viele» gelehrte Theologen Eckharts Lehre prüfen lassen, er selbst habe sie zusammen mit den Kardinälen dann noch einmal sorgfältig untersucht. Eckhart war ein angesehener Theologe und hatte in einem mächtigen Orden hohe Ämter begleitet; da war Gründlichkeit geboten. Der Papst hebt sorgsam hervor, man habe keineswegs nur einzelne Sätze untersucht, sondern habe auf den Zusammenhang, auf die connexio sententiarum (LW V. S. 599, 99) geachtet. Er nahm keineswegs alle in Köln inkriminierten Sätze auf; er wählte aus und unterschied Grade der Verwerflichkeit. Er sprach von drei verschiedenen Satzgruppen: 15 Sätze seien völlig häretisch, 11 Sätze seinen häresieverdächtig; von zwei Sätzen habe Eckhart bestritten, sie gelehrt zu haben. Beim Verhör in Avignon habe er bestätigt, die aufgeführten 26 Sätze gelehrt zu haben. Davon seien mindestens 17 Sätze eindeutig häretisch. Das Verfahren war professionell gelaufen, mit anderen Häretikern wurde kürzerer Prozeß gemacht.[8] Wieweit Eckhart persönlich bei der Verurteilung betroffen war, werde ich im Abschlußkapitel erörtern.

Nur sein Tod bewahrte ihn vor Schlimmerem. Im Laufe der nachfolgenden Untersuchungen wird sich zeigen: Mit der offiziellen Theologie der Zeit, mit dem Glaubensverständnis der Kurie in Avignon war Eckharts Lehre vom vergöttlichten Menschen, vom homo divinus, unvereinbar. Dies drängt sich auf als historischer Befund; dies war das Resultat der großen Eckhartforscher vor 1950: Heinrich Denifle, Martin Grabmann und Gabriel Théry. Cusanus hat Eckhart verteidigt: Niemals habe Eckhart gelehrt, Schöpfer und Geschöpf seien dasselbe. Allerdings wünschte Cusanus, Eckharts Werke sollten aus öffentlichen Bibliotheken entfernt werden.

Nach 1980 gab es Ansätze zur Revision des Prozesses. Sie haben zu nichts geführt. Der Fall liegt anders als bei Galilei. Die Kirche hat Eckharts Lehre schroff verworfen. Und es gibt gute Gründe für die Annahme, sie werde, ja sie könne die Verurteilung Eckharts als Teufelssaat nicht revidieren. Sie werden sich im Laufe der Textarbeit zeigen.

2. KAPITEL
Ein verschollenes Konzept:
Philosophie des Christentums

1. Vorschlag zur Güte, zunächst hypothetisch

Das Lebenswerk bedeutender Denker erscheint, weil es reich ist und komplex, unter veränderten geschichtlichen Bedingungen immer anders; es changiert, und ihm ist es gleichgültig, unter welche Kategorie wir es einordnen. Aber wer historisch zu arbeiten beginnt, sucht Übersicht; er braucht Etiketten; er hält sich an Fakultätszuordnungen, Strömungsnamen und Titel. Das historische Denken wächst im Widerstand gegen die Manier des Einordnens und Zuordnens, zumal in der Philosophie: Hier werden Strömungsnamen – wie Idealismus, Realismus usw. – fast nie gebraucht, ohne Unrecht zu tun. Sie ertränken den individuellen Denker in «Strömungen».

Hier geht es darum, die denkerische Eigenwelt des Außenseiters Eckhart aus den Texten zu ermitteln; äußere Zuordnungen sind dagegen gleichgültig und haben höchstens für die erste Annäherung vorbereitend-didaktischen Wert. Aus ihnen läßt sich nichts ableiten; sie haben bestenfalls heuristischen Charakter.

