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Klaus Mühlhahn

Geschichte des modernen China

Von der Qing-Dynastie bis zur Gegenwart

C.H.Beck

Historische Bibliothek der GERDA HENKEL STIFTUNG

Die Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung wurde gemeinsam mit dem Verlag C.H.Beck gegründet. Ihr Ziel ist es, ausgewiesenen Wissenschaftlern die Möglichkeit zu geben, grundlegende Erkenntnisse aus dem Bereich der Historischen Geisteswissenschaften einer interessierten Öffentlichkeit näherzubringen. Die Stiftung unterstreicht damit ihr Anliegen, herausragende geisteswissenschaftliche Forschungsleistungen zu fördern – in diesem Fall in Form eines Buches, das höchsten Ansprüchen genügt und eine große Leserschaft findet.

Bereits erschienen:

Hermann Parzinger: Die frühen Völker Eurasiens
Roderich Ptak: Die maritime Seidenstraße
Hugh Barr Nisbet: Lessing
Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt
Werner Busch: Das unklassische Bild
Bernd Stöver: Zuflucht DDR
Christian Marek/Peter Frei: Geschichte Kleinasiens in der Antike
Jörg Fisch: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker
Willibald Sauerländer: Der katholische Rubens
Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands
Stefan M. Maul: Die Wahrsagekunst im Alten Orient
Friedrich Lenger: Metropolen der Moderne
Heinz Halm: Kalifen und Assassinen
David Nirenberg: Anti-Judaismus
Wolfgang Reinhard: Die Unterwerfung der Welt
Werner Plumpe: Carl Duisberg
Jörg Rüpke: Pantheon
Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991
Bernd Roeck: Der Morgen der Welt
Hartmut Leppin: Die frühen Christen
Frank Rexroth: Fröhliche Scholastik
Jill Lepore: Diese Wahrheiten
Mischa Meier: Geschichte der Völkerwanderung
Dieter Langewiesche: Der gewaltsame Lehrer

Zum Buch

Selbst elementare Kenntnisse der Geschichte Chinas sind hierzulande noch immer Mangelware. Klaus Mühlhahn beschreibt in seiner umfassenden Darstellung, wie sehr das Land auf seinem Weg von der gedemütigten Halbkolonie zur globalen Supermacht unserer Tage von der eigenen Vergangenheit geprägt wurde. Denn Chinas holpriger Weg in die Moderne ist nicht nur als eine Aufholjagd gegenüber dem Westen zu verstehen, sondern als ein großes Ringen um eine eigenständige chinesische Moderne. Wer Chinas phänomenalen Aufstieg, seine Widersprüche und Gegensätze begreifen will, der kommt an diesem grundlegenden Werk nicht vorbei.

Über den Autor

Klaus Mühlhahn ist Professor für Sinologie und Präsident der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen. Zuvor war er Vizepräsident der Freien Universität Berlin. 2009 erhielt er den renommierten John-King-Fairbank-Price der American Historical Association.

Inhalt

Einleitung

Ansätze und Themen

Gliederung und Kapitel

Wichtige Erkenntnisse

ERSTER TEIL: Aufstieg und Fall des Reichs
der Großen Qing

KAPITEL 1: Das ruhmreiche Zeitalter – 1644–1800

Die Umweltbedingungen im späten imperialen China

Regieren in der spätkaiserlichen Gesellschaft

Eroberung durch die Mandschus und Wiederaufbau der Großen Qing

Wachstum und Wohlstand im «Langen 18. Jahrhundert»

