Thomas Schuler
AUF
NAPOLEONS
SPUREN
Eine Reise
durch Europa
C.H.Beck
Wenn man nur genau genug hinsieht, tun sich in unserer Gegenwart immer noch viele Türen auf, durch die sich ein Blick zurück erhaschen lässt in die napoleonische Zeit. Wer hätte etwa gedacht, dass Napoleons bevorzugter Chocolatier in Paris heute noch nach damaligen Rezepten seine Süßwaren fertigt? Der Historiker und Journalist Thomas Schuler hat sich an Orte begeben, die eng mit der Geschichte Napoleons verwoben sind, er ist über den Großen St. Bernhard gewandert, hat Moskau, Paris, Berlin, London, Kaub und Venedig besucht, und er hat große Schlachtfelder inspiziert wie Waterloo, die Beresina oder Regensburg – sein Buch ist eine historische Spurensuche, gespickt mit überraschenden Beobachtungen und unterhaltsamen Geschichten.
Thomas Schuler ist einer der führenden Napoleon-Experten Deutschlands. Neben einer umfangreichen publizistischen Tätigkeit zum Thema und europaweiten Vorträgen organisiert er historische Führungen an Originalschauplätzen der Epoche. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: «Napoleon und Bayern» (2015).
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DER GROSSE ST. BERNHARD
DAS GOTTESHAUS IN DEN WOLKEN
AUF DEM DACH EUROPAS
DIE PFADE VON EINST
DAS UNMÖGLICHE
DER KÄSESPEICHER IN BOURG−SAINT−PIERRE
STENDHAL
AM RAND DER WOLKEN
EIN LEBENSRETTENDER BERNHARDINER
ZIEGENKÄSE AUF DEM GROSSEN ST. BERNHARD
DER BERÜHMTESTE NAPOLEON DER WELT
EIN ENGLISCHES AUFTRAGSGEMÄLDE
DAS GRABMAL DES FREUNDES
MARENGO
LONDON
DAS PERFIDE ALBION
DAS SKELETT VON NAPOLEONS PFERD
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DER ARCH WELLINGTON
DIE KRIEGSSCHULDFRAGE
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DIE KUGEL, DIE NELSON TÖTETE
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EIN TRAURIGER MORGEN IN LONDON
DIE FAHNE DER VICTORY
DER NELSON TOUCH
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DAS BRITISCHE WELTREICH
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VOM IMMERWÄHRENDEN REICHSTAG ZUR GESCHICHTSFÄLSCHUNG
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1809 SCHRECKENSTAGE DURCH NAPOLEON ZUM GEDENKEN AN DIE OPFER 2009
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DAS ÄLTESTE GHETTO EUROPAS
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DIE HABSBURGER IN VENEDIG
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DIE PAPSTWAHL IN VENEDIG
VENEDIG ALS BEUTE VON AUSTERLITZ
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NAPOLEON AUF DEM CANAL GRANDE
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AUF DEM MARKUSDOM
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DIE SCHÖNSTE STADT DER WELT
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DAS KRÖNUNGSGEMÄLDE
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DIE GESTOHLENEN PFERDE
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BERLIN
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EINE SPURENSUCHE IN BERLIN
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DAS GESCHENK DER ÄBTISSIN
KRIEG UND FRIEDEN 1812
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KRIEG UND FRIEDEN 1941
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DAS «VÄTERCHEN» IN DER HOLZHÜTTE
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NAPOLEON IM KREML
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NAPOLEON IN LEBENSGEFAHR
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DIE BERESINA
DER VATERLÄNDISCHE KRIEG
DER GROSSE VATERLÄNDISCHE KRIEG
KRIEG UND FRIEDEN 1962
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RUSSISCHE TRADITIONSLINIEN
DIE NAPOLEON−TORTE
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AUF DEM RHEIN
DIE UFER FRANKREICHS
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DIE PFALZGRAFENSTEIN
SPURENSUCHE IN KAUB
SYMBOLISCHER DREIKLANG
VON KAUB NACH BERLIN
IM REGIERUNGSVIERTEL
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KAISER WILHELM II. IN KAUB
FRANZÖSISCHER BESUCH
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WATERLOO
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DIE BLÜCHERBEUTE
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PERSONENREGISTER
«Man muss alles aufs Spiel setzen,
um alles zu gewinnen.»[1]
Napoleon
Mit tief ins Gesicht geschobenem Hut zog der Bergführer das Maultier, auf dessen Rücken in einen grauen Mantel gehüllt Napoleon saß. Der jahrtausendealte Pfad führte über schwindelerregende Schluchten auf die Passhöhe des Großen St. Bernhard. Einsamkeit lag in den eisigen Höhen von beinahe 2000 Metern, die die Männer überwinden mussten.[2]
Behäbig schritt das Tier den steilen Abhang entlang, als plötzlich das vereiste Geröll unter seinen Hufen wegbrach. Das Maultier rutschte bis an den Rand der tiefen Schlucht. Geistesgegenwärtig sprang der Schweizer Bergführer Pierre Dorsaz zwischen das strauchelnde Tier und den gähnenden Abgrund, stützte mit dem ausgestreckten Arm Napoleon und drückte unter Einsatz seines gesamten Körpergewichtes das Maultier samt Reiter zurück auf den steilen Weg.[3] Der keuchende Atem von Tier und Mensch war zu sehen, so schneidend kalt war die Luft, als die beiden ungleichen Männer einander mit weit aufgerissenen Augen anblickten.[4] Was keiner von beiden ahnte, war, dass die letzten Sekunden über den Verlauf des gesamten 19. Jahrhunderts entschieden hatten.
