Winfried Nerdinger
DAS BAUHAUS
Werkstatt der Moderne
Verlag C.H.Beck
«Es wurde beschlossen, dass Gelb für Dreieck, Blau für Kreis und Rot für Quadrat die entsprechende elementare Farbe sei und zwar ein für allemal.»
(Oskar Schlemmer)
Wassily Kandinsky ordnete in seiner Zeit als Lehrer am Bauhaus den drei Grundfarben Rot, Gelb und Blau assoziativ die Formen Quadrat-Dreieck-Kreis zu und entwickelte damit ein System, das werbewirksam zu einer Art Bauhaus-Signet wurde. Winfried Nerdinger geht kenntnisreich auf die zentralen Ideen und die Form der Lehre am Bauhaus ein und stellt anschaulich die wichtigsten Personen und Produkte sowie die politischen und ökonomischen Zusammenhänge vor.
Winfried Nerdinger war Professor für Architekturgeschichte und Direktor des Architekturmuseums der TU München sowie Gründungsdirektor des NS-Dokumentationszentrums München.
Vorwort
Wege zum Bauhaus-Manifest
Vom Expressionismus zum Formalismus
Kunst und Technik, eine neue Einheit
Das Bauhaus in Dessau – Labor der Moderne
Hannes Meyer – Volksbedarf statt Luxusbedarf
Mies van der Rohe – Eine geistige Ordnung bauen
Das Bauhaus wird zur Idee – Ausbreitung und Indienstnahme nach 1933
Ausgewählte Literatur
Personenregister
Bildnachweis
Die Reformschule, die Walter Gropius aus der Verbindung der Großherzoglich-Sächsischen Hochschule für Bildende Kunst und der Kunstgewerbeschule als «Staatliches Bauhaus» 1919 in Weimar gründete, musste 1925 aus politischen Gründen schließen. Sie zog nach Dessau um, wo sie als «Hochschule für Gestaltung» eine städtische Einrichtung wurde und einen zeichenhaften Neubau erhielt. 1928 übernahm Hannes Meyer als zweiter Direktor das Bauhaus, er musste jedoch schon 1930 aufgrund parteipolitischer Interessen das Amt wieder aufgeben. Als dritter Direktor erhielt Ludwig Mies van der Rohe die Leitung, aber 1932 kam es auch in Dessau zur Schließung der angefeindeten Einrichtung. Daraufhin verlegte Mies das Bauhaus als private Institution nach Berlin, und dort erfolgte im Frühjahr 1933 das endgültige Aus durch die Nationalsozialisten, die seit Jahren die Einrichtung als «kulturbolschewistisch» bekämpft hatten.
Die Schule existierte somit nur 14 Jahre, genauso lang wie die Weimarer Republik, hatte insgesamt nur 1253 Schüler, wechselte zweimal den Ort und zweimal den Direktor und hinsichtlich des Lehrkonzepts sowie der Ausbildung zerfällt sie entsprechend den dominanten Führungspersönlichkeiten – Johannes Itten, Gropius, Meyer und Mies van der Rohe – in vier völlig unterschiedliche Phasen mit zum Teil konträren Zielsetzungen. Obwohl sich das Bauhaus somit historisch als ein relativ kurzlebiges, stark heterogenes und vielgestaltiges Gebilde darstellt, ist es als Begriff und Synonym für ornamentlose, sachliche Gestaltung aller Lebensbereiche, für funktionales, geometrisch strukturiertes Produktdesign sowie ganz generell für moderne Architektur in die Geschichte eingegangen. Diese Bedeutung basiert zum einen darauf, dass in den Bauhaus-Werkstätten erfolgreich daran gearbeitet wurde, Modelle und Produkte für eine industrialisierte, mobile und internationale Welt zu schaffen, und dass diese Arbeit von einigen der bedeutendsten Künstler der Zeit, wie Paul Klee, Wassily Kandinsky und Oskar Schlemmer, gestalterische Impulse erhielt. Zum anderen verhalfen das Bestreben, allen Produkten ein wiedererkennbares Erscheinungsbild zu geben sowie eine intensive Vermarktung frühzeitig zu einer Breitenwirkung. Schon in den 1920er-Jahren sprach man aufgrund einiger Erkennungszeichen, wie der Reduktion auf Grundformen und -farben, vom «Bauhausstil». Entscheidend für den historischen Erfolg waren dann die Wirkung von einigen nach der Schließung 1933 emigrierten Lehrern und Schülern in anderen Ländern sowie die Übernahme des am Bauhaus entwickelten Vorkurses an vielen Akademien und Architekturfakultäten weltweit.
