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Navid Kermani

UNGLÄUBIGES STAUNEN

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Über das Christentum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

C.H.Beck

Zum Buch

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Was geschieht, wenn einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller, der selbst ein Muslim ist, sich in die christliche Bildwelt versenkt? Navid Kermani sieht staunend eine Religion voller Opfer und Klage, Liebe und Wunder, unvernünftig und abgründig, zutiefst menschlich und göttlich – ein Christentum, von dem Christen in dieser Ernsthaftigkeit, Kühnheit und auch Begeisterung nur noch selten sprechen.

Es ist ein Wagnis: Offenen Herzens, mit einer geradezu kindlichen Neugier, aber auch mit all seinen eingestandenen Zweifeln versenkt sich Navid Kermani in die christliche Bildwelt. Und es wird zum Geschenk: Denn seine berückend geschriebenen Meditationen geben dem Christentum den Schrecken und die Schönheit zurück. Kermani hadert mit dem Kreuz, verliebt sich in den Blick der Maria, erlebt die orthodoxe Messe und ermisst die Größe des heiligen Franziskus. Er lehrt uns, in den Bildern alter Meister wie Botticelli, Caravaggio oder Rembrandt auch die Fragen unserer heutigen Existenz zu erkennen – ohne kunsthistorische oder theologische Attitüden, dafür mit klarem Blick für die wesentlichen Details und die untergründigen Bezüge auch zu entfernt scheinenden Welten, zur deutschen Literatur genauso wie zum mystischen Islam. Seine poetische Schule des Sehens macht süchtig: süchtig nach diesem speziellen Blick auf das Christentum, süchtig überhaupt nach großartiger Kunst und sehnsüchtig danach, selbst so sehen zu können.

Über den Autor

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Navid Kermani lebt als freier Schriftsteller in Köln. Für seine Romane und Essays erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Kleist-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis sowie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Im Verlag C.H.Beck erschienen zuletzt „Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt“ (Paperback 2015), „Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime“ (Paperback 2015) sowie „Zwischen Koran und Kafka“ (2014).

INHALT

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I. MUTTER UND SOHN

Mutter

Sohn

Sendung

Liebe I

Liebe II

Erniedrigung

Schönheit

Kreuz

Klage

Auferstehung

Verwandlung

Tod

Gott I

Gott II

II. ZEUGNIS

Kain

Hiob

Judith

Elisabeth

Petrus

Hieronymus

Ursula I

Ursula II

Bernhard

Franziskus

Petrus Nolascus

Simonida

Paolo Dall’Oglio

III. ANRUFUNG

Berufung

Gebet

Opfer

Kirche

Spiel

Wissen

Tradition

Licht

Lust I

Lust II

Auszug

Kunst

Freundschaft

Dank

Literatur

Verzeichnis der Abbildungen

I.
MUTTER UND SOHN

 

 

MUTTER

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Der katholische Freund schließt nicht aus, daß der Evangelist Lukas persönlich das Bild gemalt habe. Er hat Artikel darüber geschrieben, wie er es aufstöberte, von denen ich erst einen las. Im Labor ist das Holz noch nicht untersucht worden. Die Nonnen hätten Sorge, weil es bereits so morsch sei. Kunsthistoriker hätten das Bild allerdings für eindeutig antik befunden, erstes Jahrhundert sei wahrscheinlich. Die Jungfrau hat auch mich angeschaut, ohne Alter.

Der Freund brachte mich zu dem Kloster, das in einer gewöhnlichen Wohnstraße auf dem Monte Mario liegt, am anderen Ufer des Tibers neben dem Hilton, und ließ sich durch eine Sprechklappe in der bröckligen Seitenmauer den Schlüssel aushändigen, während ich im Auto wartete. Bevor er mich in die Kapelle führte, wo die Nonnen das Bild bereits für uns umgedreht hatten, pinkelte er noch ins Gebüsch neben dem Eisentor. Gewöhnlich schaut die Jungfrau in den Gebetsraum der Nonnen, die sich lebenslang eingesperrt haben, weder Besucher empfangen noch auf Reisen gehen oder auch nur spazieren oder einkaufen. Gott genügt.

Durch das vergitterte Fenster, in dem das Bild hängt, sahen wir einige von ihnen und hörten alle im fahlen Licht beten, bis übers Kinn verschleiert, weißes, gestärktes Gewand, schwarze Hauben. Fünf der dreizehn Schwestern sind über achtzig. Die in dem Ausschnitt der Gebetsbank saßen, den ich durch das Fenster sehen konnte, waren nicht jünger. Auf den kahlen Wänden ihrer Barockkirche zeichnen sich großflächig die Wasserflecken ab. Der Freund sagt, daß die Leitungen verrotten, die Telefone nicht funktionieren und an Reparatur nicht zu denken ist, bevor das Kloster seine Schulden begleicht. Die Bitte um Spenden ist der Teil ihres Gebets, dessen Erfüllung noch aussteht.

