
Ulrich Herbert
DAS DRITTE REICH
Geschichte einer Diktatur
Verlag C.H.Beck

Dieser Band bietet eine knappe Gesamtdarstellung des Dritten Reiches auf dem neuesten Forschungsstand. Nach einer Analyse der Faktoren, die den Aufstieg des Nationalsozialismus und die Etablierung der Diktatur ermöglicht haben, ist der größere Teil des Buches den Jahren von 1939 bis 1945 gewidmet, in denen sich die deutsche Geschichte in eine europäische und welthistorische Dimension ausweitet. Klar und prägnant im Urteil informiert der Band über Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion, die deutsche Besatzungsherrschaft in Europa und die Ermordung der europäischen Juden.
Ulrich Herbert ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau. Er ist u.a. Herausgeber der Reihe «Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert», in der auch sein großes Werk «Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert» erschienen ist, das 2014 mit dem Bayerischen Buchpreis in der Kategorie «Sachbuch» ausgezeichnet wurde.
Zuletzt erschien von ihm bei C.H.Beck: «Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft. 1903–1989» (2016).
Vorwort
ERSTER TEIL
Kaiserreich und Drittes Reich
Nachkriegsjahre
Die Rechte in Weimar
ZWEITER TEIL
«Machtergreifung»
Verfolgung
Wirtschaft und Gesellschaft
Expansion
Novemberpogrome
Kriegskurs
DRITTER TEIL
Erste Kriegsphase 1939–1941
Explosion der Gewalt
Barbarossa
Vernichtungspolitik
Krieg und Besatzung
Volksgemeinschaft im Krieg
Widerstand
Das Ende
Schluss
Zitatnachweise
Literaturhinweise
Überblicke und Gesamtdarstellungen
Studien zu einzelnen Themen
Personenregister
Die Geschichte des Dritten Reiches auf knappstem Raum darzustellen, ist ein Wagnis. Zum einen ist diese Zeit in den vergangenen Jahrzehnten so intensiv erforscht worden wie keine andere. Die dabei erzielten Erkenntnisse ergeben ein außerordentlich vielfältiges und kompliziertes Gesamtbild, das sich von der in früheren Jahren üblichen Reduzierung der Geschichte des NS-Staates auf wenige Personen und zentrale Ereignisse deutlich unterscheidet. Das macht eine Konzentration auf wenige Hauptlinien und Thesen problematisch. Zum anderen geht es hierbei ja nur für die Jahre von 1933 bis 1939 um spezifisch deutsche Geschichte. Die Jahre von 1939 bis 1945 hingegen sind Teil der europäischen und Weltgeschichte und für nahezu alle europäischen Staaten die bis heute schrecklichste Phase ihrer Vergangenheit. Eine solche umfassende Perspektive wird man in einer so komprimierten Überblicksdarstellung gewiss nicht angemessen repräsentieren können. Gleichwohl muss sich dieses Ungleichgewicht doch in den Proportionen der Erzählung niederschlagen.
So nimmt die Zeit bis 1939 nur etwa zwei Fünftel der Darstellung ein. Dabei kommt es mir im ersten Teil darauf an zu zeigen, welche längerfristigen, aus dem späten 19. Jahrhundert herüberreichenden Entwicklungen hier wirkmächtig wurden und wie sie sich mit den katastrophalen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise verbanden. Bei der Darstellung der Vorkriegsjahre der NS-Herrschaft werden viele Ereignisse, die sonst zum Standardrepertoire der Geschichtserzählung gehören, relativ knapp oder gar nicht behandelt. Aber so interessant und aufschlussreich viele Aspekte dieser Jahre auch sind, in ihrer historischen Bedeutung stehen sie doch weit hinter jenen weltbewegenden Ereignissen des Kriegs gegen die Sowjetunion, der deutschen Besatzungsherrschaft in Europa oder der Ermordung der europäischen Juden zurück.