Insbesondere Gropius und Mies van der Rohe konnten über ihre Bauten und ihre Lehrtätigkeit in den USA großen Einfluss entfalten, allerdings verdünnten sich die Ideen des historischen Bauhauses während der Rezeption und Verbreitung zunehmend auf eine pragmatische funktionale Gestaltung im Dienst ökonomischer Interessen. Damit war das Bauhaus international leicht zu vereinnahmen, aber mit der seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts wachsenden Ablehnung einer von Tradition und Geschichte abgelösten Gestaltung geriet es als Exponent und Inbegriff einer rigoros vertretenen Vorstellung von Modernität auch zunehmend in die Kritik. Dieser negativen Entwicklung steht die seit den 1950er-Jahren betriebene Mythisierung des Bauhauses als Höhepunkt der «Goldenen Zwanziger Jahre» sowie die mediale Vermarktung als deutscher Kulturexport in die Welt gegenüber. Zwischen Mythisierung und Demontage des Bauhauses kann nur eine sachliche, faktenbasierte historische Analyse der künstlerischen, pädagogischen, politischen, ökonomischen und sozialen Konzepte und Interessen der historischen Bedeutung der Reformschule gerecht werden.
Im Mai 1919 ließ der Architekt Walter Gropius, der soeben zum Leiter des von ihm neu gegründeten Bauhauses berufen worden war, etwa 2000 Exemplare eines Manifests verschicken und in Zeitschriften beilegen, das Konzeption und Leitideen der Schule bekannt machen und Studierende an die Einrichtung nach Weimar bringen sollte. Das vierseitige Faltblatt, dessen Auftakt ein ganzseitiger Holzschnitt mit einer kristallinen, dreitürmigen Kathedrale des Malers Lyonel Feininger bildet, ist ein ambivalentes Dokument (Abb. 1). Es handelt sich um einen pathetisch formulierten Aufruf für die Gestaltung einer zukünftigen Welt, aber das beschworene Einheitskunstwerk, die «Zukunftskathedrale», soll rückwärts gewandt aus dem Geist einer mittelalterlichen Arbeitsgemeinschaft geschaffen werden: «Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück! […] Bilden wir also eine neue Zunft der Handwerker ohne die klassentrennende Anmaßung, die eine hochmütige Mauer zwischen Handwerkern und Künstlern errichten wollte! Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik und Malerei, der aus Millionen Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens.»
1 – Lyonel Feininger, Titelholzschnitt für das Manifest und Programm des Bauhauses, 1919
Das Gründungsmanifest der Schule, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts geradezu synonym für visuelle Modernität steht und bis heute von größtem Einfluss auf Design und Erziehung ist, blickt zurück auf eine romantisch idealisierte mittelalterliche Vergangenheit und beschwört eine Glaubensgemeinschaft, die sich auf handwerklicher Basis ein architektonisches Sinnbild ihrer Einheit errichten soll. Diese Zwiespältigkeit ist darin begründet, dass das Manifest auf einer seit Langem andauernden Auseinandersetzung mit den Folgen der Industrialisierung basiert, dass es aber in der aufgeladenen Atmosphäre der Revolutionsmonate nach dem Ersten Weltkriegs entstand, in deren radikaler Aufbruchsstimmung sich die seit Jahrzehnten entwickelten Reformideen mit phantastischen, expressiv überhöhten Idealen von Befreiung und Rückkehr zum Handwerk, von neuer Gemeinschaft und Schaffung eines Einheitskunstwerks mischten. Diese Zwiespältigkeit führte dazu, dass die Konzeption wie auch zahlreiche Leitideen in den folgenden 14 Lebensjahren der Schule nach und nach verändert, beziehungsweise den sich ändernden Bedingungen sowie einem zweimaligen Wechsel der Direktion immer wieder neu angepasst und umformuliert werden mussten, so dass am Ende nur noch wenig vom ursprünglichen Konzept erkennbar war.