Eine chinesische Aufklärung? Intellektuelles Leben zur Zeit der Qing

Das Qing-Reich und die ostasiatische Weltordnung

KAPITEL 2: Neuordnung der chinesischen Welt – 1800–1870

Der Beginn des westlichen Imperialismus

Kommerzialisierung und Innovation in der Welt der Handelshäfen

Wirtschaftlicher Verfall

Umweltkatastrophen

Rebellion und Unruhen im ländlichen China

Der Zerfall der Qing-Herrschaft über die Grenzgebiete

KAPITEL 3: Das Dilemma der späten Qing-Zeit – 1870–1900

Selektive Selbststärkung

Chinas verlorene Kriege

Die Boxer-Krise

Die Entstehung des chinesischen Nationalismus und Militarismus

ZWEITER TEIL: Chinesische Revolutionen

KAPITEL 4: Der Sturz des Kaiserreichs – 1900–1919

Die neue Politik

Die Republikanische Bewegung und die Revolution von 1911

China und der Erste Weltkrieg

Geistiger Aufbruch in China: Die Vierte-Mai-Bewegung

KAPITEL 5: Wiederaufbau während der Republik-Zeit – 1920–1937

China unter der Herrschaft von Warlords

Die Revolutionäre Einheitsfront

Nationenbildung während der Nanjing-Dekade

Der Aufstieg des chinesischen Entwicklungsstaates

Urbanismus und die chinesische Moderne

Der Neuanfang der Revolution in den ländlichen Basisgebieten

KAPITEL 6: China im Krieg – 1937–1948

Zunehmende Spannungen in Xi’an

Die Schlacht beginnt

Die nationalistische Regierung in Chongqing

Die kommunistischen Gebiete

Die besetzten Gebiete

Globaler Krieg

Bürgerkrieg

DRITTER TEIL: Die Umgestaltung Chinas

KAPITEL 7: Sozialistische Transformation – 1949–1955

Regimewechsel

Ein neuer Staat

China und der Kalte Krieg

Säuberung

Eine neue Kultur

Landreform

KAPITEL 8: Sprung nach vorn – 1955–1960

Die Reorganisation der Gesellschaft

Die Einführung der Planwirtschaft

Kollektivierung im ländlichen China, 1953–1957

Krise in der sozialistischen Welt

Die Drei Roten Banner

KAPITEL 9: Die große Umwälzung – 1961–1976

Erholung von der Katastrophe

Einkesselung und Eskalation

Große Unordnung unter dem Himmel

Kampf um die Nachfolge

VIERTER TEIL: Der Aufstieg Chinas

KAPITEL 10: Reform und Öffnung – 1977–1989

Die globalen 1970er Jahre

China nach Mao

Der Beginn der Reformära

Institutionelle Neuerungen

Debatte über die chinesische Kultur

4. Juni 1989 – Ein Punkt ohne Wiederkehr

KAPITEL 11: Allumfassender Fortschritt – 1990–2012

Schulterschluss innerhalb der Partei

Die Ausweitung der Wirtschaftsreformen

Chinas Wende zum Multilateralismus

Streben nach nationaler Größe

Die Ära des Hyperwachstums

KAPITEL 12: Ambitionen und Ängste – China in der Gegenwart

Die Präsidentschaft von Xi Jinping

Globale Ambitionen

Wachsende soziale Spannungen

Wachsende Unsicherheiten

Anhang

Zeittafel:
China, 1644–2017

Liste der Karten

Abkürzungen

Anmerkungen

Einleitung

ERSTER TEIL
Aufstieg und Fall des Reichs
der Großen Qing

KAPITEL 1
Das ruhmreiche Zeitalter
1644–1800

KAPITEL 2
Neuordnung der chinesischen Welt
1800–1870

KAPITEL 3
Das Dilemma der späten Qing
1870–1900

ZWEITER TEIL
Chinesische Revolutionen

KAPITEL 4
Der Sturz des Kaiserreichs
1900–1919

KAPITEL 5
Wiederaufbau während der Republik-Zeit
1920–1937

KAPITEL 6
China im Krieg
1937–1948

DRITTER TEIL
Die Neugestaltung Chinas

KAPITEL 7
Sozialistische Transformation
1949–1955

KAPITEL 8
Sprung nach vorn
1955–1960

KAPITEL 9
Die große Umwälzung
1961–1976

VIERTER TEIL
Der Aufstieg Chinas

KAPITEL 10
Reform und Öffnung
1977–1989

KAPITEL 11
Allumfassender Fortschritt
1990–2012

KAPITEL 12
Ambitionen und Ängste
China in der Gegenwart

Danksagung

Bildnachweis

Ortsregister

Personenregister

Für Julia

Einleitung

Der Aufstieg Chinas im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert bringt zweifellos große Veränderungen für die Welt, in der wir leben. Chinas außergewöhnliches und beispielloses Wirtschaftswachstum in der jüngsten Vergangenheit, sein rascher Aufholprozess in Wissenschaft und Technologie und sein zunehmend kraftvolleres Auftreten auf der geopolitischen Bühne verschieben das globale Gleichgewicht. Bei der Eröffnung der Ausstellung «Weg der Erneuerung» in Peking im November 2012 sprach Chinas Präsident Xi Jinping zum ersten Mal über den «Chinesischen Traum» (zhongguo meng), den er als «Verwirklichung der großen Erneuerung der chinesischen Nation» bezeichnete.[1] Die Ausstellung erzählte die Geschichte der Demütigungen in der Vergangenheit, die mit den Niederlagen in den Opiumkriegen des 19. Jahrhunderts gegen westliche Imperialisten begannen.

Wie sollen wir die historische Dimension eines solchen Wendepunktes verstehen? Während viele, die sich heute mit chinesischer Politik oder Wirtschaft beschäftigen, im Einklang mit der offiziellen Darstellung der Regierung davon ausgehen, dass Chinas Aufstieg vierzig Jahre alt ist und 1978 mit Deng Xiaoping begann, wissen Historiker, dass diese Entwicklung schon wesentlich früher begonnen hat. Über ein Jahrhundert lang bemühte sich China mit beeindruckendem Erfolg darum, die Probleme der Vergangenheit zu überwinden. Wie sich die künftige Situation entwickeln wird, ist jedoch offen. Die geschichtliche Perspektive ist unser einziger Leitfaden, die Zukunft einzuschätzen. Um ein aufstrebendes China zu verstehen, sollten wir uns seine Vergangenheit vergegenwärtigen: die früheren Perioden des Aufschwungs, die Phasen des Niedergangs und der Krise sowie die anhaltenden Bemühungen um Erholung im letzten Jahrhundert. Die historische Perspektive wird auch die Gründe für vergangene Triumphe und Misserfolge aufdecken. Denn wenn Chinas Zeitalter des Wohlstands und des Selbstbewusstseins das 21. Jahrhundert prägen wird, dann liegt dies an seinem historischen Erbe und an seiner Fähigkeit, Widrigkeiten zu überwinden.

In diesem Buch werden die wichtigsten Dimensionen der chinesischen Vergangenheit betrachtet, um die aktuelle Dynamik genauer und differenzierter zu verstehen. Für ein präziseres Verständnis der modernen Entwicklung Chinas ist es notwendig zu wissen, wie das heutige China aus der Vergangenheit hervorgegangen ist und was dies für die Zukunft bedeuten könnte. Die bisherigen Strategien und Maßnahmen des Landes können Hinweise für das Verständnis der gegenwärtigen Probleme liefern. Einige Fragen sind besonders relevant und dringlich. Was sind die spezifischen Wege, die China erlebt, getestet und beschritten hat? Wie lassen sich die Probleme, mit denen das moderne China konfrontiert ist, mit den Problemen in der Vergangenheit vergleichen? Was kann historische Forschung dazu beitragen, die aktuelle Situation und die vielfältigen chinesischen Bemühungen zur Bewältigung der zugrundeliegenden Herausforderungen zu verstehen? Welche historischen Prozesse und Ereignisse haben die Ursprünge und Transformationen von Institutionen und Strukturen beeinflusst, die heute in China Politik und Wirtschaft regieren? Kurz gesagt, was kann die historische Perspektive über den Handlungsspielraum aussagen, den China auf seinem Weg in die Zukunft hat?

