Wolfgang Benz
IM WIDERSTAND
Größe und Scheitern der
Opposition gegen Hitler
C.H.Beck
Der deutsche Widerstand gegen Hitler ist ein Kapitel mit mehr Schatten als Licht. Millionen Deutsche haben keinen Finger gerührt, als das NS-Regime die Freiheit beseitigte, Recht brach und zahllose Mitbürger verfolgte und ermordete. Einige aber wie Georg Elser, Graf Stauffenberg oder die Mitglieder der Weißen Rose haben ihr Leben riskiert, um den Verbrechen ein Ende zu machen. Wolfgang Benz entfaltet in seinem großen Buch das vielschichtige Spektrum der Opposition gegen Hitler, zerpflückt dabei manche Mythen und bietet eine Gesamtdarstellung auf dem neuesten Stand der Forschung.
Zwischen Wegducken und Mut zum Handeln schwankte nach 1933 die Haltung jener Deutschen, die keine überzeugten Nazis oder gleichgültige Mitläufer waren. Einfache Leute brachten sich in Gefahr, weil sie aus Anstand Unschuldigen Hilfe leisteten, Kommunisten wurden im Untergrund aktiv, Kirchenleute, Aristokraten oder Intellektuelle verweigerten sich und planten sogar den Regimewechsel. Aber weit mehr fürchteten um ihre Sicherheit und die ihrer Familien und ballten deshalb nur die Faust in der Tasche. In dichten Szenen erzählt Wolfgang Benz von der Wirklichkeit im NS-Regime und den Motiven und Bedingungen der Opposition in einem Terrorstaat.
Wolfgang Benz war bis 2011 Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin. Er hat zahlreiche Werke zur Geschichte des Dritten Reiches vorgelegt. 1992 erhielt er (zusammen mit Barbara Distel) den Geschwister-Scholl-Preis. Bei C. H.Beck ist zuletzt in der Reihe «Wissen» erschienen: «Der deutsche Widerstand gegen Hitler» (2014).
Prolog:Widerstand ohne Volk oder Volk ohne Widerstand?
Auflehnen gegen die Obrigkeit
Phasen der Hinnahme
Widerstand als Haltung
Definition und Deutung
Handeln gegen das Regime
1. Widerstand gegen den Nationalsozialismus vor Hitlers Machterhalt: Publizisten, Politiker, Künstler, Wissenschaftler
Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky, Ernst Toller
George Grosz, John Heartfield, Lion Feuchtwanger
Emil Gumbel, Theodor Lessing
Walter Gyßling
Theodor Heuss, Konrad Heiden
Ernst Niekisch, A. Paul Weber, Erich Ohser
Theodor Wolff, Fritz Michael Gerlich
Der Klub vom 3. Oktober
Erich Mühsam, Werner Hegemann, Emil Ludwig
Hans Achim Litten
SPD, Reichsbanner, Eiserne Front
Friedrich Franz von Unruh, Paul Kampffmeyer
2. Statt Hitler lieber einen König: Bayerische Monarchisten
3. Widerstand aus der Arbeiterbewegung
Die Kommunistische Partei
Verfolgung und Widerstand der Kommunisten Alfred und Lina Haag
Die Sozialdemokratische Partei
Gewerkschaften
Linke Sozialisten und rechte Kommunisten
Der Internationale Sozialistische Kampfbund
Illusionen des Widerstands: Volksfront aller Demokraten oder wenigstens die Einheitsfront der Arbeiter
4. Misslungenes Aufbegehren:Konservative Opposition nach dem Scheitern des Zähmungskonzepts
5. Der Mann aus dem Volk: Georg Elser
6. Widerstand von Christen: Anpassung und Kollaboration der Kirchen
Bekennende Kirche und «Deutsche Christen»
«Mit brennender Sorge»
Widerstand aus dem Glauben
Die «Reichskristallnacht» 1938 und das Christentum
Die Kirchen und der Krankenmord
Vom Kirchenkampf zum Widerstand
Jehovas Zeugen (Ernste Bibelforscher)
Kirchen und Juden
Das Schuldbekenntnis der Protestanten
Katholische Martyrologie und christliche Barmherzigkeit
7. Intellektuelle: Die Rote Kapelle
8. Jüdischer Widerstand und Rettung von Juden
Selbstbehauptung
Der Protest in der Rosenstraße
Widerstand für Juden
9. Nonkonformes Verhalten: Opposition und Widerstand der jungen Generation
Edelweißpiraten, Meuten, Swing-Jugend
Junge Arbeiter: Die Herbert-Baum-Gruppe
Widerstand an der Universität: Die Weiße Rose
Die Flugblätter der Weißen Rose
Die Geschwister Scholl
Alexander Schmorell
Willi Graf
Christoph Probst
Kurt Huber
Sympathisierende und Unterstützer
Die Weiße Rose und die Juden
Epigonen in München
Nachhall in Hamburg
Verklärung nach dem Untergang: Der Nachruhm der Weißen Rose
10. Gesellschaftliche Eliten
Liberale: Der Robinsohn-Strassmann-Kreis
Milieu und Widerstand
Politischer Katholizismus
Konservatives Bürgertum: Johannes Popitz
Einig als Opposition: Der Solf-Kreis
Gelehrte: Der Freiburger Kreis
Carl Goerdelers Weg zum Widerstand
Die Berliner Mittwochsgesellschaft
Der Goerdeler-Kreis
Der Kreisauer Kreis
Staatsziel und Gesellschaftsordnung
11. Widerstand von Soldaten
Hitlers Kriegspläne und die Anfänge der Militäropposition
Tyrannenmord: Das verschobene Attentat
Unternehmen Sieben
Schwarze Kapelle
Zentren und Akteure des Widerstands der Offiziere
Der 20. Juli 1944
Hitlers Rache
Das Nationalkomitee Freies Deutschland
Kriegsdienstverweigerung und Fahnenflucht als Widerstand
12. Widerstand in letzter Stunde
Die Männer von Brettheim
Das Kriegsende in Ansbach
Aufstand in Dachau
Die Freiheitsaktion Bayern
Epilog: Widerstand in Deutschland und im Exil
Dank
Anhang
Anmerkungen
Prolog:Widerstand ohne Volk oder Volk ohne Widerstand?
