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Reinhard Wolters

DIE SCHLACHT IM
TEUTOBURGER WALD

Arminius, Varus und
das römische Germanien

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

«Mitten auf dem Feld bleichende Knochen, zerstreut oder in Haufen, je nachdem ob die Soldaten die Flucht ergriffen oder Widerstand geleistet hatten. Daneben lagen zerbrochene Waffen und Pferdegerippe, zugleich sah man an den Baumstümpfen angenagelte Menschenschädel. In den benachbarten Hainen standen die Altäre der Barbaren, an denen sie die Tribunen und Zenturionen ersten Ranges geschlachtet hatten. Und Überlebende dieser Niederlage, der Schlacht oder der Gefangenschaft entronnen, erzählten, hier seien die Legaten gefallen, dort die Adler geraubt worden; sie zeigten, wo dem Varus die erste Wunde beigebracht wurde, wo er durch seine unselige Rechte mit eigenem Stoß den Tod gefunden habe; auf welcher Erhöhung Arminius zum Heer gesprochen, wie viele Galgen für die Gefangenen, was für Martergruben es gegeben und wie er mit den Feldzeichen und Adlern voller Übermut seinen Spott getrieben habe.» Den Schilderungen des römischen Historikers Tacitus ist noch das Grauen anzumerken, das die Römer erfasst haben muss, als sie unter ihrem neuen Oberbefehlshaber Germanicus den Ort des Schreckens betraten, wo wenige Jahre zuvor ihre Kameraden in mehrtägigen Kämpfen den Tod gefunden hatten. Dieses blutige Ereignis, bekannt als die «Schlacht im Teutoburger Wald», war eine der schwersten Niederlagen, die Rom jemals erlitten hat: Langfristige Folge war, dass die Expansion des Römischen Reiches gestoppt, die rechtsrheinische Germania vor einer Romanisierung bewahrt und der Rhein zur Grenze zwischen Romanen und Germanen wurde. Reinhard Wolters ist einer der besten Kenner der römisch-germanischen Beziehungen und gründlich vertraut mit den historischen, philologischen und archäologischen Quellen zur Varuskatastrophe. Er rekonstruiert in seinem spannend geschriebenen, sehr gut lesbaren Buch den politischen Hintergrund, das militärische Geschehen, erhellt die Frage der Lokalisierung, charakterisiert die Protagonisten – Arminius und Varus –, beschreibt kundig und verständlich die zeitgenössische Bedeutung der dramatischen Ereignisse und skizziert deren Fortleben in unserem kulturellen Gedächtnis.

Über den Autor

Reinhard Wolters ist Althistoriker und Professor für Numismatik und Geldgeschichte an der Universität Wien. Von demselben Autor ist im Verlag C.H.Beck lieferbar: Die Römer in Germanien (62011); Nummi signati. Untersuchungen zur römischen Münzprägung und Geldwirtschaft (Vestigia, 1999).

Inhalt

Vorwort

Einleitung: Verschiedene Wirklichkeiten – Bilder von der «Varusschlacht»

1.  Der Barbar als Nachbar

1.1 Römer am Rhein

1.2 Die Germanen

2.  Roms Vordringen bis zur Elbe

2.1 Die Feldzüge des Drusus

2.2 Weltherrschaft, Bedrohung oder Familienpolitik?

3.  Römische Herrschaft in Germanien

3.1 Das dunkle Jahrzehnt und der «Große Krieg»

3.2 Militäranlagen, Städte und Wirtschaftsaktivitäten rechts des Rheins

3.3 Gab es eine «Provincia Germania»?

4.  Karrieren im Dienste Roms

4.1 Publius Quinctilius Varus

4.2 Arminius, der Cherusker

5.  Die schriftliche Überlieferung zur Varuskatastrophe

5.1 Der Bericht des Cassius Dio

5.2 Die Parallelüberlieferung

5.3 Zur Frage der Glaubwürdigkeit

5.4 Nationale Erhebung oder Meuterei?

6.  Die Varuskatastrophe als epochale Wende?

6.1 Die Feldzüge des Germancius

6.2 Der Tod des Arminius

6.3 Das Ende der Quinctilier

7.  Die Suche nach dem Ort der Varuskatastrophe

7.1 Mehr als 700 Theorien

7.2 Kalkriese

7.3 Die «Örtlichkeit der Varusschlacht»?

7.4 Keine Spur von Germanicus

8.  Von Arminius dem Cherusker zum deutschen Hermann

8.1 «Ich hab in von hertzen lib» – Die Wiederentdeckung des Arminius

8.2 Einiger des Vaterlandes und Liebesheld

8.3 Hermannsschlacht und Hermannsdenkmal

8.4 Volk, Rasse und Führer

8.5 Varusschlachten heute

9.  Epilog: «… unstrittig der Befreier Germaniens»

Nachtrag: Der aktuelle Stand der Forschung nach dem Varusjahr

 

 

Anmerkungen

Quellen und Nachschlagewerke

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Personen- und Ortsregister

Sachregister

Vorwort

Seit der frühen Neuzeit haben sich Gebildete, späterhin professionelle Historiker und schließlich Archäologen um ein Verständnis der «Schlacht im Teutoburger Wald» bemüht. In diesen Jahrhunderten wurde das Ereignis zugleich regelmäßig Gegenstand künstlerischer Bearbeitungen – als Drama, Roman oder Gedicht, als Oper, Gemälde oder Denkmal. Nicht zuletzt haben zahlreiche Laienforscher immer wieder mit großem Engagement ihre Ansichten und Thesen zur «Schlacht im Teutoburger Wald» vorgestellt. Eine Folge dieser zahlreichen und unterschiedlichen Annäherungen an das Thema ist, dass rekonstruierte Geschichte, Fiktionalität und interessengebundene Darstellungen vielfach ineinander fließen. Nicht nur für unbefangene Leser bleibt eine angemessene Einschätzung der oft völlig gegensätzlichen Auffassungen zu Arminius oder Varus, zur römischen Herrschaft in Germanien oder zu dem Untergang des Varusheeres schwierig.

Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel des vorliegenden Bandes, eine zeitgemäße, ebenso kritische wie transparente Orientierung über den aktuellen Stand unseres Wissens zur «Schlacht im Teutoburger Wald» zu bieten – zu ihrer Vorgeschichte, ihrem Verlauf, aber auch den Folgen, die diese schwere römische Niederlage gegen die Germanen nach sich zog. Zugleich soll deutlich werden, worauf sich dieses Wissen gründet und wie fundiert es im Einzelnen tatsächlich ist. Den Ausgangspunkt der Darstellung bilden die archäologischen und literarischen Quellen. Die Differenzen zwischen den nicht selten voneinander abweichenden Überlieferungssträngen sollen aufgezeigt, die Bedingungen ihres Zusammenwirkens erhellt und darauf aufbauend auch weiterführende Perspektiven entwickelt werden. Bei der Auseinandersetzung mit den oft kontroversen Positionen der Forschung habe ich mich bemüht, die wichtigsten Interpretationen vor Abgabe eines eigenen Urteils vorzustellen. Doch auch die spezifischen Entstehungsbedingungen der verschiedenen Auffassungen sollen im Rahmen der Wirkungsgeschichte verdeutlicht werden.