Die spezifische historische Situation bei der Entstehung des Manifests und der Gründung der Schule erklärt auch, dass sich in der Anfangsphase des Bauhauses erst vieles entwirren und konsolidieren musste. In der Auseinandersetzung zwischen expressionistisch revolutionärer Befreiungssehnsucht und mittelalterlichem Handwerksideal, zwischen individualistischer Entfaltung künstlerischer Potenziale und dem Wunsch nach einer Einheit von Kunst und Leben und der Erziehung eines neuen Menschen sowie unter dem Einfluss der Ideen des russischen Konstruktivismus und der holländischen De Stijl-Bewegung entstand erst nach einer etwa dreijährigen Gärungsphase und mit entsprechenden Änderungen der Satzung und des Unterrichts eine Schule, deren Arbeiten sich einem einheitlichen künstlerischen Ausdruck in dem von Gropius immer wieder gesuchten und geforderten Sinne annäherten. Die Reformimpulse, die zur Gründung des Bauhauses geführt hatten, konnten sich von nun an entfalten. Bis dahin waren divergierende Experimente am Bauhaus entstanden, aber nicht «Bauhaus-Arbeiten».
Das Bauhaus kann am besten als Reformschule definiert und verstanden werden, als Ort, an dem die seit Beginn der Industrialisierung entwickelten Ideen und Konzepte zum Umgang mit den Problemen der maschinellen Massenproduktion, der Urbanisierung und Massengesellschaft experimentell und pädagogisch verarbeitet und weiterentwickelt wurden. Eine Kritik an den massenhaft produzierten und schlecht gestalteten Maschinenprodukten sowie wegweisende Vorschläge für eine Behebung dieser Probleme lieferte bereits der Architekt Gottfried Semper in seiner im Anschluss an die Londoner Weltausstellung 1851 verfassten Denkschrift «Wissenschaft, Industrie und Kunst». Er schlug die Einrichtung von exemplarischen Mustersammlungen vor, mit denen ein «allgemeiner Volksunterricht des Geschmacks» durchgeführt werden sollte. Über Lehrveranstaltungen zu «Kunst und Industrie» sollten die Bereiche Keramik, Textil, Holz und Stein sowie eine vergleichende Baulehre im Hinblick auf ein «Zusammenwirken» unter dem «Vorsitz der Architektur» vermittelt werden. Anstatt der getrennten Ausbildung von Handwerkern in Industrie- und Künstlern in Zeichenschulen sollte in Werkstätten unterrichtet werden, in denen angewandte und hohe Kunst, das Notwendige und das Schöne wieder zusammengeführt und durch das «brüderliche Verhältnis des Meisters zu seinen Gesellen und Lehrlingen» die Trennung von Kunst und Leben in den herkömmlichen Akademien aufgehoben werden sollten. Sempers Denkschrift nimmt zentrale Ideen des Bauhauses vorweg: die Orientierung am Handwerk, eine allgemeine ästhetische Erziehung, Werkstattunterricht aufgeteilt nach Materialien, die Einheitskunstschule mit Lehrwerkstätten und Meistern sowie das Einheitskunstwerk unter Führung der Architektur.