Eine grundlegende Frage ist, wie weit wir zurückgehen müssen, um die Entstehung des modernen China zu verstehen. Periodisierung ist eines der wichtigsten Instrumente der historischen Interpretation. Überlegungen zum Beginn und zum Ende einer Periode sind die Grundlage historischer Erklärungen. Es gibt viele Aspekte in der beeindruckend langen Geschichte Chinas, die die Gegenwart beeinflussen. Es gibt zahlreiche Schriften, Ideen und Entscheidungen, die mit dem heutigen China in Verbindung gebracht werden können. In diesem Buch wird eine Betrachtungsweise gewählt, die die Entstehung des modernen China über einen längeren Zeitraum erklärt und die Kontinuität einiger seiner wichtigsten Institutionen, das Fortbestehen langfristiger Probleme und Herausforderungen und seine historisch wichtige Rolle auf der internationalen Bühne darlegt. Ein sinnvoller Ausgangspunkt für eine solche Erzählung ist die Periode, die als frühe Moderne bezeichnet wird (etwa Mitte des 17. bis 18. Jahrhunderts).[2] In vielerlei Hinsicht kann diese Periode nicht nur als eine «spätkaiserliche» Phase im Niedergang des traditionellen China verstanden werden, sondern auch als «frühneuzeitlicher» Vorläufer der kommenden Entwicklungen. Zu diesem Zeitpunkt, ab 1644 unter der Herrschaft der Qing-Dynastie, entwickelten sich viele Kerninstitutionen des späten Kaiserreichs China, und das Reich erreichte seinen Höhepunkt. Die in dieser Zeit bestehenden oder geschaffenen grundlegenden Institutionen in Gesellschaft und Kultur prägten Chinas historische Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert und beeinflussten seine politischen Entscheidungen.

Der Begriff «modernes China» wird in diesem Buch rein zeitlich und nicht als normativer Rahmen verwendet. Er bezieht sich auf die Zeitspanne von fast drei Jahrhunderten der sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Entwicklung Chinas. Das moderne China wird in diesem Buch auch nicht als absolute Kategorie verstanden, sondern als sich entwickelndes soziales Konstrukt, das die Errichtung neuer Institutionen nach ausländischen oder externen Vorbildern und die Mobilisierung einiger spezifischer einheimischer institutioneller Ressourcen, politischer Interessen und wirtschaftlicher Pläne einschließt. Es wird nicht angenommen, dass es ein universelles oder westliches Modell dafür gibt, was es bedeutet, modern zu sein. Ein solches Konzept würde die Geschichte falsch interpretieren, moderne Prozesse außerhalb Europas und der Vereinigten Staaten falsch bewerten und die vielen Versionen und Varianten der Moderne ausblenden. Die beharrliche Suche Chinas nach Alternativen und Varianten zur westlichen Moderne trotzt dominanten westlich orientierten Konzepten von Modernität und Modernisierung.

Modern zu sein, bedeutet nach dieser Auffassung auch nicht, mit der Vergangenheit zu brechen. Obwohl die Idee der Moderne auf der Transformation des «Vormodernen» beruht, sind historische Wurzeln und Vermächtnisse weiterhin wirksam. In der Tat ist das Nebeneinander traditioneller und moderner oder einheimischer und ausländischer Elemente eine der Grundbedingungen des heutigen Lebens. Chinas traditionelle soziale Organisationen sind weiterhin nicht nur politisch und ökonomisch wirksam, sondern spielen auch eine wichtige Rolle in Entwicklungsfragen. «Modern» ist in diesem Buch sowohl zeitlich als auch räumlich als relativer Begriff zu verstehen und als ein übergreifendes Ziel, das von einer Vielzahl von Akteuren in China beharrlich verfolgt wird, um das Land stark und wohlhabend zu machen. Die Herausbildung des modernen China wird vor allem von dem ebenso häufig wie klar artikulierten Wunsch Chinas angetrieben, eine mächtige, wohlhabende und fortschrittliche Nation wiederherzustellen.

In diesem Buch wird die Entstehung des modernen China anhand eines historischen Ansatzes dargestellt, der Chinas Erfahrungen und seine Perspektiven in den Vordergrund rückt. Statt häufig genannter Faktoren wie der Bedeutung kultureller Traditionen, der Macht der Ideologien oder der Kämpfe zwischen Chinas alten und neuen Kaisern analysiert dieses Buch Institutionen, um China in der Neuzeit zu verstehen. Dieser Ansatz ermöglicht eine umfassende und zugleich strukturierte Betrachtung, die alle wichtigen Ereignisse und Persönlichkeiten abdeckt. Die Untersuchung von Institutionen und ihrer Rolle in Ereignissen, Entscheidungen und Prozessen liefert ein präziseres und systematischeres Verständnis und eine bessere Erklärung historischer Entwicklungen. Institutionen üben einen tiefgreifenden Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung, auf das soziale und kulturelle Leben sowie auf die wirtschaftlichen Aktivitäten aus. Die Analyse von Institutionen gibt daher Aufschluss darüber, warum einige Länder in Wohlstand leben und andere zurückfallen, warum sich einige schneller und andere langsamer entwickeln, warum manche Gesellschaften eine gute Regierungsführung genießen und andere nicht.[3] Eine solche Untersuchung ist kulturell und politisch neutral. Es werden keine externen Standards angewendet. Und sie öffnet die chinesische Geschichte für sinnvolle Vergleiche. Eine kurze Betrachtung der Bedeutung von Institutionen in China und anderswo kann dies verdeutlichen.

Der Begriff «Institution» wird in der Alltagssprache vage verwendet. In den Sozialwissenschaften sind Institutionen geschriebene oder ungeschriebene Regeln, konkreter soziale Regularien, die von Menschen zur Erreichung gesellschaftlicher Zusammenarbeit festgelegt werden.[4] Sie ermöglichen es Mitgliedern einer Gruppe, reibungslos und auf der Grundlage von gegenseitigem Vertrauen zusammenzuarbeiten, was mit Regeln, gemeinsamen Annahmen, Erwartungen und Werten einhergeht.[5] In einem funktionierenden institutionellen System lernen die Akteure, sich auf bestimmte Verfahren mit vorhersehbaren Ergebnissen zu verlassen, und halten sich deshalb an diese.