Mein Dank gilt allen Kolleginnen und Kollegen und nicht zuletzt den Studierenden, mit denen ich während der zurückliegenden Jahre in mehreren Lehrveranstaltungen die verschiedenen Aspekte des Themas überaus gewinnbringend erörtern konnte. Die Leiter der im Folgenden vorgestellten archäologischen Grabungsplätze haben mich in großzügiger Weise regelmäßig über aktuelle Funde informiert und die Befunde mit mir diskutiert. Die Gerda Henkel Stiftung hat die Recherchen zu diesem Buch in dankenswerter Weise gefördert, und Martin Ziegert hat die sich daraus ergebenden Aufgaben mit Engagement und Umsicht wahrgenommen. Kathrin Johrden hat zahlreiche Anregungen gegeben und bei den Korrekturarbeiten geholfen. Schließlich danke ich Dr. Stefan von der Lahr, der als Lektor des Verlags C.H.Beck dieses Buchprojekt angeregt und seine Entstehung mit großem Einsatz begleitet hat.

Tübingen, Mai 2008

Reinhard Wolters

Vorwort zur Neuausgabe in C.H.Beck Paperback

Die Neuausgabe in C.H.Beck Paperback hat ermöglicht, den Text noch einmal durchzusehen und in einem Nachtrag die archäologischen Entdeckungen nach 2009 sowie die wichtigste seitdem erschienene Literatur vorzustellen und zu kommentieren. Mein Dank gilt den Kolleginnen und Kollegen, Leserinnen und Lesern, die mich auf neue Entwicklungen aufmerksam gemacht haben sowie Andrea Morgan und Stefan von der Lahr vom Verlag C.H.Beck, bei denen die Neuausgabe in bewährten Händen lag.

Wien, November 2016

Reinhard Wolters

Einleitung: Verschiedene Wirklichkeiten – Bilder von der «Varusschlacht»

Im Jahr 2009 jährte sich zum 2000sten Mal die schwere Niederlage, welche die Römer im Herbst 9 n. Chr. unter ihrem Feldherrn Publius Quinctilius Varus gegen germanische Gruppen, angeführt von dem Cherusker Arminius, erlitten hatten. Dabei wurden drei römische Legionen sowie weitere Verbände und ein nicht zu beziffernder Tross – alles in allem wohl mehr als 18.000 Mann – vollständig vernichtet. Sind solche Jahrestage ohnehin geeignet, öffentliches Interesse auf historische Ereignisse zu lenken, so erfreute sich die «Schlacht im Teutoburger Wald» auch davon unabhängig bereits seit einiger Zeit großer Aufmerksamkeit. Ausgelöst wurde dies vor allem durch die Entdeckung des mutmaßlichen Ortes jenes dramatischen Geschehens bei Kalkriese nördlich von Osnabrück: Nach Jahrhunderten der Suche schien durch eine glückliche Fügung der Originalschauplatz gerade rechtzeitig zum Bimillennium gefunden worden zu sein. Doch auch darüber hinaus hat die Archäologie innerhalb der beiden letzten Jahrzehnte in einer geradezu sensationellen Serie spektakulärer Neuentdeckungen gleich mehrere römische Militärplätze rechts des Rheins identifizieren können; unser Wissen über jene Jahre, in denen die römischen Truppen Germanien durchzogen, hat dadurch eine weitgehend neue Grundlage erhalten.

Das lebhafte Interesse an allem, was mit der «Schlacht im Teutoburger Wald» zusammenhängt, resultiert vor allem aus der besonderen historischen Bedeutung, die diesem Ereignis im Allgemeinen zugemessen wird. Als «Wendepunkt der Weltgeschichte» bezeichnete Theodor Mommsen, einer der herausragenden Historiker des 19. Jahrhunderts, die «Varusschlacht».[1] Inhaltlich war das Urteil Mommsens freilich nicht neu, vielmehr steht die Autorität des Wissenschaftlers am Ende all jener Einschätzungen, durch die seit dem 15. Jahrhundert dem erfolgreichen Kampf des Cheruskers gegen die römischen Legionen gehuldigt wurde; insbesondere in Literatur und Künsten hatte dieser Lobpreis seinen vielfach prägenden und nachwirkenden Ausdruck gefunden. Noch heute dient Mommsens Diktum als gern zitierte Gewissheit: «Diese Schlacht änderte den Verlauf der Weltgeschichte», führte beispielsweise der amerikanische Archäologe Peter S. Wells seinen Gegenstand in einer jüngeren Monographie ein.[2] Auch jene, die sich der unbekümmerten eurozentristischen Perspektive von Mommsens 19. Jahrhundert bewusst sind, sprechen immerhin noch von einem «Wendepunkt der europäischen Geschichte».[3]

Mommsen nahm für sein Urteil die Perspektive des Imperium Romanum ein und sah die Varuskatastrophe als denjenigen Moment, «der in der äußeren Politik Roms nach der Fluthöhe den Beginn der Ebbe markiert.»[4] Die jahrhundertlange kontinuierliche Expansion des Römischen Reiches, von der kleinen Stadt am Tiber zum Herrscher über fast die gesamte antike Welt, fand am Rhein ihre Grenzen. In dem Gegensatz von romanischen und germanischen Sprachen, aber auch in zahlreichen anderen kulturellen Unterschieden lassen sich das Vordringen der römischen Zivilisation in die Gebiete links des Rheins und die ausgebliebene Romanisierung in den Regionen rechts von ihm noch heute wiederfinden.

Mit noch größerer Gewissheit wird die Einschätzung der «Schlacht im Teutoburger Wald» als epochales Ereignis im Allgemeinen aus einer germanischen Perspektive abgeleitet, welche von Mommsen gleichfalls bereits berücksichtigt wurde: Demnach seien die bis dahin im schrift- und überlieferungslosen Dasein verharrenden Germanen mit dem Sieg über die Römer in das helle Licht der Geschichte eingetreten. «Die deutsche Geschichte beginnt mit der Schlacht im Teutoburger Wald. Der Cherusker Arminius ist der erste Nationalheld unseres Volkes», urteilte – als einer von vielen – der Althistoriker Ernst Kornemann.[5] Und Friedrich Koepp konstatierte: «Glorreicher hat sich kein anderes Volk in die Geschichte eingeführt als unsere Vorfahren durch diesen Sieg über die Herren der Welt.»[6] Auch heute noch bedient sich – in eher irritierender Weise – das Deutsche Historische Museum in Berlin dieser weit verbreiteten Vorstellung und setzt die «Schlacht im Teutoburger Wald» an den Anfang seiner Dauerausstellung: Als eine Art «Urknall» wird das Ereignis zum Beginn deutscher Geschichte. Die Ausstellung ist so geeignet, die Auffassung zu stärken, dass von diesem Moment eine deutsche Identitätsfindung ihren Ausgang genommen habe und in nur wenig gebrochener Kontinuität fortdauere.[7]

