
Stefan H. E. Kaufmann
IMPFEN
Grundlagen, Wirkung, Risiken
C.H.Beck

Krankheitserreger sind unberechenbare Gegner. Die größte Hoffnung, sie einzuhegen, ruht auf den Impfungen. Von der Veröffentlichung des Erbguts des neuen Coronavirus bis zur Bereitstellung einsatzbereiter Impfstoffe hat es kaum ein Jahr gebraucht – schon jetzt eine der größten Erfolgsgeschichten der Medizin. Der international renommierte Immunologe Stefan H. E. Kaufmann schlägt den Bogen von der Geburtsstunde der Impfung vor mehr als 200 Jahren über die Ausrottung der Pocken bis zu neuesten Ansätzen für Impfstoffe gegen Krebs, Autoimmunerkrankungen oder sogar Drogensucht. Er gibt einen Überblick über wichtige Erreger und für welche globalen Seuchen wir dringend Impfstoffe benötigen. Er ergründet die Immunmechanismen, die dem Impfschutz zugrunde liegen, schildert anhand von SARS-CoV-2 den steinigen Weg der Impfstoffentwicklung bis zur Zulassung und setzt sich dabei auch mit Impfrisiken und Impfgegnern auseinander. Auch den internationalen Anstrengungen, allen Menschen Impfungen zu erschwinglichen Preisen anzubieten, ist ein Kapitel gewidmet.
Stefan H. E. Kaufmann ist Gründungsdirektor em. des Max-Planck-Instituts für Infektionsbiologie, Berlin, und leitet jetzt eine Emeritus-Gruppe am Max-Planck-Institut für Biophysikalische Chemie in Göttingen. Der ehemalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Immunologie und der Internationalen Union der Immunologischen Gesellschaften ist selbst Entwickler eines Impfstoffs gegen Tuberkulose, der gerade die letzte klinische Überprüfung auf Schutzwirkung durchläuft. Kaufmann ist Autor und Herausgeber mehrerer wissenschaftlicher und allgemeinverständlicher Bücher zu den Themen Immunologie, Mikrobiologie, Impfstoffentwicklung und Pandemien.
1. Einleitung
2. Blick zurück: Schlaglichter auf die Geschichte der Impfung
2.1 Zusammenspiel von Impfpraxis und immunologischer Grundlagenforschung
2.2 Thukydides’ präziser Blick auf eine Seuche
2.3 Edward Jenner und die Ausrottung der Pocken
2.4 Louis Pasteur und die Rettung vor der Tollwut
2.5 Robert Koch und sein Fiasko mit der Tuberkuloseimpfung
2.6 Emil von Behring, Paul Ehrlich und die Entdeckung der Serumtherapie
3. Ansteckende Krankheiten und Impfung
3.1 Erreger, Krankheitsverläufe und Ausbreitungsarten
Vom Ausbruch bis zur Pandemie
3.2 Wichtige Infektionskrankheiten, gegen die Impfungen vorliegen
Kinderkrankheiten
Andere Krankheiten, gegen die zum Großteil Impfstoffe vorliegen, nach Gruppen
Erkrankungen der Atemwege
Magen-Darm-Erkrankungen
Lebererkrankungen
Geschlechtskrankheiten
Erkrankungen des zentralen Nervensystems
Sepsis, septischer Schock und Zytokinsturm
3.3 Globale Seuchen, für die wir dringend Impfstoffe brauchen
Pandemische Grippe
HIV/Aids
Hepatitis-C-Virus (HCV)