Wie von Geisterhand gelenkt jagen dichte Wolken über den Gipfeln dahin. Das knirschende Geräusch meiner Schritte im tiefen Schnee ist das einzige, was weit und breit die Ruhe der Bergwelt zu stören scheint. Während mein Blick über die schneebedeckten Berge gleitet, ragt Ehrfurcht gebietend der Große St. Bernhard aus ihnen hervor.
«In gewisser Höhe», erinnerte sich der 17-jährige Marie-Henri Beyle, heute besser bekannt unter dem Namen Stendhal, der als Kavallerist der Armee Napoleons im Mai 1800 auf diesem Weg unterwegs war, «wurde die Kälte beißend, ein penetranter Nebel umgab uns, Schnee bedeckte seit Langem die Marschstraße. Diese, ein schmaler Weg zwischen zwei Mauern aus rohen Steinen, war acht bis zehn Zoll tief von Schnee überweht mit steinigem Geröll darunter.»[5]
Warum stapfe ich hier durch die Einsamkeit dieser Bergwelt? Warum den Spuren eines Menschen folgen, der seit 200 Jahren tot ist? Warum noch einmal ein Buch über Napoleon, über den es doch schon mehr als eine halbe Million Bücher gibt[6]; vermutlich mehr als über jeden anderen Menschen, der jemals gelebt hat? Die spannende Frage aber ist: Warum gibt es überhaupt so wahnsinnig viele Bücher über ihn? In jedem Fall darf die Bücherflut als Beleg angesehen werden, dass es bis auf den heutigen Tag Widersprüche und Fragezeichen in Bezug auf die historische Bewertung Napoleons gibt, die jeder Autor oder jede Autorin dann mehr oder weniger begründet zu beantworten sucht.
Goethe sprach von Napoleon fast liebevoll als von «seinem Kaiser»[7], Heinrich von Kleist nannte ihn von abgrundtiefem Hass erfüllt einen «Höllensohn»,[8] Heinrich Heine verehrte ihn Zeit seines Lebens schwärmerisch und Tolstoi sprach ihm kategorisch alles Menschliche ab – Napoleon polarisiert bis heute, nicht nur in der Welt der Literatur, sondern auch in der Geschichtswissenschaft. Viele der Darstellungen, Interpretationen und Wertungen könnten zum Teil unterschiedlicher nicht sein. Wo aber ist zwischen Dämonisierung und Glorifizierung, zwischen Verherrlichung und Schuldsprechung der echte Napoleon?
Der Umstand, dass die weltweit erscheinende Publikationswelle über das Thema ungebremst anhält, deutet darauf hin, dass in seiner Geschichte noch immer ein Geheimnis zu liegen scheint. Was sonst würde all jene schreibenden und lesenden Menschen bewegen, sich mit dem Thema zu beschäftigen? Vielleicht ist es die Suche nach diesem Geheimnis, das ich irgendwo auf dieser Reise vom einen Ende Europas zum anderen zu ergründen hoffe. Während mein Blick über die atemberaubend schöne Bergwelt schweift, kreist weit über den Gipfeln, dem Auge schon beinahe entrückt, ein Steinadler.
Wenige hundert Meter südlich von Bourg-Saint-Pierre führen meine Schritte an jener steil abfallenden Schlucht vorbei,[9] in der Napoleons Aufstieg zum mächtigsten Mann Europas um ein Haar ein jähes Ende genommen hätte. Wäre es dem jungen Schweizer Bergführer an dieser Stelle nicht gelungen, das Maultier zurück auf den Weg zu schieben, so hätte es das riesige Empire von Barcelona bis Hamburg, die Sonne von Austerlitz, das Jahrhundertfeuer von Moskau und einen Wiener Kongress, der Europa nachhaltig neu ordnete, nie gegeben. Auch hätte der renommierte Historiker Thomas Nipperdey sein Standardwerk über die «Deutsche Geschichte 1800–1918»[10] nicht mit dem wegweisenden Satz «Am Anfang war Napoleon» beginnen können, weil es diesen Anfang dann niemals gegeben hätte.
Als Napoleon auf dem Rücken seines Maultieres diesen Weg entlang ritt, befand sich halb Europa in einem von England finanzierten Angriffskrieg gegen die junge Französische Republik – Österreich und Russland bildeten die II. Koalition gegen Napoleon. Sechs Monate zuvor hatte der außergewöhnlich begabte General Bonaparte, begünstigt durch die ebenso außergewöhnlichen historischen Umstände der Französischen Revolution, mit einen Staatsstreich in Frankreich die Macht übernommen (9. November 1799). Unmittelbar nachdem er zum Regierungsoberhaupt und Ersten Konsul avanciert war, machte er England und Österreich mehrere Friedensangebote. Diese wurden jedoch allesamt abgelehnt, woraufhin der 30-jährige Napoleon plante, eine 46.292 Mann starke französische Armee[11] über die Alpen in das von den Österreichern besetzte Norditalien zu führen. Der schmale Bergpfad über den Großen St. Bernhard galt im Winter und Frühjahr als unbegehbar; nicht einmal Gamsjäger mit Eisschuhen und Alpenstöcken wagten ihn zu betreten.
