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Bernhard Jussen

DIE FRANKEN

Geschichte – Gesellschaft – Kultur

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Dieser Band informiert knapp, kompetent und anschaulich über Geschichte und Kultur der fränkischen Gesellschaft von der Völkerwanderungszeit bis zu dem unspektakulären Ende des letzten Nachfahren Karls des Großen im 10. Jahrhundert. Schwerpunkte liegen auf dem Erbe des Imperium Romanum, das die Franken sehr erfolgreich ausgestalteten, sowie auf den politischen und sozialen Strukturen. Die kleine Einführung erhellt zudem die Entstehung der christlichen Kultur, die Wissensorganisation und die wirtschaftlichen Verhältnisse in der fränkischen Gesellschaft.

Über den Autor…

Bernhard Jussen lehrt als Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Frühmittelalterliches Europa, politische Sprache, Verwandtschaft im Kulturvergleich, historische Semantik und visuelle Kultur des Mittelalters sind seine Forschungsthemen. 2007 wurde er mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. Vom selben Autor herausgegeben, ist im Verlag C.H.Beck lieferbar: Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit (2005).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

    I. Was gehen uns «Die Franken» an?

Ab wann und bis wann sind «Die Franken» ein relevanter historischer Gegenstand?

  II. Koordinaten – Bedingungen – Vorgeschichten

1. Mangelgesellschaften drängen in eine bessere und sicherere Welt

Von «Völkerwanderung» zu «Migrationsbewegungen»

Römische Identität verschwindet von den Leibern der Romanen

2. Postimperiale Räume – Wie endet das Imperium?

Voraussetzungen: Imperiales und postimperiales Gallien

Vor den fränkischen Königen: Gallische Aristokraten erfinden das neue politische System

Selektionsvorteil der Franken: Einheimische unter Einheimischen

III. Politische Ereignisse: Von Arbogast dem General zu Ludwig dem Nichtstuer

1. Ereignisse im postimperialen Raum

Trier, 390 – Arbogast entmachtet den Kaiser

Tournai, um 481 – Ein Herrscherbegräbnis ohne Zukunft

Tours, 498, 500, 503 oder 508 – Chlodwig lädt zur Taufe

2. Macht und Medien in der Hand der Karolinger

Verberie, 752 – Die Königsstürzer hinterlassen keine Spuren

Rom, 755 – Ein neues Arsenal diplomatischer Druckmittel

Köln, 798 – Übergabe des Kaisertums an König Karl

3. Der rex Francorum wird Geschichte

Paris, 888 – Das dynastische Argument verschwindet

Senlis, 987 – Ludwig der Nichtstuer fällt vom Pferd

IV. Politische und soziale Strukturen, Administration und Wissenskulturen

1. Formen des Politischen (1): Kein Staat, kein Reich, kein Lehnswesen

Kein «Staat», kein «Reich»

Kein «Lehnswesen»