Nach einigen Minuten löschten die Nonnen das Licht, so daß wir nur noch ihre Stimmen hörten, ein Vers tief, ein Vers hoch, Singsang mit Pausen, ohne daß ich ein Wort verstand. Seinem Buch hat der Freund ein Zitat des zurückgetretenen Papstes vorangestellt, das nichts Neues sagt, doch immer wieder neu zu sagen ist: «Große Dinge werden durch die Wiederholung nicht langweilig. Nur das Belanglose braucht die Abwechslung und muß schnell durch anderes ersetzt werden. Das Große wird größer, indem wir es wiederholen, und wir selbst werden reicher dabei und werden still und werden frei.» In Rom wurde ich ohnehin neidisch aufs Christentum, neidisch selbst auf einen Papst, der auch solche Sätze sagt, und wenn ich den Gedanken der Inkarnation in nur einem Menschen nicht für grundverkehrt hielte und speziell die katholische Vorstellungswelt mir nicht so heidnisch vorkäme, mich die Ordnung nicht abstieße, die alle und eben auch die menschlichen Verhältnisse hierarchisiert, die Demonstration von Macht in jeder katholischen Kirche, dazu die bis in den Blutrausch reichende Leidensvergötterung, womöglich hätte ich mich seinen Praktiken nach und nach angeschlossen, hätte die lateinische Messe besucht und wäre mit Pausen in den Singsang eingefallen, wenngleich anfangs mehr aus ästhetischen Gründen, vielleicht auch aus Faszination für die beispiellose Kontinuität einer Institution, die aus Gottes Angehörigen eine Gemeinschaft bildet. Nur ihr ist sie auf Dauer gelungen. Wer weiß, vielleicht wäre auch mir eines Tages das Wunder erschienen, das dieses prächtigste aller Himmelsgebäude hervorgebracht hat. So halte ich die Möglichkeit zwar weiterhin für falsch – aber erkenne, mehr noch: spüre, warum das Christentum eine Möglichkeit ist.

Als sei die Dunkelheit nicht Klausur genug, klappten unsichtbare Hände von innen die Fensterläden zu, so daß wir nur noch die Ikone sahen, nicht mehr in den Raum dahinter. Erhalten geblieben ist nur das Gesicht Mariens in den erstaunlichsten Farben, der Ansatz ihres Schleiers, zwei vergoldete Hände, die zu einem Weg weisen, aber auch Abwehr signalisieren könnten, sowie das Kreuz auf der Höhe ihres Herzens, ansonsten nichts als ihr Umriß. Und natürlich der goldene Grund! In der Sprache der Ikonenmaler werde er «Licht» genannt, erklärt flüsternd der Freund, weil das Gold die Heiligen wie das himmlische Licht umfange. Es gibt keine einseitige Beleuchtung, keine gedachte Lichtquelle, sondern die Farben selbst sind licht, und am lichtesten das Gold. Weil sich der Freund zu einem Rosenkranz zurückzog, hatte ich Zeit mit der Jungfrau. Wieso nenne ich sie überhaupt Jungfrau, wenn ich nicht an die Mutterschaft Gottes glaube? Ein Wort: Getroffensein. Gott hat sie getroffen. Das ist Gnade und Qual, das verleiht Flügel und schmettert nieder, das streichelt und ist ein Hammerschlag. Macht alles verlieren und Gott genügen.

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Maria Advocata. Spätantike Holztafel. 42,5 × 71,5 cm. Kloster Santa Maria del Rosario, Rom