Tatsächlich hätte der Übergang mit einer ganzen Armee samt Artillerie und Pferden mitten durch die gefährliche Bergwelt zu dieser Jahreszeit im Falle eines plötzlich einsetzenden Schneesturms leichthin in einer militärischen Katastrophe enden können. Vor diesem Hintergrund hatten mehrere Generäle das Vorhaben während Napoleons Aufenthalt in Lausanne als unmöglich bezeichnet, woraufhin der aufstrebende Konsul entgegnete: «Was möglich ist, liegt im Ermessen jedes Einzelnen. Ich will das Unmögliche versuchen.»[12]
Zum Bergdorf Bourg-Saint-Pierre im südlichen Wallis führte damals wie heute eine im Winter leidlich befahrbare Straße. Auf der nördlichen Seite der Alpen ist es das letzte Dorf vor dem Aufstieg zur Passhöhe. In vorchristlicher Zeit endete die befahrbare Straße hier, und auch heute noch endet die Straße in den Monaten Oktober bis Juni dort. Sie ist dann allenfalls mit Vierradantrieb oder Schneeketten befahrbar. Erschwerend hinzu kommt, dass die Schweiz im Winter 2018/19 in einem Schneechaos versunken ist.
In Bourg-Saint-Pierre wurden also auf Napoleons Befehl hin die sechzig Geschütze auseinandergebaut.[13] Die Arbeiten wurden auf Wiesen in einem Biwak am nördlichen Dorfrand[14] ausgeführt, ungefähr dort, wo sich heute das Hotel «Au Bivouac de Napoléon» befindet. Hierbei stellte sich jedoch heraus, dass die in Auxonne eigens für die Alpenüberquerung gebauten Schmalspurschlitten vollkommen unbrauchbar waren. Darum wurden innerhalb weniger Tage in den umliegenden Wäldern kurzerhand mehr als 5000 Fichten und Tannen gefällt, wobei selbst der Bannwald nicht geschont wurde.[15] Aus den geschlagenen Bäumen fertigten die Soldaten Kisten für die Munition. Die kräftigsten Stämme sägten sie in der Mitte auseinander, höhlten einen Trog aus, legten ihn mit Stroh aus und befestigten die großen Kanonenrohre mit Keilen. Bis zu 100 Mann zogen in diesen schlittenähnlichen Gefährten an Stricken die zum Teil zwei Tonnen schweren Geschützrohre, wozu man außerdem die Bauern aus den nahen Dörfern zwangsverpflichtet hatte.[16] Die kurz darauf folgende Arbeit, die Kanonen mit bloßen Händen über den Pass zu ziehen, zehrte jedoch so an den Kräften, dass die meisten Bergbauern bei der erstbesten Gelegenheit wegrannten.[17] Die französischen Soldaten ließen darüber hinaus sämtliche Maultiere aus den Bergdörfern heranschaffen, die die Lafetten, Räder, Munitionskisten und, nicht zu vergessen, Napoleon selbst tragen sollten.
Am frühen Morgen des 20. Mai 1800[18] saß dieser in Bourg-Saint-Pierre unweit der Kirche im ersten Stock des Gasthauses «À la colonne militaire», wo er ein weich gekochtes Ei und ein Stück Brot aß.[19] Aufgrund des berühmten Gastes wurde das Gasthaus am Fuß des Großen St. Bernhard kurz darauf in «Déjeuner de Napoleon I» umbenannt, in dem die Besitzer noch im Jahr 1900 stolz das Napoleonzimmer mit dem Sessel und dem Holztisch zeigten, an dem der Feldherr gegessen hatte.[20] Das rund 250 Jahre alte Gebäude gegenüber der Kirche wurde noch bis in die 1980er Jahre als Café betrieben und steht heute leer.[21] Der erinnerungswürdige Sessel und der Holztisch wurden verkauft; ihr heutiger Verbleib ist unbekannt. Nachdem er von dem inzwischen verschollenen Stuhl aufgestanden war, verlangte Napoleon einen Mann mit einem Maultier, der ihn zum Hospiz hinaufbegleiten solle. «Mein Großvater», berichtete der Enkel von Pierre Dorsaz, «hatte ein sehr gutes Maultier im Stall, und man ließ ihm sagen, er solle das Tier satteln, um den Konsul über den Pass zu führen. Mein Großvater wollte das nicht und versteckte das Tier im Käsespeicher. Da ließ man es holen und er musste mitgehen.»[22]
Als Napoleon das Berggasthaus verließ, schenkten ihm einige vorbeimarschierende französische Soldaten frisch gepflückte Alpenblumen.[23] Nicht lange hinter Bourg-Saint-Pierre ereignete sich der Beinahe-Absturz Napoleons, den der flinke Bergführer verhindert hatte. Während Napoleon mit dem 22-Jährigen bis dahin kaum ein Wort gewechselt hatte, unterhielt er sich danach angeregt mit Dorsaz.[24] «Er befragte seinen Führer [Dorsaz] über die beiden Täler bis auf jede Kleinigkeit, unter anderem über die Erwerbsquellen der Bewohner und ihren Verkehr, ob die Unglücksfälle so häufig wären, als man sagte, und dergleichen.»[25] Dorsaz erzählte dem neugierigen Mann auf dem Maultier, dass die Bergbewohner über die Jahrhunderte so wetterfühlig geworden seien, «dass sie die Witterung vorauszubestimmen wüssten und sich nur selten täuschten.»[26]