Sie sind in eingehender Textarbeit auf die Probe zu stellen, und nur so, vorerst hypothetisch, schlage ich vor, zu prüfen, ob vielleicht der Ausdruck ‹Eckhart als Philosoph des Christentums› näher an Eckharts Denken heranführt als das Etikett ‹Mystiker›, das im übrigen keine große Herkunft hat und sich nicht etwa auf Dionysius Areopagita berufen kann. Ich bitte darum, das Mystik-Konzept probeweise zu suspendieren und es damit zu versuchen, Eckhart zu lesen als Philosophen des Christentums. Ob diese Benennung besser zu den Texten paßt, muß die Arbeit an Eckharts Schriften zeigen; hier gebe ich nur eine vorläufige Erklärung dieses Titels. Anlaß zu einer Revision könnten folgende Tatsachen geben: Den Titel ‹mystische Theologie› gab es längst vor Eckhart, aber bei seinen zahlreichen Selbsterklärungen und Verteidigungen hat er, wie sich im nächsten Kapitel zeigen wird, nie gesagt: Ihr versteht mich nur, wenn ihr erkennt, daß ich ‹mystische Theologie› treibe. Der Titel ‹Mystiker› für Eckhart hat nichts Authentisches. Er kam in Umlauf, als man Eckharts lateinische Schriften noch nicht kannte und im Mittelalter neben der ‹Scholastik› eine zweite Richtung, eben die ‹Mystik› zu sehen glaubte.

Der Ausdruck ‹Philosophie des Christentums› klingt heute fern oder wird mit Hegel verbunden. Er ist des philosophischen Idealismus verdächtig, auch des Anachronismus. Er klingt, als würden Ideen des frühen 19. Jahrhunderts der Vorzeit angesonnen.

‹Philosophie des Christentums›, das wäre die methodisch strenge Erörterung der christlichen Glaubensinhalte im Licht der bloßen Vernunft. Sie wäre der Versuch, christliche Vorstellungen rational so zu beweisen, daß Gläubige wie Ungläubige sie als wahr, nicht nur als kontingente kulturelle Gebilde christlicher Glaubensgemeinschaften einsehen. Wer solche Beweise ausdenkt, kann gläubig sein oder nicht; er schafft einen methodisch neuen Raum, in dem nicht das Glaubensbekenntnis als Beweisgrund dient, sondern allein allgemein-menschliche Prämissen. Nehmen wir an, ein solcher Philosoph des Christentums bete um Erleuchtung, während er Beweise ausdenkt oder vorträgt, so würde er seine Gebete, so heiß sie sein mögen und so ernst er sie nähme, bewerten wie die eines Mathematikers, der bei der Lösung einer schwierigen Aufgabe um die Erleuchtung des Heiligen Geistes betet. Sein Gebet ginge in die Argumentation nicht ein. Diese müßte rein mathematisch erfolgen, sonst wäre das Gebet umsonst.

Ähnlich ginge es bei einem ‹Philosophen des Christentums› um die Strenge des Beweisverfahrens. Was als der zu beweisende Inhalt des christlichen Glaubens gälte, das könnte variieren nach Ort und Zeit. Das hat eine Geschichte; man darf es sich nicht als überzeitlich vorgegeben vorstellen. Auch wenn ein Autor sagt, er beweise die Hauptinhalte der Bibel, dann fragt sich immer noch, welche es sind. ‹Sacra scriptura›, Heilige Schrift, das war im Mittelalter durchweg ein anderes Wort für: ‹Theologie›, also nicht nur für die Bibel. Die christlichen Glaubensbekenntnisse haben sich spät und unter Kämpfen herausgebildet; sie enthalten wichtigste Punkte nicht, z.B. die Rechtfertigung. Sie wurden verschieden ausgelegt. Sie gaben Anlaß zu Streitfragen. Gehören zum Beispiel das Fegefeuer oder die Konfirmation zum Lehrinhalt der Christen?

Auch «rein rationale Beweise» waren nicht immer und überall dasselbe. Die Vernunft selbst war nicht immer dieselbe. Selbst beim strengsten Beweisanspruch machte Kontingenz sich bemerkbar: Gruppenzugehörigkeit und Zeitströmungen, welche Bücher man gelesen hatte und was einer sonst von Wissenschaft und Welt wußte oder welche Sendung er zu haben glaubte.

Daher kann ‹Philosophie des Christentums› nur bedeuten: Ein Denker versucht, in einem Verfahren, das er für ‹rein rational› hielt, Behauptungen zu beweisen, die in seinem Umfeld als wesentliche Inhalte des christlichen Denkens galten. Das konnte er nicht, ohne an den philosophischen status quo anzuknüpfen, sei es, um diesen zu verbessern. Er entwickelte ein Verfahren, das er maßgebenden Zeitgenossen als rein rationales Vorgehen plausibel machen konnte; er knüpfte an Konzepte von Vernunft und an Regeln der Wissenserzeugung an, die in seinem Umfeld relativ unbestritten waren und die dafür galten, von Glaubensüberzeugungen methodisch abtrennbar zu sein.