Die großen braunen Augen schauen dich an, als hätte der viel kleinere Mund anfangs noch wie der Mystiker Halladsch gerufen: Rettet mich, Leute, rettet mich vor Gott. Das hat sie auch, Hilfe gerufen, anfangs, als sie es erfuhr, ich bin mir sicher. Frohe Botschaft! röhrten die Könige und brachten Geschenke, aber ich bin mir sicher, daß sie alles war, nur nicht froh. Sie trug es, ertrug es, wie die Heiligen es tragen, das macht sie schließlich dazu, nicht die Auszeichnung, sondern sie aushalten zu können. Zur Staatsfeindin geworden über Nacht, floh sie, übernachtete in Scheunen, in Kellern und zur Not in der Wildnis, die vor zweitausend Jahren noch eine war, immer das Kind bei sich, immer die Sorge, die nicht dadurch größer oder kleiner wurde, ob es ein oder der Sohn Gottes war. Die Sorge war es jeder Mutter. Später stand sie daneben, als man ihn ins Gesicht schlug, mit der Peitsche durch die spuckende Menge trieb, sah die Dornen, die sich zentimetertief in seine Stirn bohrten, sah ihn das Kreuz tragen, auf das man ihn mit Nägeln befestigte, sah das Kreuz aufgerichtet werden und die Leute johlen, sah den Sohn dort oben Stunde um Stunde bluten, stöhnen, dürsten, vor Schmerz und Verzweiflung schreien. Vielleicht blickte er nicht nur in den Himmel und fragte, warum Gott ihn verlassen habe. Bestimmt blickte der Sohn aus der Höhe, in der ihn die Menschen ausstellten, auch nach unten zu seiner Mutter. Zeigt das Bild sie davor oder danach?

Bestimmt gibt es in der Ikonenmalerei ein Gesetz, das meine Frage beantwortet. Der katholische Freund schreibt, als sei es selbstverständlich, daß dieser Blick gesehen hatte, wie der Sohn, ihr Sohn, in Armeslänge neben ihr zu Tode gemartert wurde. Andererseits scheint die Jungfrau nicht in dem Alter, in dem sie bereits um ihr erwachsenes Kind trauern könnte. Mit dem dünnen, wie durchgedrückten Nasenbein und den großen, beinah runden Wangen ist sie übrigens sehr schön, nicht eine römische Hure wie bei Caravaggio oder eine französische Gräfin wie bei Raffael, sondern eindeutig orientalisch. Nein, sie ist noch jung und hat doch schon erfahren, was es bedeutet, von Gott aus- und heimgesucht worden zu sein, glaubt zumindest, es erfahren zu haben, kennt schon den Schmerz und ahnt, mehr noch: weiß, daß der Schmerz sich ins Unermeßliche noch steigert. Nur das Unermeßliche selbst hat nicht einmal diese Jungfrau erlebt. Würde man es zeigen, wäre es keine Ikone mehr. Die Leute würden weglaufen vor Angst. Wenn es eins ist, wäre das Wunder der katholischen Kirche, daß sie es nicht tun, daß sie nicht wegrennen. Aus mir unerklärlichen Gründen zelebrieren sie gerade das Abstoßendste, das zugegeben das Wahrhaftigste sein mag, aus Sadismus, wenn man es böse deutete, oder Wirklichkeitssinn, was es hoffentlich ist. Nur Maria halten sich die Katholiken rein, und das begreife ich so gut. Sie malen Madonnen, um sich zu trösten, weil es ohne Trost nicht geht, malen Bilder eines makellosen Gesichts. Jungfräulichkeit bedeutet für mich nichts anderes: rein – und damit immanent gesprochen: gereinigt – von der Erfahrung.

 

 

SOHN

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Der Junge ist häßlich. Er ist noch viel häßlicher als auf diesem oder überhaupt jedem Photo, das ich im Internet aufgestöbert oder mit der guten Kamera, die ich mir geborgt, selbst aufgenommen habe. Von Bild zu Bild klickend, würde ich so weit gehen zu sagen, daß der Junge geradezu photogen ist – wenn ich mir sein wirkliches Aussehen vor Augen führe. Der Mund zum Beispiel, dieser offene Mund: hasenschartig der Unter-, hervorstehend der Oberkiefer, und mehr noch die Lippen: die untere kurz oder genaugenommen nicht kurz, sondern gestaucht, fett in die beiden Wölbungen sich dehnend, dazu eine Oberlippe wie ein Zelt, das von zwei Schnüren nach oben gezogen wird und sich seitlich bis über die Mundwinkel ausbreitet. Auf den Aufnahmen, weil sie immer nur einen Blickwinkel einfangen, ist bestenfalls zu ahnen, wie blöd der Junge mit seinen auseinanderklaffenden Lippen aussieht, wirklich blöd, also mehr als nur unschön, nämlich tumb, und zwar so eine fiese Tumbheit, die zugleich etwas Plumpes und Garstiges hat, etwas Verzogenes, Bengelhaftes, nur an sich Denkendes. Unangenehm, geradezu unappetitlich ist die Vorstellung eines Kusses, so gern und unbefangen man sonst von Kindern geküßt wird – aber von dem? Es gibt so Kinder, die sich mit fünf Jahren immer noch in der ungeputzten Pofalte kratzen, ungeniert, und einem die Scheiße noch entgegenstrecken. Bei diesem ist es nur Farbe, die abgeblättert ist, aber ausgerechnet an den drei Fingern, die er segnend hochhält, von der Nagelspitze bis übers zweite Gelenk. Im ersten Augenblick fürchtet man, er würde sie gleich in den Hals stecken, so gekrümmt sind die braunen Finger schon.