Fortschritte im sozialen und wirtschaftlichen Leben hängen davon ab, dass Menschen zusammenarbeiten und sich gegenseitig unterstützen. Zusammenarbeit ist auf allen Ebenen der Gesellschaft erforderlich – von der kleinen Einheit der Familie oder des Clans bis hin zu großen Einheiten wie großen Unternehmen oder dem Staat –, um das Gemeinwohl zu sichern, Streitigkeiten beizulegen, Ordnung zu wahren und Bildung und Wohlfahrt zu organisieren. Es ist eine große Herausforderung für die Menschen in jeder sozialen Gruppe, über lange Zeit zusammenzuarbeiten, insbesondere wenn sich das Umfeld verändert. Um die Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten, richten sie Institutionen ein, weisen ausgewählten Mitgliedern Verantwortlichkeiten und Befugnisse zu und führen Belohnungen oder Strafen ein, um die Erwartungen der Mitglieder zu steuern und Anreize für positives Handeln zu geben. Regeln werden zu Institutionen, wenn sie von einzelnen Mitgliedern verinnerlicht wurden und zu einem Teil ihrer Weltanschauung oder Überzeugung geworden sind.[6] Daher sind institutionelle Regeln das Fundament komplexer Organisationen wie Behörden, Unternehmen und ländlicher Märkte. Institutionen manifestieren sich in spezifischen Organisationen, die bestimmten Skripten von Aufgaben, Funktionen und Arbeitsteilung folgen und gegenseitiges Verständnis, gegenseitiges Vertrauen und gemeinsame interne Kulturen verkörpern.

Institutionen dienen als Grundlage aller Transaktionen und agieren hinter den Kulissen. Sie schaffen eine grundlegende, unsichtbare Infrastruktur, die das Verhalten von Personen in einer Organisation beeinflusst und koordiniert. Sie werden über Generationen aus der Vergangenheit übertragen und beeinflussen auch nachfolgende Institutionen. Institutionelle Elemente sind in der kollektiven Erinnerung und kognitiven Mustern verankert. Sie prägen Vorlieben und Entscheidungen. Wenn sich eine Gesellschaft einer neuen Situation oder Herausforderung gegenübersieht, bestimmen bereits bestehende institutionelle Elemente die Bandbreite der möglichen Antworten. Aus der Vergangenheit übernommen, liefern sie einen Standardmodus für das Verhalten in neuen Situationen.

Während Institutionen eine relativ vorhersehbare Struktur für den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Alltag bieten, sind sie weder unflexibel noch unumstritten. Institutionen sind dynamische und sich entwickelnde Skripte, in denen Verhaltensmuster im Laufe der Zeit fortbestehen, aber die sich aufgrund von externem Druck oder internen Herausforderungen ändern können. Institutionalisierte Verhaltensweisen sind jedoch schwer zu ändern. Es ist möglich, neue Regeln und Mechanismen zu generieren, aber dies erfordert bewusste Entscheidungen und Handlungen. Wissenschaftler argumentieren, dass Institutionen Verhalten formen, aber nicht notwendigerweise bestimmen, da die Akteure entscheiden können, ob sie die Regeln befolgen oder nicht. Neuere institutionelle Konzepte betonen daher, dass das Zusammenspiel von Organisationen und ihrem historischen Umfeld Organisationsstrukturen definiert und legitimiert. Die Geschichte ist für das Verständnis der institutionellen Strukturen also von essentieller Bedeutung.[7]

Nach Ansicht von Douglass North «prägt der institutionelle Wandel die Entwicklung der Gesellschaften im Laufe der Zeit und ist daher der Schlüssel zum Verständnis des historischen Wandels.»[8] Historische Entwicklungen werden geprägt von den unsichtbaren Veränderungen innerhalb der Institutionen, die eine Gesellschaft zur Organisation der Zusammenarbeit und Interaktion zwischen ihren Mitgliedern eingerichtet hat. Kulturelle und ideologische Elemente spielen auch eine Rolle bei der Aufrechterhaltung der Kontinuität oder der Förderung des Wandels innerhalb von Institutionen. Wir brauchen somit kontextuelle, also kulturelle und historische Informationen, um Institutionen genau zu verstehen.

Die Institutionen variieren zwischen den Gesellschaften. Indem unterschiedliche Institutionen verschiedene Arten von Beziehungen und Verhaltensweisen ermöglichen, bestimmen sie die Wirksamkeit von Organisationen und politischen Maßnahmen und führen zu unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Ergebnissen in Bezug auf die Wahrnehmung von Rechten und die Verteilung von Ressourcen in der Gesellschaft.[9] Institutionen können integrativ, stabil, effizient und anpassungsfähig sein. Sie können aber auch ineffizient, umkämpft und extraktiv sein und Änderungen in ihrer Umgebung vernachlässigen. Gute, integrative Institutionen fördern die Zusammenarbeit und solches Handeln, von dem eine Vielzahl von Gruppen und Einzelpersonen profitieren. Gute Institutionen erleichtern auch die Entwicklung, indem sie Verbesserungen und Investitionen und die Verbreitung von Wissen und Fähigkeiten durch Bildung fördern. Sie sorgen für ein nachhaltiges Bevölkerungswachstum und fördern Stabilität und Frieden. Sie ermöglichen die gemeinsame Mobilisierung von Ressourcen und vorteilhafte Maßnahmen wie die Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen. Es ist vor allem die Qualität dieser institutionellen Grundlagen, die das Wohlergehen einer Gesellschaft bestimmt.

Mit dem Fokus auf Institutionen will die Geschichte der Entstehung des modernen China über die politische Geschichte hinaus weitere Teilbereiche der Geschichte einbeziehen, um mit Hilfe institutioneller Strukturen und Prozesse bestimmte Entwicklungen zu erklären. Die Institutionsgeschichte untersucht, wie Menschen zusammengearbeitet haben und welche Vorkehrungen sie getroffen haben, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Handel, Märkte und Geld werden einbezogen. Die Institutionsgeschichte befasst sich mit den Drehbüchern hinter Organisationseinheiten wie Regierungen, Dörfern und Städten, Wirtschaftsunternehmen und dem Militär. Zusammengenommen interagieren diese Skripte auf komplexe Weise mit religiösen und politischen Ansichten, indigenen kulturellen Traditionen und Transfers aus der Außenwelt. Die Perspektive der institutionellen Geschichte ist für sich genommen wichtig, bietet aber auch die Grundlage für ein umfassenderes Verständnis des heutigen China.