Freilich gab es auch immer Kritiker, die auf Distanz zu national-anachronistischen Vereinnahmungen des Arminius gingen und jene Patrioten verspotteten, denen bereits «bei dem Namen der Varusschlacht die Brust schwellen mag».[8] Heinrich Heine beschwor vor den Augen seiner Leser den Morast des Teutoburger Walds herauf und entwarf mit der Formulierung «Die Deutsche Nation, sie siegte in diesem Drecke» das Bild einer schlammgeborenen Nation. Knapp ein Jahrhundert später lästerte Werner Hegemann in ketzerischer Perspektivenumkehr: «Des Arminius anfänglicher Sieg im Verzweiflungskampf gegen Rom hatte zum Verzweifeln böse Folgen für Deutschland östlich und nördlich des römischen Grenzwalls: Die Römer überließen künftig die Germanen östlich des Rheins ihrer Barbarei.»[9]

Aussagen dieser Art wirken – auch wenn sie verfremden – nicht nur als ordnende oder um Erkenntnis bemühte historische Urteile, sondern sie waren vielfach mit sehr persönlichen Erfahrungen verbunden, aus denen sich die innere Anteilnahme der Autoren erklärt: Das Thema «Was bedeutet uns Heutigen Hermann der Deutsche?» wird in Lion Feuchtwangers Roman «Die Geschwister Oppermann» dem Schüler Berthold von seinem neuen Lehrer Dr. Vogelsang als Hausaufgabe gestellt. Der Schüler legt sein Referat dialektisch an und sammelt für dessen erste Hälfte Argumente, weshalb von dem Cherusker eher keine historische Wirkung ausging. Aus der zeitgenössischen römischen Perspektive schildert er die Aussichtslosigkeit des Aufstands gegen eine glänzend organisierte Übermacht: Für die Römer sei das alles nicht mehr als eine Niederlage in einem Kolonialkrieg gewesen, mit der sie rasch fertig geworden seien, denn schon zwei Jahre später hätten die Römer wieder über dem Rhein gestanden. Die Vernichtung der Legionen des Varus sei mithin nutzlos gewesen und für die Deutschen ohne jede Folgen: «Keine Frage, Luthers Bibelübersetzung, Gutenbergs Erfindungen waren für Deutschland und sein Ansehen in der Welt bedeutsamer als die Schlacht im Teutoburger Wald. Die Tat des Arminius, das müssen wir zugeben, blieb praktisch ohne Bedeutung.» Die zweite Hälfte von Berthold Oppermanns Vortrag sah Gegenargumente vor, die Widerlegung dieser Einwände und eine Würdigung des Cheruskers: Bedeutend sei auch der politisch ergebnislose Widerstand für die Identitätsfindung der damaligen Germanen gewesen, und das Wagnis allein biete bereits eine ausreichende Grundlage für jene Bewunderung, welche die Deutschen der Gegenwart für die Tat des Arminius empfinden müssten. Doch Lehrer Vogelsang hält schon das Anhören der einschränkenden Argumente nicht aus und unterbricht den Schüler scharf und laut: «Nein, nicht zugegeben. Ich gebe das nicht zu. Niemand hier gibt das zu. Ich dulde das nicht. Ich höre das nicht länger mit an. (…) Hier, vor deutschen Menschen (…) wagen Sie es, die ungeheure Tat, die am Beginn der deutschen Geschichte steht, als nutzlos, als sinnlos zu bezeichnen?» In harschem Ton fordert er den Schüler auf: «Wenn Ihnen schon selber jeder Funke deutschen Gefühls abgeht, dann verschonen Sie doch wenigstens uns vaterländisch Fühlende mit Ihren Kotwürfen.»[10]

Die Beispiele der hier im Roman zugespitzten, schwierigen Annäherung an die Beurteilung des vergangenen Geschehens ließen sich beliebig vermehren. In jedem Fall aber wird deutlich, wie stark die Anteilnahme mit der jeweiligen Gegenwart verbunden ist, und viele der Urteile ordnen sich in der Zeit: Mommsen hielt seine Rede über «Die germanische Politik des Augustus» im März 1871, zwei Monate nach der Reichsgründung und der Proklamation Wilhelms I. zum Deutschen Kaiser; Lion Feuchtwanger zeigte sich bereits 1933 als scharfsichtiger Beobachter eines verblendeten und die Augen vor anderen Perspektiven bewusst verschließenden Nationalstolzes: Der sich an der Haltung zum Cherusker Arminius entzündende Konflikt mit dem national gesinnten Lehrer treibt in Feuchtwangers Roman den jüdischen Schüler Oppermann schließlich in den Freitod. – Auch in anderen Ländern fehlte es nicht an entschiedenen Urteilen zur historischen Bedeutung der «Schlacht im Teutoburger Wald» oder an positiven Würdigungen des Arminius;[11] empfundene Identität und konstruierte Kontinuität machten entsprechende Annäherungen aber gerade in Deutschland immer besonders kontrovers.

Selbst wenn man nur versucht, sich Klarheit über den reinen Ereignisverlauf der «Schlacht im Teutoburger Wald» zu verschaffen, gilt es gleichsam, einen Nebel aus ganz unterschiedlichen, oft ästhetisierenden Vorstellungen zu durchdringen: Gewissermaßen die oberste Schicht dieses Nebels wird beherrscht von Bildern des Waldes, der Dunkelheit, der Nässe und des Lastenden – ein Assoziationsrahmen, wie er in der Eingangsszene im Film «Gladiator» für Kämpfe in Nordeuropa aufgegriffen und ausgemalt wird, ebenso in dem von Claus Peymann inszenierten Untergang des Varusheeres – als grandiose Rutschpartie auf morastigem Boden und in strömendem Regen samt krachendem Gedonner – in seiner Bochumer Aufführung der Kleistschen Hermannsschlacht, darüber hinaus in den teils düsteren Ausstellungsgängen des Museums von Kalkriese, aber auch in Anselm Kiefers mächtigem Waldgemälde «Varus» von 1976. Auch der Wald erscheint als ein Träger von Bedeutung – und eignet sich zur Herstellung von Kontinuität. Bei seinem Kuraufenthalt 1801 in Bad Pyrmont notierte Goethe: «Nun aber kann man (…) in dieser Gegend nicht verweilen, ohne auf jene Urgeschichten hingewiesen zu werden, von denen uns römische Schriftsteller so ehrenvolle Nachrichten überliefern. Hier ist noch die Umwallung eines Berges sichtbar, dort eine Reihe von Hügeln und Tälern, wo gewisse Heereszüge und Schlachten sich hatten ereignen können (…), und man mag sich wehren und wenden wie man will, man mag noch so viel Abneigung beweisen vor solchen aus dem Ungewissen in Ungewissere verleitenden Bemühungen, man findet sich wie in einem magischen Kreis befangen, man identifiziert das Vergangene mit der Gegenwart (…) und fühlt sich zuletzt in dem behaglichsten Zustande, weil man für einen Augenblick wähnt, man habe sich das Unfasslichste zur unmittelbaren Anschauung gebracht (Werke 31, 1830, 105).»

