Uwe Schultz
Giacomo Casanova
oder Die Kunst der Verführung
Eine Biographie
C.H.Beck
Casanova (1725–1798) ist nicht nur ein umtriebiger Liebhaber und Liebeskünstler, der reihenweise Frauen erobert oder sich von ihnen erobern lässt. Er ist zugleich ein Gelehrter und Schriftsteller, der auf hohem Niveau tagelang mit Voltaire über Literatur streitet und mit Katharina der Großen die Differenzen der Kalender diskutiert. Er will zudem ein Mann des Adels und ein Herr von Welt sein, der an den Höfen Europas mit gesteigertem Selbstbewusstsein auftritt – ein Gleichrangiger unter den Großen des Adels. Mit dem Hochadel teilt er die Neigung, aufkommende Langeweile immer wieder mit der Spannung des Glücksspiels zu vertreiben – und er versteht es, Spielverluste gelassen hinzunehmen. Mag es bei ihm auch mitunter parvenühaft wirken, so ist er doch bestrebt, ein Mann von Ehre zu sein – einer Ehre, die ihn zum liebevoll-einfühlsamen Umgang mit Frauen verpflichtet. Er ist dem Ehrenkodex des Duells unterworfen, das er so fraglos akzeptiert wie ein Gottesurteil. Seiner Ehre verpflichtet ist auch sein Freiheitsanspruch, der ihn, der jedes Gefängnis als Entwürdigung versteht, aus den Bleikammern des Dogenpalastes ebenso fliehen lässt wie vor jeder ehelichen Bindung – wenn auch manchmal nur mit knapper Not. Schließlich verlangt sein Ehrbegriff auch die Zugehörigkeit zu jener geistigen Aristokratie, die jenseits aller materiellen Ansprüche seinen Rang garantieren soll. Es sind also mehrere Leidenschaften, die sein Leben bestimmen und die Casanova in steter Abwechslung auszuleben sucht. Am Ende aber bleibt die Frage, ob nicht der permanente Wechsel selbst Casanovas größte Leidenschaft war.
Uwe Schultz – ehemals Leiter der Hauptabteilung Kulturelles Wort beim Hessischen Rundfunk und heute freiberuflicher Publizist in Paris – lässt mit seiner anregenden Biographie den großen Venezianer und seine Welt wieder lebendig werden. Von demselben Autor sind im Verlag C.H.Beck lieferbar: Richelieu. Der Kardinal des Königs (22015); Der König und sein Richter. Ludwig XVI und Robespierre (2013); Der Herrscher von Versailles. Ludwig XIV und seine Zeit (2006); Versailles. Die Sonne Frankreichs (2002).
Vorzeichen
Unordnung im Stammbaum?
1. Kindheit und Jugend
Familiärer Hintergrund
Ausbildung in Padua
Abate mit Ehrgeiz
Die aristokratische Republik
Feste und Kurtisanen
Eine neue Aufgabe
2. Karriere in der Kirche?
Reise nach Kalabrien
Über Neapel nach Rom
Die Kastraten
Der Heirat knapp entgangen
3. Am Bosporus
Als Offizier nach Konstantinopel
Claude Alexandre de Bonneval
Homoerotik und Heiratsangebot
Aufenthalt in Korfu und Rückkehr nach Venedig
4. Die Chiffren der Zukunft
Ein väterlicher Förderer
Agrippa von Nettesheim, Magier und Wunderheiler
Skrupel und Spielsucht
Das erste Duell
5. Große Liebe – große Diskretion
Geister und Glücksspiel
Henriette
Kurzes Glück
Sinnlichkeit und Langeweile
Das wechselvolle Leben des Vivant Denon
Nach Paris
6. Die Freiheiten und ihr Verlust
Am Hof Ludwigs XV.
Marie-Louise O’Murphy
Zurück in Venedig
Kontakte ins Kloster
François-Joachim Pierre de Bernis
Im Visier der Staatsinquisition
7. Verspielte Chancen
Flucht aus den Bleikammern
Einstieg in das Lotteriegeschäft
Hinrichtung des Attentäters Robert François Damiens
Allerlei Tändeleien
Der Finanzstratege
Missglückte Unternehmensgründung
8. Glänzen um jeden Preis
Der Graf von Saint-Germain
Intrige und Diplomatie
In deutschen Landen
Die größte Erniedrigung
Besuch bei Gelehrten
9. Glücksspiele
Disput mit Voltaire
Vergnügungen auf zwei Ebenen
Von diversen Glücksspielen
Von Grenoble nach Genua
Audienz beim Papst
Vater und Tochter
10. Diplomat in Wartestellung
Zurück nach Frankreich
Reise nach Augsburg
Politik und Gesellschaft
Das Verwandlungsprojekt der Madame d’Urfé
Alte und neue Affären
Anonyme Rufschädigung
11. Absturz in England
Neue Pläne
Der Spion in Frauenkleidern
Suche nach neuen Geldquellen
Flucht auf den Kontinent
«Sie sind ein sehr schöner Mann»
12. Die Ehre des Adels
In Russland
Begegnung mit Katharina II.