Diese knappe Darstellung kommt fast ganz ohne Berücksichtigung der Forschungsentwicklung und Forschungskontroversen aus, die an anderer Stelle ausführlich dargelegt wurden. Deshalb werden auch nur die Zitate nachgewiesen. Dieser Text ist zudem gewiss nicht um Vollständigkeit bemüht – eine solche wäre auch in einem viel längeren Text nicht einlösbar. Hier geht es vor allem darum, Zusammenhänge zu erläutern und Bezüge zu erklären, um die Geschichte des Dritten Reiches nicht in unverbundene Einzelheiten aufzulösen. Die Darstellung fußt in vielen Teilen auf meiner «Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert», auch wenn hier zum Teil andere Akzente und Schwerpunkte gesetzt werden. Die hier vorgelegte knappe Skizze ist aber vor allem das Ergebnis der Diskussionen mit Studierenden, Doktoranden und den Kolleginnen und Kollegen über die NS-Zeit, bei denen wir in den vergangenen Jahren mit immer neuen, herausfordernden Fragen konfrontiert worden sind. Ich bin hier vor allem Sybille Steinbacher und Susanne Heim für kritische Lektüre und wichtige Hinweise dankbar. Im Widerspruch zu der (allerdings schon seit Jahrzehnten verbreiteten) Überzeugung, das Dritte Reich sei nun erforscht oder gar «aufgearbeitet», stehen wir in vielen Punkten doch erst am Anfang. So ist auch dieses Buch wie alle anderen nur als ein Zwischenergebnis zu verstehen.
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Freiburg, im März 2016 |
Ulrich Herbert |
Wie konnte es zur Machtübernahme des Nationalsozialismus in Deutschland kommen? Das ist keine Frage nur von Historikern. Sie wurde auch schon von den Zeitgenossen gestellt, von den Protagonisten selbst wie von auswärtigen Beobachtern. Lange Zeit dominierte dabei die Überzeugung, dass die Herrschaft der Nazis auf länger zurückliegende Fehlentwicklungen in der deutschen Geschichte zurückzuführen sei, auf einen deutschen «Sonderweg», der bis ins 18. Jahrhundert oder sogar noch weiter zurückreiche. Der Gedanke, dass die Entwicklung des deutschen «Untertanengeists» bis zu Friedrich dem Großen oder womöglich gar zu Martin Luther zurückzuverfolgen sei, erwies sich bald als wenig substantiell. Hingegen schien die These, dass sich im Verlaufe des 19. Jahrhunderts in Deutschland problematische Strukturen herausgebildet hätten, die die Etablierung der NS-Diktatur nach 1933 begünstigt hätten, plausibler zu sein. Sie ging, kurz gesagt, davon aus, dass Nationalstaat und Industrialisierung in Deutschland aufgrund der historisch bedingten Kleinstaaterei nur mit gehöriger Verspätung entstehen konnten. Das deutsche Bürgertum habe deshalb ein liberales, demokratisches Selbstbewusstsein nicht oder nur in Ansätzen entwickeln können. So sei auch die liberale Nationalbewegung mit der Revolution von 1848/49 gescheitert, am Widerstand des Adels und des preußischen Königs vor allem. In der Folge sei mit der von oben vollzogenen Reichsgründung 1871 ein halbfeudaler Obrigkeitsstaat entstanden, mit dem sich das Bürgertum, auch aus Angst vor der aufstrebenden Arbeiterbewegung, rasch arrangiert habe. Der übermächtige Einfluss der alten, vorindustriellen Eliten in der Großlandwirtschaft, dem Militär und der Ministerialverwaltung habe eine Demokratisierung und Parlamentarisierung Deutschlands verhindert, zugleich sei der Nationalismus zu einem immer wichtiger werdenden Bindemittel der Massen geworden. Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg habe sich deshalb die Demokratie in der Weimarer Republik nur auf einen rasch schwindenden Teil der Bevölkerung stützen können und sei schließlich vom Bündnis der alten Eliten mit der nationalistischen Massenbewegung zerstört worden.
