Uwe M. Schneede
OTTO DIX
Verlag C.H.Beck
Otto Dix lebte in politisch und gesellschaftlich stark wechselnden Zeiten – vom Kaiserreich und dem Ersten Weltkrieg über die Revolution und die Weimarer Republik, die Herrschaft des Nationalsozialismus mit dem Zweiten Weltkrieg bis zur Nachkriegszeit. Diese Veränderungen und Brüche spiegeln sich im Werk von Otto Dix in der Vielfalt der Themen und bildnerischen Mittel. Uwe M. Schneede spürt in seinem konzisen Überblick über Leben und Werk dieses vielseitigen Künstlers die Gründe für die frappierenden Stilwechsel auf und gelangt schließlich zu einer Neueinschätzung der Arbeiten aus Dix’ zweiter Lebenshälfte.
Uwe M. Schneede war von 1991 bis 2006 Direktor der Hamburger Kunsthalle. Bei C.H.Beck sind zuletzt von ihm erschienen: «Max Beckmann» (2011) und «Die Kunst der Klassischen Moderne» (²2014).
Vorbemerkung
Frappierende Stilwechsel; der Beginn – Selbstbildnisse 1912–1915
Einblicke in die Welt der Zerstörung – Im Krieg 1914–1918
Das prothetische Bild; die Groteske – Die Krüppel-Gemälde von 1920
Überschärfe und Attacke – Die Salon-Bilder 1921/1922
«Witz, Diabolik, Sinnlichkeit» – Aquarelle 1922–1924
Das große Thema Krieg und der symptomatische Streit der Deuter – Schützengraben und Krieg-Zyklus 1923/1924
«Sie repräsentieren eine ganze Zeitepoche» – Bildnisse 1923–1926
Machart und Moderne – Dix´ Bildtechniken
Monströse Begegnungen – Paare 1924–1930
Tanz und Tod. Zwei Zeitbilder – Die Triptychen Großstadt und Der Krieg 1928–1932
Verfemung, Rückzug, Resistenz – Allegorische Szenen und Landschaften 1933–1945
«Wiederum zwischen 2 Stühlen» – Das späte Werk 1946–1969
Lebensdaten
Literatur (Auswahl)
Werkverzeichnisse
Monographien und Aufsätze
Ausstellungskataloge
Bildnachweis
Personenregister
für M.
Er ist einer der großen deutschen Künstler des 20. Jahrhunderts. Wenn man sich allerdings genauer auf seine Werke und die zahllosen Publikationen einlässt, kommt man nicht umhin, sich angesichts der überraschenden künstlerischen Wendungen und ihrer gegensätzlichen Bewertungen schließlich zu fragen, wer dieser Künstler Otto Dix eigentlich war und wie er einzuordnen sei: Maler der gemäßigten Neuen Sachlichkeit oder des bissigen Verismus? Gesellschaftskritiker im Sinne von George Grosz oder (wie Lovis Corinth meinte) Naturalist in der Folge Wilhelm Leibls? Bildreporter des Kriegsfaszinosums oder – ganz im Gegenteil – mahnender Pazifist? Politisch oder unpolitisch? Etwa gar «malender Reaktionär am linken Motiv» (so der Kunstschriftsteller Carl Einstein)? Avantgarde oder Rückfall ins Altmeisterliche? Antifaschist (wie man in der DDR meinte) oder überlebter Figurenmaler zu Zeiten der Abstraktion (in der frühen Bundesrepublik)? Das alles ist ihm tatsächlich zugeschrieben worden.
Aber was gilt nun, wenn immer auch das Gegenteil behauptet wurde? Wer war Otto Dix als Künstler? Ist das Werk etwa so verführerisch vieldeutig, dass es jedem etwas zu bieten hat? Dafür tritt es zu bestimmt und unerbittlich auf. Könnte es daher sein, dass die widersprüchlichen Antworten der Interpreten weniger Dix’ Intentionen wiedergeben als vielmehr ihre eigenen Haltungen, seien sie nun moralischer, ästhetischer oder politischer Natur? Die nächste Frage schlösse sich sogleich an: Was in diesem Werk begünstigt solche widersprüchlichen Reaktionen? Und worin unterscheidet es sich beispielsweise von demjenigen seiner Zeitgenossen Max Beckmann oder Ernst Ludwig Kirchner, denen ähnlich gegenläufige Zuordnungen nicht zuteilwurden? Welche spezifischen Intentionen, Inhalte, Themen oder Bildmittel wären die Ursachen für diese gegensätzlichen Reaktionen? Und worauf lassen sich die künstlerischen Wendungen zurückführen?