Napoleon bemerkte in seinen späteren Memoiren auf St. Helena: «Der Führer des Ersten Konsuls[27] war ein großer und starker junger Mensch von 22 Jahren; er unterhielt sich mit dem Vertrauen und der Einfachheit der Bergbewohner mit dem Ersten Konsul, vertraute ihm alle seine kleinen Leiden und seine Zukunftsträume an.»[28]
Diese Träume bestanden aus einem eigenen Haus und einem kleinen Stück Land. Napoleon fragte Dorsaz, welche Summe Geldes die Erfüllung seiner Wünsche kosten würde, woraufhin dieser «1200 Franken» antwortete.[29] Nachdem der Bergführer bereits vor Ort acht Franken erhalten hatte, traf mehr als zwei Jahre später (Napoleon hatte ein hervorragendes Gedächtnis) ein französischer Kurier in dem kleinen Bergdorf ein, der dem jungen Schweizer genau diesen Betrag aushändigte – ein Vermögen für damalige Verhältnisse.[30] Dorsaz kaufte davon in Bourg-Saint-Pierre das Stück Land und das erträumte Haus, das seine Nachfahren mehr als 200 Jahre bewohnten, bevor es 2018 verkauft wurde.[31]
Während der Weg in Serpentinen oberhalb von 2000 Metern höher und höher führt, sind die Bergriesen von tief liegenden, grauen Wolken verhüllt. Jenseits der Frostgrenze sehe ich ins Tal auf die von glitzerndem Raureif bedeckten Tannen. Der von Schneeverwehungen bedeckte, jahrtausendealte Saumpfad ist derselbe, über den 58 v. Chr. Julius Cäsar marschiert war, den im Mittelalter mehrere deutsche Kaiser mit ihrem Gefolge auf dem Weg nach Rom benutzt hatten und auf dem in jenen Maitagen mehr als 45.000 französische Soldaten, 6000 Pferde und 750 Maultiere zu sehen waren. Es ist jener Weg, den Stendhal auf dem Rücken seines Armeepferdes geritten war und über den er berichtete: «Von Zeit zu Zeit scheute mein Gaul vor einem Pferdekadaver, bald aber gewöhnte es sich daran, was viel schlimmer war. Eine richtige Rosinante [Anmerkung d. Autors: Rosinante war das Pferd Don Quijotes aus dem Roman von Cervantes]. Mit jedem Augenblicke wurde es unbehaglicher. Zum ersten Male sah ich der Gefahr in die Augen. Es war eine große Gefahr, ich muss es zugeben.»[32]
Der Gardegrenadier Jean-Roch Coignet erinnerte sich ebenfalls an den Aufstieg: «(…) als wir in die Frostzone kamen, wurde die Sache erst ganz böse. Wir fanden auf dem eisbedeckten Pfad oft keinen Halt mehr, begannen zu gleiten und wurden von dem alsdann abwärts rutschenden Geschütz mit zurückgezogen (…). Unsere Qual verdoppelte sich noch, nachdem das scharfe Eis unsere Schuhe völlig zerschnitten hatte.»[33]
Tatsächlich waren beim Übergang eine Kanone und mehrere Pferde den abschüssigen Weg hinabgerutscht und in den Tiefen der Schlucht verschwunden.[34] Der Grenadier Coignet berichtete weiter, wie sein Offizier am Beginn des Aufstieges gesagt hatte: «Bald kommen wir in den Schnee, da wird’s besser gehen.» Und das traf tatsächlich zu: «Mit diesem Ausblick zogen wir kräftig an und erreichten nach kurzer Zeit den ewigen Schnee, der bei uns zwar zuerst Grauen erregt hatte, dann aber bald zur Wohltat wurde, denn wir hatten nun bloß noch die halbe Arbeit. Unser[e] Schlitten glitten ziemlich leicht dahin.»[35] Stendhal berichtete weiter: «In einem Tale zwischen zwei spitzen, riesigen Bergen bemerkte ich zur Linken ein niedriges Haus, von einer vorüberziehenden Wolke beinahe verdeckt. Das ist das Hospiz.»[36]
Auf den eisigen Höhen des Großen St. Bernhard hatte bereits in vorchristlicher Zeit eine keltische Kultstätte des Berggottes Poenius gestanden, anstatt derer von den Römern im ersten Jahrhundert v. Chr. ein Jupitertempel errichtet worden war.[37] Bernhard von Menthon aus dem Aostatal ließ im Jahr 1050 für die Reisenden und Pilger auf der Passhöhe eine Zufluchtsstätte erbauen, deren traditionelle Gastlichkeit schnell über die Grenzen des Wallis hinaus von sich reden machte. Das Steinhaus in den Wolken hatte seine Pforten für Pilger und Schmuggler, für Händler und Wegelagerer gleichermaßen geöffnet. Jeder bekam ein kostenloses Obdach und eine Mahlzeit;[38] diese Praxis hielt man bis ins Jahr 1940 aufrecht. Gleichwohl die Augustiner-Chorherren seitdem einen Obolus verlangen, da die Gastfreundschaft zu sehr ausgenutzt worden war, hat im Geist dieser Tradition die stets geöffnete Tür des Hospizes bis zum heutigen Tag keinen Schlüssel. «(…) ohne Unterbrechung seit dem Jahr 1050», wie mir der Chorherr Frédéric Gaillard später nicht ohne Stolz erklärt. Das Hospiz, das Napoleon über diesen Weg am Vormittag des 20. Mai 1800 erreichte, ist das Ziel meiner Wanderung.