Dengue
SARS-CoV-2/COVID-19
Tuberkulose
Malaria
4. Infektion und Immunität
4.1 Einführung in die Immunität
4.2 Körpereigene Resistenzmechanismen
4.3 Immunorgane
4.4 Antigen-Spezifität und Gedächtnis
4.5 Immunzellen
4.6 Angeborene Immunität
Sofortreaktion gegen Angreifer
Koordination und Information
4.7 Erworbene Immunität
B-Zellen, Plasmazellen und Antikörper
T-Zellen
T-Helferzellen als Koordinatoren der Immunität
4.8 Gedächtniszellen
4.9 Stimulation des Immunschutzes durch Impfung
5. Impfstoffschemata und Impfstofftypen
5.1 Grundlagen und Definitionen
5.2 Welche Art von Immunität wird durch einen idealen Impfstoff hervorgerufen?
5.3 Aufbau von Impfstoffen
Ganzzell-Impfstoffe
Attenuierte Lebendimpfstoffe
Inaktivierte Impfstoffe
Untereinheiten-Impfstoffe
Reine Impfstoffe: Toxoide und rekombinante Proteine
Konjugat-Impfstoffe
Virusähnliche Partikel
5.4 Adjuvanzien
5.5 Passive Immunisierung
6. Impfstoffe der Zukunft
6.1 Impfstoffe der nächsten Generation
6.2 Rekombinante Lebendimpfstoffe
6.3 Rekombinante Vektor-Impfstoffe
6.4 Nukleinsäuren-Impfstoffe
6.5 Peptid-Impfstoffe
6.6 Neue Adjuvanzien
6.7 Nanopartikel
6.8 Heterologe Impfung
6.9 Nanobodies
6.10 Essbare Impfstoffe
6.11 Weitere Applikationswege
7. Neue Aufgaben für Impfstoffe
7.1 Generelle Prinzipien
7.2 Krebs
Aktive Impfung gegen Krebs
Immunmodulation durch monoklonale Antikörper
Krebstherapie mit Antikörpern
Krebstherapie mit Immunzellen
CAR-T-Zellen
Antigenbeladene dendritische Zellen
Antikörper gegen Treg-Zellen
7.3 Autoimmunerkrankungen
Hemmung von Entzündungsmediatoren
Aktive, passive und adaptive Impfung gegen Autoimmunerkrankungen
7.4 Impfung gegen Allergien
7.5 Impfung gegen Nikotin, Kokain und Opioide
8. Der lange Weg zum Impfstoff: Von der Entwicklung bis zur Zulassung
8.1 Grundlagenforschung und präklinische Studien
8.2 Klinische Studien
8.3 Zulassung
8.4 Impfempfehlungen und Impfkomplikationen
8.5 Impfzauderer, Impfkritiker und Impfgegner
9. Impfung und Gesellschaft
9.1 Ausbreitung und Herdenimmunität
9.2 Wie Impfungen zusätzlich schützen können
9.3 Gesamtgesellschaftliche Kosten-Nutzen-Rechnungen
9.4 Internationaler Einsatz für Impfgerechtigkeit
Das erweiterte Immunisierungsprogramm der WHO
GAVI
CEPI und COVAX
9.5 Brücken zur Impfung für alle
Reguliertes Zwei-Preis-System
Abnahmegarantie zum Festpreis
Gutschein für bevorzugte Begutachtung
9.6 Schlussgedanken
10. Ausblick
Danksagung
Weiterführende Literatur
Sachregister


2020 wird als das Jahr der Corona-Pandemie in die Geschichte eingehen. Innerhalb weniger Wochen raste der neue Erreger, bald SARS-CoV-2 genannt, um den Erdball und wirbelte in einer Weise, die sich vorher wohl kaum jemand hätte ausmalen können, eine Menge Gewissheiten unseres modernen Lebens und den Alltag der allermeisten Menschen durcheinander. Dank internationaler Vernetzung, moderner Datenerfassung und Echtzeit-Medien konnte, wer wollte, die Pandemie nahezu live verfolgen. Für einen beachtlichen Teil der Bevölkerung wurde medizinisches Fachvokabular zum aktiven Wortschatz. Viele nahmen in Kürze eine Menge epidemiologisches Grundlagenwissen auf. Die Pandemie brachte enormes Leid über Millionen Menschen – oft auch auf indirektem Weg. Sie stellte die Weltgemeinschaft, aber auch jede einzelne Staatsregierung vor enorme Herausforderungen. Noch sind die Folgen kaum abzuschätzen.
Zugleich haben die moderne Forschung und Medizintechnik in noch nie dagewesenem Tempo Erkenntnisse und Entwicklungen hervorgebracht. 2020 wird auch als das Jahr der schnellsten Impfstoffentwicklung überhaupt in die Geschichte eingehen. Von der Veröffentlichung des Erbguts des neuen Erregers bis zur Bereitstellung einsatzbereiter Vakzinen hatte es weniger als ein Jahr gebraucht. Werden wir gerade Zeugen der größten Erfolgsgeschichte, seit es Impfungen gibt? Das muss die Zeit noch zeigen. Denn während ich an diesem Buch gearbeitet habe, führte SARS-CoV-2 eindrücklich vor, dass es ein unberechenbarer Gegner bleibt. Wie vielen Erregern verschafft ihm seine rasante Evolution einen nicht zu unterschätzenden Vorteil im Wettlauf mit unseren Gegenmaßnahmen. Dabei liegen die meisten Hoffnungen auf den Impfungen.