2. Formen des Politischen (2): Gott, sein königlicher Diener und das kollektive Seelenheil

Eine hochentwickelte, abstrakte politische Theorie

Die büßende Gesellschaft

3. Formen des Politischen (3): Eine Gesellschaft ohne Ahnenkult

«Was Gott verbunden hat …»: Umbau des Ehe- und Verwandtschaftssystems

«Lass die Toten ihre Toten begraben»: Der Umbau der Gedächtniskultur

4. Kulturen des Wissens: Eine Buchgesellschaft

Von der Buchrolle zum Buchkodex

Die Bildungs- und Bücherkampagne

Kodifizierung der Sprache und der Schrift

Die Befreiung der Kunst

Die Karriere der Musik

5. Ökonomische Verhältnisse: Betriebssysteme und Arbeitsorganisation

Vergetreidung

Grundherrschaft

  V. Qarlush bin Ludhwīq, malik al-Faranj: Epilog

Weiterführende Literatur

Bildnachweis

I. Was gehen uns «Die Franken» an?

Wozu «Die Franken»? Als sich die deutschen Länder im 19. Jahrhundert als ein einheitlicher Staat, eine Nation, zu erfinden suchten, war es nicht schwierig, gute Gründe für die Beschäftigung mit den Franken zu finden. Die Franken waren eine Art historischer Beweis der Zusammengehörigkeit und Größe jenes Volkes, das sich 1871 «verspätet», wie man meinte, als Staat erzeugt hat. Weshalb aber sollten die Franken noch für unsere Gegenwart wichtig sein? Um die Fundamente jener Aspekte zu verstehen, die bis heute die Eigentümlichkeit des westlichen, des lateinischen Europa zu markieren scheinen, muss man den Blick sehr weit zurückwerfen, nämlich in jene Jahrhunderte, in denen das römische Imperium nur noch im griechischsprachigen Osten eine politische und kulturelle Gestaltungsmacht war, im Westen hingegen allenfalls noch als ferne Referenz und kulturelles Zitatenreservoir überdauerte. In diesen poströmischen, vom Imperium zurückgelassenen Räumen formierte sich eine Reihe neuer, kleinerer Gesellschaften, von denen zwei sich als langlebig erwiesen – eine muslimische auf der Iberischen Halbinsel seit Beginn des 8. Jahrhunderts und eine christliche nördlich von Alpen und Pyrenäen seit dem späten 5. Jahrhundert. Letztere ist es, die man die «fränkische» nennt, und diese Kultur war gemeint, als Michael Mitterauer in seinem Buch Warum Europa? «die fundamentale Arbeit» fokussierte, auf der das lateinische Europa bis heute gründet. Was Europa heute ausmacht, kann man natürlich in nicht wenigen Aspekten auch mit dem Hinweis auf die Aufklärung zu bestimmen suchen, es lässt sich aber kaum verstehen ohne den Blick auf die ersten nachrömischen Jahrhunderte – auf die fränkischen Gesellschaft des 5. bis 10. Jahrhunderts, um die es hier gehen soll.

Einige zentrale Aspekte Diese Langzeitperspektive aus der heutigen Gegenwart war für die folgenden Kapitel mein Auswahlkriterium des Stoffes. Ich habe mein Augenmerk insbesondere jenen Hervorbringungen der fränkischen Kultur gewidmet, die bis heute unsere westeuropäischen Gesellschaften unterscheiden von anderen großen Kulturen der Welt. Um einige Aspekte zu nennen:

(1) Ehrenmord – Mädchentötung – Ehe – Verwandtschaft: Warum kam man im lateinischen Europa nie auf die Idee, neugeborene Mädchen zu töten, während diese Praxis in anderen Kulturen, Indien und China besonders, bis heute ein Problem ist. Und warum sind und waren Ehrenmorde in den meisten Teilen des lateinischen Westens kein Thema? Dies liegt an einer spezifischen Vorstellung und spezifischen rechtlichen Ausformung von Familie und Verwandtschaft, die sich in der fränkischen Welt herausgebildet hat und sich als ein besonders nachhaltiger Faktor der Entwicklung der lateinischen Gesellschaften erwiesen hat: Die massive Forcierung der monogamen, untrennbaren Ehe bedeutete zugleich die Schwächung des ahnenorientierten Verwandtschaftssystems (S. 101).

(2) Ehe gegen Verwandtschaft: Die christlichen Kirchen haben sich zwar überall – im byzantinischen Osten, in den christlichen Kulturen jenseits der Grenzen des römischen Imperiums, in Afrika und Spanien – als verwandtschaftsfeindliche Religion durchgesetzt. Allenthalben haben sie Ahnenkult abgelehnt und überall etablierten sich ihre religiösen Amtsinhaber als Gruppen von Ehelosen. Dadurch unterschieden sich alle diese Christentümer von Judentum oder Islam. Aber nur im lateinischen Westen hatte die Institutionalisierung dieser Verwandtschaftsfeindlichkeit erhebliche politische Folgen. Warum? Weil nur hier das politische System (jenes der römischen Kaiserzeit) so vollständig zusammengebrochen war, dass das religiöse System als einziges Sinnsystem übrig blieb und für mehrere Jahrhunderte – nämlich bis ins 11. Jahrhundert hinein – zugleich als politisches System funktionierte. Das religiöse System war das politische System (S. 86).