Meterhohe Schneewände begrenzen die Passstraße in den Hochalpen auf der Höhe von mehr als 2200 Metern, die vor Verwehungen kaum noch erkennbar ist. Als ich die sogenannte Todeskumme erreiche, das letzte Stück des Pfades vor dem Hospiz,[39] beginnt ein Schneetreiben. Noch 2015 waren hier vier Wanderer durch eine Lawine tödlich verunglückt.
Irgendwo unter dem vielen Schnee liegt der alte Römerpfad des 1. Jahrhunderts. Eisig kalter Nordwind schlägt mir in den Rücken. Plötzlich taucht inmitten der menschenleeren Bergwelt am Horizont ein Gebäude auf, nur um gleich wieder hinter einer Kurve, die von eisglänzenden Felswänden begrenzt ist, zu verschwinden. Glitzernde Eiszapfen hängen von den steilen Felsen herab. Während ich durch den frisch gefallenen Schnee stapfe, zieht sich der Weg über einen weiteren Kilometer endlos dahin. Das Hospiz ist in märchenhaftes Weiß gehüllt. Wäre ich noch einige Jahre früher gekommen, so würden mir spätestens jetzt freudig schwanzwedelnd Bernhardiner-Hunde entgegenlaufen, um mich zu begrüßen. Mitte des 17. Jahrunderts hatten die Augustiner begonnen, kräftige Hunde mit auf ihre Kontrollgänge in die unwirtliche Bergwelt zu nehmen, um in Gefahr geratenen Reisenden besser helfen zu können. Aus den Hunden entwickelten sich mit der Zeit die berühmten Bernhardiner, die nach dem hoch gelegenen Alpenpass benannt sind. Nach abgegangenen Lawinen gruben die treuen Tiere mit den bernsteinfarbenen Augen in den Schneemassen nach Verschütteten und bewahrten so mehr als 2000 Menschen vor dem sicheren Tod.[40]
Da jedoch auch auf den Höhen des Großen St. Bernhard alles dem Gesetz des ewigen Wandels unterworfen ist, verkauften die Chorherren die berühmte Hundezucht 2005 an die Fondation Barry.[41] Diese setzt die Bernhardiner heute u.a. als Therapiehunde für alte Menschen, Menschen mit Behinderung und Kinder ein.
Wenige Wochen bevor Napoleon die Passhöhe erreichte, hatte die trächtige Hündin Alpina im Kellergewölbe des Hospizes drei Welpen geboren, von denen einer den Namen Barry erhielt. Generalstabschef Louis Alexandre Berthier hätte diesen am 20. Mai 1800 am liebsten mitgenommen, was der Hundepfleger Julius Genoud jedoch verweigerte. Er wollte Barry lieber als Suchhund behalten. Infolge dieser Weigerung konnte er zum berühmtesten Bernhardiner aller Zeiten werden, der im Laufe seines 14-jährigen Hundelebens rund 40 Menschen rettete.[42] Noch zu Lebzeiten setzte eine Legendenbildung um «Barry vom Großen St. Bernhard» ein. So erzählte man sich, dass er, wenn er einen Verunglückten im Schnee gewittert hatte, den Glockenzug der Klosterpforte mit dem Maul zog, um die Chorherren zu verständigen. Eine andere Geschichte besagt, dass er einen halberfrorenen Knaben auf seinem Rücken getragen und gerettet habe.[43] Obwohl kein Bernhardiner aufgrund seines Körperbaus hierzu in der Lage wäre, hielt sich die Geschichte so hartnäckig, dass Barry mit einem Kind auf dem Rücken auf dem Hundefriedhof in Paris in einem großen Denkmal verewigt ist. Eine weitere Erzählung will glauben machen, dass Barry von einem französischen Deserteur, der ihn für einen Wolf hielt, erstochen wurde.[44] In Wirklichkeit starb Barry 1814 in einem Hospiz in Bern, wo er von einem Augustiner hingebracht und nach seinem Tod ausgestopft wurde. «Es ist mir angenehm und gleichsam ein Trost, zu denken, dass dieser treue Hund, der so vieler Menschen Leben rettete, nach seinem Tod nicht so bald vergessen sein wird!»[45], sagte der Direktor des naturkundlichen Museums in Bern 1816, weshalb der zottelige Lebensretter dort bis auf den heutigen Tag in einem goldfarbenen Schaukasten zu sehen ist.
Als Barry wenige Wochen alt war, tollte er zusammen mit seinen beiden Geschwistern wahrscheinlich um Napoleons nasse Reitstiefel herum,[46] als dieser das Hospiz kurz vor acht Uhr am Morgen erreichte.[47] Nachdem der in ein schwarzes Ordensgewand gekleidete Propst Louis-Antoine Luder den Ersten Konsul begrüßt hatte, geleitete er ihn die alte Treppe des Steinhauses aus dem 16. Jahrhundert hinauf.
Langsam stapfe ich durch den frisch gefallenen Schnee die wenigen Steinstufen des Hospizes hinauf. Die alte, knarrende Eingangstür öffnet sich leicht, eine Tür, die seit fast 1000 Jahren jedem offen steht und für die nie ein Schlüssel geschmiedet worden war. Über einen rauen Steinboden gehe ich einen düsteren Gang entlang. In der Nähe des Speisesaals befindet sich eine schwarze Marmorplatte, die mit goldenen Lettern in lateinischer Schrift an Napoleon erinnert.[48] Wohlige Wärme und Stille umfangen die Eintretenden, was mich augenblicklich an die fernen Tage meiner Kindheit erinnert, als in dem Dorf auf der Schwäbischen Alb in der Küche meiner Großmutter im Winter stets ein wärmendes Holzfeuer brannte.