Ganz unterschiedliche Vorstellungen rufen bereits die verschiedenen Benennungen des Ereignisses wach, das nicht nur als «Schlacht im Teutoburger Wald», sondern auch als «Arminiusschlacht», «Hermannsschlacht» oder «Varusschlacht» angesprochen wird: Der Sieger selbst erscheint mit dem in den Quellen bezeugten «Arminius» sowie der ab dem frühen 16. Jahrhundert aufgekommenen Eindeutschung «Hermann» gleich in zwei verschiedenen Namensformen. Noch bemerkenswerter ist allerdings die Bezeichnung des Geschehens aus wechselnder Perspektive – mal nach dem Sieger, mal nach dem Verlierer. Gegenüber der in den literarischen Bearbeitungen des 16. bis 19. Jahrhunderts dominierenden Bezeichnung «Hermannsschlacht» hat in unserer Gegenwart der Begriff «Varusschlacht» die Oberhand gewonnen: In ganz und gar unüblicher Weise hat die «Schlacht» den Namen des besiegten Feldherrn erhalten – ein indirektes Zeugnis auch für die vorherrschende römische Perspektive, vorgegeben durch die uns zur Verfügung stehenden Quellen, die allein aus diesem Blickwinkel berichten.

Viel problematischer im Hinblick auf die dadurch eröffneten Assoziationsräume ist indes das Wort «Schlacht» – und mithin genau jener Zusatz, der allen neuzeitlichen Benennungen gemeinsam ist. Die antiken Quellen kennen den Begriff in diesem Zusammenhang nicht. Sie sprechen von einer «Niederlage», in einem Fall vom «Krieg» des Varus, ohne dass aus diesen Begriffen Rückschlüsse auf den Ablauf des Ereignisses selbst zu gewinnen wären: Insgesamt ist auch die Heroisierung des Sieges über Varus als Ergebnis einer «Schlacht» erst ein in der Neuzeit geborener Mythos.

Dort, wo die antiken Quellen deutlicher werden, beschreiben sie in einem Fall den Sieg des Arminius über Varus als einen Angriff germanischer Krieger auf ein römisches Militärlager, in anderen Fällen beschreiben sie ihn als Resultat eines verräterischen Hinterhalts, gelegt in schwierigem Gelände, in das die Germanen die ahnungslosen Legionen gelockt hätten: Selbst die antike Überlieferung gibt sich uneinheitlich.

Die Zahl der Fragen und der bereitstehenden Bilder wird nicht kleiner, wenn es um die Protagonisten geht: Sollen wir uns den römischen Befehlshaber Publius Quinctilius Varus als einen rigorosen und unsensiblen Rechtsfanatiker, einen militärischen Dilettanten, vielleicht auch einen geldgierigen Ausbeuter vorstellen – oder als einen weichlich-dekadenten, im Kern vielleicht doch eher gutmütigen als dummen Mann, der in seiner Naivität der angeblichen Tücke der nördlichen Barbaren nicht gewachsen war? Weit verbreitet ist das zwiespältige Lob des Varus als Verwaltungsexperte. Doch wie erklärt sich dann, dass ihm eines der größten Heere, über welches das römische Kaiserreich seinerzeit verfügte, anvertraut worden war, und warum entsprechen die genannten Urteile so wenig dem, was wir von der vorherigen Karriere des Varus wissen?

Nicht geringer sind die Schwierigkeiten einer Annäherung an seinen Gegenspieler Arminius: War der Cherusker Anführer einer nationalen Bewegung zur Befreiung der Germanen – und kann eine solche Sichtweise überhaupt den zeitgenössischen gesellschaftlichen und politischen Strukturen der Bewohner rechts des Rheins entsprechen? Welcher Art war die Struktur der germanischen Stämme, worauf beruhte überhaupt die Führungsstellung des Cheruskers, und auf welche Weise konnte er den so erfolgreichen Angriff organisieren? War Arminius heroisch, wie sein Standbild in Detmold suggeriert, oder verschlagen und skrupellos, wie seine literarische Nachzeichnung bei Kleist? Darf man dem Cherusker überhaupt höhere Motive zugestehen, oder hatte er letztlich nur den Ausbau seiner eigenen Machtstellung im Blick? Die neuere Forschung hat diesen verschiedenen Perspektiven noch jene hinzugefügt, derzufolge es sich bei der «Schlacht im Teutoburger Wald» möglicherweise gar um eine von dem römischen Offizier Arminius angeführte Meuterei innerhalb des römischen Heeres gehandelt habe – ein provozierender Gegenentwurf zum Bild des Freiheitshelden, als der Arminius über Jahrhunderte gefeiert wurde.

Ursächlich für die unterschiedlichen Deutungen sind die Lückenhaftigkeit der Überlieferung und nicht weniger die Widersprüche, die bereits in den antiken Quellen enthalten sind. Die literarischen Berichte stammen aus verschiedenen Jahrhunderten und stehen in unterschiedlicher zeitlicher Distanz zu den beschriebenen Ereignissen: Sie geben Auskunft über die wechselnden Horizonte der Deutung bereits in der Antike – und diese Deutung war jeweils geleitet von den Interessen der Autoren und geprägt von ihren je spezifischen zeitgenössischen Erfahrungen. Eine seit der frühen Neuzeit einsetzende und schier unablässig steigende Flut wissenschaftlicher Deutungen, instrumentalisierender politischer Pamphlete, literarischer, musikalischer, graphischer, malerischer, bildnerischer und monumental-künstlerischer Bearbeitungen hat schließlich unaufhörlich neue Bilder von der «Schlacht im Teutoburger Wald» erzeugt – und das historische Ereignis unter einer mehr als 500 Jahre währenden Rezeption geradezu begraben.

So hat man es heute im Hinblick auf die «Schlacht im Teutoburger Wald» eher mit einem Überangebot an Vorstellungen zu tun – erwachsen teils aus standortfreien und teils aus interessengebundenen Darlegungen und oft genug als Resultat ohnehin freierer künstlerischer Formungen. Diese verschiedenen Bilder werden in unterschiedlicher Weise abgerufen, vielfach ohne Rücksicht auf dabei entstehende Widersprüche. Schon allein deshalb irritiert, wie fest einzelne Vorstellungen mitunter verwurzelt sind und wie entschieden sie behauptet werden.