(3) Totensorge: Im fränkischen Europa ist die Totensorge – Kernelement jeder vormodernen Gesellschaft – fundamental neu geregelt worden, und zwar in einer im Kulturvergleich einzigartigen Weise: Totensorge war nicht mehr wie in der römischen Gesellschaft Aufgabe der männlichen Nachkommen, sondern religiöser Spezialisten und der hinterbliebenen Ehefrauen und -männer (S. 105).

(4) Ein Riesenarchiv an Gegenmeinungen: Die fränkische Kultur hat auch Regionen überzogen, in denen man nicht Fränkisch sprach, sondern etwa Romanisch, Langobardisch oder Okzitanisch. Eine noch für viele Jahrhunderte folgenschwere Leistung jener Kultur hat gewährleistet (wenngleich dies nicht die Intention gewesen sein mag, vgl. S. 115), dass ein – unter den damaligen Kommunikationsbedingungen riesiger – Raum regierbar war: die Entscheidung für Latein als politische Sprache und das strenge Kodifizieren und grammatische Festlegen der seinerzeit noch lebenden, sich verändernden und allerlei Dialekte entwickelnden lateinischen Sprache. Bis ins Spätmittelalter blieb Latein die Sprache des Politischen, bis weit in die Neuzeit die Sprache der Universitäten und bis ins 20. Jahrhundert die Sprache der (katholischen) Liturgie. Dieser Festlegung der fränkischen politischen Kultur auf das Lateinische verdanken wir das Überleben des überwiegenden Teils der antiken lateinischen Literatur. Ein Großteil der Texte aus der Antike, die wir heute kennen, ist zwischen 800 und 900 in den Schreibstuben christlicher Klöster von Mönchen und Nonnen kopiert worden und nur deshalb bis heute erhalten. Diese gigantische Arbeit des Abschreibens hatte nicht zuletzt den Effekt, dass die fränkische Gesellschaft ein Riesenarchiv antiker Ideen angelegt hat, die seinerzeit herrschenden Auffassungen – nicht zuletzt in religiöser und politischer Hinsicht – widersprachen. Jederzeit konnte ein Neugieriger in einer Hof-, Dom- oder Klosterbibliothek in einen Bücherschrank greifen und einen antiken römischen Text herausziehen, dessen Inhalt weit jenseits des Tolerablen war und das Denken dramatisch in Unordnung brachte. Immer wieder ist dies schon den neugierigen Abschreibern des 9. Jahrhunderts passiert, erst recht späteren Lesern dieser fränkischen Abschriften seit der Scholastik (S. 114).

(5) Der Herrscher bleibt Laie: Eine Weichenstellung für die Geschichte des westlichen Europa war fällig, als die fränkischen Könige ins Gehege der päpstlichen Politik gerieten. Die Königehaben es trotz einiger Anstrengungen (S. 93) nicht geschafft, ihr Verhältnis zum Oberhaupt der lateinischen Kirche so zu regeln wie die Kaiser in Ostrom ihr Verhältnis zum Patriarchen. In der fränkischen politischen Kultur hat sich nicht durchsetzen lassen, was in Ostrom nie umstritten war: Die oströmischen Kaiser haben die Praxis der vorchristlichen römischen Kaiserzeit fortgesetzt und ihre eigene religiöse Oberhoheit monopolisiert. Der Patriarch war immer – auch in religiösen Fragen – untergeordnet. Die fränkischen Herrscher hingegen haben die Genese jener politischen Grundspannung hinnehmen müssen, die im 11./12. Jahrhundert zunächst zum politischen Eklat führte, als es darum ging, ob der König Einfluss nehmen dürfe auf die Besetzung der Bischofsämter («Investiturstreit»), und dann die Autonomisierung des politischen Feldes vom religiösen Feld ermöglicht hat.