Ein niedriges, altes Gewölbe erhebt sich über dem menschenleeren Speisesaal, in dem Holztische mit langen Holzbänken die Wanderer begrüßen. Nach einiger Zeit erscheint eine alte Frau und bringt mir eine dampfend heiße Tasse Tee, die mich von innen aufwärmen soll. Seine wiederbelebende Wirkung wird schon bald durch eine kräftige Brühe und gebratenes Rindfleisch verstärkt. Ein gusseiserner Ofen mit der Jahreszahl 1795 verbreitet wohltuende Wärme. Dieser hatte auch am 20. Mai 1800 gebrannt.
Als Napoleon und Propst Luder im damaligen Speisesaal das Frühstück aufgetragen wurde, musste es zugleich «die Stelle des Mittagessens vertreten».[49] Es gab heiße Bouillon mit gesalzenem Rindfleisch, Schafsragout mit getrockneten Früchten, würzigen Ziegenkäse und Gruyère. Dazu wurde Weißwein aus dem Aostatal gereicht.[50]
Mitten während des Essens erreichte Napoleons neu eingestellter Kammerdiener Louis Constant das Hospiz, der in Paris vergessen worden war. Er erinnerte sich, dass Napoleon, als er in den großen Saal eintrat, sagte: «‹Nun, da sind Sie ja, Sie Nachzügler. Warum treffen Sie erst jetzt ein?› Ich entschuldigte mich, indem ich darauf hinwies, dass man mich daheim vergessen hätte. ‹Sie haben keine Zeit zu verlieren, mein Bester›, fuhr er fort, ‹essen Sie schnell etwas, wir rücken sogleich ab.›»[51]
Tatsächlich verging bis zum Aufbruch noch mehr als eine Stunde. Nach dem Essen erklärte der Konsul dem ihm gegenübersitzenden Propst – nicht zuletzt aufgrund des wenige Stunden zurückliegenden Beinahe-Absturzes – dass er eine neue befestigte Alpenstraße über dem Simplon-Pass mit einem Hospiz bauen lassen und den Augustiner-Chorherren die Leitung anvertrauen wolle.[52]
Unter Einsatz von 5000 Arbeitern, die u.a. 600 Brücken über unwegsame Schluchten schlugen, war die Passstraße über den Simplon bereits 1805 fertiggestellt. Zum Vergleich: Der sich skandalös hinziehende Bau des Berliner Flughafens dauert seit 2006 bis 2020 an. Interessant ist die Frage, wie lange es wohl dauern würde, würde den Verantwortlichen von Berlin der Bau einer neuen Passtrasse über den Simplon anvertraut werden …
Während Napoleon mit dem Propst im großen Empfangssaal Ziegenkäse kostete und Weißwein trank, erhielt auch jeder der mehr als 6000, an diesem Tag ankommenden französischen Soldaten von den Augustinern Brot, Käse und einen Becher Wein.[53] Allerdings bekamen diese nicht den feinen Weißwein. «Man reichte uns», berichtete der spätere Schriftsteller Stendhal, «wie der ganzen Armee, daselbst ein halbes Glas Wein, das mir wie rotes Gefrorenes vorkam.»[54] Gardegrenadier Coignet erinnerte sich auch an die Gastfreundlichkeit der Augustiner: «Ihrem Gelübde entsprechend wurden wir von den menschenfreundlichen Mönchen [sic] aufs Beste aufgenommen. Sie geleiteten die Offiziere in große, gut geheizte Säle. (…) Den Mannschaften wurden die geräumigen Klostergänge als Aufenthalt angewiesen. Dort erhielten wir von den ehrwürdigen Vätern Brot, Käse und Wein; von letzterem für je 12 Mann einen Eimer voll. Sie taten für uns, was sie konnten, und als wir sie wieder verließen, drückten wir ihnen dankerfüllt die Hände und umarmten ihre Hunde, die mit uns so zutraulich waren, wie mit alten Freunden. Ich finde keine Worte, die Verehrung auszudrücken, welche die guten Mönche [sic] mir einflößten.»[55]
Alles in allem verspeisten die französischen Gäste im Hospiz innerhalb von acht Tagen 3498 Pfund Käse, 1758 Pfund Fleisch, 400 Pfund Brot, 400 Pfund Reis, 3478 Pfund Salz und 21.724 Flaschen Wein. Darüber hinaus wurden 500 Decken und Leintücher zur Herstellung von Gamaschen und Hosen verteilt. Napoleon hatte bereits Wochen vorher dafür gesorgt, dass diese riesige Menge an Versorgungsgütern beim Eintreffen der Armee auf der Passhöhe zur Verfügung stand – die Chorherren hatten Geld erhalten,[56] damit sie das Erforderliche vom Tal herbeischafften. Die gefräßige Armee bediente sich jedoch auch der Vorräte der Chorherren selbst, wodurch diesen Kosten von insgesamt 40.000 Franken entstanden. Von diesem Betrag wurden fünf Jahre später 18.000 Franken zurückbezahlt.[57]
Weiter befindet sich bis auf den heutigen Tag vor dem neuen Rathaus von Bourg-Saint-Pierre in einer Vitrine das Schreiben Napoleons, in dem er Entschädigung für die entstandenen Kosten der Dorfbewohner versprach. Diese Schulden wurden in Wirklichkeit erst 22 Jahre später unter König Ludwig XVIII. beglichen, allerdings nur zu einem Drittel. Die anderen zwei Drittel blieben unbezahlt, was Präsident François Mitterrand 1984 dazu veranlasste, sich mit einem Brief und einer Medaille für die Gastfreundschaft im Mai 1800 zu bedanken.[58]
Als würde sich der Kreis der französischen Hinterlassenschaften in Bourg-Saint-Pierre hier schließen, liegt die präsidiale Medaille heute neben dem Brief Napoleons in der Vitrine.