1. Widerstand gegen den Nationalsozialismus vor Hitlers Machterhalt: Publizisten, Politiker, Künstler, Wissenschaftler
2. Statt Hitler lieber einen König: Bayerische Monarchisten
3. Widerstand aus der Arbeiterbewegung
4. Misslungenes Aufbegehren:Konservative Opposition nach dem Scheitern des Zähmungskonzepts
5. Der Mann aus dem Volk: Georg Elser
6. Widerstand von Christen: Anpassung und Kollaboration der Kirchen
7. Intellektuelle: Die Rote Kapelle
8. Jüdischer Widerstand und Rettung von Juden
9. Nonkonformes Verhalten: Opposition und Widerstand der jungen Generation
10. Gesellschaftliche Eliten
11. Widerstand von Soldaten
12. Widerstand in letzter Stunde
Epilog: Widerstand in Deutschland und im Exil
Literatur
Bildnachweis
Personenregister
Carl von Ossietzky
Walter Gyßling in den 1950er Jahren
Plakat von John Heartfield: Der Sinn des Hitlergrußes
Ernst Niekisch: Hitler – ein deutsches Verhängnis, Berlin 1932
Erich Mühsam im Konzentrationslager Oranienburg
Achim Litten
Kurt Schumacher bei einer Rede im Mai 1945
Erwein von Aretin
Lina Haag
Otto Wels
Ludwig Gehm
Georg Elser
Marga Meusel
Pater Rupert Mayer
Dietrich Bonhoeffer
Libertas und Harro Schulze-Boysen
Mildred und Arvid Harnack
Julius von Jan mit Frau und Sohn
Bischof Clemens August Graf von Galen
Hilde und Hans Coppi
Otto Jogmin, 1984
Klebezettel gegen die nationalsozialistische Propaganda-Ausstellung «Das Sowjetparadies»
Herbert Baum
Hans Scholl, Willi Graf und Alexander Schmorell (zweiter, dritter und vierter von links)
Sophie Scholl mit Hans (links) und Christoph Probst
Das fünfte Flugblatt der Weißen Rose «Aufruf an alle Deutsche!»
Fritz-Dietlof von der Schulenburg vor dem Volksgerichtshof
Friedrich-Werner von der Schulenburg vor dem Volksgerichtshof
Ulrich von Hassell vor dem Volksgerichtshof
Eugen Bolz vor dem Volksgerichtshof
Wilhelm Leuschner vor dem Volksgerichtshof
Carl Goerdeler
Ludwig Beck
Helmuth James von Moltke vor dem Volksgerichtshof
Hans Oster
Wilhelm Canaris auf einem Kameradschaftsabend in der Mitte, neben ihm Reinhard Heydrich
Henning von Tresckow
Friedrich Olbricht
Claus Schenk von Stauffenberg (links) mit Albrecht Mertz von Quirnheim
Wer sich gegen fremde Herrschaft erhebt wie Andreas Hofer 1809 in Tirol gegen Bayern und Franzosen oder der preußische Offizier Ferdinand von Schill, der im gleichen Jahr in Stralsund eine Volkserhebung gegen Napoleon forderte und den Preußenkönig zum Krieg gegen Frankreich zwingen wollte, geht als Freiheitskämpfer in die Geschichte ein. Der Pole Tadeusz Kościuszko gewann im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg Ruhm und Ehre, führte 1794 den polnischen Aufstand gegen Preußen und Russland und wird als Nationalheld verehrt; der höchste Berg Australiens trägt den Namen des polnischen Patrioten. Giuseppe Garibaldi und Giuseppe Mazzini wurden im Risorgimento zu Gründern der italienischen Nation, nicht anders Mahatma Gandhi, der im gewaltfreien Widerstand die britische Herrschaft über Indien beendigte. Einmütige Zustimmung ist allen Patrioten sicher, die gegen fremde Usurpatoren und Okkupanten kämpfen, die sich gegen ein Gewaltregime, das von außen kommt, auflehnen und den Heldentod riskieren.
Ganz anders ist es, wenn der Feind kein Fremder ist. Gegen Diktatur aufzustehen und deren Unrecht zu benennen, wenn der «Führer» behauptet, als Diener der Nation zu handeln, seine Taten als notwendig für das Vaterland erklärt, sich als Retter und Erlöser feiern lässt, findet nicht den Beifall der am Regime Mitwirkenden, der Nutznießer, der Claqueure. Widerstand gegen die Obrigkeit findet auch keine Zustimmung bei den Naiven, den Teilnahmslosen, den Betörten und schon gar nicht das Verständnis derer, die die Augen vor Rechtsbruch und Missachtung der Menschenrechte schließen, weil sie von der «Ehre der Nation», dem militärischen Erfolg, dem Triumph über andere Nationen berauscht sind oder einfach den Propagandaphrasen glauben wollen.
Zur Verinnerlichung von Werten wie Ruhe und Ordnung, Gefolgschaft und Treue, Befehl und Gehorsam erzogen, fiel es den Zeitgenossen Adolf Hitlers schwer, sich gegen die Herrschaft des Nationalsozialismus zu wehren. Sie glaubten sich, auch wenn sie in zunehmendem Maße vieles missbilligten, doch einig in der Liebe zum Vaterland und geborgen in einer Volksgemeinschaft, die ihnen als erstrebenswerte Gemeinsamkeit vorgegaukelt wurde. Gegen den äußeren Feind zusammenzustehen war auch erklärten Gegnern des NS-Regimes das erste Gebot. Je länger, desto mehr – aber nie in der nach dem Zusammenbruch behaupteten Unbedingtheit und schon gar nicht von Anfang an – wurde Terror gegen Andersdenkende das Mittel, das Kritiker schweigen ließ.