Vom Turnier zum Duell
Ehrenhandel mit dem polnischen Adligen Branicki
Auf dem Weg nach Westen
Nach Paris als Retter in der Not
13. Letzter Ehrgeiz
Auf der Suche nach einer Anstellung
Opfer der eigenen Geschwätzigkeit
In die Falle gegangen
Cagliostro, geheimnisvoller Sizilianer
Zurückweisung durch Venedig
Inzest
14. Die missratene Heimkehr
Wiedersehen mit de Bernis
Sehnsucht nach der Heimatstadt
Auf dem Weg zur Begnadigung
Der Lebemann als Spitzel
Literarische Attacke auf die venezianische Adelsgesellschaft
15. Einsamkeit in Dux
Kein Erfolg in Paris
Lorenzo Da Ponte
Alt und verbittert
Die Französische Revolution
Späte Korrespondenz
«Ich habe als Philosoph gelebt, und ich sterbe als Christ»
Epilog
Die späte Entdeckung
Chronik
Zitatnachweise
1.Kapitel
2.Kapitel
3.Kapitel
4.Kapitel
5.Kapitel
6.Kapitel
7.Kapitel
8.Kapitel
9.Kapitel
10.Kapitel
11.Kapitel
12.Kapitel
13.Kapitel
14.Kapitel
15.Kapitel
Ich habe die Frauen bis zum Wahnsinn geliebt, aber stets zog ich ihnen meine Freiheit vor. Wenn ich mich in Gefahr befand, sie einzubüßen, gelang es mir stets, wenn auch mit knapper Not, mich zu retten.
Giacomo Casanova, Geschichte meines Lebens, Buch III, 11. Kap.
Man darf aber aus der Treue und Intensität der Bindung nicht die Erwartung ableiten, daß ein einziges solches Liebesverhältnis das Liebesleben der Betreffenden ausfülle oder sich nur innerhalb desselben abspiele. Vielmehr wiederholen sich Leidenschaften dieser Art mit den gleichen Eigentümlichkeiten – die eine das genaue Abbild der anderen – mehrmals im Leben der diesem Typus Angehörigen, ja die Liebesobjekte können nach äußeren Bedingungen, z.B. Wechsel von Aufenthalt und Umgebung, einander so häufig ersetzen, daß es zur Bildung einer langen Reihe kommt.
Sigmund Freud, Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens, Gesammelte Werke, Bd. VIII, Frankfurt am Main 1978, S. 69
Friedrich der Große im Gespräch mit Casanova: «Der König begann zu lachen: ‹Sie sind also ein Abenteurer?› – ‹Ja. Sire, und wenn ich das Glück beim Schopfe greife, werde ich es nicht mehr loslassen.›»
Le roi se mit à rire: «Vous êtes donc un aventurier?» – «Oui, Sire, et si je rattrape la fortune par son toupet, je ne la lâcherai plus.»
Prince de Ligne, Fragment sur Casanova, Paris 1998, S. 38
Die Suche nach seinem leiblichen Vater hat Giacomo Casanova noch im Alter von 57 Jahren in Venedig umgetrieben. Zumindest geht das aus seiner Streitschrift «Weder Liebe noch Frauen» («Nè Amori, nè Donne») hervor. Darin erklärt er sich provozierend zum Halbbruder des Adligen Giovanni Carlo Grimani, dem er ebenfalls eine illegitime Abstammung unterstellt und sich dadurch in dessen Rang erhebt. Aber im Alter von 65 Jahren, als er in der Einsamkeit des böhmischen Schlosses Dux seinen zwölfbändigen Lebensrückblick «Die Geschichte meines Lebens» zu schreiben begann, ließ er den Stammbaum mit seinen Eltern Gaetano Casanova und Zanetta Farussi enden, ganz wie es die amtlichen Dokumente nahelegten. Es wäre nicht nur für seine Schwester Maria Magdalena und seine ebenfalls noch lebenden beiden Brüder Francesco und Giovanni Battista, sondern für die gesamte Familie Casanova ein Skandal gewesen, wenn er die 1776 gestorbene Mutter posthum des Ehebruchs beschuldigt hätte.