Während Napoleon im Hospiz auf einen wichtigen Kurier Berthiers wartete, ließ er sich die Klosterbibliothek zeigen, setzte sich auf eine Steinbank und blätterte in einem vergilbten Geschichtsbuch. «Er las», berichtete der Sekretär Bourrienne, «einige Seiten in einer alten Scharteke, deren Titel mir entfallen ist.»[59]
Bei dem besagten Buch handelte es sich um «Die Geschichte Roms» des römischen Geschichtsschreibers Titus Livius.[60] Da Napoleon bereits zu diesem Zeitpunkt ein hochbelesener Mann war, muss er darin gezielt, einen anderen Schluss lässt die kurze Zeit seines Aufenthalts nicht zu, die Stelle von Hannibals Zug über die Alpen gesucht und gefunden haben.
Ich betrete die Bibliothek, die, wie mir der Bibliothekar der Augustiner stolz erzählt, «32.000 Bände» zählt. Das besagte Werk von Livius befindet sich allerdings nicht darunter. «Wahrscheinlich», so der Bibliothekar, «hat Napoleon es mitgenommen.»
Die Lektüre auf dem Dach Europas führte in jedem Fall dazu, dass alle französischen Zeitungen kurz darauf von Napoleon dahingehend instruiert wurden, die Überquerung des St. Bernhard mit der des karthagischen Feldherrn zu vergleichen.[61] Darüber hinaus dürfen wir davon ausgehen, dass der Feldherr, beeinflusst von seinem historischen Vorbild, auch Einfluss auf ein Detail des bekanntesten Gemäldes seiner selbst nahm. Bereits wenige Monate nach der Alpenüberquerung wurde das Ereignis von Jacques-Louis David in Öl festgehalten.[62]
Das zu Beginn des 19. Jahrhunderts in fünf Versionen geschaffene Gemälde «Bonaparte beim Überschreiten der Alpen am Großen Sankt Bernhard» von Jacques-Louis David gilt als das bekannteste Napoleonbild der Welt. Obwohl es mit der historischen Wirklichkeit wenig zu tun hat, trug es wie kein anderes bereits zu dessen Lebzeiten wesentlich zur Schaffung eines Mythos um Napoleon bei. Die Abbildung zeigt die vierte, heute auf Schloss Belvedere in Wien befindliche Version des Monumentalgemäldes.
Da gerade dieses Bild, das schon zu Zeiten seiner Entstehung einen großen Bekanntheitsgrad erreichte[63] und heute als das berühmteste Bild Napoleons in der Welt überhaupt gilt, lohnt ein kurzer Blick auf dessen Symbolsprache. Die erste der fünf von David gemalten Versionen dieses Bildes befindet sich heute im Museum von Schloss Malmaison, in der Nähe von Paris. Napoleon hatte sich seinerzeit geweigert, für das Monumentalgemälde Modell zu stehen, da er die Meinung vertrat, dass «niemand weiß, ob Gemälde großer Männer eine Ähnlichkeit mit ihnen haben, und dass es ausreiche, wenn der Geist des Genius»[64] dargestellt sei. Allerdings ließ er David durch einen Kammerdiener den Mantel, den Hut und das Mamelukenschwert, das er während der Schlacht von Marengo getragen hatte, schicken. Als David den Hut des Ersten Konsuls zum Spaß aufsetzte, musste er feststellen, dass dieser viel größer war als sein eigener und ihm bis über die Augen rutschte. Aufgrund der Weigerung Napoleons, als Modell zur Verfügung zu stehen, behalf sich der Maler mit seinem ältesten Sohn, der kurzerhand in dessen Accessoires gesteckt wurde.[65]
Auch skizzierte der Maler im konsularen Marstall den Schimmel Marengo (Vgl. S. 27).[66] Trotz dieser authentischen Vorlagen hat das Bild mit der historischen Realität herzlich wenig zu tun. Weder trug Napoleon einen roten Cäsarenmantel,[67] noch saß er bei der Alpenüberquerung auf einem Schimmel. Der Araberhengst wurde ohne Reiter über den Pass geführt, während der Besitzer auf dem Rücken eines Maultieres saß. Die im Hintergrund zu sehende, rollende Kanone war ebenso wie die 59 anderen Geschütze auseinandergebaut worden und wurde in einem ausgehöhlten Baumstamm transportiert. Das über der horizontalen Felskante am rechten Bildrand zu erkennende Meer von Bajonetten gab es auch nicht, da Infanterie während eines Marsches das Bajonett nicht aufgepflanzt trägt. Eine amerikanische Kunstzeitschrift schrieb 1850: «Obwohl es [Davids Gemälde] eine malerische Unwahrheit darstellt, ist es dasjenige, das Bestand haben wird, denn es steht für den kühnen Geist Bonapartes und die Größe dieser Epoche.»[68]
Der jugendhafte Feldherr sitzt – der David-Sohn saß indes auf einer Leiter – auf dem Rücken eines unbändig steigenden Schimmels, dessen Maul und Augen weit aufgerissen sind. Die Wildheit des Schlachtrosses steht in hellem Kontrast zu seinem Reiter, der den Betrachter mit durchdringendem, fest entschlossenem Blick ansieht. Während er unerschütterlich im Sattel sitzt, hält er mit der linken Hand die Zügel – der Macht – und weist mit dem ausgestreckten rechten Arm, als würde er sich auf eine göttliche Instanz berufen, in die Höhe. Suggestiv verstärkt wird diese Botschaft noch durch die hinter dem Kopf des Konsuls aufreißende Wolkendecke. Ursprünglich wollte David Napoleon mit einem Degen in der ausgestreckten Hand malen, was dieser jedoch entschieden ablehnte mit der Begründung «dass Schlachten nicht länger mit dem Degen gewonnen werden». Es genüge, wenn er «ruhig auf einem feurigen Pferd» dargestellt sei.[69] David «versetzte» daraufhin kurzerhand seine von Napoleon abgelehnte Idee, indem er den Degen in einen Säbel verwandelte und ihn einem Infanteristen direkt unter Napoleons linken Reitstiefel in den ausgestreckten Arm malte.