Die Denkschrift führte zur Gründung von Kunstgewerbemuseen und Kunstgewerbeschulen mit Werkstätten und stieß eine Reihe von Entwicklungen an, die zum Bauhaus führten. Während Semper die Qualität der Maschinenproduktion durch eine Verbindung von Handwerk, Kunst und Industrie zukunftsorientiert heben wollte, finden sich in England, dem Mutterland der Industrialisierung, auch retrospektive Konzepte, deren Wirkung allerdings ebenfalls bis zum Bauhaus verfolgt werden kann. So wandte sich John Ruskin radikal gegen maschinelle Produktion, die für ihn nur Surrogate und tote Gegenstände lieferte, und forderte eine komplette Rückkehr zur vorindustriellen Zeit, in der durch das Handwerk auch Alltagsgegenstände einen Wert erhalten hatten und gleichsam eine «Beseelung» der Produkte erfolgt war. William Morris gab diesem Konzept eine gesellschaftspolitisch soziale Bedeutung, indem er mit einer Rückkehr zum Handwerk die Wiedergewinnung von Freude an der Arbeit verknüpfte und somit über das Handwerk eine Erneuerung und Verbesserung der ganzen Gesellschaft erfolgen sollte. Sowohl die «Beseelung» von Gebrauchsgegenständen wie auch die erzieherische Kraft von «schönen» Gegenständen sind Ideen, die dann über den Deutschen Werkbund in das Bauhaus Eingang fanden.
Die Lehren von Ruskin und Morris, die eine Bewegung zur Verbindung von Kunst und Handwerk («arts and crafts») anstießen, verknüpfte Charles Robert Ashbee mit Sempers Idee der Lehrwerkstätten und gründete 1888 in London die «Guild and School of Handicraft», in der nicht mehr akademisch in Ateliers, sondern in Werkstätten unterrichtet und gearbeitet wurde. Diese Neuerung, die in Parallele zur Reform der schulischen Bildung von der Lern- zur Arbeitsschule im Sinne eines «Learning by Doing» steht, war grundlegend für die Reform der Ausbildung von Künstlern und Handwerkern und wirkte auf viele Kunstgewerbeschulen, die nun Werkstätten einrichteten. Die Übertragung der Werkstattschulen nach Preußen erfolgte durch Hermann Muthesius, der dieses Modell 1896 bis 1902 im Auftrag der Regierung in England studiert hatte und nach seiner Rückkehr die preußischen Kunstgewerbeschulen um Werkstätten erweitern und junge Künstler und Architekten berufen ließ. So reformierten Peter Behrens und Hans Poelzig die Kunst- und Kunstgewerbeschulen in Düsseldorf und Breslau und Bruno Paul die Berliner Kunstgewerbeschule mit praktischer Arbeit in Lehrwerkstätten. Die Haltung zur Maschine war an diesen Schulen anfangs noch ambivalent, erst allmählich entwickelte sich die Vorstellung, dass die Gestaltung auch den technischen Bedingungen und Vorgaben folgen sollte.