In jüngster Zeit scheint mit dem Fundplatz von Kalkriese, der als Ort der Varuskatastrophe gedeutet wird, ein archäologischer Befund die literarische Überlieferung glücklich zu ergänzen. Der im Boden erhaltene, scheinbar unverfälschte primäre Befund wird genutzt, um die literarische Überlieferung zu kontrollieren und Lücken zu schließen. Doch tatsächlich trägt auch der neue Platz eher noch zu einer Vermehrung der Bilder bei: Neue Fragen erwachsen aus dem vorliegenden archäologischen Befund im Hinblick auf Größe und Dauer des militärischen Ereignisses. So wird die in den Schriftquellen überlieferte viertägige Auseinandersetzung von manchen auf einen sehr begrenzten Raum und eine Dauer von nur einer Stunde reduziert. Der bei Kalkriese aufgedeckte langgezogene Wall, die in Bodenlöchern verscharrten Leichen und die Streuung der Funde erzeugen gänzlich neue Vorstellungen vom Verlauf der «Schlacht im Teutoburger Wald». Die eher ebene und offene, doch sumpfige Landschaft bei Kalkriese wird bald bei vielen Besuchern das Bild der Hügel und der dunklen Schwere des Waldes ablösen. – Doch auch nach der Entdeckung von Kalkriese ist die Frage der Verortung des Geschehens, die auf ihre Weise dazu beigetragen hat, das Thema über Jahrhunderte präsent zu halten, noch nicht für alle wirklich abschließend beantwortet, und die Diskussion darüber hält zu Recht noch an.

Diese vielfältigen und unterschiedlichen Aspekte bestimmen auch den Rahmen der vorliegenden Darstellung. Sie ist nicht zuletzt der Frage gewidmet, wie es überhaupt zur «Schlacht im Teutoburger Wald» kam. Darüber hinaus soll sie dazu beitragen, ihren Verlauf zu erhellen, ein klareres Bild von den Protagonisten des Geschehens – Varus und Arminius – zu erlangen und schließlich die tatsächlichen Auswirkungen der römischen Niederlage und ebenso ihr Nachleben zu erfassen. So müssen stets verschiedene Ebenen möglicher Deutungen in den Blick genommen und enthüllt, gelegentlich auch vertraute Vorstellungen durchbrochen werden. Dies gilt für das Zusammenspiel zwischen literarischer und archäologischer Überlieferung, das zu verstehen unverzichtbar ist, wenn man zu einem plausiblen Gesamtbild gelangen will. Dies gilt aber mehr noch für Versuche, neben der römischen Perspektive auch eine germanische Sichtweise auf das Geschehen herauszuarbeiten; denn diese ist allenfalls über die Formulierungen und Denkweisen der römischen Autoren zu erschließen. Auch diese Aussagen sind in ihrer Zeit entstandene Deutungen, die es immer wieder auf ihre Urheber und deren spezifische Kenntnisse und Intentionen zurückzuführen gilt.

Eine Annäherung an die politischen Hintergründe der versuchten römischen Okkupation Germaniens, die Suche nach den Gründen ihres Scheiterns und die Bestimmung der Rollen, welche Arminius, Varus und die «Schlacht im Teutoburger Wald» in diesem Kontext einnahmen, ist insoweit einer Ausgrabung nicht unähnlich: Der eigentliche Gegenstand ist von vielen Ebenen der Deutung und Instrumentalisierung überlagert, von denen er – Schicht um Schicht – befreit werden muss. Das verheißt jedoch nicht nur eine spannende Entdeckungsgeschichte. Am Ende lässt sich über das historische Ereignis hinaus auch erkennen, wie die Menschen seit der Antike, durch all die Jahrhunderte und bis in die heutige Zeit über «Die Schlacht im Teutoburger Wald» gedacht haben und wie die jeweiligen Bilder von der «Schlacht» ihre eigenen Sorgen, Ansprüche und Hoffnungen spiegeln. In diesem Sinne soll auch die phototechnische Durchtrennung der bekannten Gesichtsmaske aus den Ausgrabungen von Kalkriese – auf dem Umschlag dieses Buches – etablierte Sehgewohnheiten durchbrechen und in der Verfremdung die Suggestionskraft starker Bilder erfahrbar machen.

1. Der Barbar als Nachbar

Im Herbst des Jahres 12 v. Chr. drangen germanische Gruppen unter Führung der Sugambrer, die ihre Siedlungsgebiete ungefähr im Bereich des heutigen Ruhrgebiets hatten, in kriegerischer Absicht über den Rhein (Abb. 1). Drusus, der Stiefsohn des römischen Herrschers Augustus und Statthalter in Gallien seit dem Jahr zuvor, eilte auf diese Nachrichten hin aus dem mittleren Frankreich an den Rhein und schlug die Sugambrer zurück. Sodann ließ er sein Heer etwas oberhalb der Mündung über den Strom setzen. Aus nördlicher Richtung stieß er durch das Gebiet der Usipeter zu dem der Sugambrer vor und verwüstete es.[1]

Im Anschluss daran unternahm Drusus, obwohl das Jahr schon weit vorangeschritten war, noch einen zweiten Vorstoß in das rechtsrheinische Gebiet. Mit einer Flotte fuhr er flussabwärts in die Nordsee und von dort Richtung Osten. Die an der Küste siedelnden Friesen schlossen sich dem Heer des Drusus mit ihren eigenen Mannschaften an. Schon als es gegen ihre östlichen Nachbarn, die Chauken, ging, leisteten die Friesen den mit ihrer Flotte in Bedrängnis geratenen Römern Hilfe. Zum selben Unternehmen gehörten wahrscheinlich auch die erfolgreiche Belagerung der Insel Burchanis (wohl Borkum) sowie Auseinandersetzungen mit den Brukterern auf der Ems.[2] Da mittlerweile der Winter eingesetzt hatte, führte der Statthalter sein Heer nach Gallien zurück. Drusus selbst reiste nach Rom, wo er im folgenden Jahr mit der Prätur ein städtisches Richteramt übernehmen sollte.

Die Unternehmungen des Herbstes 12 v. Chr. – sowohl im Hinblick auf Anlass, Dauer als auch auf ihre räumliche Ausdehnung von eher begrenztem Umfang – bildeten den Auftakt fortan regelmäßig vorgetragener römischer Vorstöße ins rechtsrheinische Gebiet. Jahr für Jahr wurden römische Truppen weiter in den Osten geführt, und schon 9 v. Chr. standen die Legionen erstmals an der Elbe. Gewaltige Militäranlagen und stadtartige Siedlungen wurden rechts des Rheins errichtet, und ein weit verzweigtes Wegenetz zu Wasser und zu Lande erschloss und sicherte das neu gewonnene Gebiet. Zweimal – am 1. Januar 7 v. Chr. sowie am 26. Mai 17 n. Chr. – wurde in der römischen Hauptstadt in einem feierlichen Triumph ein bis zur Elbe besiegtes Germanien gefeiert. Und in seinen Res Gestae, dem ausführlichen Tatenbericht des Augustus, der nach dem Tod des Herrschers 14 n. Chr. an verschiedenen Stellen des Reiches inschriftlich veröffentlicht wurde, hob dieser unter seinen außenpolitischen Erfolgen die Befriedung des sich bis zur Elbe erstreckenden Gebietes hervor:[3] In unterschiedlicher Weise hatten die Stämme rechts des Rheins in dieser Zeit den Status von Unterworfenen, aber auch von Verbündeten Roms erlangt.