Wer sich, aus welchen Motiven auch immer, zum Widerstand gegen das NS-Regime entschloss, wählte die Einsamkeit des Außenseiters und nahm das Unverständnis der Mehrheit auf sich. Das änderte sich auch nach dem Ende des «Dritten Reiches» nicht gleich. Ob der Widerstand von Kommunisten überhaupt legitim und ernst zu nehmen sei, wurde im Zeichen des Kalten Krieges im Westen Deutschlands lange diskutiert, während im Osten der Widerstand der KPD Moskauer Observanz mit allen Mitteln glorifiziert wurde, weil er den Neubau von Staat und Gesellschaft legitimieren sollte. Aber auch Graf Stauffenberg und seine Mitverschwörer gegen Hitler mussten lange warten, bis sie als Akteure des 20. Juli 1944 als Helden und nicht mehr als Verräter gesehen wurden. Der Widerstand des Kreisauer Kreises, der Roten Kapelle, des Goerdeler-Kreises, die Militäropposition um Admiral Canaris fanden lange Zeit nicht die Anerkennung, die diese Vertreter des «anderen Deutschland» als moralische Aktiva in der überwiegend negativen Bilanz des Verhaltens deutscher Bürger unter der Diktatur zu beanspruchen hatten. Georg Elser, der schlichte Mann aus dem Volke, der früher als die anderen das Böse erkannte und im Alleingang beseitigen wollte, fand Jahrzehnte nach seiner Tat keine Beachtung, galt als Marionette in fremder Hand oder wunderlicher Einzelgänger, den niemand ernst nahm. Inzwischen steht er in der öffentlichen Wahrnehmung und Wertschätzung etwa auf Augenhöhe mit Claus Schenk von Stauffenberg. Auch die Studenten der «Weißen Rose» in München waren eine kleine einsame Gruppe. Sie wurden aber, wie in anderem Zusammenhang das Mädchen Anne Frank, früh denkmalwürdig. Nicht zuletzt deshalb, weil die Nazi-Barbarei so gegen sie gewütet hatte, dass die Identifizierung mit ihnen – nach dem Ende des Regimes – leicht fiel.
Die Fragen, die der Widerstand der Wenigen auslöst, die ihn als Angehörige der gesellschaftlichen Eliten, als Christen, als Militärs, als Politiker, Bürokraten, als einzelne Bürger geleistet haben, lauten: Warum waren es so wenige, die sich gegen das Gewaltregime aufbäumten? Warum hat es so lange gedauert, bis bei den wenigen die Erkenntnis reifte, die sie zum Handeln trieb? Warum blieb die schweigende Mehrheit bis zum letzten Atemzug des Tyrannen und länger tatenlos? Das sind die Fragen, die dieses Buch stellt.
In der nationalen Euphorie des Jahresbeginns 1933, als Aufbruchstimmung, jedenfalls die Bereitschaft mitzumachen oder mindestens abzuwarten, die politischen Emotionen in Deutschland prägte, tolerierte die Mehrheit die ersten Rechtsbrüche der Hitler-Regierung. Es gab keinen Protest gegen die Übergriffe auf Juden oder Kommunisten, die als patriotischer Überschwang Einzelner ohne Wissen der Machthaber abgetan wurden («Wenn das der Führer wüßte» lautete eine Formel der Selbstbeschwichtigung). Die Verordnung des Reichspräsidenten «zum Schutz von Volk und Staat», die nach dem Reichstagsbrand Ende Februar 1933 erlassen wurde und die pseudolegale Methode der Verfolgung politischer Gegner oder Missliebiger durch «Schutzhaft» einführte, wurde hingenommen. Ebenso das Instrumentarium der «Schutzhaft», die Konzentrationslager, die wie Pilze nach dem Regen aus dem Boden schossen. Das Gesetz «zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums» im April, der Sturm der SA auf die Gewerkschaftshäuser im Mai 1933 und weitere Maßnahmen, die weder durch die Weimarer Reichsverfassung noch durch das «Ermächtigungsgesetz» legitimiert waren, wurden nicht mit Verweigerung, Protest, Demonstration erwidert. Die nachträgliche Beteuerung, man habe nichts machen können, kann aber für die Frühzeit der Koalition aus NSDAP und Deutschnationaler Volkspartei nicht gelten.
Deutliche Regungen des Unmuts, der Verwahrung, der Missbilligung – die von der Hitler-Regierung sogar erwartet wurden – blieben auch aus, als Hitler die Morde anlässlich des sogenannten Röhm-Putsches im Juni 1934 damit rechtfertigte, er habe als «oberster Gerichtsherr» der Deutschen nach uraltem germanischen Recht einschreiten müssen gegen eine Meuterei. Die hatte aber gar nicht stattgefunden. In Wirklichkeit war es die Ausschaltung der SA in Form einer mörderischen Säuberung der eigenen Reihen und die durch die gebotene Gelegenheit mögliche Abrechnung mit Gegnern und Kritikern gewesen. Reichswehrminister Blomberg, der schon im Februar 1934 als Beweis seiner Ergebenheit die «Hoheitszeichen der NSDAP» bei der Wehrmacht eingeführt hatte, erließ am 1. Juli 1934 einen Tagesbefehl, in dem er die «soldatische Entschlossenheit» pries, mit der der Reichskanzler «die Verräter und Meuterer» niedergeschmettert habe. Die Wehrmacht danke ihm dies «durch Hingebung und Treue». Der Vorgang war ungeheuerlich – nicht so sehr, weil das deutsche Volk in seiner Mehrheit die Ereignisse als rettende Kraftanstrengung des Regierungschefs gegenüber der SA und ihres Anführers Ernst Röhm empfand, sondern weil Rechtsempfinden und politische Moral im nationalistischen Taumel von «Deutschlands Erneuerung» so rasch verkümmert waren, dass der Rückfall in den archaischen Zustand der Tyrannei nicht beklagt, sondern freudig begrüßt wurde.