Einem solchen Vorhaben drohten, wie man sofort sieht, von zwei Seiten Einwände: Christen protestieren, es sei nicht das wahre, das richtige Christentum, das in eine rationale Form gepreßt werde; Philosophen traten ihm von der anderen Seite her entgegen und sagten, was da als «rein rational» beansprucht werde, sei höchst unvernünftig und philosophisch nicht haltbar.

Philosophen des Christentums haben mit diesem Zweifrontenkrieg gelebt. Sie konnten sich trösten; auch ihre Gegner besaßen nicht die definitiv erfolgreiche Form der Philosophie.

‹Philosophie des Christentums› verstehe ich als Programm. Es muß nicht notwendigerweise unter diesem Titel laufen. Es gab Autoren, die ‹Theologie› betont wissenschaftlich oder philosophisch verstanden. Sie beanspruchten, die wahre, die spekulative Theologie zu treiben; andere redeten von ‹philosophischer Dogmatik›. Es kommt nicht auf Vokabeln an, nicht auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Fakultät, nur auf das Methodenkonzept und dessen Einhaltung.

2. Was heißt hier ‹Philosophie›?

Was ist mit ‹Philosophie› gemeint, wenn von Philosophie des Christentums die Rede ist? ‹Philosophie›, meine ich, sollte dabei nicht zu vage, im Allerweltssinn wie bei dem Ausdruck ‹Philosophie des Pentagon› genommen werden. Aber andererseits wäre es zu eng, irgendeinen Schulbegriff einzusetzen, also nur kantianische Erkenntnistheorie, neuscholastische Ontologie oder angelsächsische Sprachanalyse als ‹Philosophie› anzuerkennen. Solche Sonderarten mögen ihr Recht haben, aber wer sie allein als ‹Philosophie› anerkennt, wird ‹Philosophie des Christentums› als einen Widerspruch beurteilen.

Es geht um den Weltbegriff von Philosophie. Sie ist Liebe zur Sophia und erkennbar als die Gewohnheit, Rechenschaft zu geben von seinen Behauptungen, also möglichst präzis nach allgemeinen Regeln zu argumentieren. Dem Weltbegriff von Philosophie kann man sich durch eine Überlegung der folgenden Art nähern:

Soweit wir geschichtliches Leben kennen, haben Menschen ihre täglichen Bedürfnisse und Erfahrungen in einen umfassenderen gedanklichen Rahmen gesetzt. Sie haben sich ein Gesamtbild entworfen. Sie haben sich etwas über ihre Herkunft erzählt; sie klärten durch Bilder, Bauten oder Gedichte die Machtverhältnisse. Sie schufen Modelle von dem, was man soll und was man nicht darf; sie machten sich einen Reim auf Naturerfahrungen wie Tag und Nacht, Sommer und Winter.

Um hier schon auf Eckhart zuzugehen, erläutere ich die Produktion genereller Rahmen am Beispiel der Religionen. Es gibt mehrere Typen, seine Religion über die einzelne Vorschrift oder Aussage zu generalisieren, und das geschieht schon im Alltag, nicht erst als akademische Übung. Manche verstehen zum Beispiel alles Religiöse als Verehrung der Ahnen. Oder als Einhalten des Festkalenders. Ein drittes Modell zeichnet das Gottesreich als Hofstaat und bringt Einzelübungen und Einzelaussagen unter dieses Bild. Gott heißt dann ‹der Herr›. Er wird nach dem Muster des Pharao oder des persischen Großkönigs gedacht. Er ist umgeben von Heerscharen, die quasi-militärisch den Willen des Herrn vollziehen. Er verlangt Gehorsam; Diskussionen über seine Anordnungen sind verpönt. Zum Hofstaat-Modell der Religion gehört: Der Herr wird von seinen Dienern beim Herrschen gesehen, bewundert und gelobt. Er will gepriesen werden. Sein Personal übt Botendienst, dient als Eingreiftruppe und spendet viel Applaus. Es herrscht klare Hierarchie, auch unter den Dienern. Ein solches Gesamtbild prägt Lebensdeutung und -führung. Wichtig ist, sich die Gunst des Herrn zu verschaffen und zu erhalten; sein Zorn ist fürchterlich. Sieg im Krieg ist Gottes Gunst. Fragt man z.B., was Recht ist, lautet die Antwort: Recht ist, was der Herr will. Fragt man, was der Donner ist, so spricht darin der göttliche Zorn, der Regenbogen sagt Versöhnung an.