Was jedenfalls von heute aus, 50 Jahre nach dem Tod des Künstlers, zählt und verlässlich bleibt, ist das Werk selbst, das Werk in seinen biographischen, zeithistorischen und kunsthistorischen Kontexten. Aus ihm ist die Analyse der Inhalte und Bildverfahren abzuleiten. Von Interpreten jeglicher Couleur ist Dix wieder und wieder als Nietzsche-Adept hingestellt worden; hier soll es vor allem um seine künstlerische Eigenständigkeit und seinen Eigensinn gehen – durchaus auch in dem (ihm selbstverständlichen) Umgang mit bildnerischen Anleihen.
Seit den 1990er Jahren ist dieses Werk nach vielen Seiten von einer zumeist jüngeren Kunsthistorikergeneration vorbehaltlos und gründlich erkundet worden. Zwar fehlt es noch an der Aktualisierung jenes Werkverzeichnisses der Gemälde, das Fritz Löffler 1981 veröffentlicht hat, aber die Werkverzeichnisse der Aquarelle und Gouachen von Suse Pfäffle (1991) sowie der Zeichnungen und Pastelle von Ulrike Lorenz (2003) und die Edition der Briefe ebenfalls durch Ulrike Lorenz (2013) sicherten wichtige Grundlagen, während Kataloge zu Ausstellungen einzelner Werkbereiche in Chemnitz oder Dresden, Düsseldorf oder Hamburg, Mannheim, Stuttgart oder New York jüngst vielerlei neue Einsichten brachten. Olaf Peters legte eine aktuelle Biographie vor. Aus all diesen Publikationen zieht, wer sich erneut an das Werk von Otto Dix wagt, großen Nutzen. Wesentliche Anregungen verdanke ich zudem den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an einem Dix-Seminar, das ich im Sommersemester 1990 an der Ludwig-Maximilians-Universität München abgehalten habe, auch den daraus hervorgegangenen oder daran anschließenden Arbeiten von Rhoda Eitel-Porter, Martina Fuchs (†), Renate Heinrich, Kira van Lil und Andreas Strobl. Es galt, diese Anstöße noch einmal aufzugreifen und weiterzuführen.
Selbstbildnisse 1912–1915
Eine grundlegende Besonderheit dieses Werks lassen bereits die frühen Selbstbildnisse erkennen. Sie führen eine kunsthistorisch einzigartige Heterogenität der Stile vor. Otto Dix war gerade 20 Jahre alt, geboren 1891 im thüringischen Gera als Sohn eines Formers in einer Eisengießerei und einer Näherin; 1905 bis 1909 hatte er eine Lehre als Dekorationsmaler bei einem Geraer Malermeister absolviert und ab 1910 in Dresden mit Hilfe eines Stipendiums an der Königlichen Kunstgewerbeschule studiert – bis er 1914 in den Krieg eingezogen wurde.
In dieser Zeit entstand eine Reihe erstaunlicher Selbstbildnisse. Sie begann 1912 mit einem skeptisch dreinblickenden Jüngling mit Nelke in der Hand in der Manier der italienischen Frührenaissance (Abb. 7). Es folgten zweimal Naturburschen, nicht mehr altmeisterlich, sondern im Stil Ferdinand Hodlers. Ebenfalls 1913 präsentierte sich der Künstler als expressionistisch hingehauenen, rauchenden Bohemien im Atelier und im Jahr darauf provokant als ungestümen, kahlgeschorenen Berserker mit riesiger, selbstbewusster Signatur (Abb. 8). Mal erscheint er als Landsertyp in der Art trockenster naiver Jahrmarktsmalerei (Abb. 9) und mal in glühendem Rot vor schwarzem Grund gleich in mehreren Ansichten als allgegenwärtiger finster-grimmiger Dämon aus dem Spiegelkabinett. Schließlich gab er sich 1915 – noch vor dem Fronteinsatz – in einem futuristischen Wirrwarr aus Trümmern, Leichenteilen, Tierkörpern und Blut mythologisch als Kriegsgott Mars aus, der jedoch selbst in den Strudel dieser Weltzerstörung gerät. Und dann folgte 1918 das emphatische Selbstbildnis Sehnsucht als Allegorie (Abb. 10): der Kopf blau wie der Himmel, flankiert von den Symbolen des Tages und der Nacht, der Fauna und der Flora. Ein abgehobener Poet des Kosmos.