Schon lange gelten Vakzinen als die kosteneffizienteste Maßnahme der Medizin. Wann immer eine wirksame Impfung gegen einen Erreger zur Verfügung stand, verlor die betreffende Krankheit ihren Schrecken. Gegen die altbekannten großen Seuchen Aids, Tuberkulose, Malaria und Hepatitis C ist es trotz jahrzehntelanger Forschung bisher nicht gelungen, effektive Impfungen zur Anwendungsreife zu bringen. Aber der Fortschritt auf dem Gebiet der Impfstoffentwicklung ist enorm, und ich bin überzeugt, dass die modernen Methoden es in näherer Zukunft ermöglichen werden, auch diese Infektionskrankheiten zurückzudrängen. Überdies werden Impfungen neue Bereiche erobern und zur Bekämpfung von Krebs, Autoimmunerkrankungen und Allergien genutzt werden.
Bei allen Hoffnungen, die Impfungen entgegengebracht werden, wurde 2020 auch deutlich, dass in der Bevölkerung bisweilen große Unsicherheit und Impfskepsis herrschen. Als jemand, der jahrzehntelang selbst an Impfstoffen geforscht hat, deren klinische Entwicklung hautnah verfolgt hat und das Leid von Kindern, die an Malaria oder Tuberkulose leiden, ungeschminkt erleben musste, habe ich mich zu einem eindeutigen Fürsprecher für Impfungen entwickelt. Um es hier bereits deutlich zu sagen: Natürlich müssen Impfstoffe genau überwacht werden, um mögliche unerwünschte Nebenwirkungen schnellstens zu erkennen. Und selbstverständlich gibt es angesichts sich rasch verändernder Erreger die Möglichkeit von Misserfolgen und Rückschlägen. Aber Menschen, die Unwahrheiten oder gar Verschwörungsmythen zu Impfungen verbreiten, muss mit aller Entschiedenheit entgegengetreten werden. Denn Impfzögerlichkeit könnte, wenn sie um sich greift, zu einer ernsthaften Bedrohung werden. Sich impfen zu lassen, ist eine individuelle Entscheidung – in vielen Fällen jedoch eine von gesellschaftlicher Relevanz. Wenn große Teile der Bevölkerung gegen einen Erreger geimpft sind, kann dieser häufig zurückgedrängt werden. Dann sind vulnerable Gruppen indirekt mitgeschützt.
In der COVID-19-Pandemie wurde viel über das Ziel der Herdenimmunität gesprochen, um die Seuche zu besiegen. Ob es erreicht werden kann, hängt neben anderen Unwägbarkeiten maßgeblich davon ab, ob ausreichend viele Menschen sich für die Impfung entschließen werden. Es wäre wichtig, dass auch solidarische Überlegungen bei der Entscheidung eine Rolle spielen.
Das beste Mittel gegen Unsicherheit sind klare Informationen und Wissen. In diesem Sinne sehe ich dieses Buch auch als Beitrag zur aktuellen Pandemielage. Ich möchte Einblicke in eines der spannendsten Forschungsfelder der modernen Medizin geben, in dem in den vergangenen Jahren unglaublich viel Neues entdeckt und erforscht wurde. Dieses Buch schlägt den Bogen von der Geburtsstunde der Impfung vor mehr als 200 Jahren über die Ausrottung der Pocken bis zu neuesten Ansätzen für Vakzinen gegen Krebs, Autoimmunerkrankungen oder sogar Drogensucht. Ich gebe einen Überblick über wichtige Erreger und eine ganze Reihe vorliegender Vakzinen und lade Sie ein, die Immunmechanismen, die dem Impfschutz zugrunde liegen, genauer zu ergründen. Neueste Vakzinen werden ebenso betrachtet wie die Abläufe bei der Impfstoffzulassung. Weil die weltweite Impfgerechtigkeit mir ein besonderes Anliegen ist, habe ich auch den internationalen Anstrengungen, allen Menschen Impfungen zu erschwinglichen Preisen anzubieten, ein Kapitel gewidmet.