Die bedeutendste der circa 60 deutschen Kunstgewerbeschulen entstand in Weimar, wo der Belgier Henry van de Velde seit 1902 ein privates Seminar zur Hebung der Qualität des Kunsthandwerks so erfolgreich leitete, dass er den Auftrag zum Neubau von Bildhauerateliers der Großherzoglichen Kunsthochschule (1910 umbenannt in Hochschule für bildende Kunst) und einen Werkstättentrakt für die dann unter seiner Leitung 1908 eröffnete Großherzogliche Kunstgewerbeschule erhielt (Abb. 2). Van de Velde galt bereits vor der Jahrhundertwende als bedeutendster Vertreter des maßgeblich von ihm geprägten Jugendstils, der damals modernsten Kunstform. Auf Vermittlung des reichen Intellektuellen, Kunstsammlers und Mäzens Harry Graf Kessler kam er nach Weimar in die kleine Residenzstadt des Großherzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach mit der großen Vergangenheit der Goethe-Zeit. «Ohne Kessler kein Bauhaus», diese Feststellung ist insofern berechtigt, als dass van de Veldes Weimarer Werkstätten als Keimzelle des späteren Bauhauses bezeichnet werden können, denn dieses war nicht nur in den Räumen der neuen Schulgebäude untergebracht und nutzte deren Einrichtungen, sondern die beiden Fundamente des Unterrichts bei van de Velde sind auch zentral für den späteren Bauhausunterricht: Grundlage der Ausbildung waren zum einen eine systematische «Elementarlehre», bei der die Schüler nicht wie bisher üblich durch Abzeichnen historischer Vorlagen, sondern durch Kennenlernen und Üben der Gestaltungsmittel und Formgesetze ihre künstlerischen Fähigkeiten ausbilden sollten. Und zum anderen eine Fachausbildung in Werkstätten, in denen Entwurf und Ausführung nicht mehr getrennt, sondern Hand in Hand und aufeinander bezogen verliefen. Auch die von van de Velde eingeführte Praxis, Prototypen in den Werkstätten zu entwickeln und an Firmen zu verkaufen, um mit dem Erlös Schule und Schüler zu finanzieren, war Vorbild für die später am Bauhaus gesuchte Verbindung zur Industrie.
2 – Henry van de Velde, Kunsthochschule Weimar, 1907
Van de Veldes Arbeiten sind exemplarischer künstlerischer Ausdruck der Lebensreformbewegung, jener Bestrebungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts, eine Erneuerung der gesamten Lebensführung von der Wohnung bis zur Kleidung und von der Ernährung bis zur Kultur herbeizuführen. Leitender Impuls war die von Friedrich Nietzsche eindringlich formulierte Abwendung von der Historie und eine Hinwendung zu Leben und Natur. Die zu «Masken» erstarrte Geschichte und die «antiquarische Historie», die das Leben erstickten, sollten durch die Kräfte der Natur aufgebrochen und die ganze Lebenswelt damit durchpulst werden. Der Lebensstrom, der Élan vital, durchzieht die Werke van de Veldes in Form von «Kraftlinien», die funktionale wie ästhetische Qualität besitzen und alles zu einer Einheit, zum Ausdruck von Leben verbinden. Exemplarisch verwirklichte er diese Konzeption beim Nietzsche-Archiv in Weimar, bei dem von der Architektur bis zum Türgriff und vom Mobiliar bis zur Wandbemalung ein einziger Kraftfluss alles zu einem Gesamtkunstwerk des Jugendstils verbindet. Van de Veldes umfassendes Konzept sowie die ähnlichen Arbeiten von Peter Behrens und Joseph Maria Olbrich auf der Darmstädter Mathildenhöhe 1901 können als Vorbilder bei der Suche am Bauhaus nach einem einheitlichen Ausdruck der Gegenwart in allen Lebensformen gesehen werden. Auch wenn am Bauhaus der Begriff «Stil» verpönt war, da er mit der Welt der Akademien und des Historismus verknüpft schien, ging es um Gestaltung nach übergeordneten Prinzipien, und die immer wieder beschworene einheitliche Kultur in allen Lebensäußerungen eines Volkes manifestierte sich nach dem großen Ideengeber Nietzsche in der «Einheit des Stils».