Gegensätzlicher kann man sich selbst kaum darstellen. Künstler verwandelten sich gern in ihren eigenen Bildern. Rembrandt verkleidete sich und grimassierte, um ein anderer zu sein und mit fremden Erfahrungen bildlich experimentieren zu können. Vincent van Goghs Kopf veränderte von Mal zu Mal das Aussehen, als er, besser: weil er in seiner Pariser Phase die bei den bereits avancierten Kollegen beobachteten neuen Bildverfahren an sich selbst erproben wollte. Max Beckmann schlüpfte bildnerisch in verschiedene Rollen, um das Selbstverständnis als Künstler im jeweiligen Zeitkontext zu erkunden.
Ganz anders Dix. Er präsentierte sich selbst in unterschiedlichsten Stilen, Epochen, Bildtypen. Es kommt hinzu, dass er von der feinen, flächigen Lasurtechnik bis zur ruppigen Alla-prima-Geste, direkt nass-in-nass auf die Leinwand aufgetragen, bis zu pastosen, plastisch wirkenden Partien sämtliche Malweisen durchging. Normalerweise würde man sagen, der junge Mann sei als Künstler auf der Suche nach einem eigenen Stil gewesen und habe nach und nach alles – sei es noch so gegensätzlich, wenn nicht unvereinbar – ausprobiert, was ihm in den Weg kam, Kunstgeschichte oder Avantgarde, um den eigenen Weg zu finden.
Dix aber setzte bei der in diesem kunsthistorischen Moment bereits zutage liegenden Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit der Stilmöglichkeiten an und benutzte sie zur angemessenen Repräsentanz unterschiedlicher Künstlerselbstverständnisse. Er entwickelte keinen neuen Stil, er nutzte vorhandene Stile. Offenbar erkannte er, dass sich bestimmte Eigenschaften – hier das Stille, das Brutale, das Bäuerliche oder das Naive – durch entsprechende Malweisen einprägsam veranschaulichen ließen. So nutzte er die diversen Bildmittel zum Aufrufen ganz unterschiedlicher Typen. Die praktizierte Verfügbarkeit des stilistisch Heterogenen und das Verlangen, aus dem Persönlichen, Individuellen – hier den Selbstbildnissen – etwas Typisches abzuleiten, sollten zur Grundlage seines weiteren Werks werden.
Mit einem solchen Vorgehen unterschied sich Dix zutiefst von der voraufgegangenen Generation der Expressionisten. Für sie gab es nicht diese Wahlfreiheit der Bildmittel, sondern nach dem Durchgang durch van Gogh die zwangsläufige Ausprägung eines eigenen, emotional-identifikatorischen Stils. Auch lag den Expressionisten die Distanzierung von der eigenen Person fern. Wenn sie sich selbst darstellten, ging es ihnen in der Nachfolge von Edvard Munch um ihre eigene Person, ihre eigene Identität, ihre eigenen Leiden – man denke nur an Ernst Ludwig Kirchner oder Ludwig Meidner.
Dix dagegen war auf der Suche nach verschiedenen, nach möglichen Identitäten, immer in gewisser Distanz zu sich selbst. Er meinte am Ende gar nicht sich selbst. Vielmehr wurden – am eigenen physiognomischen Beispiel und damit am jederzeit verfügbaren Modell – Entwürfe von extremen Typen und Rollen außerhalb des Bürgerlichen geschaffen, also Selbstbildnisse als Entwürfe in verschiedenen Idiomen für eine Galerie Unzeitgemäßer und Unangepasster. Sein ganzes späteres Porträtwerk wird schließlich von Sonderlingen und Außenseitern dominiert sein.