Auch die Reichswehr, die bei dem Massaker zwei hoch angesehene Generale durch gezielten Mord verloren hatte, nahm die Ereignisse hin. Die Kirchen hüllten sich in Schweigen. Und warum hat die Justiz den anschließenden Verfassungsbruch Hitlers toleriert, mit dem er nach dem Tod Hindenburgs das Amt des Reichspräsidenten mit dem des Reichskanzlers vereinigte? Warum hat die Wehrmacht ihn bejubelt? Die letzte Barriere, die Hitler von der unumschränkten Diktatur noch trennte, war der Reichspräsident, weniger als Person, denn Hindenburg lag im Sterben, sondern als Institution, deren Existenz und deren Rechte ausdrücklich vom «Ermächtigungsgesetz» nicht tangiert waren. Am 1. August 1934 suchte Hitler das Staatsoberhaupt noch einmal auf und ließ, nach Berlin zurückgekehrt, ein Gesetz verabschieden, das ihn zum Nachfolger machte: Das Amt des Reichspräsidenten wurde aufgelöst und Hitler die Position «Führer und Reichskanzler» zuerkannt. Das geschah unmittelbar vor Hindenburgs Tod.
Die Befugnisse des «Ermächtigungsgesetzes» waren damit überschritten, aber daran nahm schon niemand mehr Anstoß. Überraschend erklärte Reichswehrminister Blomberg, er habe die Absicht, «unmittelbar nach dem Ableben des Herrn Reichspräsidenten die Soldaten der Wehrmacht auf den Führer und Reichskanzler Adolf Hitler zu vereidigen». Dieser Treueid, der Tage später geleistet wurde, war keine Usurpation der NSDAP, er war ein freiwilliger Akt devoter Hingabe der Wehrmacht, die endgültige Selbstauslieferung der bewaffneten Macht an den Nationalsozialismus. Aus Dankbarkeit für die Entmachtung der SA? Aus Kalkül, um Hitler an das Militär zu binden, in ähnlicher Fehleinschätzung, wie sie die bereits in der Versenkung verschwundenen Protagonisten des konservativen Zähmungskonzepts Papen, Hugenberg und Konsorten an den Tag gelegt hatten? Hitler jedenfalls war endgültig im Besitz aller Macht. Daran nahm niemand erkennbar Anstoß, obwohl nicht alle Deutschen Nationalsozialisten geworden waren. Widerständiges Verhalten zeigten auch die Gegner der sich etablierenden NS-Diktatur nicht.
Beim Boykott jüdischer Geschäfte, Anwaltskanzleien und Arztpraxen am 1. April 1933 zeigten hie und da nichtjüdische Deutsche Anteilnahme und demonstrierten Solidarität mit den Juden. Das war zweifellos eine oppositionelle Haltung. Fünf Jahre später, in der «Reichskristallnacht», waren solche freundlichen Emotionen in der Öffentlichkeit kaum mehr zu bemerken. Weil die Signale einer Opposition ausblieben, als die Diktatur noch nicht gefestigt und das Terrorsystem aus Geheimer Staatspolizei, SS und Konzentrationslager noch nicht etabliert war, wurden widerständige Haltungen immer schwieriger, je weiter die Zeit voranschritt und mit ihr die Gewöhnung an das Regime. Noch etwas später erschwerten außenpolitische und militärische Erfolge und eine Propaganda, die der «Volksgemeinschaft» Errungenschaften einer NS-Sozialpolitik vorgaukelte und allerlei Wohltaten für die Bevölkerung pries, vor allem aber den Führerkult als nationale Apotheose stilisierte, die Anerkennung jeder Art von Opposition. Die Deutschen entwickelten sich mehrheitlich zu Duckmäusern, die zähneknirschend auch alles hinnahmen, was ihnen nicht gefiel, soweit sie nicht in anhaltender blinder Begeisterung oder um individueller Vorteile willen das Regime gut fanden. Der Aufnahmestopp, mit dem sich die NSDAP im Frühjahr 1933 des Zustroms von «Märzgefallenen», von Opportunisten, die zu den Machthabern strebten, erwehrte, war ein deutliches Indiz für die Anpassungsbereitschaft der Deutschen, für die Akzeptanz der Hitler-Regierung.
Die Zeitgenossen erlebten während der NS-Herrschaft wie in der Zeit unmittelbar danach die Diskrepanz zwischen ihrer Wahrnehmung und ihrem Gewissen. Die Wahrnehmung reichte von der Ahnung über die Vermutung bis zum vollen Wissen der Wahrheit des Völkermords. Aber das Gewissen sagte allen, die die Ermordung der Juden nicht billigten – und das war sicherlich die Mehrheit –, diese Wahrheit dürfe nicht sein. Sie verboten sich, Zeugen (und damit Mitwisser und Mitschuldige) dieser Realität zu sein. Die Wahrnehmungsfähigkeit und -willigkeit erwies sich in dem Dilemma als schwächer, und so wird bis zum heutigen Tag die Wahrheit nur allzu oft verdrängt. Wahrheit bedeutet in diesem Zusammenhang: Wir haben es gewusst, aber wir wollten es nicht wissen, weil wir glaubten, es nicht wissen zu dürfen.
Die Erinnerung an den Nationalsozialismus ist von Anfang an emotional, politisch und moralisch besetzt. Die emotionale und die moralische Dimension ist angesprochen, wenn Zeitzeugen («Zuschauer» in der Diktion Raul Hilbergs) dem Bedürfnis nach Rechtfertigung oder Schuldabwehr nachgeben und voll Ingrimm, auf persönliche Reputation, Anständigkeit und Lebensleistung pochend, erklären, sie hätten als bewusst die NS-Zeit Mitlebende persönlich nichts vom Holocaust (und anderen Verbrechen) gewusst, sie hätten vom Genozid erst nach 1945 erfahren, und sie verlangen, gestützt auf die Würde ihres Lebensalters und die Autorität ihrer Lebensleistung, den Schluss, wenn sie nichts gewusst hätten, dann habe niemand (außer dem kleinen Kreis der Täter und ihrer eingeweihten Helfer) etwas wissen können.