Ich hoffe, dieses Buch hilft Ihnen, besser zu verstehen, wie es in vielen Fällen klappt, Erreger mit Vakzinen in Schach zu halten, und warum wir in einigen Fällen noch immer auf der Suche nach wirksamen Impfstoffen sind.
Berlin und Göttingen im März 2021
Stefan H. E. Kaufmann
Die Geburtsstunde der Impfung wird üblicherweise auf 1798 datiert, als der Arzt Edward Jenner in England einen Jungen erfolgreich gegen Pocken geimpft hat – ein Erfolg, der 180 Jahre später in der weltweiten Ausrottung dieser Seuche gipfelte. Die systematische Entwicklung von Impfstoffen begann erst 150 Jahre später. Möglich wurde sie auf Basis wegweisender Erkenntnisse, deren Urheber heute als Ikonen der Medizinforschung gelten: Louis Pasteur zeigte, dass Erreger sich so weit abschwächen lassen, dass sie nicht mehr krank machen, aber dennoch eine Immunität gegen die Krankheit erzeugen. Aufbauend auf diesem Prinzip, wurden später zahlreiche Lebendimpfstoffe entwickelt, wie z.B. der Tuberkulose-Impfstoff BCG (Bacille-Calmette-Guerin) oder der Dreifach-Impfstoff gegen Masern, Mumps und Röteln. Die passive Immunisierung gegen Diphtherie und Tetanus wurde als Serumtherapie um 1890 von Emil von Behring eingeführt – eine Errungenschaft, die unter anderem die Entwicklung von Untereinheiten-Impfstoffen zur aktiven Immunisierung nach sich zog.
Impferfolge werden gern pauschal als Beispiele für die praktische Anwendung der Grundlagenforschung in der Immunologie vorgebracht. In meinen Augen ist es – wie ein Blick in die Geschichte zeigt – eher so, dass erst die Durchbrüche in der Anwendung von Impfungen die Erforschung der ihr zugrunde liegenden Immunmechanismen ins Leben riefen. Schließlich wurden die ersten Impfstoffe weitgehend ohne Kenntnisse der Immunvorgänge im Körperinnern entwickelt: Als Edward Jenner die Pockenimpfung erfand und Louis Pasteur die Vakzinen gegen Milzbrand und Tollwut zur Einsatzreife brachte, hatte man von der Immunologie noch keine Ahnung. Ihre Geburtsstunde schlug mit der Erforschung und Entwicklung der Serumtherapie.
Über viele Jahrzehnte schritten die Impfstoffforschung und die immunologische Forschung parallel voran, Erstere hauptsächlich in der Industrie, Letztere vorwiegend in akademischen Instituten. Erst in den zurückliegenden fünfzig Jahren begann die Immunologie, die Impfstoffentwicklung zu befruchten.
In diesem Kapitel beleuchte ich die Geschichte der Impfstoffforschung an wenigen frühen Beispielen. Wichtige Etappen sind überblicksartig in der Abbildung «Meilensteine der Impfstoffentwicklung» auf der vorderen Umschlaginnenseite dargestellt. Einige zusätzliche Details werde ich hin und wieder in späteren Kapiteln ausführen.
Athen, Ende des fünften Jahrhunderts vor Christus: Die antike Großmacht kämpft mit Sparta im Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.) um Einfluss und Macht. Sparta siegt. Nicht zuletzt, weil 430 v. Chr. unter den Athenern eine Seuche ausbricht, die bis zu einem Drittel der Bewohner dahinrafft. Welche Krankheit damals grassierte, ist heute umstritten. Ihren Verlauf jedoch hat der Geschichtsschreiber Thukydides (460–396 v. Chr.) in Der Peloponnesische Krieg erstaunlich klar festgehalten. «Wenn sie aber zu den Kranken gingen, so war es ihr Verderben», schreibt er – und beschreibt die Übertragbarkeit der Seuche. Die Ansteckungsgefahr wird plastisch, wenn zu lesen ist, «dass sie [die Menschen] herdenweise starben, indem einer in Folge der Pflege des anderen mit dem Krankheitsstoff erfüllt wurde …». Weiterhin bemerkt der Schreiber, dass Überlebende immun werden: «Umso mehr nahmen sich die dem Übel Entronnenen der Sterbenden und der Kranken an, weil sie das Übel kannten und selbst in Sicherheit waren. Denn keiner wurde zum zweiten Male so befallen, dass es ihm den Tod gebracht hätte.» Heute ist Thukydides’ Geschichtsschreibung auch eine wichtige Quelle für Medizinhistoriker.