Dazu will bedacht sein, dass der junge Dix noch vor dem Krieg als Student an der Kunstgewerbeschule in der Dresdner Galerie Ernst Arnold und im Kunstsalon Emil Richter der Moderne in ihrer ganzen Spannbreite innewerden konnte. Es fanden dort anspruchsvolle Ausstellungen von Vincent van Gogh, Paul Cézanne, Paul Gauguin oder Edvard Munch statt; die legendäre Schau zum italienischen Futurismus machte 1913 auch bei Emil Richter Station; Arnold zeigte 1912 Ferdinand Hodler, Richter 1914 Pablo Picasso. In einem offenbar weitgehend auf Herwarth Waldens Erstem Deutschen Herbstsalon beruhenden Überblick Expressionistische Ausstellung – Die neue Malerei präsentierte Arnold 1914 Werke unter anderen von Max Ernst, Lyonel Feininger, Wassily Kandinsky, Paul Klee und den Malern der Brücke und des Blauen Reiter. Alles, was die Moderne an subjektivem Seelenausdruck, an neuen Bildverfahren, Farbexplosionen, Formveränderungen, an Menschengestaltung und Bildverständnis hervorgebracht hatte und gegenwärtig hervorbrachte, fand Dix dort ausgebreitet. Es war die neue Welt der Kunst, in die er aufbrach. Gleichzeitig nahmen ihn in der Dresdner Gemäldegalerie alle großen Epochen und Facetten der Kunstgeschichte in Anspruch.
Als Kandinsky im Almanach Der Blaue Reiter 1912 seinen Aufsatz «Über die Formfrage» veröffentlichte, formulierte er einen Grundsatz der Moderne: Es gebe in der Gegenwart keinen Vorrang eines Stils oder einer künstlerischen Verfahrensweise mehr. Kennzeichnend seien vielmehr zwei Pole. «1. die große Abstraktion, 2. die große Realistik», nämlich «das ‹Reinkünstlerische› und das ‹Gegenständliche›». Diese Pole, so Kandinsky, seien zwei unterschiedliche Wege, die zu einem Ziel führten. Entscheidend sei in jedem Fall die «innere Notwendigkeit». Der Gedanke war ähnlich im Jahr zuvor bei Beckmann in einem Brief vom 18. April an Harry Graf Kessler aufgetaucht: «Der eine empfindet kosmischer und dramatischer der andere mikroskopischer und lyrischer. Beides ist gleichberechtigt, wenn es nur aus einer innern Einheit entspringt.» Er, Beckmann, habe aus «dem fast bewussten Gefühl» heraus gehandelt, «durch alles hindurchgehen zu müssen, alles bis in’s letzte kennen und können gelernt [zu] haben um dann ganz man selbst seien zu können», heißt es in einem Brief vom 10. Mai 1919. Auf dieser selbstbewussten Aneignung der Alten Meister und der frühen Erneuerer baute Beckmanns Bemühen um eine die Moderne überwindende Synthese auf. Und auf einer ebenso selbstbewussten Aneignung der Alten Meister und der aktuellen Erneuerer fußte Dix’ Eigensinn in der Moderne.
Der Gedanke von der Verfügbarkeit der Stile und damit von der Vollendung der Moderne manifestierte sich im selben Augenblick auch institutionell, und zwar in den ersten umfassenden Ausstellungen, welche die letzten künstlerischen Entwicklungen rekapitulierten, dabei Künstler wie van Gogh, Gauguin, Cézanne und Munch als Klassiker herausstellten und so für das ganze 20. Jahrhundert kanonisierten: die Kölner Sonderbund-Ausstellung von 1912, der erwähnte Erste Deutsche Herbstsalon 1913 in Berlin sowie die Armory Show in New York, ebenfalls 1913. In ihnen wurde die Bilanz der Moderne als einer Synthese der Gegensätze gezogen.