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Abb. 1 Germanische Stämme und Stammesgebiete

1.1 Römer am Rhein

Seit der Eroberung Galliens durch Caesar (58–51 v. Chr.) waren die Germanen Nachbarn des Römischen Reiches. In beispielloser Weise hatte Caesar das Herrschaftsgebiet Roms von der heutigen Provence – der schmalen Landverbindung zwischen Italien und dem römischen Spanien – bis an den Atlantik im Nordwesten und den Rhein im Osten vorgeschoben. Innerhalb weniger Jahre wurde von ihm das Gebiet des heutigen Frankreich, der Beneluxstaaten sowie der westlichen Teile Deutschlands erobert. Zur Sicherung der Herrschaft standen in den Jahrzehnten nach Caesar mächtige Heereskontingente im Innern des Landes. Sie kontrollierten zentrale Orte und wichtige Verkehrsverbindungen und unterstützten die Durchsetzung der neuen römischen Ordnung.[4] Dabei griff Rom nicht nur mit der Forderung nach Abgaben tief und schmerzlich in die traditionellen Verhältnisse und das Selbstverständnis der gallischen Stämme ein. Der noch von Caesar unter größten Mühen niedergeschlagene Aufstand des Vercingetorix 52 v. Chr. signalisierte überdeutlich, dass die gallischen Stämme die römische Oberherrschaft nicht widerstandslos hinzunehmen bereit waren. Zwar hatten manche von ihnen die Ankunft Caesars noch begrüßt und vor dem Hintergrund interner Auseinandersetzungen geglaubt, in ihm einen Verbündeten in eigener Sache gefunden zu haben, doch schon bald war für jedermann der ausgeprägte römische Wille zur eigenen Herrschaft erkennbar geworden. Auch in den Jahrzehnten nach Caesar brachen in den verschiedenen Teilen Galliens immer wieder Unruhen aus. Sie machten die Präsenz starker römischer Heeresverbände auf Dauer erforderlich.

Das römische Heer und Herrschaftstechniken

Der Statthalter einer Provinz war zugleich der Oberbefehlshaber der darin stationierten Truppen. Insgesamt verfügte der römische Staat nur über einen kleinen Beamtenapparat. So war es selbstverständlich, dass ein Statthalter sein privates Hauspersonal, die Sklaven und die Freigelassenen, Familienangehörige sowie politische Freunde als Hilfskräfte und Unterstützer für die Verwaltung in die ihm zugewiesene Provinz mitnahm. Steuern einzutreiben war im wesentlichen Aufgabe privater Unternehmer, die im Staatsauftrag tätig wurden. Geradezu unerlässlich war jedoch in jeder Provinz die Kooperation mit den einheimischen Eliten: Ohne deren Mitwirkung wäre die Herrschaft in einem Gebiet von der Größe des Imperium Romanum – mit den unterschiedlichsten politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Traditionen in den einzelnen Regionen, den verschiedensten Sprachen, aber auch den verkehrsgeographisch oft abgelegenen und nur schwer erreichbaren Gebieten – gar nicht möglich gewesen. Schon zur Erringung, vor allem aber zur Aufrechterhaltung der Herrschaft brauchte Rom Mittelsmänner aus der einheimischen Bevölkerung, die kraft der Tradition ihrer jeweils eigenen Gesellschaft als Autorität akzeptiert wurden und bereit waren, sich in den Dienst Roms zu stellen.[5]

Das römische Heer beschränkte sich nicht auf die Rolle eines militärischen Zwangsapparats, sondern die Truppen beteiligten sich auch am Ausbau der Infrastruktur, an der Anlage von Straßen, Brücken und Gebäuden – bis hin zur Entwicklung neuer Siedlungen. Die Soldaten dienten dem Statthalter ebenso in der Zivilverwaltung als Hilfspersonal – soweit man überhaupt militärische und zivile Angelegenheiten voneinander scheiden kann.

Kern der Truppen waren die Legionen: Einheiten mit einer Sollstärke von rund 6000 Mann, rekrutiert allein aus römischen Bürgern. Seit 13 v. Chr. waren sie durch feste Regelungen der Dienstzeiten, der Besoldung und Entlassungsbedingungen auch rechtlich Berufssoldaten.[6] Vor allem der männlichen Bevölkerung jener Gebiete, denen erst in jüngerer Zeit das römische Bürgerrecht verliehen worden war, erschien der Dienst im Heer attraktiv: In großer Zahl lassen sich in den Legionen Bewohner Norditaliens, Gallier aus der Provence sowie Spanier nachweisen.[7] Doch auch Griechen und Männer aus Kleinasien oder Nordafrika dienten in den Verbänden, da die Vergabe des Bürgerrechts an Einzelpersonen stets möglich und als Belohnung verbreitet war. Inhabern des Bürgerrechts stand eine Karriere innerhalb der traditionellen römischen Gesellschaft offen. Seine Verleihung war für das Römische Reich ein kaum hoch genug einzuschätzendes Mittel der Integration. Über das gesellschaftliche Prestige hinaus machten handfeste Privilegien wie Steuerfreiheit und Schutz der Person durch das Römische Recht den Status eines civis Romanus – eines römischen Bürgers – begehrt.

Der Dienst im römischen Heer bot vor allem denjenigen, die besitzlos waren – und nicht etwa zu Hause den Hof oder einen kleinen Handwerksbetrieb übernehmen konnten –, einen guten und sicheren Verdienst sowie attraktive Aufstiegsmöglichkeiten. Unterstützt wurden die Legionen durch Hilfstruppen (auxilia): Sie waren aus den Kontingenten der römischen Bundesgenossen in republikanischer Zeit sowie aus den für Geld angeworbenen Söldnereinheiten hervorgegangen. Caesar, der Gallien nicht zuletzt durch die tatkräftige Mithilfe gallischer Krieger eroberte, stellte darüber hinaus in großem Umfang Hilfstruppen aus soeben erst unterworfenen Gebieten in Dienst. Durch dieses Verfahren wurde vormals feindlichen Stämmen nicht nur die Wehrkraft entzogen, sondern die Kampfkraft der fremden Krieger wurde darüber hinaus für das römische Heer nutzbar gemacht. Zugleich beförderte der Dienst in den Hilfstruppen die Integration der ehemaligen Gegner.[8] Die von den Stämmen zunächst nur für den konkreten Kriegseinsatz und vorübergehend angeworbenen Truppen blieben anfangs ethnisch geschlossen und unterstanden als kleinere Kampfeinheiten weiterhin ihren einheimischen Befehlshabern. Das römische Bürgerrecht war für die Soldaten der auxilia nicht erforderlich. Der von Rom gezahlte Sold fiel zwar etwas geringer aus als in den Legionen, doch auch der Dienst in den Hilfstruppen bot ein gutes Auskommen und Möglichkeiten zum sozialen Aufstieg.[9]

Der Übergang von alliierten und aus dem Kreis der Unterworfenen angeworbenen Truppen zu standardisierten und fest in das römische Heeressystem integrierten auxilia – mit genormten Truppengrößen, einheitlicher Gliederung, abermals genauer Festschreibung von Dienstzeiten, Karriereschemata und Entlassungsbedingungen – war erst in claudischer Zeit (41–54 n. Chr.) abgeschlossen. Reichsweit entsprach die Gesamtzahl der Kämpfer in den auxilia wohl schon unter Augustus ungefähr jener der Legionssoldaten.[10] Als kleinere Einheiten von 500 oder 1000 Mann, die als Reiter, zu Fuß oder als gemischte Verbände kämpften, waren die auxilia taktisch sehr flexibel einsetzbar. Eine leichtere Bewaffnung und darauf abgestimmte spezifische Kampftechniken ließen sie auf einen Gegner oft deutlich besser eingestellt sein, als dies den schwerbewaffneten, damit aber auch weniger beweglichen Legionen möglich war. Nicht zuletzt wurde durch eine überwiegend heimatnahe Verwendung der Hilfstruppen ihre bereits im Kampf mit den Gegnern aus der Nachbarschaft erprobte Kampftechnik, aber auch ihre spezifische Ortskenntnis nutzbar gemacht.