(6) Die alte Elite erfindet das neue politische System: Als seit etwa 500 in Gallien eine neue – fränkische – politische Kultur Kontur gewann, konnte sie auf Strukturen aufbauen, die in der Zeit des politischen Vakuums im 5. Jahrhundert entstanden waren: Die gallischen Magnatenfamilien – ehemals politische Mitspieler im römischen Imperium, nun mehr oder weniger haltlose Figuren in einer von den Kaisern zurückgelassenen Region – hatten sich des Bischofsamtes bemächtigt und dieses zu einem lokalen politischen Amt umfunktioniert. Sie hatten den Bischof zum Stadtherrn verwandelt und damit – mangels Alternative – das religiöse Amt für ihre eigenen politischen Ambitionen interessant gemacht. Dabei ist die Grundstruktur eines politischen Bistümernetzes entstanden, auf der bald die fränkische politische Kultur fußen sollte. In keiner der anderen christlichen Gesellschaften rund um das Mittelmeer hat es eine ähnliche Entwicklung gegeben (S. 26), kein Magnat in Ostrom hat sich aus politischen Gründen für das Bischofsamt interessiert (denn es gab den Senat noch, in dem man seine Ambitionen ausleben konnte), keiner in Italien (auch dort gab es noch bis in die zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts einen Senat, und größere Teile Italiens gehörten noch zu Ostrom), keiner in Nordafrika (dort gab es eine so hohe Zahl von Bischofssitzen, dass diese zur gesellschaftlichen Distinktion der Amtsinhaber nicht mehr taugten). Kurz, in keiner anderen Region haben die Eliten des untergehenden Systems der nachrückenden Kultur bereits die neue politische Infrastruktur konzipiert.

(7) Randständigkeit als Kultur: Die fränkische Kultur war nicht nur eine Randkultur, die man in Bagdad oder in Konstantinopel kaum ernst genommen hat, sie hat sich auch selbst als eine Randkultur konzipiert: Man lebte mit dem Wissen, die heiligen Schriften nur in Übersetzungen lesen zu können, kaum jemand hat je das Zentrum des eigenen geistigen Kosmos – stets fraglos Jerusalem – gesehen. Man wusste, dass dort eine andere Sprache und andere Schriftzeichen benutzt wurden und dass Jerusalem seit dem 7. Jahrhundert in den Händen von «Sarazenen» war. Randständigkeit ist eine im Kulturvergleich durchaus spektakuläre Selbstdeutung. Große Kulturen (wie das «Reich der Mitte» oder die römische Kultur der Mittelmeerwelt mit der Metropole Rom) nehmen sich selbst als Zentrum wahr. Die fränkische Welt tat dies nicht. Man zitierte das Zentrum, das kaum je einer betreten hatte, bezog sich darauf und war – zumindest zu bestimmten Zeiten – begierig nach Objekten dieses Zentrums: So entsprechen in der Aachener Palastkapelle (dem wichtigsten fränkischen Palast um 800) zentrale Maße den in der Apokalypse genannten Maßen des himmlischen Jerusalem; das Oktogon selbst scheint auf die Grabeskirche zu verweisen (freilich auch auf andere kaiserliche Kirchen – etwa in Ravenna); den Marmor für den Aachener Thron im Obergeschoß der Palastkapelle hat man – nach allem, was sich rekonstruieren lässt – ebenfalls von der Grabeskirche in Jerusalem nach Aachen geschafft, er ist gewissermaßen eine Reliquie; der Ende des 8. Jahrhunderts am fränkischen Hof wirkende Gelehrte Alkuin bezeichnete Aachen als Jerusalem König Karls; Münzen, die nach Karls Kaisererhebung geschlagen wurden, scheinen auf der Rückseite das Heilige Grab zu zeigen (Abb. 1). Karl der Große sah es als seine Aufgabe an, im unendlich weit entfernten Jerusalem die Kirchen instand zu halten, und er hat Listen anfertigen lassen über das Personal dieser Kirchen. Dies alles war ein zentraler Teil der fränkischen Welt; die Idee des sehr fernen Zentrums saß im Kern der gelehrten (also der archivierenden) Kultur. Nach den Vorstellungen der Gelehrten sollte Jerusalem auch eine prominente Rolle am Jüngsten Tag spielen. Wie sich diese tief verwurzelte Vorstellung der eigenen Randständigkeit im Einzelnen kulturell ausgewirkt hat, ist erst in Ansätzen erforscht. Dass aber der Westen im Einflussbereich der lateinischen Kirche «sich mit Nachdruck nicht als das Zentrum der Welt sah» (so stellt der Kunsthistoriker Alexander Nagel noch für die Renaissance bis zur Entdeckung Amerikas fest) ist kaum bestreitbar.