Mit diesem Ansatz möchte das vorliegende Buch wichtige Aspekte der chinesischen Geschichte behandeln – nicht nur Herrscher, Ideologien und kulturelle Praktiken, sondern auch Gesellschaft, Wirtschaft, Recht und Gerechtigkeit, und das in einer Breite, die anderen Darstellungen aus verschiedenen Gründen fehlt. Es will nicht nur ereignisgeschichtlich die Herausbildung des modernen China chronologisch darstellen, sondern auch erzählen, wie über einen Zeitraum von mehr als drei Jahrhunderten eine Entwicklung zur nächsten geführt hat. Es konzentriert sich auf institutionelle Entwicklungen, die von chinesischen Plänen und dem Bestreben nach Modernisierung getrieben wurden, und bietet eine theoretisch fundierte Darstellung, die gelegentlich auch konventionelle Annahmen zur chinesischen Geschichte in Frage stellt.

Ansätze und Themen

Die Gesamtentwicklung jeder Gesellschaft wird von Institutionen und ihren Transformationen geprägt – auch von institutionellen Fehlern und Schwächen, die in bestimmten Zeiten zu Rückschlägen und sozialem Chaos führen. Das Studium der Funktionsweise und des Scheiterns chinesischer Institutionen kann wesentlich zu unserem Verständnis der Rückschläge und Erfolge Chinas in den letzten Jahrhunderten beitragen. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der umfassenden Transformation der chinesischen Gesellschaft zwischen 1644, als bereits einige der beständigsten Institutionen existierten, und der Gegenwart. Dieses Buch konzentriert sich auf Institutionen in den Schlüsselbereichen Regierung, Wirtschaft, Souveränität und Sicherheit, Management von Bodenschätzen und Geistesgeschichte.

Die Regierung muss als Meta-Institution gesehen werden, da es zu den Aufgaben einer Regierung gehört, die Parameter für andere soziale Institutionen individuell und kollektiv zu organisieren und zu definieren. Regierungen regulieren und koordinieren Wirtschaftssysteme, Bildungseinrichtungen sowie Polizei- und Militärorganisationen. Die Regierungen legen die Regeln für andere Institutionen etwa durch Gesetze, Dekrete und die Mobilisierung von Ressourcen fest. Aber während die Regierung als formeller Hauptakteur und grundlegende Analyseeinheit erscheint, ist sie keineswegs der einzige Akteur, der Regeln für die chinesische Gesellschaft festlegt. Sie muss vielmehr als ein Akteur unter vielen gesehen werden. In der modernen chinesischen Geschichte haben auch Warlords, Rebellen, Eroberer, Clans, Gilden und lokale Verbände Institutionen errichtet oder verändert. Wir müssen somit eine breite Palette relevanter politischer Akteure und Einflüsse in der chinesischen Geschichte berücksichtigen.

Ein weiterer Schwerpunkt ist die Entstehung und Entwicklung von wichtigen Wirtschaftsinstitutionen. Hier stellt sich die Frage nach den Verbindungen zwischen Regierung und Wirtschaft in der modernen chinesischen Geschichte.[10] Herrscher und ihre ausführenden Organe versuchen Einnahmen zu maximieren, müssen aber gleichzeitig mit Hindernissen umgehen wie Transaktionskosten, opportunistischem Verhalten staatlicher Akteure sowie Abhängigkeiten von lokalen Eliten oder wichtigen Unterstützern.[11] In diesem allgemeinen institutionellen Modell sehen sich die Regierungsbehörden mit einem Einnahme-Imperativ konfrontiert, der sich aus der Notwendigkeit der Finanzierung politischer Institutionen und ihrer Aufgaben ergibt. Machthaber können, beispielsweise durch die Festlegung vorteilhaft gestalteter Eigentumsrechte Einnahmen effizient erzielen. Wirtschaftsinstitutionen prägen zwar die wirtschaftlichen Ergebnisse maßgeblich, sie werden jedoch selbst von staatlichen Institutionen und Kontrollsystemen sowie allgemein von der Verteilung der Ressourcen in der Gesellschaft bestimmt.

Ein weiteres Thema der Institutionengeschichte sind Institutionen der nationalen Souveränität und der territorialen Sicherheit. China war häufig gezwungen, sich mit existenzbedrohenden Angriffen auf seine staatliche Souveränität und auf sein Territorium auseinanderzusetzen. Tatsächlich wurde China in seiner gesamten Geschichte etwa die Hälfte der Zeit von nichtchinesischen Völkern regiert. Ein Ergebnis war der Aufbau von Sicherheitsinstitutionen zum wirksamen Schutz der Grenzen und des Territoriums.[12] Gleichzeitig ermöglichte eine erstaunliche Fülle grenzüberschreitender Interaktionen den Austausch von technologischen, institutionellen und kulturellen Errungenschaften.[13] Diese Transfers verbanden China über seine Nachbarn mit der Außenwelt. Die Dichte und Häufigkeit dieser Verbindungen und Transfers warfen die Frage auf, wie die Offenheit gegenüber der Welt verwaltet werden sollte. Die Geschichte der Souveränität und Sicherheit zeigt daher nicht nur die potenziellen Bedrohungen und Vorteile auf, die sich aus Sicht der Regierungen aus dem Grenzübertritt ergeben können, sondern auch die Notwendigkeit, Institutionen für die Verwaltung der territorialen Organisation im Zentrum und an der Peripherie sowie der grenzüberschreitenden Transfers zu unterhalten.[14]