Und doch spricht einiges für die Möglichkeit, dass Casanovas leiblicher Vater der Adlige Michele Grimani gewesen ist, war dieser doch nicht nur Eigentümer des Teatro San Stefano, wo Gaetano Casanova und dann seine Frau als Schauspieler auftraten, sondern auch des Opernhauses San Giovanni Grisostomo. Als Indiz für diese Hypothese gilt die ungewöhnliche Großzügigkeit, mit der Michele Grimani sowie seine beiden jüngeren Brüder Alvise und Zuan sich nach dem Tod Gaetano Casanovas im Jahr 1733 nicht nur um dessen Witwe, sondern auch um die sechs Kinder aus dieser Ehe kümmerten. Zudem bestanden enge, nahezu freundschaftliche Beziehungen zwischen den Familien Grimani und Casanova, die es dem jungen Giacomo erlaubten, sich wie ein Familienmitglied im Kreis der Grimani zu bewegen.
Um die Nähe, zu der beide Familien trotz des Rangunterschieds gelangt waren, zu begründen, ist eine weitere Variante des Ehebruchs – eine Generation zuvor – nicht auszuschließen. Im Palast der Grimani lebte die Dienerin Marzia Farussi, die mit dem einfachen Schuster Geronimo Farussi verheiratet war. Der Vater von Michele Grimani, Zuan Carlo Grimani, der dem Luxusleben überaus zugewandt war und sein Opernhaus zu der in Europa führenden Bühne gemacht hatte, könnte kurz vor seiner Eheschließung oder auch danach mit Marzia jenes Kind gezeugt haben, das auf den Namen Giovanna Maria getauft wurde und unter dem Künstlernamen Zanetta eine Theaterkarriere begann, die zu einem Jahrzehnte fortdauernden Engagement in Dresden führte.
Ob als Sohn oder als Enkel wäre Casanova damit ein illegitimes, aber leibliches Mitglied der Familie Grimani gewesen – blutsmäßig zum Adel gehörig, doch in der strengen Rangordnung der oligarchischen Adelsgesellschaft Venedigs davon ausgeschlossen. Wann hat der junge Giacomo von dieser verdeckten Verwandtschaft mit dem Hause Grimani – selbst wenn es nur Gerüchte gewesen sein sollten – erfahren? Hat er, nachdem er davon Kenntnis erlangt hatte, daraus den persönlichen Ehrgeiz abgeleitet, mit allen Mitteln die amorphe Masse der Nichtadligen, zu denen auch die Schauspieler zählten, hinter sich zu lassen und in die Schicht der Nobili von Venedig oder der Aristokratie in ganz Europa aufzusteigen? Hat ihm dieser veritable oder imaginäre Anspruch auf Adelszugehörigkeit die innere Legitimation verschafft, die Standesschranken zu überschreiten, wofür der von ihm selbst erfundene Adelstitel Chevalier de Seingalt ein Indiz sein könnte? Ist dieser verinnerlichte Aufstiegswille, der ihn immer wieder die Geselligkeit, wenn schon nicht Zugehörigkeit der Adelsgesellschaft Europas suchen ließ, sogar ein Teil der Motivation gewesen, durch die Länder des Kontinents zu reisen – als ein nicht nur geographischer Grenzgänger?
Die Unordnung oder auch nur Unklarheit seines Stammbaums, die ihm gewiss zur Kenntnis gelangt ist, hat er jedoch in seiner umfangreichen Lebensgeschichte allenfalls angedeutet, aber nie als tragische Ungerechtigkeit des Lebens empfunden. Denn als Grenzgänger des persönlichen Glücks war sein Wegweiser stets die sich selbst zubemessene Freiheit: «Der Mensch ist frei; doch er ist es nicht, wenn er nicht auch daran glaubt.»1 Diese Freiheit schloss das Abenteuer der Täuschung auf Gegenseitigkeit ein, zu der sich Mann und Frau zusammenfanden – «wenn die Liebe im Spiel ist».2 Und es kam zur Täuschung des Bräutigams oder Ehemanns, wenn es galt, einem illegitimen Kind eine reputierliche Abkunft zu verschaffen. Dafür hat Giacomo Casanova, um seine persönliche Freiheit zu wahren, auch in so manchem Stammbaum seiner Geliebten für Unordnung gesorgt.