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Abb. 1: Münze Karls des Großen (Münzkabinett, Staatliche Museen zu Berlin) und Steinrelief aus Byzanz (Washington, Dumbarton Oaks Library) mit sehr ähnlichen Darstellungen eines Gebäudes.

Zwischen 806 und 812 hat Karl der Große begonnen, Münzen prägen zu lassen mit der Darstellung eines Gebäudes, das wohl das Heilige Grab sein soll (oben rechts). Zur Zeit dieser neuen Prägungen hat Karl der Große großes Engagement gezeigt zur Verbesserung der baulichen Zustände der Jerusalemer Kirchen. Auch das Steinrelief aus Byzanz mit einer sehr ähnlichen Darstellung wie auf der Münze wird in diesem Sinne gedeutet (links).

(8) Befreiung der Kunst: In der Zeit der fränkischen Kultur, genauer: in der Zeit seit Karl dem Großen, wurde der Grundstein für das gelegt, was die lateinisch europäische Kunstgeschichte geworden ist – eine Geschichte, die im Osten des alten Imperiums ganz anders verlaufen ist. Die politischen Theoretiker in den Regierungszentralen Karls des Großen und seiner Nachfolger haben die folgenschwere Position eingenommen, dass ein Bild oder eine Statue nichts weiter sei als ein von Menschenhand erzeugtes Ding, für das sich die Politik nicht besonders interessieren muss, und zwar selbst in dem Bereich nicht, der damals als Kern der politischen Aufgaben galt – die Sicherung des Wegs zur Erlangung des Seelenheils. Anders gesagt: Die fränkischen Politiker haben die Künstler entlastet vom Gewicht politischer Relevanz, besonders von der Relevanz für den Heilsweg. Politik und künstlerische Produktion waren weit genug voneinander entfernt, um sich unabhängig entwickeln zu können. In Byzanz war dies fundamental anders. Die religiösen Bilder waren für das Schicksal des Kaisers ebenso wichtig wie für das Seelenheil der Gläubigen. Für die künstlerische Produktion im lateinischen Europa wirkte die fränkische Politik seit etwa 800 als überragend wichtiger Impuls (S. 116).

Im Pantheon der Gründungsfiguren Europas? Die Ausgangsfrage «Was gehen uns die Franken an?» dürfte – so viel mag diese erste Aufzählung zeigen – mit Blick auf das Verständnis unserer eigenen kulturellen, politischen und sozialen Strukturen immer noch leicht zu beantworten sein. Der Blick auf «Die Franken» erlaubt Zusammenhänge zu verstehen, die Grundorientierungen noch unserer Zeit betreffen – von der Deutung großer Migrationsbewegungen (S. 17) bis zu der Frage, wie Imperien funktionieren und was sie von Staaten unterscheidet (S. 23). Was war es, das die fränkische Gesellschaft zu etwas anderem gemacht hat als die awarische oder die ostgotische? Weshalb werden fränkischen Könige wie Chlodwig und besonders Karl «der Große» im Pantheon der Gründungsväter Europas aufgestellt, nicht aber die Gotenkönige Theoderich oder Alarich? Worin bestand die besondere Leistung dieser «fränkischen» Kultur für ihre Langlebigkeit im frühen Mittelalter, und worin besteht ihre ‹staatstragende› Funktion für die heutigen Gesellschaften, für die Vergewisserung in der Rückschau einer sich konfigurierenden europäischen Union und ihrer Institutionen – der Nationalmuseen, der prominenten Ehrungen (beispielsweise des «Karlspreises»), der gerne zitierten Referenzfiguren?