Germanen in Gallien: die unruhige Rheinzone

Der Einfall der Sugambrer nach Gallien war kein einmaliges Ereignis. Auch war der Rhein keine Barriere, die unüberwindbar gewesen wäre. Schon in der Zeit vor Caesar hatten rechtsrheinische Gruppen immer wieder den Strom überquert, zum Teil aus eigener Initiative, oft aber auch ausdrücklich von gallischen Führern herbeigerufen. Das bekannteste Beispiel bieten die Sueben Ariovists.[11] Gegen Ende der 70er Jahre des 1. Jahrhunderts v. Chr. wurden sie als Söldner von den gallischen Arvernern und Sequanern im Kampf gegen die gleichfalls gallischen Häduer zur Hilfe gerufen. Infolge fortgesetzter Auseinandersetzungen erhielten die von Ariovist geführten Jungmannschaften von anfangs 15.000 Kämpfern Zuzug aus weiteren Stämmen rechts des Rheins, und mit der Zeit ging die ursprüngliche Anwerbung von Söldnern durch Nachzug von Frauen, Kindern und Alten in eine allgemeine Siedlungsbewegung über. Zur Zeit Caesars sollen die von Ariovist geführten Sueben bereits auf eine Gruppe von 120.000 Personen angewachsen sein. Rund ein Drittel des Gebietes der Sequaner im heutigen Elsass hatten sie besetzt, und sie forderten nun ein weiteres Drittel. Nöte in der Heimat dürften die Ursache, die deutlich besseren Böden sowie die materiell weiter entwickelte Kultur mit Städten und Geldwirtschaft dürften der Anreiz gewesen sein, in dem fremden, doch deutlich wohlhabenderen Land links des Rheins eine neue Existenzgrundlage zu suchen.[12] Hinzu kam für die Krieger die Aussicht, als Söldner von den Konflikten der gallischen Stämme fortgesetzt zu profitieren. Als weitere Germanen den Rhein bereits überschritten hatten und noch größere Bevölkerungsmassen unmittelbar vor dem dauerhaften Übertritt nach Gallien standen, griff Caesar ein: Unter Berufung auf ein gallisches Hilfsgesuch und unter Beschwörung der Gefahren, die von dieser gewaltigen Bevölkerungsbewegung auch für Rom ausgehen würden, trieb sein Heer in mehrtägigen blutigen Gefechten die Germanen über den Rhein zurück.

Zur Erkundung und Unterbindung des auf Gallien lastenden Wanderdrucks überquerte Caesar zweimal selbst den Strom.[13] Vor seinem ersten Übergang 55 v. Chr. hatte er Usipetern und Tenkterern, die bereits im Rheinmündungsgebiet in Gallien eingedrungen waren, die Ansiedlung verwehrt, einen Großteil von ihnen niedergemetzelt und die verbliebenen Reste über den Rhein zurückgetrieben. Nach Caesars eigenen Angaben soll es sich um insgesamt 430.000 Männer, Frauen und Kinder gehandelt haben.[14] Zwar hatten Usipeter und Tenkterer, die ihrerseits von den östlichen Sueben aus ihren eigenen Gebieten vertrieben worden waren, zuvor als Gegenleistung für die Anweisung von gallischen Ländereien ihre Dienste als Söldner versprochen, doch lehnte Caesar das Angebot ab. Bei seinem Rheinübergang ließ der Prokonsul eine imposante Brücke errichten, ein für alle sichtbares Symbol der technologischen Überlegenheit seiner Legionen. Der Vorstoß selbst galt den Sugambrern, zu denen ein Teil der Reiterei der Usipeter und Tenkterer geflüchtet war. Die Sugambrer hatten deren Auslieferung verweigert und beharrten darauf, dass der Prokonsul, wenn er denn den Germanen keinen Übertritt nach Gallien zugestehe, sich seinerseits auch nicht in Angelegenheiten rechts des Rheins einzumischen hätte. Caesars Gesandte setzten dem in bewährter Rhetorik entgegen, dass die rechtsrheinischen Ubier um Hilfe gerufen und ein Erscheinen des römischen Heeres in ihrem Gebiet ausdrücklich erbeten hätten. Die Sugambrer zogen sich ins Landesinnere zurück, und Caesar musste sich mit der Verwüstung der von ihnen verlassenen Häuser und Dörfer begnügen. Insgesamt 18 Tage hielt er sich im Rechtsrheinischen auf, dann führte er sein Heer zurück. Die Brücke, errichtet wohl im Bereich des heutigen Bonn, ließ er abreißen.[15]

Der zweite Übergang erfolgte zwei Jahre später. Er war eine Reaktion auf die Anwerbung germanischer Söldner durch die gallischen Treverer, und vermutlich erfolgte die Überquerung jetzt im Bereich des Neuwieder Beckens. Auch diesmal begnügte sich Caesar mit der Verwüstung germanischer Felder. In das Landesinnere, wohin sich die Sueben mit ihren Verbündeten zurückgezogen hatten, rückte er nicht weiter vor. Um jedoch seine jederzeit mögliche Wiederkehr unübersehbar zu signalisieren, ließ Caesar diesmal nur einen Teil der Brücke abbrechen. Das dicht vor dem gegnerischen Ufer endende Kopfstück sicherte er durch einen hoch aufragenden Wachturm, der sich wanderungswilligen Germanen drohend entgegenstellte.[16]