Fast dreidimensional scheinen sowohl die hinter Napoleon marschierenden Truppen als auch der Betrachter des Bildes selbst aufgefordert, ihm zu folgen. Die Soldaten symbolisieren, so die kraftvolle Aussage, mit der Überwindung des Großen St. Bernhard den kometenhaften Siegeszug der Französischen Revolution, deren Sohn und Vollender Napoleon Frankreich an der Schwelle des Jahrhunderts in eine neue, ruhmreiche Zeit führt.[70]
Tatsächlich setzte der aus Korsika stammende Artillerieoffizier in den folgenden Jahren beeindruckend Widersprüchliches in Bewegung, um die Revolution und ab 1804 das Empire unter einen bzw. seinen berühmten Hut zu bringen. Hierbei wahrte er einerseits zentrale Ideale von 1789 und goss sie in bleibende Form – seine wichtigste innenpolitische Errungenschaft des Code Civil etwa gewährleistete die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz. Andererseits kehrte er den ursprünglichen Idealen aber auch den Rücken – die Alleinherrschaft hatte mit der nach dem Sturm auf die Bastille angestrebten demokratischen Staatsform nichts mehr zu tun.
In Davids Gemälde wird die Revolution anhand von drei Details symbolisiert: Auf dem Zaumzeug des Pferdes ist neben der Signatur Davids die Datumsangabe des 1792 neu geschaffenen Revolutionskalenders zu sehen. Am rechten Bildrand hinter dem Feldherrn weht in Marschrichtung die Trikolore, während dieser auf dem Zweispitz eine weiß-blau-rote Kokarde trägt. Bei der Gestaltung dieses Bildelements ging es David darum, sowohl das Gesicht des Helden von vorne in Gänze als auch die Kokarde gestalterisch voll zur Geltung bringen. Der Kopf Napoleons ist daher zum Betrachter nach links hin gedreht, während der Hut (mit Kokarde) – abweichend von der damals üblichen Tragweise – mit den beiden Spitzen zu den Schultern zeigt. Betrachtet man den Umstand, dass Napoleon seinen Hut erst ab etwa 1801/02 dauerhaft so aufsetzte,[71] gilt es als möglich, dass er durch Davids berühmtes Gemälde erst dazu inspiriert wurde.
Die in Interpretationen hingegen immer wieder zu findende Lesart, dass David mit dem auf diese Weise dargestellten Hut im Jahr 1800 (!) den kommenden Kaiser vorwegnahm und dass der Zweispitz als «heimliche Krone eines kommenden Feldherrn-Kaisers und Beherrscher Europas»[72] zu verstehen ist, entspricht aller Wahrscheinlichkeit nach nicht den Tatsachen: David war während der Revolution ein enger Freund Robespierres und hatte als glühender Jakobiner für den Tod Ludwigs XVI. gestimmt.
Neben dem Siegeszug der Französischen Revolution setzt das Bild Napoleon in einen historischen Kontext mit großen Heerführern der Vergangenheit, die ebenfalls die Alpen überquert hatten. Vorne links sind auf einem wuchtigen Felsen die Namen Karls des Großen, Hannibals und Bonapartes eingemeißelt. Tatsächlich hatte der Karolinger während des Feldzugs gegen die Langobarden im Jahr 773 und auch Hannibal mit seinen Elefanten während des II. Punischen Krieges 218 v. Chr. die Alpen überquert. Nach heutigem Stand der Wissenschaft tat Hannibal dies aber nicht, wie das Gemälde impliziert, am Großen St. Bernhard, sondern bei Col de la Traversette rund 100 Kilometer westlich des heutigen Turin.[73] Die historische Analogie Napoleons mit Hannibal war ohnehin nicht glücklich gewählt. Der Karthager besiegte zwar die Römer in einer Vernichtungsschlacht bei Cannae – worauf Napoleon propagandistisch Bezug nahm – verlor aber den Krieg und starb später unter dramatischen Umständen fern seiner Heimat in Kleinasien. Ironischerweise wies das Schicksal Napoleons mit jenem Hannibals tatsächlich eine gewisse Parallele auf; auch er verlor letzten Endes den Krieg und starb mitten im Atlantik in englischer Gefangenschaft.