Viel zu oft wurde der Einfluss der physischen, natürlichen Umwelt auf das menschliche Handeln in der Geschichte Chinas ignoriert. In diesem Buch wird die Rolle von Institutionen bei der Nutzung von natürlichen Ressourcen hervorgehoben und der Ausbeutung der Umwelt angemessene Aufmerksamkeit geschenkt. Die Umweltgeschichte untersuchte in der Regel die Einflüsse von Biologie, Klima und Geographie, während der Mensch, wie Fernand Braudel es ausdrückte, als «Gefangener des Klimas» galt.[15] In jüngster Zeit haben Wissenschaftler den Blick auf menschliche Einflüsse auf dem Planeten gerichtet. China ist ein hervorragendes Beispiel. Es hat eine lange und bekannte Geschichte von Naturkatastrophen, die zu Verlusten und Zerstörungen geführt und Staat und Gesellschaft gezwungen haben, Instrumente zur Katastrophenverhütung und Krisenreaktion zu entwickeln. Im 20. Jahrhundert erbte China jedoch auch die dramatischen Umweltauswirkungen eines Jahrtausends der Umgestaltung der Natur zu wirtschaftlichen Zwecken, was zu immer höheren Kosten und schwierigeren Bedingungen beim Zugang zu grundlegenden Ressourcen wie Luft, Boden und Wasser führte.[16]

Schließlich muss jede Geschichte von Institutionen auch die Bedeutung der Geistesgeschichte berücksichtigen – die Gedanken, Ideen, Symbole und Bedeutungen, die in einer Gesellschaft wichtig sind. Institutionen sind eingebettet in kulturelle Kontexte und normative Traditionen. Soziale Institutionen und Strukturen basieren auf Prozessen der kulturellen Symbolisierung und der sozialen Konstruktion von Bedeutung.[17] Was für soziale Akteure bedeutend und sinnvoll ist, hängt von ihrer Wahrnehmung und Interpretation der sozialen Realität ab, die durch symbolische Systeme gefiltert wird. Für die Analyse von Institutionen ist daher die Kulturlandschaft der Symbole ebenso wichtig wie soziale und wirtschaftliche Strukturen. In diesem Themenfeld wird der Schwerpunkt darauf liegen, wie Gruppen innerhalb der Gesellschaft ihre sozialen, politischen und globalen Umgebungen verstanden haben. Deshalb werden die Werte und Symbole der chinesischen Gesellschaft untersucht, die das Verhalten von Akteuren und Institutionen geprägt haben. Es wird rekonstruiert, was es bedeutete, chinesisch zu sein und wie sich diese Definition im Laufe der Zeit verändert hat.[18]

Ziel ist es somit, anhand von Institutionen die Entscheidungen zu erklären, die die chinesische Gesellschaft in der Vergangenheit getroffen hat und die sie heute trifft. Diese Perspektive wird zeigen, wie die chinesische Gesellschaft weiterhin in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen auf historische symbolische und institutionelle Ressourcen zurückgreift, von der Beibehaltung institutioneller Praktiken bis hin zur Festlegung von Zielvorgaben. Die Menschen in China denken in historischen Kategorien und verstehen die Welt aus langfristiger historischer Perspektive. Sie leiten aus ihren historischen Erfahrungen für China einen rechtmäßigen Platz in der Welt ab. Chinas Vergangenheit bietet ein breites und einflussreiches Repertoire an Strategien und Regeln, die weiterhin das Verhalten Chinas in der Gegenwart beeinflussen.

Gliederung und Kapitel

Dieses Buch besteht aus vier Teilen mit jeweils drei Kapiteln, die in chronologischer Reihenfolge angeordnet sind. Der erste Teil «Der Aufstieg und Fall des Reichs der Großen Qing» behandelt den Zeitraum von 1644 bis 1900. Er beginnt mit einem Überblick über die ruhmreiche Zeit, in der China trotz der zerstörerischen, gewaltsamen und traumatischen Eroberung durch die Mandschus in der Mitte des 17. Jahrhunderts zum stärksten, reichsten und einflussreichsten eurasischen Reich wurde. In der frühen Neuzeit hatte China eine der größten und effizientesten Volkswirtschaften der Welt. Die frühe Qing-Ära zeigte große militärische Stärke, materiellen Wohlstand und soziale Stabilität und unterstützte eine enorme Expansion des Territoriums und der Bevölkerung in einer zunehmend kommerzialisierten, aber hauptsächlich agrarischen Wirtschaft. Globale Verbindungen führten zu einer kommerziellen Revolution, die China zu einem Zentrum der Weltwirtschaft machte. Einige seiner Industrien – zum Beispiel die Textil-, Eisen- und Keramikindustrie – gehörten ebenfalls zu den fortschrittlichsten der Welt. Eine Reihe hocheffizienter und hochentwickelter Institutionen wie die kaiserliche Regierung (eine hochkomplexe und effektive Verwaltungsorganisation), das Prüfungssystem, soziale Wohlfahrt und freie Märkte legten die Grundlage für eine blühende Gesellschaft. Viele Institution arbeiteten eher nach informellen Regeln als nach formellem Recht. Diese Entwicklungen haben nicht nur China, sondern die gesamte Welt der frühen Neuzeit geprägt, in der China eine führende Position einnahm.

Nach 1830 geriet das Qing-Reich in eine tiefe Krise. Angesichts einer wachsenden Wirtschaftskrise, institutionellen Versagens und militärischer Unruhen konnte es nicht mehr auf seinem historischen Erbe aufbauen. Chinas Position in der Welt litt im Gegenteil stark. Die demografische und wirtschaftliche Entwicklung sowie die starke Verschlechterung der Umweltbedingungen im 19. Jahrhundert untergruben zunehmend die Fähigkeit der Qing, eine sich rasch verändernde Gesellschaft zu regieren. Große Aufstände und der westliche und japanische Imperialismus schwächten die Regierung weiter. China blieb auch hinter der fortschrittlichen Technologie des Westens zurück. Diese Ereignisse und Faktoren kennzeichneten die in China als «Jahrhundert der Demütigung» bekannte Ära, eine Zeit voller unerbittlicher Kriege, Besetzungen und Revolten in der Geschichte des Landes. Während seines Niedergangs verarmte das Qing-Reich so sehr, dass ein Großteil der Bevölkerung trotz langer Arbeitszeiten ein geringes Einkommen erzielte, sich nicht ausreichend ernähren, keine Ressourcen oder Kapital ansammeln konnte und keinen Zugang zu Sozialleistungen hatte. Als die Steuereinnahmen dramatisch sanken, lähmte dies die meisten staatlichen Institutionen. Chinas Abstieg im 19. Jahrhundert bis hin zur Unfähigkeit, seine historischen Vorteile zu nutzen oder sich gegen soziale Unruhen und den ausländischen Imperialismus zu verteidigen, ist hauptsächlich auf institutionelles und politisches Versagen zurückzuführen.