Mehr als ein Jahrzehnt nach dem Abzug Caesars aus Gallien, um 39/38 v. Chr., überschritt Marcus Agrippa – engster Vertrauter, späterer Schwiegersohn, fähigster General und immer wieder entscheidender Schlachtenhelfer des Oktavian /Augustus – mit seinen Truppen als zweiter römischer Feldherr in kriegerischer Absicht den Rhein. Anlass waren Unruhen in Gallien, und vermutlich war der Rheinübergang abermals eine Reaktion auf das Eindringen germanischer Söldner in die römische Provinz.[17] Mit dem Namen Agrippas ist auch die Anlage eines umfassenden Straßennetzes in Gallien verbunden.[18] Eine der Straßen führte in den Nordosten, vom Zentrum Lugdunum – heute Lyon – über Rhône und Mosel nach Trier, von dort weiter über Bitburg und Jünkerath bis Köln am Rhein, vielleicht auch schon mit einem Abzweig nach Neuss. Ob die Straße, die schnelle Truppenverlegungen bis an den Rhein ermöglichte, bereits in dieser ersten oder aber in der zweiten gallischen Statthalterschaft Agrippas rund 20 Jahre später befestigt wurde, ist in der Forschung oft diskutiert worden. Die für nach 18/17 v. Chr. im Wege der Dendrochronologie – einer Datierungsmethode mit Hilfe der Baumringe in verbauten Hölzern – bezeugte Konstruktion einer Brücke über die Mosel bei Trier ist kein zwingendes Argument für eine generelle Spätdatierung. Doch lässt sie zumindest für die Zeit der zweiten Statthalterschaft besondere Bemühungen um die Verfestigung der Infrastruktur erkennen.[19]

In den nordöstlichen Teilen Galliens scheint die römische Herrschaft zögerlicher um sich gegriffen zu haben als in Zentralgallien. Im äußersten Norden besaßen die Menapier zur Zeit Caesars Siedlungsgebiete beiderseits des Rheins,[20] und auch in den Jahrzehnten nach Caesar pflegte man in unterschiedlicher Weise weiterhin Kontakte über den Strom. Die Überlieferung jedoch ist nur fragmentarisch und eher zufällig: Um 30/29 v. Chr. folgten germanische Scharen erneut einem Hilferuf der Treverer. Beide wurden vom Legionslegaten Nonius Gallus geschlagen.[21] Kurz darauf warf Gaius Carrinas, der Statthalter Galliens, Sueben über den Rhein zurück. Da sich seine Aktion im Kern gegen die aufständischen Moriner und ihre Verbündeten richtete, scheint es, dass die rechtsrheinischen Gruppen abermals in die innergallischen Unruhen eingegriffen hatten.[22] Im Gegenzug erfahren wir auch von der Anwesenheit römischer Zivilisten jenseits des Stroms: 25 v. Chr. unternahm der Legat Marcus Vinicius eine Strafexpedition gegen jene Germanen, die römische Händler in ihrem Gebiet getötet hatten. Ausmaß und Bedeutung der Aktion waren immerhin derart, dass Augustus eine sogenannte imperatorische Akklamation annahm, eine besondere Ehrenbezeichnung aufgrund eines militärischen Erfolgs.[23] Schließlich werden auch während Agrippas zweiter Statthalterschaft 20/18 v. Chr. Unruhen infolge von Kämpfen zwischen gallischen Stämmen und das Vordringen germanischer Gruppen überliefert.[24] In bekannter Weise dürften abermals die Germanen entweder als Söldner nach direkter Aufforderung zur Unterstützung oder aber auf eigene Faust an den gallischen Konflikten teilgenommen haben.[25]

Römisch kontrollierte Siedlungsbewegungen am Rhein

Die anhaltenden Unruhen an der nordöstlichen Peripherie Galliens, gefördert durch die in die neue Provinz ausstrahlende Mobilität der rechtsrheinischen Bewohner, ließen die Beruhigung der Rheingrenze mehr und mehr zu einer wichtigen Voraussetzung für die römische Herrschaft in Gallien werden. Ganz anders erschien den Römern die Lebensweise der Bevölkerung jenseits des Rheins: Die Mobilität gewaltiger Bevölkerungsmassen, die offenbar stete Bereitschaft, den eigenen Boden zu verlassen, dazu die kriegerische Lebensform – all dies schien nicht auf die Leute Ariovists beschränkt.

Caesar brachte die Sueben Ariovists propagandistisch geschickt in Verbindung mit der für die Römer traumatischen Erinnerung an den Zug der Kimbern und Teutonen mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor (113–101 v. Chr.). Indem er diese erstmals nicht mehr als Kelten, sondern als Germanen identifizierte, rückte er die von ihm verspürte germanische Mobilität in den Rang eines überzeitlichen Phänomens.[26] Die bei den Sueben beobachtete bzw. ihnen zugeschriebene halbnomadische Lebensweise übertrug er auf alle Bewohner rechts des Rheins, unabhängig von der konkreten Situation der Wanderschaft bei Ariovist.[27] Bereitwillig folgten die späteren Autoren dem von Caesar gezeichneten Bild.[28] Erst als man das Land und seine Völker aus eigener Anschauung kennen gelernt hatte, verlor sich allmählich die Vorstellung von deren angeblicher Neigung, ständig die Wohnsitze zu wechseln: In der Germania – einer ethnographisch-geographischen Schrift des Tacitus vom Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. – ist die Mobilität der Germanen kein Thema mehr.

Dem seinerzeit freilich auf Gallien real lastenden Wanderungsdruck hatte schon Caesar nicht allein mit einfachem Zurückschlagen, sondern ebenso mit gelenkter Ansiedlung zu begegnen versucht. Dabei bezog er auch das rechtsrheinische Vorfeld mit ein:[29] Früh schon übernahm er ein Schutzversprechen für die rechtsrheinischen Ubier, die unter den räuberischen Überfällen der aus dem Landesinneren vorstoßenden Sueben litten.[30] Als Stärkung der Ubier begründete Caesar sein Angebot an Usipeter und Tenkterer, sich bei den Ubiern niederzulassen.[31] In der Zeit nach Caesar verlegten die Ubier dann ihre Wohnsitze auf die linke Rheinseite. Sie zogen in die ehemaligen Gebiete der Eburonen, die Caesar 53 v. Chr. systematisch vernichten ließ.[32] Die Übersiedlung selbst wird mit dem Namen Agrippa verbunden. Vielleicht sanktionierte jener nur eine selbständig ausgelöste Wanderbewegung in das derart besiedlungsfrei gewordene Gebiet, das sich durch überaus fruchtbare Böden auszeichnete.[33] Gegenüber einer Mehrheit der älteren Forschung wird in jüngerer Zeit erst die zweite Statthalterschaft Agrippas (20–18 v. Chr.) als Zeitpunkt für die Übersiedlung favorisiert, was bedeuten würde, dass das vormals eburonische Gebiet längere Zeit im Wesentlichen siedlungsfrei geblieben wäre. Die Ansicht stützt sich vornehmlich auf die Verbreitung von Münzen, deren Prägung und Verwendung den Ubiern zugesprochen wird.[34]

Im ehemaligen ubischen Gebiet, das vom Neuwieder Becken bis ins nördliche Hessen und zum Dünsberg bei Gießen reichte, trafen bald die Chatten ein.[35] Zumindest die rheinnahen Ländereien erhielten sie ausdrücklich von Rom als Siedlungsgebiet angewiesen. Noch zu Beginn der Drususfeldzüge war das Verhältnis zwischen Rom und Chatten unbelastet.[36] Als ein Teil der Chatten gelten auch die Bataver, die sich mit römischer Erlaubnis ganz im äußersten Nordosten Galliens niederließen, und zwar auf der zwischen Waal und Rhein gebildeten insula.[3738