Dieser neue Stil war für van de Velde durch die «Notwendigkeit» aller Formen und Konstruktionen gekennzeichnet. Nach dem Prinzip einer rationellen und folgerichtigen Konstruktion sollten nützliche Gegenstände geschaffen werden, die genau aus diesem Grund schön waren. Mit diesem Ansatz verblieb van de Velde allerdings in einem künstlerisch individuellen Bereich, die Maschinenproduktion und deren wirtschaftliche Bedingungen wie auch die damit verbundenen finanziellen und nationalen Interessen standen für ihn im Hintergrund. Für eine Reihe von Künstlern und Produzenten ging es jedoch seit der Jahrhundertwende darum, eine Stilsprache zu finden, die deutsche Produkte, die auf dem Weltmarkt als minderwertig betrachtet wurden, «veredeln» sollte, um damit dem Anspruch des Landes, das in den 1890er-Jahren England als führende Industrienation abgelöst hatte, national und international Geltung zu verschaffen. 1907 fanden sich in München zwölf Künstler und Vertreter kunstgewerblicher Firmen zusammen und gründeten den «Deutschen Werkbund», dessen Ziel die «Veredelung der gewerblichen Arbeit im Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk» war, um durch eine «geschlossene Stellungnahme» kulturell zu wirken. Die maschinelle Produktion sollte nicht einen technischen, sondern einen geistigen Ausdruck erhalten. Diese «Durchgeistigung» sollte sich zum einen in deutscher Qualitätsarbeit, die sich international behaupten konnte, manifestieren, und zum anderen sollte der einheitliche Ausdruck der künstlerisch veredelten Produkte erzieherisch auf die bürgerlichen Konsumenten wirken, um wieder eine ausdrucksstarke deutsche Kultur zu erreichen. In der massenhaften maschinellen Produktion hatten die Produkte ihre «geistige Bestimmtheit» verloren, wie Georg Simmel treffend feststellte, die Formgebung war in die Hände des kapitalistischen Marktes und der Spekulation geraten, und es entstanden nur Moden. Der Deutsche Werkbund wollte dagegen durch einen einheitlichen Stil ein modernes visuelles Vokabular als Ausdruck des deutschen Geistes schaffen. Ästhetische, wirtschaftliche und nationale Überlegungen wirkten somit zusammen, um über eine Durchgeistigung der maschinellen Produkte der kapitalistischen Wirtschaft eine kulturelle sowie national charakterisierte Grundlage zu geben.
Das Zusammenwirken von Künstlern und Industriellen zielte auf eine «Wiedereroberung harmonischer Kultur», wie der Architekt Fritz Schumacher beim Gründungstreffen programmatisch formulierte. Diese Harmonie im Sinne eines einheitlichen Formenausdrucks oder Stils manifestierte sich am deutlichsten in den Arbeiten des Werkbundmitglieds Peter Behrens für die Firma AEG, deren gesamtes Erscheinungsbild, vom Briefbogen bis zur Maschinenhalle, er nach einem übergeordneten Gestaltungsprinzip entwarf und damit eine erste Form von Corporate Identity entwickelte. Hermann Muthesius nannte als Ziel des Werkbundes, eine harmonische Kultur «vom Sofakissen bis zum Städtebau» zu schaffen, womit impliziert der Anspruch verbunden war, über Kultur gesellschaftliche Spannungen auszugleichen und sich mit deutscher Qualitätsarbeit am Weltmarkt zu behaupten, wenn nicht sogar führend zu positionieren. Dieser umfassende gestalterische, kulturelle und erzieherische Anspruch wurde später zu einem zentralen Element der Arbeit am Bauhaus, dessen drei Direktoren Mitglieder des Deutschen Werkbunds waren, und die auch immer wieder auf diese Ideen rekurrierten.
Das Bestreben des Werkbunds, als Volkserzieher zu wirken, wurde durch die Propagierung vorbildlicher Muster in einem «Deutschen Warenbuch» oder über das von Karl Ernst Osthaus in Hagen eingerichtete Deutsche Museum für Kunst in Handel und Gewerbe – das «Werkbund-Museum» – mit einer exemplarischen Mustersammlung kontinuierlich intensiviert. Mit der Gartenstadt Hellerau bei Dresden, in der die Deutschen Werkstätten produzierten und wo ein Festspielhaus Reformkultur vermittelte, entstand eine Art Mustersiedlung des Deutschen Werkbunds, die Paul Claudel ein Modell für ein glücklicheres Leben nannte. In diesem Nukleus für kulturelle Erneuerung wurden viele Ideen und Aktivitäten des späteren Bauhauses, vom Zusammenwirken der Künste mit der Industrie bis zu Experimenten einer Reformkultur, antizipiert.