Der Ausgangspunkt der Impfstoffforschung steht auf den Tag genau fest: Am 21. Juni 1798 berichtete der britische Arzt Edward Jenner (1749–1823) über einen erfolgreichen Impfversuch gegen Pocken. Dreiundzwanzig Menschen hatte er harmlose Kuhpockenviren verabreicht – und sie so gegen die gefürchteten menschlichen Pocken, auch Blattern genannt, immun gemacht. Diese Seuche grassierte zu jener Zeit in Europa. Schätzungen des französischen Philosophen Voltaire (1694–1778) zufolge erkrankten damals 60 Prozent der Menschen an Pocken, ein Drittel starb an den Folgen der Krankheit. Von den Überlebenden war ein Großteil für immer mit tiefen Narben gezeichnet.
Als Jenner in England Medizin studierte, war dort – anders als in Deutschland – eine (nicht ungefährliche) Art der Pockenimpfung bereits recht verbreitet: Man verabreichte gesunden Menschen zum Schutz ein wenig Material aus den Pocken Erkrankter, indem dieses per Ritzung in die Haut gegeben wurde. Auch in anderen Regionen der Welt waren Verfahren zur Pockenimpfung bekannt: In Afrika nahmen Menschen traditionell Sekret der abheilenden Blasen, übertrugen es auf Nichtinfizierte und machten diese so immun. In Asien lösten Heiler Pockenkrusten in Wasser auf und spritzten diese als Impfung. Aus China wissen wir, dass Menschen die Krusten zu einem Pulver mahlten und schnupften.
Die in England genutzte Praxis der Variolation mit Material aus Hautbläschen pockenkranker Menschen hatte Lady Mary Montague, die Frau des englischen Botschafters in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, von dort auf die Insel gebracht. 1718 hatte sie ihren fünfjährigen Sohn dort auf diese Weise gegen Pocken impfen lassen. Kein ungefährliches Unterfangen, denn regelmäßig steckten sich Menschen dabei auch mit der lebensgefährlichen Krankheit an. Den Montague-Sohn aber schien die Behandlung zu schützen: Auf den zahlreichen Reisen der Familie kam der Junge mehrfach mit Pockenkranken in Kontakt, blieb jedoch gesund. Zurück in London, ließ die Familie 1721 schließlich auch ihre Tochter auf diese Weise gegen Pocken immunisieren; zu der Zeit litt England unter einem neuerlichen Ausbruch der Seuche. Die Schutzmethode erregte das Interesse von König George I. Er ließ das Verfahren zunächst an sechs zum Tode verurteilten Sträflingen testen. Alle Häftlinge überlebten sowohl die Variolation als auch die probeweise Ansteckung mit den Pocken und wurden anschließend freigelassen. Weil bereits bekannt war, dass Kinder grundsätzlich anfälliger für Pocken sind als Erwachsene, unterzogen Ärzte zusätzlich eine Gruppe Waisen einem solchen Menschenversuch. Nachdem auch dieser glimpflich ausging, ließen sich zahlreiche wohlhabende Menschen in England vorbeugend gegen die Pocken behandeln.
Die englischen Ärzte verbreiteten ihre Einpfropfmethode auch in Kontinentaleuropa, wie es bei Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), der als Jugendlicher die Pocken durchgemacht hatte und ein Befürworter der Variolation war, zu lesen ist. In seinem autobiographischen Werk Dichtung und Wahrheit heißt es: «Die Einimpfung derselben [der Pocken] ward bei uns noch immer für sehr problematisch angesehen und ob sie gleich populäre Schriftsteller schon fasslich und eindringlich empfohlen, so zauderten doch die deutschen Ärzte mit einer Operation, welche der Natur vorzugreifen schien. Spekulierende Engländer kamen daher aufs Festland und impften gegen ein ansehnliches Honorar die Kinder solcher Personen, die sie wohlhabend und frei von Vorurteil fanden. Die Mehrzahl jedoch war noch immer dem alten Unheil ausgesetzt; die Krankheit wütete durch die Familien, tötete und entstellte viele Kinder und wenige Eltern wagten es nach einem Mittel zu greifen, dessen wahrscheinliche Hilfe doch schon durch den Erfolg mannigfaltig bestätigt war.»