«Die fränkische Welt» Im Folgenden geht es weniger um «die Franken» als um eine Kultur, deren Protagonisten und deren Bevölkerung so bunt gemischt waren, dass eine nach «Stamm», «Ethnie» oder «gens» klingende Bezeichnung wie «die Franken» das historische Phänomen nicht trifft. Es geht um etwas, das in der englischen und französischen Forschung «Die fränkische Welt» (the Frankish world, le monde Franc) genannt wird, um eine Kultur, die nicht selten mit dem Etikett «Franken» gearbeitet hat, obgleich ‹echte› Franken anfangs nur ein paar Gestalten mit fernem Migrationshintergrund unter vielen Romanen waren, später eine Gruppe unter vielen anderen (Burgundern, Alemannen, Aquitaniern, Sachsen usw.). Diese fränkische Welt wurde an Höfen entworfen und am Leben gehalten, an denen anfangs überwiegend Romanen (wie Gregor von Tours), später Iren (wie Dungal), Goten (wie Theodulf) oder Angelsachsen (wie Alkuin) den Ton angaben, noch später Sachsen, und so fort. Die fränkische Welt bestand nicht aus Franken, sondern aus einer bunten Mischung von Völkern, und der Hof bildete dies mit seiner Vielfalt zugereister Experten ab. Die Könige waren erstaunlich lange tatsächlich fränkischer Herkunft, und erstaunlich lange rekrutierte man sie aus nur zwei Familien (zuerst bis Mitte des 8. Jahrhunderts aus jener der «Merowinger», dann der «Karolinger»), erst seit etwa 888 versagte das dynastische Argument (S. 72). Aber das politisch-kulturelle Gebilde, das sie regierten, wurde von sehr vielen anderen nicht nur bevölkert, sondern auch nachdrücklich gestaltet. Als Synonym für die fränkische Welt kann man «die Franken» mithin allenfalls in Anführungszeichen nutzen.

Ab wann und bis wann sind «Die Franken» ein relevanter historischer Gegenstand?

Ein sinnvoller Anfang Das Thema «Die Franken» beginnt und endet in jedem Buch mit einem anderen Zeitpunkt. Hier soll die Geschichte der Franken mit jenem Moment in der Geschichte im römischen Imperium beginnen, in dem ein kollektiver historischer Akteur wichtig wird, den man «die Franken» nennen kann – einem Moment, in dem nördlich der Alpen «römische Gesellschaft» in «fränkische Gesellschaft» überzugehen beginnt. Es geht also nicht um die ersten Belege des Namens «Franken» bei römischen Schriftstellern, auch nicht um Momente etwa im 4. Jahrhundert, in denen ein Franke namens Bonitus oder ein anderer namens Silvanus – beide mit perfekten römischen Namen – in hohen römischen Ämtern auftauchen – der eine als Führer der VII. Legion unter Constantin I., der andere als Kommandeur der Infanterie in Gallien. Solche Beispiele sind eher für die Feststellung zu verwerten, dass in der multiethnischen römischen Gesellschaft bisweilen auch gut angepasste und ausgebildete Migranten ganz nach oben gelangen konnten. Der Strukturbruch wird erst sichtbar als Folge einer sehr umfassenden Reform des römischen Militärs, die wir zu Beginn des 5. Jahrhunderts beobachten können.

Umbau der römischen Militärorganisation nach 400 Zu einem relevanten historischen Akteur wurden die Franken genau wie viele andere im Imperium angesiedelte Teile der Migrationsbevölkerung durch einen fundamentalen Umbau der römischen Militärorganisation. Der straff hierarchisch organisierte römische Militärapparat mit seinen Legionen und Reitereien, der bis heute Inbegriff des römischen Imperiums und seiner Überlegenheit ist, verschwindet in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts aus den Schriftzeugnissen – im Osten des Imperiums genau wie im Westen. Die Militärverfassung wurde vollständig umgebaut. Sie beruhte fortan auf Söldnern und sogenannten Foederaten, rekrutierte ihre Kampfverbände aus der Migrationsbevölkerung, die seit dem 3. Jahrhundert mehr oder weniger gewaltsam die ohnehin traditionell multiethnische römische Gesellschaft noch vielfältiger gemacht hatte. Die neuen Truppen waren aus vielen, meist Germanisch sprechenden Einwanderern (Franken, Goten, Vandalen usw.) zusammengesetzt. In England, Spanien und Afrika ist dieser Umbau der römischen Kriegsorganisation recht genau datierbar, da der Abzug der letzten ‹alten› Truppeneinheiten bezeugt ist. Man verlegte die Legionen aus dem Westen in Krisengebiete und sandte sie – anders als früher – nicht mehr zurück. In Gallien – dem Aktionsfeld der «Franken» – bleibt das genaue Datum zwar im Dunkeln, der Prozess ist aber ebenso deutlich.