Einige Aspekte dieser Interpretationsrichtung sind nach wie vor einleuchtend, im Ganzen wurde sie aber vor allem durch zwei Argumente entkräftet: Zum einen setzte der Begriff «Sonderweg» eine Norm voraus, von der abgewichen wird – in diesem Fall die Abweichung Deutschlands von der Entwicklung der großen westlichen Demokratien. Jedoch entsprachen weder die Zustände in Frankreich noch die in Großbritannien einer solchen Norm der «Westlichkeit» – sei es in Bezug auf das Wahlrecht, die massiven sozialen Widersprüche oder, im Falle Frankreichs, die tiefen Gräben zwischen Befürwortern und Gegnern der Republik um die Jahrhundertwende. Und ganz zu schweigen wäre hier von der Kolonialpolitik der europäischen Staaten, die einem wertbezogenen Begriff von «Westlichkeit» vollständig widerspricht.
Zum anderen wirkte das von der Sonderwegstheorie gezeichnete Bild vom Deutschen Kaiserreich verzerrt und einseitig. Denn den nicht zu übersehenden Defiziten des politischen Systems, etwa bei der Parlamentarisierung, standen bemerkenswerte Fortschritte gegenüber, wie sie in anderen Ländern erst viel später erreicht wurden – das allgemeine Männerwahlrecht etwa, die ausgeprägte Rechtsstaatlichkeit oder die Sozialpolitik, bei der Deutschland weltweit Vorreiter war. Auch hatte die extreme Rechte in Deutschland vor 1914 keineswegs einen bestimmenden Einfluss. Und bedenkt man, dass sich die demokratischen Parteien in Deutschland bis 1930 immer auf eine klare Mehrheit hatten stützen können, so war das Scheitern der Weimarer Republik ja offenbar auch nicht unvermeidlich: Selbst im Frühjahr 1933 stimmte noch mehr als die Hälfte der Bevölkerung gegen die Nationalsozialisten.
Nun sind aber Kontinuitäten zwischen Kaiserreich und NS-Regime nicht zu bestreiten, doch liegen sie offenbar komplizierter, als es das simple Modell des «Sonderwegs» suggeriert, welches das wilhelminische Deutschland als vorgestrig, im Grunde gescheitert ansah. Denn ohne Zweifel war das Deutsche Reich in den 30 Jahren vor dem Ersten Weltkrieg neben den USA der erfolgreichste Staat der Welt: wirtschaftlich, wissenschaftlich und auch kulturell. Ein historisch unvergleichlicher, über mehr als zwanzig Jahre fast ungebremster wirtschaftlicher Aufschwung verwandelte Deutschland in diesen Jahren innerhalb einer Generation von einem Agrar- in einen Industriestaat. Die Entstehung der großen Industrieanlagen ging einher mit dem rapiden Wachstum der Städte, mit der Durchsetzung der modernen technischen Errungenschaften vom Telefon bis zum Automobil und dem Aufbau eines Schul- und Universitätssystems, das weltweit zum Vorbild wurde.
So definierte das Deutsche Kaiserreich bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein die Norm von Prosperität und Erfolg eines deutschen Gemeinwesens, und niemand anderes als der Historiker Hans-Ulrich Wehler, einer der markantesten Vertreter der Sonderwegsthese, bestätigte dem Kaiserreich «ein hohes Maß an Rechtssicherheit, politische Teilhaberechte wie nur wenige westliche Staaten, sozialpolitische Leistungen wie sonst nur Österreich und die Schweiz, Freiräume für entschiedene Kritik, Erfolgserlebnisse für die Opposition, Meinungsfreiheit mit seltenen Zensureingriffen, Bildungschancen, Aufstiegsmobilität, Wohlstandsanstieg» und «erfahrbar verbesserte Lebens- und Partizipationschancen».