Unter der Landbevölkerung Englands war die mögliche Schutzwirkung von Kuhpocken zu dieser Zeit bereits Bestandteil des kollektiven Wissens. Mit der Rinderform der Krankheit, einem verwandten Virus, das beim Menschen lediglich Hautpusteln auslöst, steckten sich Mägde beim Melken regelmäßig an. Es schien, als seien sie danach immun gegen die menschlichen Pocken. Es gab auch schon einen ersten Impfversuch: Während der Pockenepidemie 1774 hatte ein englischer Bauer seine Frau und seine zwei Kinder erfolgreich mit Sekret aus den Pocken seiner Rinder geimpft. 1796 überprüfte Jenner diese Methode am achtjährigen James Phipps, dem Sohn seines Gärtners. Jenner ritzte die Haut am Arm des Jungen ein und gab etwas Eiter, den er aus einer Kuhpocken-Pustel von der Hand einer Kuhmagd gewonnen hatte, in die Wunde. Die Haut entzündete sich an der Impfstelle, heilte jedoch bald wieder ab. Anderthalb Monate später unternahm Jenner den entscheidenden – und aus heutiger Sicht extrem gefährlichen – Schritt: Er ritzte erneut beide Arme des Jungen ein und infizierte ihn mit echten Pocken. Bei so gut wie jedem nicht Geimpften hätte dies unweigerlich zum Krankheitsausbruch geführt. James Phipps jedoch war völlig geschützt und bekam keinerlei Symptome. Jenner wiederholte den Infektionsversuch ein zweites Mal, wieder blieb der geimpfte Junge gesund. Bei zweiundzwanzig weiteren Menschen verlief das gleiche Experiment ähnlich erfolgreich. Jenner reichte einen Bericht über das Verfahren bei der Royal Society in London zur Publikation ein. Die Wissenschaftsgemeinschaft dort jedoch schickte das Schreiben postwendend zurück – mit dem Vermerk, Jenner möge den durch seine bisherigen Arbeiten erworbenen Ruhm nicht durch derlei Versuche aufs Spiel setzen. Seine Experimente aber markieren den Beginn der einmaligen Erfolgsgeschichte der Vakzinierung.
Wie ist der Erfolg der Jenner’schen Schutzimpfung zu erklären? Die Pocken des Rindes und des Menschen sind nahe Verwandte, die sich jedoch auf ihren jeweiligen Wirt, also das Rind bzw. den Menschen, spezialisiert haben. Aufgrund dieser Wirtsspezifität erzeugen die jeweiligen Pockenviren das volle Krankheitsbild nur im eigentlichen Wirt: Menschenpocken verlaufen für Menschen häufig tödlich, die Erreger verbreiten sich im ganzen Körper, lösen Fieber, manchmal Lungenentzündungen aus. Kuhpocken hingegen äußern sich beim Menschen meist nur in sogenannten Melkerknoten. Aber die Kuhpockenviren können im Menschen überleben, und sie reizen das menschliche Immunsystem dazu, sich zu wehren. Der Körper bildet Antikörper gegen diese Viren, die aufgrund der Ähnlichkeit der Erreger auch gegen menschliche Pockenviren wirken.