Das ist der Hintergrund, vor dem auch Otto Dix’ Werk gesehen werden muss: dem Bewusstsein von der vollzogenen Moderne, von der Verfügbarkeit unterschiedlichster Stile und der Möglichkeit einer lebhaften Synthese als Gewinn aus der vorgefundenen Uneinheitlichkeit. Es wird aber auch an dieser ungewöhnlichen Reihe früher Selbstbildnisse offenbar, dass Otto Dix von vornherein das Äußerste suchte: das extrem Typische und die extrovertierte Überzeichnung.
Im Krieg 1914–1918
Otto Dix wurde im August 1914 zum Militär eingezogen. Er war einer der ganz wenigen deutschen Künstler, die den Ersten Weltkrieg vom Anfang bis zum Ende durchlebten. In Dresden und Bautzen als Schütze an der Schweren Feldhaubitze und am Schweren Maschinengewehr ausgebildet, kam er – ob freiwillig oder abkommandiert, ist bisher nicht ermittelt – im September an die Front, die Westfront. Er kämpfte in der Champagne (östlich von Reims) und nahm 1916 an der Schlacht an der Somme (nordwestlich von Amiens) mit über einer Million getöteten, vermissten oder verwundeten Soldaten teil. Im folgenden Jahr wurde er bei den Kämpfen im Artois und dann in der 3. Flandernschlacht eingesetzt; er erhielt Auszeichnungen wegen Tapferkeit und Pflichterfüllung. Im Herbst 1917 verlegte man seine Einheit ins nördliche Weißrussland, im Frühjahr 1918 zurück in den Westen. Nach einer Kriegsverletzung war Dix erneut an den Stellungskämpfen in Französisch-Flandern beteiligt, wurde zum Vizefeldwebel befördert und schließlich kurz vor Kriegsende zu einer Fliegerabteilung in Westpreußen versetzt.
Während dieser Zeit entstanden an der Front und in Ruhephasen etwa 600 Blätter. «Überall wurde gezeichnet», so Dix später in einem Rundfunkgespräch. Kein anderer Künstler hat es unter diesen Umständen zu einer solch umfangreichen Produktion gebracht. «Meine Arbeiten wachsen mir fast über den Hals zusammen, ich weiß fast nicht mehr wohin damit», schrieb er im Dezember 1917 an eine Freundin in Dresden. Sie bekam die fertigen Arbeiten zur Aufbewahrung für künftige Zwecke geschickt und versorgte ihn mit den nötigen Arbeitsmaterialien, ca. 28.5 x 28,5 cm großen, dünnen, packpapierähnlichen Blättern. An größere Formate war nicht zu denken. Die Blätter, die Tusche, die Kreiden, die Pinsel, die Farben mussten auf engem Raum verstaut und auch durch Gefahrenzonen ohne Weiteres transportabel sein. Die mit schwarzer Kreide, Zimmermannsbleistift oder schwarzer Tusche geschaffenen Zeichnungen und die farbigen Gouachen unterscheiden sich kaum in den Motiven, sehr wohl aber in den von der jeweiligen Technik bestimmten stilistischen Erscheinungsweisen, und zwar so stark, dass man meinen könnte, sie stammten von verschiedenen Künstlern. Hier setzt sich die künstlerische Disparatheit der frühen Selbstbildnisse fort, nur dass der Stil jetzt nicht den Typus prägt, sondern die Zeichentechnik den Stil.
Folgt man Dix’ Äußerungen, seinen Bildern und dem Lebensweg, war er weder Nationalist wie Lovis Corinth noch Patriot wie Franz Marc, gewiss weder Kriegsgegner wie George Grosz, Conrad Felixmüller und Ernst Ludwig Kirchner noch Kriegsdienstverweigerer wie Heinrich Campendonk und Rudolf Schlichter und keineswegs so indifferent-distanziert wie Paul Klee. Dix reagierte nicht politisch, er reagierte als Künstler, anschließend an Nietzsches «dionysischen Vitalismus aus Lebenslust, Tod und Zerstörung», wie Roland März formuliert hat. In einer viel zitierten Äußerung von Dix aus dem Jahr 1961 heißt es, der Krieg sei zwar «eine scheußliche Sache, aber trotzdem etwas Gewaltiges», das er «auf keinen Fall versäumen» dürfe. «Man muss den Menschen in diesem entfesselten Zustand gesehen haben, um etwas über den Menschen zu wissen»; man müsse das «direkt mitgemacht haben». Dix brauchte für seine Kunst den Augenschein und das Erlebnis, auch in den kommenden Jahrzehnten. Wenig später äußerte er: «Ich musste auch erleben, wie neben mir einer plötzlich umfällt und, und weg, und die Kugel trifft ihn mitten. Das musste ich alles ganz genau erleben. Das wollte ich.» Das Erschütternde, Hässliche, Menschenunwürdige wollte um der Kunst willen erfahren sein. Deshalb saugte er vor Ort alles zeichnerisch auf. Die außergewöhnlichen Erfahrungen sollten als Erinnerungsstützen und Inspirationen für künftige Werke bewahrt werden.