Noch weiter geht das in eindeutiger Absicht erhobene Postulat, «die Deutschen» könnten von den Verbrechen des NS-Regimes gar nichts gewusst haben und dies müsse auch öffentlich zum Ausdruck kommen. Mit dieser Forderung sind auch Gedenkstätten konfrontiert. Verlangt wird von Fanatikern des Verweigerns in obsessiver Form der Hinweis auf öffentlichen Erinnerungszeichen zur Judenverfolgung, die Bestätigung, dass der Holocaust im Geheimen vollzogen worden sei und dass das deutsche Volk auf Grund perfekter Tarnung nichts davon gewusst habe.[1] Die öffentliche Diskussion ist, das kommt nicht nur in Plädoyers konservativer Autoren in einschlägigen Organen zum Ausdruck, in der Folge weitgehend und zunehmend davon bestimmt, dass ideologische Positionen wie die, der Holocaust sei im Geheimen gegen Willen und Wissen der Deutschen geschehen, aggressiv vertreten werden. Noch schäbiger sind die Verwahrungen gegen Erinnerungskultur und Aufarbeitung des Nationalsozialismus, die unter dem Jubel der Zuhörer auf Veranstaltungen der Partei «Alternative für Deutschland» vorgetragen werden.
Mahnungen aus dem Exil und die Appelle der Alliierten, das deutsche Volk möge sich gegen die Diktatur erheben, waren seinerzeit vergeblich. Die Mehrheit nahm das Unrecht, die Leiden des Krieges, den Terror des Luftkriegs hin, wollte von den Verbrechen des Regimes nichts wissen, allenfalls darüber raunen, jedenfalls darauf nicht widerständig reagieren. Beginnend im Zeitraum zwischen den Novemberpogromen 1938 bis zum Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 steigerte sich aber in der Folge das Unbehagen in der Bevölkerung. Ausgelöst durch die «Reichskristallnacht» und ihre administrativen und legislativen Folgen war diese Zeit von Ahnungen über die politischen Verbrechen der Hitler-Diktatur bestimmt. Auch über den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs herrschte überwiegend Beklommenheit, nicht die Begeisterung wie 25 Jahre zuvor im Sommer 1914, als deutsche Soldaten siegesgewiss in den Ersten Weltkrieg zogen. Die zweite Phase der Wahrnehmung des «Dritten Reiches» lag zwischen dem Überfall auf die Sowjetunion und dem Beginn der Deportation der Juden. In dieser Zeit verdichteten sich die Vermutungen über deren Schicksal. Erstes unpräzises Wissen über Massenmorde «im Osten» verbreitete sich durch Erzählungen von Soldaten im Urlaub oder durch Feldpostbriefe.
Die Zeit von Mitte Oktober 1941 bis Dezember 1942 ist dann charakterisiert einerseits durch Besorgnis über die militärische Situation und andererseits durch Karriereerfolge nicht nur im Militär und durch persönliche Bereicherung Einzelner an jüdischem Eigentum durch «Arisierung». Über das Geschick der Juden bildete sich durch Gerüchte und Informationen vom östlichen Kriegsschauplatz eine vage Gewissheit, die durch öffentlich zugängliche Informationen bestärkt wurde. Dies kam auch darin zum Ausdruck, dass offizielle Stellen Nervosität zeigten, weil in der Bevölkerung über den Judenmord gesprochen wurde. Gleichzeitig erreichten Informationen über die Natur des Krieges im Osten, der als Vernichtungskrieg auch gegen die Zivilbevölkerung geführt wurde, die deutsche Bevölkerung.
Eine weitere Periode öffentlicher Wahrnehmung des NS-Regimes wurde eingeleitet durch die Ankündigung der Alliierten am 17. Dezember 1942, die Verbrechen des NS-Regimes gerichtlich zu ahnden. Spätestens nach der Katastrophe von Stalingrad, die beträchtliche Teile der Bevölkerung von der bevorstehenden militärischen Niederlage des Deutschen Reiches überzeugte, bildete die Furcht vor der Reaktion der Alliierten eine neue Dimension der Wahrnehmung des NS-Regimes.
Die Angst der Deutschen vor der Justiz der Sieger beeinflusste nun das Bewusstsein und auch die Einstellung gegenüber der Katastrophe der Juden. Der Mord an den Juden Europas wurde immer mehr zum offenen Geheimnis, nicht zuletzt auch deshalb, weil ausländische Radiostationen alliierte Stellungnahmen oder auch Reaktionen des Vatikans übermittelten. Mit der Proklamation des «Totalen Kriegs» radikalisierte sich auch die deutsche Propaganda hinsichtlich der «Judenfrage», was neue Gewissheit über den in Gang befindlichen Genozid gab. Die offensive Behandlung der «Judenfrage» durch das Regime führte, je aussichtsloser die militärische Lage wurde, zu einer immer defensiveren Haltung der Bevölkerung, die sich darauf einzustellen begann, dass die Alliierten Rechenschaft fordern würden – dann würde es gut sein, nichts gewusst zu haben, um unangenehmen Fragen nach fehlendem Widerstand oder nach der Duldung der Verbrechen ausweichen zu können.
Zwischen Herbst 1943 und der Kapitulation im Mai 1945 wurde aus diesen Gründen das vorhandene Wissen um den Völkermord und alle weiteren Verbrechen gegen die Menschlichkeit – die Versklavung von Menschen im KZ oder als Zwangsarbeiter, die Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener, die Ausbeutung der besetzten Gebiete, der Terror gegen deren Zivilbevölkerung usw. –, begangen unter nationalsozialistischer Ideologie, verdrängt und marginalisiert.[2]
Widerstand gegen das Gewaltregime, gegen den Staat, der Unrecht propagiert und Verbrechen begeht, gegen Machthaber, die Menschenrecht und Menschenwürde mit Füßen treten, ist legitim und notwendig. Das weiß man heute. Das ist eine Lehre aus der Geschichte des Nationalsozialismus als Ideologie und Herrschaft. Den Zeitgenossen des «Dritten Reiches» galten andere Überzeugungen. In patriotischer Erwartung 1933 von vielen bejubelt, nach der Errichtung der Diktatur und mit abnehmendem Kriegsglück von Ernüchterten abgelehnt, aber nur von wenigen bekämpft, gab es je länger desto weniger Möglichkeiten zu einem Widerstand gegen das Regime, der es beendet hätte. Aber das System des Terrors, das mit dem Instrumentarium Gestapo, Konzentrationslager und dem «Führerwillen» Kritik unterband und Kritiker verfolgte, existierte ja nicht von allem Anfang an. Erst die Preisgabe von Demokratie und Rechtsstaat, dann die Hinnahme der Diktatur durch die Mehrheit und das Schweigen der skeptischen Minderheit machte das Funktionieren der Unterdrückung möglich.