Mit Jenners Forschung erhielt die Pockenimpfung Auftrieb, war das Verfahren mit den Kuhpocken doch deutlich sicherer als die vorher praktizierte Variolation mit potenziell gefährlichen Menschenpocken. Als Erster richtete Napoleon im Mai 1800 eine Kommission zur Impfung ein. 1803 hielt die Methode Einzug in Kinderspitäler und Krankenhäuser Frankreichs; 1805 kam die Pflichtimpfung für alle Soldaten, die unter Napoleons persönlichem Kommando standen. Zwischen 1809 und 1811 impften Ärzte in Frankreich insgesamt etwa zwei Millionen Menschen. In den Ländern Deutschlands setzte sich die Impfung erst später durch. Zwar hatte schon Friedrich der Große die Schutzmaßnahme in Preußen einführen wollen, jedoch war sie ihm zu teuer. Immerhin kostete sie zwölf Taler und damit etwa das Jahresgehalt eines einfachen Angestellten. In den 1850er Jahren jedoch war die Pockenimpfung auch hier weit verbreitet und wurde in vielen Teilen Deutschlands zur Pflicht. Parallel formierte sich jedoch eine breite Impfgegnerschaft. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm die Impftätigkeit in einigen Ländern Deutschlands ab, Pockenerkrankungen wurden wieder häufiger. Kritiker sorgten sich vor allem, das tierische Material könnte «viehische» Eigenschaften übertragen. Ein beliebtes Karikaturmotiv zeigte Menschen, denen an der Impfstelle Rinderköpfe wuchsen. Weil Pockenmaterial frisch am effektivsten wirkte, musste es idealerweise kurz nach der Entnahme von einer Kuh geimpft werden (Abb. 2.1). Um den Befürchtungen der Menschen keinen Vorschub zu leisten, versuchten Ärzte nun aber zu vermeiden, dass Patienten bei der Impfung Kühe zu Gesicht bekamen. Mediziner erdachten einen Umweg: Es wurden Impfanstalten geschaffen, in denen Waisenkinder als Impfstoff-Geber herhalten mussten. Die Kinder wurden mit Kuhpocken infiziert, um ihnen dann regelmäßig Pustelmaterial für Impfungen entnehmen zu können. Auf die gleiche Methode griff die spanische Regierung zurück, als sie ihre Kolonien in den verschiedenen Erdteilen mit Pockenimpfstoff ausrüsten wollte. Zweiundzwanzig Waisenkinder wurden mit Kuhpocken infiziert und als Impflinge mit auf die Reise geschickt. Mit ihnen wurde eine regelrechte Kette von Europa nach Südamerika, zu den Philippinen und nach China aufgebaut.

Abbildung 2.1: Pockenimpfung in den Straßen von Paris.
Trotz der Errungenschaften Jenners wütete die Seuche noch 200 Jahre nach seiner Entdeckung weiter. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkrankten jedes Jahr mehr als 20 Millionen Menschen an den Pocken, 2 Millionen Betroffene starben. Dabei war wissenschaftlich gesehen eine Ausrottung der Pocken absolut vorstellbar: Ein wirksamer, preisgünstiger Impfstoff stand zur Verfügung, der Mensch war der einzige Wirt für die Erreger, und die Diagnose der Pocken war – wegen der sichtbaren Entstellungen im Gesicht – mit etwas Erfahrung kein Problem. Schließlich hatten mehrere Länder die Pocken mit nationalen Impfprogrammen besiegt: Schweden erklärte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts als erstes Land für pockenfrei. Bis in die 1940er Jahre folgten Österreich, England, die Sowjetunion, die Philippinen, die USA und Kanada. In anderen Ländern jedoch, selbst in Europa, brach die Krankheit auch in den 50er und 60er Jahren immer wieder aus. In einigen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas wüteten die Pocken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ungebremst.
Die weltweite Ausrottung der Pocken wurde daher zu einem der ersten globalen Ziele der 1948 ins Leben gerufenen Weltgesundheitsorganisation (WHO). Als der Vorschlag 1953 erstmals vorgebracht wurde, befanden zahlreiche Industrieländer ihn als zu ambitioniert und lehnten ab. Stattdessen sollte zunächst die Malaria ausgerottet werden, weil man dachte, mit DDT eine Wunderwaffe zur Vernichtung der Moskitos in der Hand zu haben. Ein Trugschluss.
1958 wurde die Pockenfrage auf Betreiben der Sowjetunion erneut in der WHO erörtert – und positiv beschieden. Jedoch gelang es nicht ansatzweise, die dafür veranschlagten 100 Millionen US-Dollar unter den Mitgliedsstaaten einzusammeln. Zugleich zeichnete sich ab, dass das Malaria-Programm trotz massiven Finanzeinsatzes zu scheitern drohte. Frustration und Enttäuschung machten sich breit, globale Eradikationsprogramme wurden generell in Frage gestellt. Erst beim dritten Anlauf Ende der 60er Jahre konnte die WHOWHO