Diese gewaltigen Fortschritte waren allerdings verbunden mit spektakulären und sehr rasch sich vollziehenden Wandlungsprozessen in der Kultur, der Gesellschaft, der Technik und der Wirtschaft, die für die meisten Menschen innerhalb kurzer Zeit enorme Veränderungen ihrer Lebensumstände mit sich brachten. Ein Großteil der Bevölkerung wanderte aus den ländlichen Regionen in die neuen städtisch-industriellen Zentren, sodass sich auch das soziale Profil der deutschen Gesellschaft tiefgreifend veränderte. Nicht mehr Adel, Geistlichkeit und «Bürgerstand» waren hier kennzeichnend, sondern die durch ihre Stellung in der kapitalistischen Marktgesellschaft definierten Klassen: Bürgertum, Handwerker, Angestellte und Industriearbeiter. Zugleich wuchsen die Unterschiede zwischen Arm und Reich – nicht so massiv wie in Großbritannien, aber doch so stark, dass die Angst vor der «sozialen Zerreißung des Volkes» durch den modernen Kapitalismus zu einem der bestimmenden Themen dieser Jahre wurde.
Zweifellos waren solche Entwicklungen nicht auf Deutschland beschränkt, sondern (in verschiedenen Abstufungen) in den meisten Ländern West- und Nordeuropas zu beobachten. Der wichtigste Unterschied bestand aber in der außerordentlichen Geschwindigkeit der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Veränderungen in diesen Jahrzehnten. Sie vor allem verlieh dem hier geschilderten Prozess jene spektakuläre Dramatik, welche schon die Zeitgenossen beeindruckte und die Entwicklung in Deutschland von derjenigen in anderen Ländern unterschied. In Großbritannien hatte sich der Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft über siebzig oder achtzig Jahre hin erstreckt. In Frankreich blieb die beschleunigte Modernisierung ähnlich wie in Italien noch bis in die 1950er Jahre auf wenige industrielle Inseln begrenzt. In Deutschland hingegen konzentrierte sich der Wandlungsprozess auf die 25 Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Entsprechend waren hier die Reibungsflächen zwischen traditionalen und modernen Orientierungen größer, die Konfliktpotentiale vielfältiger und die Veränderungserfahrungen intensiver.
Diese Erfahrungen des Verlusts der herkömmlichen Lebensumstände bezogen sich etwa auf den Rückgang der religiösen Bindungen, auf den Aufstieg der Arbeiterbewegung, auf die Veränderungen bei den Geschlechterrollen und dem Verhältnis der Generationen zueinander. Um die Jahrhundertwende verdichteten sie sich in Abwehr und Ängsten und weiteten sich vor allem im Bürgertum zu einer manifesten Orientierungskrise aus. Die Opposition gegen Materialismus und die Macht des Geldes, gegen den «kalten» Intellekt, gegen Entfremdung und Vermassung fand hier ihre größte Verbreitung und erweiterte sich zu einem Aufbegehren gegen die kulturelle Moderne insgesamt.
Je schneller, neuer, heftiger die Neuerungen der eigenen Lebensumstände waren, desto wichtiger wurde der Bezug auf feste Gemeinschaften. Das richtete sich etwa auf das katholische Sozialmilieu, in dem die Katholiken im Glauben, aber auch im Leben in der Gemeinde mit ihren Sozialeinrichtungen und Festen Halt und Geborgenheit fanden. Das galt ebenso und womöglich noch stärker für die Arbeiterorganisationen der neuen Klasse der Proletarier: Hier fanden die überwiegend aus den ländlichen Regionen in die Industriestädte gewanderten Arbeiter Zusammenhalt und Solidarität, Hilfe bei Krankheit und Schutz für ihre Familien.
Am stärksten aber wirkte der Bezug auf die Nation. Sie vermittelte in Deutschland ein Gefühl der natürlichen Zugehörigkeit, durch das die Irritationen der modernen Industriegesellschaft überwunden und Zukunftsängste und Orientierungsverlust kompensiert werden konnten. Der Nationalismus wirkte so wie ein Antidot gegen viele Beschwernisse und Beängstigungen, gegen das Leiden an sozialer Zerrissenheit und die Resignation vor der Kompliziertheit der modernen Welt. Zugleich vermittelte er aber auch die neue Erfahrung des Rausches einer Massenveranstaltung oder die neu erwachte Lust an der wachsenden Macht eines großen Nationalstaats.