Die späte Lehre aus der Geschichte lautet, dass Widerstand beizeiten notwendig ist. Und Widerstand ist rechtmäßig. Das ist ein Gebot demokratischer Überzeugung, die Demokratie bewahren will. Aber was ist Widerstand, wo beginnt er, wo hat er Grenzen? Ist nur Tyrannenmord und dessen Vorbereitung wahrer Widerstand, oder beginnt Widerstand schon mit dem Flüsterwitz, der «den Führer» oder seine Gesellen lächerlich macht? Die Planung und Durchführung eines Attentats, das die Person des höchsten Befehlsgebers beseitigen sollte, wie es der Schreinergeselle Georg Elser 1939 unternahm, war eine Widerstandshandlung; daran ist kein Zweifel möglich. Beim Witz ist es schwieriger. Wer einem Bekannten, dem er vertraute, dessen Gesinnung er kannte, eine Sottise über Hitler, Göring oder Goebbels zuraunte, war deshalb gewiss kein Mann des Widerstands. Wer den gleichen Scherz auf öffentlicher Bühne vor Publikum riskierte, war sich jedoch bewusst, dass das gefährlich war und anstatt Applaus (oder nach dem Beifall) böse Folgen haben konnte.
Widerstand gegen das Unrechtsregime war also mehr als nur Verweigerung, als schweigende Ablehnung, mehr als das Einverständnis gegen die Nationalsozialisten im Milieu gleichgesinnter Gegner, mehr als die Verurteilung des Diktators und seiner Gehilfen im geschlossenen Kreis. Aus der allgemeinen und ziellosen Ablehnung des Regimes wird Widerstand durch Aktion und durch das Bekenntnis und die Bereitschaft, Konsequenzen der Haltung und daraus resultierender Handlung zu tragen. Ein zentrales Element von Widerstand ist die ganz persönliche Gefährdung dessen, der sich erkennbar auflehnt. Eine Voraussetzung ist die Bewahrung eigener Identität, das Festhalten an Normen und Werten, die Verweigerung von Anpassung und Kompromiss, wie es des Vorteils, des Friedens, des Fortkommens wegen von der Mehrheit praktiziert wurde. Widerstand ist auch mehr als das individuelle Beharren auf persönlichen Einstellungen, die mit der Räson des Regimes nicht übereinstimmten. Aber ohne eigene Haltung und Orientierung war kein Widerstand möglich.
Widerstand leistete so der 28-jährige Ludwig Gehm als Kurier des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK). Gehm war in Frankfurt am Main Koch in einem Restaurant, das der Tarnung des Widerstands diente. Beim Gemüseeinkauf auf dem Markt verteilte er Flugblätter. An Wochenenden fuhr er mit seinem Motorrad zu geheimen Treffen mit Gesinnungsgenossen, brachte gefährdete Menschen ins Ausland und transportierte auf dem Rückweg von Paris illegale Propagandaschriften nach Frankfurt. Vier Jahre lang, bis zur Verhaftung 1937, betätigte sich Ludwig Gehm als listiger und unermüdlicher Gegner der Nationalsozialisten. Er büßte dafür im Zuchthaus, im KZ und an der Front in einer der «Bewährungseinheiten».[3]
Verweigerung (als persönliche Abwehr des Herrschaftsanspruchs und kollektive Selbstbehauptung), Opposition (als Haltung grundsätzlicher Gegnerschaft) und Widerstand als bewusstes Handeln waren Formen kritischer und gegnerischer Einstellung zum NS-Regime. Julius von Jan, evangelischer Pastor im württembergischen Oberlenningen, 41 Jahre alt, konnte es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren, in stiller Empörung zu verharren, als er von den Novemberpogromen hörte. Er nutzte den Bußtag am 16. November 1938, eine Woche nach der «Reichskristallnacht», in der die Synagogen brannten und Juden gequält, beraubt und gedemütigt wurden, zu einer Predigt. Sie war eine Kundgebung gegen den staatlich angeordneten Antisemitismus und gegen den NS-Staat. Im Schlussgebet bat er Gott, «dem Führer und aller Obrigkeit den Geist der Buße» zu schenken. Julius von Jan wurde wenig später von SA-Männern verprügelt, dann verhaftet und zu 16 Monaten Gefängnis verurteilt. Die Haltung des Pfarrers von Jan war die gleiche, die später die Männer und Frauen des «Kreisauer Kreises» zusammenführte und die Offiziere des 20. Juli. Die eine Gruppe, die Kreisauer, die Gewalt ablehnte, plante eine neue Staats- und Gesellschaftsordnung für die Zeit nach Hitler. Das war so gefährlich wie die Verabredung der anderen Gruppe, des Goerdeler-Kreises, zum gewaltsamen Sturz der Naziherrschaft.