China zeigte jedoch nach 1870 eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit. Es litt unter der Phase des Imperialismus, überlebte diese jedoch besser als die meisten Teile der Welt, da es territorial weitgehend intakt blieb und die Grundlagen für die künftige Entwicklung legen konnte. Seit dem späten 19. Jahrhundert versuchten die chinesischen Regierungen, bestehende Institutionen zu reformieren und wieder aufzubauen, wobei sie sich zunächst auf ein staatliches Industrialisierungsprogramm mit Schwerpunkt auf Verteidigungsindustrie und Infrastruktur stützten. Die anfänglichen Bemühungen um institutionelle Reformen kamen jedoch zu spät und waren zu kurz gegriffen und konnten die Dynamik des dynastischen Systems nicht mehr wiederherstellen.

Der zweite Teil «Chinesische Revolutionen» erzählt von der Entstehung eines neuen republikanischen Chinas, das zwischen 1900 und 1949 eine Verjüngung und ein nationales Erwachen anstrebte. Nach der Niederlage des Boxeraufstands im Jahr 1900 wurden tiefgreifende institutionelle Reformen im Bildungsbereich, in Militär, Wirtschaft und Regierung umgesetzt. Die Neue Politik der Kaiserinwitwe war eine Reaktion auf das Boxer-Debakel und brachte grundlegende Verfassungs- und Rechtsreformen, eine parlamentarische Regierung, Kommunalwahlen, Gerichtssysteme, Hochschulbildung, Wirtschafts- und Finanzpolitik, ein verbessertes Transportwesen, Außenpolitik und Steuerreformen ein und schuf eine neue Armee. Insbesondere der Aufbau einer professionell ausgebildeten Armee trug zur Militarisierung der politischen Kultur Chinas im 20. Jahrhundert bei. Offiziere und Kadetten der Armee wurden auch zu Kräften des politischen Wandels in China, als sie sich vom Qing-Thron abwandten und begannen, die republikanische Bewegung zu unterstützen. Unter der Führung von Sun Yat-sen begann China 1912 als erste Republik in Asien buchstäblich mit dem «Wiederaufbau» eines modernen Nationalstaates und einer modernen Bürgerschaft. Neue Institutionen wurden geschaffen, um eine neue, starke Nation zu formen. Es folgte jedoch eine längere Zeit der regionalen Militärführer, die ihre militärischen Potenziale weiter ausbauten. Ökonomisch gewann China im frühen 20. Jahrhundert an Stärke und wurde widerstandsfähiger, insbesondere in den Vertragshäfen. Historiker bezeichnen dies als das «goldene Zeitalter» des chinesischen Kapitalismus. Shanghai wurde zum Dreh- und Angelpunkt des internationalen Handels in Asien und zur Heimat von Chinas erster Mittelklasse, die das Versprechen der chinesischen Moderne verkörperte. Nach der Wiederherstellung einer Zentralregierung in Nanjing im Jahr 1928 unter der Leitung von Chiang Kai-shek wurden die institutionellen Reformen und damit die Stärkung des Landes fortgesetzt und ausgeweitet.

Der Schwerpunkt verlagerte sich zunehmend von Reform zu Innovation. Deshalb versuchte die chinesische Regierung, traditionelle Institutionen abzuschaffen und durch neue zu ersetzen, um den wirtschaftlichen und politischen Niedergang aufzuhalten, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln und die soziale Entwicklung zu fördern. In dieser Zeit wurden zahlreiche neue Regierungsinstitutionen eingeführt, ein modernes Bankensystem eingerichtet und eine Vielzahl neuer Gesetze für Staat und Wirtschaft verabschiedet. China öffnete seine Türen für neue Ideen und etablierte ein dynamisches Hochschulsystem mit starken staatlichen Institutionen und kreativen privaten Institutionen, die nicht zuletzt von ausländischen Schulen und Institutionen unterstützt wurden. Infolgedessen erreichte das republikanische China ein bescheidenes Wirtschaftswachstum und soziale Verbesserungen, obwohl diese Erfolge auf städtische Gebiete entlang der Küste beschränkt blieben. Diese Anstrengungen hätten auf lange Sicht China möglicherweise erfolgreich aus der Armut befreit, doch der Zweite Weltkrieg und der darauffolgende Bürgerkrieg brachten die Entwicklung zum Erliegen. Die Errungenschaften und Erfolge wurden durch die japanische Invasion und den langwierigen Kampf zwischen der Kommunistischen Partei und der Nationalistischen Partei weitgehend zunichtegemacht. Krieg und Bürgerkrieg behinderten die Fortsetzung der institutionellen Reformen und führten somit zu einer langen Verzögerung der Teilhabe Chinas an der globalen industriellen Entwicklung.