Innenpolitisch wurde der Nationalismus zum Integrationsmotor des jungen und landsmannschaftlich überaus heterogenen Staates. Ausgangspunkt war dabei zunächst die Definition der Zugehörigkeit durch Abgrenzung. Was als «deutsch» anzusehen war, wurde nach außen definiert durch die Frontstellung gegen die Polen im Osten und die Franzosen im Westen – nach innen durch die Abgrenzung von den Gegnern des neuen Nationalstaats. Dazu zählten die «internationalistischen» Sozialdemokraten, die Katholiken mit ihrer «ultramontanen» Verbindung zur Papstkirche in Rom sowie die einzige nichtchristliche Minderheit in Deutschland, die Juden.
Solche Vorstellungen schlugen sich auch in den neuen Bestimmungen über die deutsche Staatsbürgerschaft nieder. Vor allem um den Zustrom von ausländischen, insbesondere polnischen Arbeitern in die ostdeutsche Landwirtschaft reglementieren zu können, wurde festgeschrieben, dass Deutscher nur war, wer von Deutschen abstammte – nicht aber, wer in Deutschland geboren worden war. Ausschlaggebend sei dabei, so wurde im Reichstag betont, dass «die Abstammung, das Blut das Entscheidende für den Erwerb der Staatsangehörigkeit ist. Diese Bestimmung dient hervorragend dazu, den völkischen Charakter und die deutsche Eigenart zu erhalten und zu bewahren.»
Das richtete sich auch gegen die deutschen Juden, eine kleine Minderheit, die nicht mehr als ein Prozent der Bevölkerung des Deutschen Reiches umfasste. Nicht religiöse Differenz wurde hier nun ausschlaggebend, sondern der Bezug auf die postulierte biologische – «rassische» – Andersartigkeit der Juden. Das unterschied sich deutlich vom christlichen Antisemitismus, der sich seit den 1880er Jahren in mehreren antisemitischen Strömungen und Parteien niedergeschlagen hatte, die aber rasch an Bedeutung verloren. Demgegenüber drang ein gesellschaftlicher Antisemitismus nun auf breiterer Basis auch ins Bildungsbürgertum ein, wo er sich mit der Kritik an Zivilisation und Kultur der modernen industriellen Gesellschaft verband. So publizierte der Mainzer Rechtsanwalt Heinrich Claß, einer der Führer des radikalnationalistischen Alldeutschen Verbands, 1912 unter Pseudonym ein Buch mit dem Titel «Wenn ich der Kaiser wär’», in dem er die verbreiteten Angstparolen der politischen Rechten zusammenfasste. Der gewaltige wirtschaftliche Aufschwung der vergangenen Jahrzehnte, so Claß, habe zum Verlust von Heimat und Gebundenheit, zum Aufstieg der Sozialdemokratie und zur Zerstörung des Mittelstands geführt, Dekadenz und «Amerikanisierung» beherrschten die Kultur. Zugleich sei mit der Hochindustrialisierung die «hohe Zeit» der Juden gekommen, weil «deren Instinkt und Geistesrichtung auf den Erwerb» gehe. Die neue Zeit mit ihrer «Hast, Rücksichtslosigkeit und moralischen Gefühllosigkeit» sei von den Juden geprägt, die «mit ihrer Skrupellosigkeit, ihrer Habgier» das Wirtschaftsleben beherrschten.
In den Juden bündelten die Nationalisten ihre Aversionen und Befürchtungen und schrieben die als negativ empfundenen Begleiterscheinungen der Moderne in Deutschland dem Wirken dieser Gruppe zu. Vergleicht man jedoch die hier skizzierte Entwicklung mit derjenigen in anderen europäischen Ländern, so wird man zunächst das allen sich industrialisierenden Gesellschaften Gemeinsame hervorheben müssen. Die Suche nach Vertrautheit und Orientierung angesichts einer sich schnell wandelnden Umwelt gab es in Frankreich, den Niederlanden, in Österreich, Italien, Großbritannien oder Russland ebenso wie in Deutschland, wenngleich mit spezifischen Varianten. Auch die Verbindung von Modernekritik und Reformbewegungen, Arbeiterbewegung und radikalem Nationalismus, Statusangst und Antisemitismus trat in anderen Ländern hervor, zum Teil noch deutlich stärker als in Deutschland – in Russland vor allem, auch in Österreich. Wer 1913 hätte voraussagen müssen, in welchem europäischen Land zwanzig Jahre später eine radikale, mörderische Antisemitenpartei an die Macht kommen würde, der hätte wohl auf Russland gesetzt oder eher noch auf das durch die staatserschütternde Affäre um den jüdischen Offizier Dreyfus zerrissene Frankreich – nicht aber auf Deutschland, wo die Juden seit der Emanzipation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen intensiven Prozess der Integration vollzogen hatten. Zwar war Antisemitismus in Deutschland unübersehbar. So waren den Juden Karrieren im Militär und im Staatsdienst verwehrt. Aber das, so waren die meisten jüdischen wie nichtjüdischen Deutschen überzeugt, würde sich mit der Zeit normalisieren.