Nicht nur Historiker haben Probleme mit der Definition von Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Politische Positionen prägten nach 1945 das Bild des Widerstands gegen die Hitler-Diktatur. Im Westen, in der Bundesrepublik, herrschte lange Zeit die Vorstellung, es sei ein «Widerstand ohne Volk» gewesen, den nur wenige Angehörige traditioneller Eliten geleistet hätten, während «das Volk» teils in Begeisterung zum Regime verharrte oder die NS-Herrschaft einfach erduldete. In der DDR wurden die Aktionen der Kommunisten als alleingültiger Antifaschismus verherrlicht. Um die Verweigerung, die sich im Kampf um Kruzifixe in den Schulen, in der Vermeidung des «Heil-Hitler-Grußes» oder durch das Hören ausländischer Rundfunksender ausdrückte, um schließlich alle Haltungen von Opposition in den Widerstand einzubeziehen, wurde der Begriff «Resistenz» vorgeschlagen. Ihm waren folgende Merkmale zugeordnet: «wirksame Abwehr, Begrenzung, Eindämmung der NS-Herrschaft oder ihres Anspruchs, gleichgültig von welchen Motiven, Gründen und Kräften her».[4] Diese Begriffsbestimmung aus den frühen 1980er Jahren hat sich nicht durchgesetzt. Der schwerstwiegende Einwand dagegen lautet, dass fast jedes nicht regimekonforme Alltagsverhalten, ohne Rücksicht auf die Motive, unter diesen «erweiterten Widerstandsbegriff» falle, dass somit jeder, der dem NS-Regime nicht ständig Beifall spendete, schon Widerstand geleistet hätte.
Um der damaligen Wirklichkeit zu entsprechen und um den verschiedenen Formen von Opposition gerecht zu werden, muss man Widerstand im eigentlichen Sinn nicht nur als Haltung definieren, sondern als daraus erwachsendes Handeln, das auf grundsätzlicher Ablehnung des Nationalsozialismus beruhte, das aus ethischen, politischen, religiösen, sozialen oder individuellen Motiven darauf abzielte, das Ende des Regimes herbeizuführen oder dazu beizutragen. Voraussetzung und Anlass war eine Haltung der Verweigerung zum NS-Regime[5] oder von «weltanschaulicher Dissidenz»[6]. Daraus wurde Widerstand, wenn die Haltung sich zur Absicht verdichtete, eine Änderung der Verhältnisse zu bewirken, das Hitler-Regime mit Gewalt zu beenden. Widerstand im eigentlichen Sinne war dann jeder «bewußte Versuch, dem NS-Regime entgegenzutreten»[7] und die damit verbundenen Gefahren auf sich zu nehmen.
Opposition gegen den nationalsozialistischen Unrechtsstaat gab es trotz der allgemeinen Indolenz der Mehrheit der Deutschen in vielen Formen: Sie reichte von der individuellen alltäglichen Verweigerung gegenüber dem Verfügungsanspruch des totalen Staates über den Selbstbehauptungswillen von Gruppen bis zum politischen Widerstand, der den Sturz des Regimes und die Beseitigung der NS-Ideologie zum Ziel hatte. Die Motive des Widerstandes waren so vielfältig wie die Personen und Gruppen, die ihn leisteten. Auch in ihren Zielen und Plänen zur Neuordnung der Gesellschaft und des politischen Systems nach Hitler stimmten die Gruppierungen des Widerstandes nicht überein. Viele waren keine Anhänger der parlamentarischen Demokratie. Ihre Vorstellungen reichten von einem monarchischen über einen ständischen oder autoritären Staat oder liberale versus elitäre demokratischen Staatsformen bis hin zur kommunistischen Staats- und Gesellschaftsordnung. Schon wegen ihrer unterschiedlichen Weltanschauungen, politischen und sozialen Bindungen konnten die Regimekritiker keine geschlossene Front gegen den Nationalsozialismus bilden. Zudem entwickelte sich Widerstand zu verschiedenen Zeiten. Die frühe Opposition der Arbeiterbewegung war schon zerrieben, als Angehörige bürgerlicher Eliten über widerständige Haltungen zum Regime nachzudenken begannen. Es brauchte noch einmal Zeit, bis Militärs, Beamte, Diplomaten sich entschlossen, den Sturz des Diktators und eine neue Staatsordnung zu planen.
Die Frage, warum Widerstand seitens der gesellschaftlichen Eliten so spät einsetzte, in so geringem Umfang stattfand und so erfolglos war, ist kardinal. Das lange Zögern haben Nachgeborene den Widerstandskämpfern zum Vorwurf gemacht. Zu bedenken bleibt, dass alle Arten von Opposition, von der stillen Verweigerung bis zum militanten Widerstand, vom nationalsozialistischen Regime als Verrat diffamiert und als Pflichtverletzung oder Treuebruch gebrandmarkt worden sind. Gehorsam zu verweigern gehörte nicht zur Tradition und Erziehung der meisten Deutschen. Der NS-Staat verfügte schließlich gegen diejenigen, die sich auflehnten, je länger desto mehr über Zwangsmittel, Terrorgesetze und Strafen, die er bedenkenlos einsetzte.
Die Wirklichkeit des NS-Staates war sehr viel komplizierter als das Bild «alle Deutschen waren Nazis» und dessen Gegenbild, die Selbstrechtfertigung, nach der die Deutschen (noch vor den Österreichern) die ersten Opfer der Nationalsozialisten gewesen sein wollten. Die historische Realität war zum erheblichen Teil zuerst durch die Zustimmung des deutschen Volks und dann durch den Terror der NS-Diktatur bestimmt. Widerstand dagegen bedeutete Gefährdung, nicht nur der eigenen Person, sondern auch der Familie, möglicherweise auch von Verwandten und Freunden. Daraus ergab sich ein bestimmter Zwiespalt: Es gibt keine Pflicht zum Heldentum, aber wie viel Unrecht, Verfolgung und Zwang, wie viel Verletzung der Menschenrechte kann und darf man selbst hinnehmen? Hilfe für Verfolgte war nach den Gesetzen des NS-Staats strafbar. Das Minimum an Menschlichkeit, an Solidarität und Hilfe für Verfolgte, das ungefährdet geleistet werden konnte, war deshalb auch ein Zeichen von Opposition gegen den umfassenden Verfügungsanspruch des NS-Staats.