Der dritte Teil «Chinas Erneuerung» untersucht das Wesen der frühen Volksrepublik zwischen 1949 und 1977 und den Versuch der Kommunistischen Partei Chinas, die chinesische Gesellschaft umzugestalten. Als schließlich in den 1950er Jahren die nationale Einheit wiederhergestellt war, wurde eine Variante des sozialistischen Sowjetmodells eingeführt, die das Projekt einer neuen und mächtigeren institutionellen Struktur in China fortsetzte. Unter Mao Zedong wurde die rücksichtslose Durchsetzung staatlicher Prärogation massiv verstärkt. Für den Regierungsapparat der Volksrepublik China (VR China) wurde eine umfassende Infrastruktur aufgebaut, die das Gleichgewicht zwischen zentralen und lokalen Interessen zugunsten des Zentralstaates verschob. Mit dem Versuch, China zu einem sozialistischen Land zu machen, wurden auch die zentrale Autorität und die staatlichen Kapazitäten wiederhergestellt. Die VR China war in der Lage, landesweite politische Initiativen zu starten, umzusetzen und zu überwachen, die zum ersten Mal seit dem Fall des Reiches bis auf die dörfliche Ebene Auswirkungen hatten. Die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) war in der Lage, sich selbst und den Staat in der Gesellschaft tief zu verwurzeln. Durch die Kollektivierung im ländlichen Raum konnte der Staat Ressourcen aus Chinas riesiger Agrarwirtschaft zugunsten von Schwerindustrie und Verteidigung sowie Infrastruktur, Bildung und Grundversorgung umverteilen. Dem sozialistischen Staat gelang es, die Gesellschaft bis an die Basis zu durchdringen und in noch nie dagewesenem Ausmaß Ressourcen zu gewinnen, doch der Erfolg dieser Politik war begrenzt und höchst ungleichmäßig. Maos Regierung musste sich mit Unzufriedenheit und Widerstand gegen die Initiativen auseinandersetzen. Heterogenität und Pluralismus wurden eingeschränkt, blieben aber bestehen. Konflikte zwischen offiziellen und inoffiziellen Kulturen existierten weiter. Die Kluft zwischen städtischen und ländlichen Interessen wuchs, und in dem Maße, wie die alten sozialen Ungleichheiten beseitigt wurden, wurden sie durch neue ersetzt. Die Gesellschaft der VR China war unvermindert anfällig für Ungleichheit, Auseinandersetzungen, Konflikte und Gewalt.

Die Kehrseite dieser Entwicklungen zeigte sich in den 1960er Jahren, als die überambitionierten Initiativen des Großen Sprungs nach vorn und der Kulturrevolution massive Zerstörungen und Todesopfer verursachten und ein Großteil dessen, was in den frühen 1950er Jahren erreicht worden war, erneut verlorenging. Zugleich wurde versäumt, langfristige Probleme wie Armut, Umweltzerstörung und technologische Unterentwicklung anzugehen. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass die KPCh in den ersten drei Jahrzehnten sehr erfolgreich in der Zerstörung alter Institutionen war, jedoch weit weniger erfolgreich darin, neue Institutionen zu bilden. Der Maoismus strebte eine Revolution des Staates und des politischen Systems an, die er am Ende nicht bewerkstelligen konnte. Trotzdem ermöglichte die stürmische Zerstörung der Überreste des alten bürokratischen Staates (und die Entstehung neuer zwischengeschalteter Kommandobehörden) während der Kulturrevolution den Aufstieg einer neuen administrativen Elite in der Post-Mao-Ära, die seitdem zu einem Schlüsselfaktor für Stabilität geworden ist.

Der letzte Teil «Chinas Aufstieg» schildert, wie der VR China nach der ruinösen Politik der ersten dreißig Jahre seit 1978 eine erstaunliche wirtschaftliche Erholung gelang. Die Brüche der Kulturrevolution und die neue pragmatische Führung von Deng Xiaoping schufen Bedingungen, die grundlegendere Veränderungen ermöglichten. Chinas Reform- und Öffnungsstrategie war dank ihrer wirtschaftlichen Ausrichtung erfolgreich, aber auch aufgrund des graduellen und experimentellen Charakters der wichtigsten institutionellen Veränderungen. Es wurden ein erfolgreicher Übergang zur Marktwirtschaft bewerkstelligt und beeindruckend hohe Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erreicht. In den achtziger Jahren konzentrierten sich die Reformen auf die Wiederbelebung der Marktwirtschaft und das Wachstum des ländlichen Raums. In den 1990er Jahren wurde die Privatisierung und Umwandlung staatseigener Unternehmen in gewinnorientierte Unternehmen vorangetrieben. Chinas Aufstieg wurde durch grundlegende Änderungen der Politik in Verbindung mit schrittweisen institutionellen Anpassungen möglich. Er hing aber auch von den tiefen historischen Wurzeln der gegenwärtigen Institutionen Chinas ab – Chinas Reichtum an administrativer Erfahrung, seinen hoch entwickelten Märkten und seiner Bildung.

Eine dezentrale und integrative institutionelle Wirtschaftsstruktur bildete sich heraus, die auf ein rasches Wirtschaftswachstum ausgerichtet war. Es wurden erhebliche Fortschritte beim Ausbau der chinesischen Wirtschaft und dem Lebensstandard der Bürger erzielt. Mit dem signifikanten Anstieg des Durchschnittseinkommens wurden Hunderte Millionen Chinesen aus der Armut befreit. Die institutionellen Reformen in der Wirtschaft, die auf Inklusivität und Offenheit abzielten, haben Privatunternehmen ins Leben gerufen, die viele neue Arbeitsplätze und Märkte sowie eine Mittelschicht von geschätzten 400 Millionen Menschen mit steigendem Konsumentenappetit schufen. Diese Entwicklung veränderte Chinas Wirtschaftsstruktur, reduzierte die Abhängigkeit von der Landwirtschaft und erhöhte den Anteil der Industrieproduktion – und in jüngerer Zeit auch der Dienstleistungen. Ebenso wichtig sind Chinas neue Position als Schlüsselakteur der Weltwirtschaft und sein Machtanspruch auf globaler Ebene.

Gleichzeitig sieht sich China tiefgreifenden Herausforderungen gegenüber. Das Land hat seine politischen Institutionen nicht verändert; es bleibt ein autoritärer Einparteienstaat. Die Forderungen der Bevölkerung nach politischer Partizipation und Demokratie wurden entschlossen niedergeschlagen, häufig mit Gewalt. 1989 verübte die Regierung sogar ein Massaker an unbewaffneten Demonstranten, die mehr Gedanken- und Redefreiheit forderten. Zusammen mit der weitverbreiteten Korruption bis in die höchsten Ebenen haben diese Maßnahmen die Legitimität der KP-Regierung geschwächt. Um ihre Legitimität zu stützen, reagierte die Partei mit hartnäckigem Nationalismus und einer Politik des anhaltenden raschen Wirtschaftswachstums um jeden Preis sowie mit einer unnachgiebigen Antikorruptionskampagne.