Ein sinnvolles Ende Bei der Suche nach einer sinnvollen zeitlichen Begrenzung für meinen Blick auf «Die Franken» mag das Legitimationsvokabular der Herrscher helfen: Noch bis zum Ende des 10. Jahrhunderts blieben «die Franken» der zentrale Bezugspunkt königlicher Legitimation in jenem Raum, der – wie lose auch immer – in Reichweite des Zugriffs zunächst der Nachfahren König Chlodwigs (sog. Merowinger), dann der Nachfahren König Pippins (sog. Karolinger), schließlich noch von deren sächsischen Nachfolgern (den sog. Ottonen) lag. Obgleich sie von Anfang an über eine sehr bunt gemischte, multiethnische Bevölkerung regiert hatten, haben alle diese Herrscher das Objekt ihres Herrschens immer als «Franken» bezeichnet; in ihrer Titulatur nannten sie sich «König der Franken», bisweilen mit einem Zusatz wie «König der Franken und Langobarden», oder später «König der Franken und Sachsen» – bisweilen mit weiteren Zusätzen wie «und patricius der Römer» oder «imperator der Römer». Wenn die nordalpinen Könige und Kaiser nach dem Jahr 1000 den Bezug auf die Franken aufgaben und sich nur noch «König der Römer» nannten (und damit den Weg zu jener Denkfigur wiesen, die seit dem 13. Jahrhundert «Heiliges Römisches Reich» genannt wurde und seit dem 15. Jahrhundert bisweilen den Zusatz «deutscher Nation» erhielt), dann hat augenscheinlich das Wort «Franken» etwa seit dem Jahr 1000 seine Signalwirkung verloren, weil seine Bezugsgröße keine politische Relevanz mehr hatte.

Die Nomenklatur der Könige ist Signal für einen kulturellen Zusammenhang, dessen leitende Orientierungen (Weltdeutungen, politische Theorien und Institutionen, soziale und ökonomische Konfigurationen, aber auch Ästhetik) etwa im 6. Jahrhundert Gestalt annahmen. Sie markieren über rund vier Jahrhunderte hinweg so etwas wie eine «fränkische Kultur», «fränkische Welt» oder «fränkische Gesellschaft», ehe nach einer Phase der Neuorientierung seit dem 12. Jahrhundert in der Politik (Ausdifferenzierung des Politischen und des Religiösen), im Recht (erneuter Bezug auf das ‹klassische› Römische Recht), in der intellektuellen Kultur (höfische Kultur, Stadtkultur) und der Ökonomie (Entstehung des Lehnssystems und der Geldwirtschaft) die Koordinaten einer ganz neuen Welt zu sehen sind.

Wenn man in Deutschland über die fränkische Welt schreibt, geht es meist um das «Das Frankenreich»; entsprechende Werke enden dann mit den «Ottonen», also mit dem Jahr 919. Bücher über «Die Franken» hingegen enden zumeist weit früher, etwa mit dem Machtantritt des ersten fränkischen Herrschers, Chlodwig I., am Ende des 5. Jahrhunderts oder dem Ende der «Merowinger-Dynastie» Mitte des 8. Jahrhunderts. Außerhalb Deutschlands – also dort, wo «die Ottonen» (919–1002) nicht national identitätsbildend sind – endet le monde franc und the Frankish world («die fränkische Welt») eher mit dem Ende des 10. Jahrhunderts. L’an mille, das Jahr 1000, ist der symbolische Schnitt. Seit dem 11. Jahrhundert – und bis in die Moderne – sind «die Franken» nur noch eines: ein gedächtnispolitisches Ass in der Hand der politischen Akteure.