Aber unübersehbar gab es in Deutschland auch vor Beginn des Ersten Weltkriegs bereits Zeichen eines sich radikalisierenden Nationalismus. Gegen den Aufstieg der Sozialdemokraten, die 1912 bei den Reichstagswahlen als erste Arbeiterpartei weltweit zur stärksten Partei wurden, formierte sich eine Sammlungsbewegung mit dem Alldeutschen Verband an der Spitze. Sie forderte sowohl eine aggressive Innenpolitik, die sich vor allem gegen Sozialdemokratie, Linksliberale und Juden richtete, als auch eine aggressive Außen- und Kolonialpolitik, die dem Deutschen Reich den Status einer Weltmacht, einen «Platz an der Sonne» sichern sollte. Diese Verbände waren weit davon entfernt, die politische Agenda zu bestimmen, aber sie waren nicht ohne Einfluss.
Schon seit der Jahrhundertwende hatte die Reichsleitung ihre expansive Außenpolitik forciert und mit dem Aufbau einer großen Kriegsflotte begonnen. Darin manifestierte sich der Anspruch des Deutschen Reiches auf Kolonien und «Weltgeltung». Auch sollte durch die Begeisterung für Flotte und Weltpolitik die Identifikation mit Kaiser und Reich in der Arbeiterschaft gefördert und der Zulauf zu den Sozialdemokraten aufgehalten werden. Welche Auswirkungen das nach sich zog, zeigte sich, als im Verlaufe des Jahres 1904 zwei Gruppen von Ureinwohnern in Deutsch-Südwestafrika, die Herero und Nama, einen Aufstand gegen die deutschen Kolonialherren begannen. Die Reichsleitung ließ den Aufstand mit aller Brutalität niederschlagen. Die deutschen Truppen führten einen regelrechten Vernichtungskrieg mit dem Ziel der Ausrottung der aufständischen Stämme. Mehr als 60.000 Herero kamen dabei um, fast 80 Prozent der Stammesbevölkerung.
Hier versuchte eine ambitionierte, aber kolonialpolitisch unerfahrene Großmacht ihre Unsicherheit bei unerwarteten Widerständen durch umso schärferes, brutaleres Vorgehen gegen die opponierenden «Eingeborenen» zu überspielen. Der sich radikalisierende deutsche Nationalismus, das damit verbundene rassistische Überlegenheitsgefühl gegenüber den «Wilden» und eine weltmachtbetrunkene bürgerliche Öffentlichkeit bildeten den Wurzelgrund solcher Aktionen. Gleichwohl, das Vorgehen der deutschen Truppen wurde von Liberalen und Sozialdemokraten im Reichstag sowie in der Presse in aller Schärfe kritisiert, was allerdings bei den Militärs und den radikalnationalistischen Kräften den Widerwillen gegen Parlament und demokratische Öffentlichkeit noch verstärkte.
Zu der neuen Rechten, die sich seit der Jahrhundertwende mit den nationalistischen Massenorganisationen herausbildete, gehörte eine Vielzahl von Vereinen und Bünden: Bauernvereine, Industrieverbände und studentische Burschenschaften ebenso wie alte und neue antisemitische Gruppen. Hier trat ein neuer, an Bedeutung zunehmender Faktor auf die politische Bühne, wobei die Übergänge zu den Konservativen und den Nationalliberalen in vielen Feldern fließend waren. Dennoch war die innenpolitische Situation in Deutschland in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg offen und der Trend zu Reform und Parlamentarisierung schien unaufhaltsam – vorausgesetzt, es bestand genügend Zeit, um die sozialen, kulturellen und politischen Widersprüche auszugleichen.