Die Bezeichnung Widerstand fasst als Oberbegriff verschiedenartige Einstellungen, Haltungen und Handlungen zusammen, die gegen den Nationalsozialismus als Ideologie und praktizierte Herrschaft gerichtet waren. Im weitesten Sinn sind darunter die ins Exil geflohenen Antifaschisten, die wenig oder keine Möglichkeit hatten, etwas gegen die Regierung Hitlers zu unternehmen, ebenso zu verstehen wie die Männer, die das Attentat des 20. Juli 1944 planten. Zum Widerstand rechnet man auch diejenigen, die sich weder durch Lockung noch durch Zwang vom Nationalsozialismus vereinnahmen ließen; die ihre geistige Unabhängigkeit, ihre demokratische oder rechtsstaatliche Überzeugung, die Werte und Normen ihres Milieus – etwa im Rahmen der Arbeiterbewegung oder innerhalb kirchlicher und sonstiger religiöser und weltanschaulicher Bindungen – bewahrten und verteidigten.
Im engeren Sinne ist aber zwischen den kritischen bis abweisenden Haltungen der Verweigerung und Selbstbehauptung einerseits und den bewussten Anstrengungen zur Änderung der Verhältnisse andererseits zu unterscheiden. Opposition gegen das Unrechtsregime war noch nicht gleichbedeutend mit persönlichem Einsatz und den damit verbundenen Gefährdungen. Diesen setzte sich jeder aus, der mit Flugblättern, Wandparolen, als Kurier zu Regimegegnern im Ausland aktiv war oder einem Verschwörerkreis angehörte, in dem der Sturz der Diktatur und eine neue Staats- und Gesellschaftsordnung geplant wurden.
Verweigerung (als individuelle Abwehr des nationalsozialistischen Herrschaftsanspruchs und als Selbstbehauptung von Gruppen), Opposition (als Haltung grundsätzlicher Gegnerschaft) und Widerstand als bewusstes Handeln waren Formen kritischer und gegnerischer Einstellung zum NS-Regime. Sie bauten aufeinander auf und steigerten sich von der passiven Abwehr zum aktiv verwirklichten Wunsch nach Veränderung des Regimes. Der Entschluss, Widerstand zu leisten, war immer eine individuelle Entscheidung. Institutionen wie die Kirchen haben das nicht zuletzt dadurch demonstriert, dass sie die Individuen, Priester wie Laien, die aus christlicher Überzeugung Widerstand gegen den Unrechtsstaat leisteten, allein ließen, wenn sie als Widerstandleistende Verfolgung erlitten.
Die christlichen Kirchen waren ja nicht nur ethische Gemeinschaften mit der Mission, Werte zu pflegen, die der Ideologie des Nationalsozialismus vollkommen entgegengesetzt sind, sie vertraten auch gesellschaftliche und politische Interessen. Sie versagten als Instanzen des öffentlichen Lebens wie die Bürokratie, die Justiz, das Militär, die Universitäten, die bürgerlichen und intellektuellen Eliten und bieten damit keinen Anlass zu besonderem Urteil. Denn auch die Wehrmacht vertrat ja einen Wertekanon, der nicht mit den Ansprüchen und Forderungen des Nationalsozialismus identisch war. Nach dem Zusammenbruch des «Dritten Reiches» beriefen sich freilich auch die Offiziere und Soldaten in Abgrenzung zur SS darauf, nicht die Truppe des Regimes gewesen zu sein. Aber die Verschwörer des 20. Juli, die Hitler-Gegner im Amt Ausland/Abwehr des OKW und in anderen Stäben und Kommandostellen, blieben eine winzige Minderheit. Die Verwaltungsjuristen und die Bediensteten der Gerichtsbarkeit stießen die Normen und Gebote ihres Standes mehrheitlich beiseite und ließen die wenigen Männer und Frauen des Widerstands allein. Die Universitäten dienten gern dem Regime, vergaßen ihren Auftrag zur Aufklärung und brandmarkten alle, die wie der Freundeskreis der Weißen Rose in München Widerstand leisteten, als Abtrünnige.
Die Geschichte des Widerstands gegen den Nationalsozialismus ist deshalb weithin ein Bericht über die Einsamkeit einzelner, über Anpassung und jubelnden Gleichschritt der Mehrheit, über Verzagtheit und versäumte Gelegenheiten. Aber die Geschichte der Opposition handelt auch von der Notwendigkeit, einer verbrecherischen Obrigkeit zu widerstehen und vom Mut der wenigen, die Widerstand leisteten und alle Konsequenzen auf sich nahmen.
Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) war als Splitter der völkisch-rechtsradikalen Protestbewegung nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in München entstanden. Als Stoßtrupp einer «nationalen Revolution» wollte ihr Führer Adolf Hitler 1923 an der Spitze der NSDAP von München aus die demokratische Reichsregierung in Berlin beseitigen. Nach dem Scheitern des Putsches versank die Hitler-Bewegung für einige Jahre in Bedeutungslosigkeit. Die Jahre 1924 bis 1928 benutzte Hitler, der in seiner kurzen Haft in Landsberg sein programmatisches Bekenntnisbuch «Mein Kampf» schrieb, zum Wiederaufbau und Ausbau der Parteiorganisation und zur Erprobung der Technik von Agitation und Massenregie.
Die Parlamentswahlen wurden von der NSDAP lediglich zu propagandistischen Zwecken und als Erfolgsbarometer benützt. Noch 1928 brachten die Reichstagswahlen der Partei nur 2,6 Prozent der Stimmen und zwölf Mandate. Der Aufstieg von der radikalen politischen Sekte zur Massenpartei gelang erst nach dem Bruch der Großen Koalition von SPD, DDP, Zentrum und DVP unter Reichskanzler Hermann Müller im Frühjahr 1930. Mit dem Ende dieses Kabinetts war die Weimarer Republik kein parlamentarisch regierter Staat mehr. Die konservativen Regierungen unter Brüning, Papen und Schleicher stützten sich nur noch auf die Autorität des Reichspräsidenten Hindenburg, der mit dem Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung die Berufung und Entlassung von Regierungen ohne Mehrheit im Parlament verfügen konnte. Die weltweite Wirtschaftskrise und das krasse Ansteigen der Arbeitslosigkeit bildeten den Hintergrund weiterer Radikalisierung im öffentlichen Leben: In den Reichstagswahlen im September 1930 errang die NSDAPNSDAP