Andere Kulturen gaben andere Antworten: ‹Recht›, hieß es dann, ist, was sich aus der Vernunft ergibt oder was das Volk will. Es gibt in historischer Zeit, ich meine: seit wir geschriebene Quellen haben, konkurrierende Gesellschaftsbilder und Religionskonzepte. Sie erwiesen sich teilweise als kombinierbar, z.B. der Hofstaat mit dem Festkalender und der Verpflichtung zu Lobgesang. Als sie miteinander zu diskutieren begannen, entstand die Philosophie: sie ist als ein späteres Phänomen zu unterscheiden von der Produktion von Mythen, großen Erzählungen und generellen Festsetzungen. Sie ist eine griechische Erfindung, zwischen Homer und Parmenides entstanden als Selbstverpflichtung, Rechenschaft zu geben von seinen Behauptungen. Wird nach der Begründung dieser Regeln gefragt, entstehen neue Debatten; ihre weiteren Voraussetzungen, die sie allemal haben, erweisen sich als schwer auffindbar; sie verlieren sich im Unbestimmten; keiner überschaut sie alle. Daher geht die Diskussion weiter. Diese Kontroversen bilden die Geschichte der Philosophie.

Die Philosophie hat in die griechische Religion eingegriffen. Sie sagte den Göttern Homers, daß sie jetzt, in einer anderen Zeit, nicht mehr machen können, was ihnen gerade einfällt. Sie setzte Kriterien für sie fest. Wenn sie jetzt noch als Götter gelten wollen, müssen sie besonnen sein, gerecht und gut. Sonst sind sie keine wahren Götter, sondern Volksphantasien oder Erfindungen der Dichter, und Dichter lügen viel, sagt Aristoteles, wie vor ihm Heraklit und Platon. Der allein verehrenswürdige Gott ist der den Kriterien von Wahrheit, Güte und Gerechtigkeit entsprechende Gott. Damit ging ein reinigendes Gewitter über die Volksreligion und über Homer nieder. Man solle ihn auspeitschen, riet Heraklit; Platon war höflicher und ließ ihn nur an die Grenze des Staates führen und ehrenvoll verabschieden. Werner Jaeger hat in seinem Buch Die Theologie der frühen griechischen Denker (Stuttgart 1953) die Philosophie von den Anfängen bis zu Platon als diese Arbeit beschrieben: Korrektur der Hofstaat-Religion: Ein Gott statt streitender Himmel-Clans, Weisheit statt Willkür, neidlose Güte, Gerechtigkeit statt undiskutierbarer Macht. Kosmos, Physis statt Schemel seiner Füße.

Damit begann eine neue Zeit. Jetzt setzten Philosophen, zunächst nur für Gebildete, fest, was ein wirklicher, ein wahrer Gott sein kann. Ihr Tun war ebenso fromm wie aufsässig. Gott, sagt Platon, muß gut sein. Er beobachtet nicht eifersüchtig das Können der Menschen; er ist uns nicht böse, weil wir wissen wollen. Der Gott der Philosophen, das war damals der Gott der Reinigung, der ethischen Sublimierung der Götter des Volkes und Homers. Er war das Ende der Hofstaatreligion, Stoiker und Neuplatoniker führten das sehr verschieden konsequent aus; Skeptiker kritisierten und lachten.

Nach dieser philosophischen Revolution sah alles anders aus, die Natur und die Polis. Sie veränderte den Selbstbegriff des Menschen. Er wußte nun, er ist Vernunft und Seele; er verlangte von einem Gott, daß er Vernunft sei und ihm als Seele verwandt. Der Begriff von ‹Seele› wurde ein anderer: ‹Seele› war nicht mehr Blutdunst oder Lebenshauch oder Ahnengegenwart. Seele wurde zum Wesen der Kriterien. Sie bekam die Lebensregel, dem als Geist und gut gedachten Gott so ähnlich wie möglich zu werden. Die griechische Philosophie hat Gott und Menschenseele entmaterialisiert und ethisch veredelt. Gott und Seele wurden ‹Geist›, nusStaatTimaiosTheaitetTheaitetTheaitet