OHLOHL
In dem Maße, in dem sich die militärischen Rückschläge häuften, nahm nun auch die antijüdische Kampagne wieder an Bedeutung zu. Ansatzpunkt war dabei zunächst das Gerücht, die Juden hätten sich vor dem Frontdienst gedrückt. Daraufhin ordnete die Regierung im Oktober 1916 die sogenannte «Judenzählung» an, um diese Berichte zu überprüfen. Das Ergebnis widerlegte solche Gerüchte, blieb deswegen aber auch unveröffentlicht. Denn unabhängig vom Ergebnis bot die «Judenzählung» den Auftakt zu einer verschärften antisemitischen Agitation und markierte den Versuch, den Prozess der Gleichberechtigung und Integration der deutschen Juden rückgängig zu machen.
Welche außenpolitischen Vorstellungen Militärführung und nationalistische Rechte umtrieben, offenbarte sich dann im Jahre 1917, als sie nach dem Ausscheiden Russlands aus dem Krieg bei den Friedensverhandlungen mit den Bolschewiki einen weit ins Russische Reich vorgeschobenen deutschen Einflussraum forderten. Um die zögernden Bolschewiki unter Druck zu setzen, stießen die deutschen Truppen mehr als 1000 Kilometer weit nach Osten vor, bis zum Donezbecken und der Krim. In diesen Gebieten herrschte für fast ein Jahr allein das deutsche Militär. Eine politische und nationale Neuordnung der Gebiete unter deutscher Oberhoheit war, so schien es, leicht zu etablieren, und die riesigen Regionen zwischen der deutschen Ostgrenze und den «moskowitischen» Gebieten boten sich als Basis eines neuen deutschen Kolonialreichs, diesmal aber auf dem Kontinent, förmlich an. Diese Erfahrungen wirkten lange nach.
Im letzten Kriegsjahr spitzte sich die innenpolitische Konfrontation weiter zu. Gegen das Bestreben der Heeresleitung, nach dem Kriegsende im Osten den Krieg im Westen doch noch zu gewinnen und Friedensverhandlungen abzulehnen, protestierten die Arbeiter in den Rüstungsfabriken mit Massenstreiks. Als dann im Spätsommer 1918 die Niederlage der Mittelmächte unausweichlich war, erklärten die Militärs, der Zusammenbruch sei auf die Streiks und die Friedensagitation der Mehrheitsparteien zurückzuführen. «Wie Siegfried unter dem hinterlistigen Speerwurf des grimmigen Hagen, so stürzte unsere ermattete Front», formulierte Hindenburg nach Kriegsende; «vergebens hatte sie versucht, aus dem versiegenden Quell der heimatlichen Kraft neues Leben zu trinken.» Das war die Geburt der «Dolchstoßlegende», eine der Grundlagen der antirepublikanischen, nationalistischen Agitation der Nachkriegsjahre.
Nationalismus und Antisemitismus, die Kritik an Massengesellschaft und kultureller Moderne waren in Deutschland bereits vor 1914 verbreitet gewesen, vermutlich aber nicht in stärkerem Maße als in anderen, vergleichbaren Ländern. Der Krieg verschärfte indes diese Tendenzen. Gegen die Prinzipien von Aufklärung und Französischer Revolution wurden die auf einen nationalistischen Militärsozialismus gerichteten Bestrebungen als spezifisch deutsche Konzepte zur Ordnung der modernen Welt propagiert. Zugleich verschärfte sich die Konfrontation zwischen zwei Lagern: der nationalistischen Rechten und der Militärführung einerseits, den demokratisch orientierten Parteien der Reichstagsmehrheit andererseits. Die politische Konstellation der Nachkriegszeit war hier bereits vorgezeichnet.