Menschen spielen in Dix’ Arbeiten eine geringe Rolle. In den Kohle- und Graphitzeichnungen sind vor allem Schützengräben, Unterstände und Schanzen oder auch ein Beobachtungsstand mit groben Strichen in ihrer konstruktiven Anlage und im Ineinandergreifen von Natur und militärischem Einbau erfasst. «Es ist», notierte Dix auf einer seiner Feldpostkarten, «eine eigenartige seltene Schönheit, die hier redet.» Es handelt sich bis 1916 hauptsächlich um nüchtern feststellende Aufzeichnungen, Vergewisserungen des noch nie Gesehenen und Erlebten, des Außerordentlichen. Diese Blätter sind mit ihren klobigen Formen durchgehend kubistisch geprägt.
Gegenüber den schwarz-weißen Zeichnungen enthalten die 1914 begonnenen und nur bis zum Kriegsende praktizierten farbigen Gouachen vor allem Eindrücke von den Einwirkungen der Kriegshandlungen auf die Landschaft und die Dörfer (Abb. 1). Die Gouache hat den Vorzug gegenüber der Kohlezeichnung, dass sie mit der Farbigkeit stärkere Differenzierungen erlaubt, und gegenüber dem Aquarell, dass die Farben deckend eingesetzt werden können und damit einem bildhaften Charakter zuarbeiten. Dix nutzte sie daher als Gemäldeersatz. In den Zeichnungen wie in den Gouachen widmete er sich kaum den Kriegshandlungen und nicht dem modernen Kriegsgerät, auch wählte er nicht die grauenhaft wirkenden, schockierenden Nahansichten, die seinen später entstandenen, erschütternden Krieg-Zyklus auszeichnen. Hauptmotive sind die von Schützengräben durchfurchten und von Granattrichtern entstellten Landschaften: die Zustände nach den eigentlichen Ereignissen. Deren Ursachen und Verursacher erscheinen nicht im Bild. So wirken diese Landschaften wie die Überbleibsel apokalyptischer Naturereignisse. Der Krieg erscheint als Naturereignis, nicht als Menschenwerk.
1 – Jägertrichter in Vimy, Gouache 1917, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstichkabinett
Seinen späteren mündlichen Äußerungen zum Krieg sind keine inneren Wandlungen, gar Wendungen gegen das Kriegsgeschehen oder – wie bei Franz Marc – Einsichten in die Kriegsmotivationen zu entnehmen. Wohl aber den Zeichnungen und Gouachen. Während zunächst noch Gouachen wie das Grab eines Franzosen (1915) oder ein betonierter Schützengraben (1916) durch umgebende hell leuchtende Blumen einen symbolischen Akzent erhielten, der auf Ende und Neubeginn, Vergehen und Werden hindeutet – Dix-Interpreten verweisen hier auf den Einfluss Friedrich Nietzsches –, wird die Landschaft, wie Kira van Lil festgestellt hat, ab 1917 «als Trümmerfeld dargestellt, das für viele zum Grab wurde»; das Kriegsterrain sei nun als «Totenlandschaft» begriffen, «als riesiges Grab für Millionen von Soldaten». Die neue aufwühlende Erfahrung, das Außerordentliche, waren jetzt die massenhaften Toten.
2 – Handgranatenkampf im Graben, Tuschpinsel, 1917, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kupferstichkabinett