Und wie rund er ist, also nicht fett im Sinne von schwergewichtig, vielmehr gerundet, die Nase breiter als lang und die Haut wie aufgeblasene Ballons gewölbt. Weil die zurückgezogene Unterlippe das ballrunde Kinn in die Höhe hebt, wirken die Wangen noch kugeliger. Im ganzen besteht das Gesicht mithin aus drei, nein: vier, nein: fünf Bällen, weil das Doppelkinn und die Nasenspitze ebenfalls kugelrund sind, nur kann man das Kugelige eben nicht in seinem schon karikativen Volumen ermessen, wenn man den Jungen aus einem einzigen Blickwinkel, folglich nur zweidimensional sieht. Die beiden Brüste sind ebenfalls rund wie bei einer Frau, fällt mir auf, da ich die Photos des Jungen betrachte, und an den Ober- und Unterarmen kringelt sich das Fett, so daß weitere Kügelchen entstehen. Ein Wonneproppen, würde eine Mutter sagen, die ihren Sohn selbst dann für den Hübschesten hält, wenn er für jeden anderen, erst recht für einen Anders- oder Ungläubigen wie mich, ein Ausbund an Scheußlichkeit ist. Auch der katholische Freund, den ich bat, bei seinem nächsten Besuch in Berlin beim Bode-Museum vorbeizugehen, weil auf den Photos, die ich ihm geschickt hatte, die Blödheit nur zweidimensional ist, selbst der Freund räumt am Telefon ein, daß er mit dem Jungen Schönheit, Anmut, Liebreiz am wenigsten assoziiert.

— Haben Sie die Finger gesehen? frage ich.

— Ich stehe noch davor, flüstert der Freund.

Den Jungen fand er sofort, mußte nur den erstbesten Wärter nach einem häßlichen Christuskind fragen, um grinsend den Weg gewiesen zu bekommen, alle Wärter wußten Bescheid: zum Dickerchen den Korridor lang und im kleinen Kuppelsaal die erste Tür links. Hingegen im Katalog haben sie das Christuskind nicht abgebildet und selbst im Sonderkatalog der Skulpturensammlung nur ein kleines, fast schon winziges und noch dazu vorteilhaft ausgeleuchtetes Photo abgedruckt, als schäme sich die Museumsleitung dafür oder wolle keinen Ärger heraufbeschwören mit einer Art von Gotteslästerung. Dabei stört es in Berlin allenfalls noch Türken, wenn Gott gelästert wird. Vor allem aber geht es darum zu verstehen, daß genau dieser Junge den Vater lobpreist.

Die katholische Kunst kenne das Motiv des kindlichen Jesus erst seit dem dreizehnten Jahrhundert, weicht der Freund in die Kunstgeschichte aus, die Skulptur müsse daher ein recht frühes, noch nicht ausgereiftes Beispiel sein. Besonders der heilige Franziskus habe das Christuskind geliebt, und Mystikerinnen hätten es in der Versenkung geherzt und in den Armen gewiegt, um sich mit der Gottesmutter eins zu fühlen.

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Christuskind. Perugia, um 1320. Nußbaumholz, Höhe 42,2 cm. Bode-Museum, Berlin

— Diesen Rotzlöffel? frage ich.

— Nun ja, flüstert der Freund, er vermute, daß der Künstler in diesem speziellen Fall, der sich wohl weniger für die Unio mystica eigne, die Züge und dann wohl auch die dichten Locken des Auftraggebers verewigt habe, oder des Auftraggebers Kind.

— Aha, sage ich, um auf die Erklärung überhaupt zu reagieren, mit der ich mich nicht zufriedengeben mag.

Da entschuldigt sich der Freund schon, er müsse auflegen, habe mir nur rasch Bescheid geben wollen. «Schauen Sie bei Ratzinger nach», simst er noch hinterher. «Hab ich schon», simse ich zurück.

Lieber hätte ich den Freund zum heiligen Franziskus befragt, der sich um die Häßlichkeit des Sohns vielleicht gar nicht scherte, weil er jedes Kind, ob häßlich, ob schön, als Gottes Kind herzte. Der zurückgetretene Papst jedenfalls, den der Freund mehr schätzt als Franziskus, hat kein Buch über die Kindheit Jesu geschrieben. Ausgerechnet die Jahre, in denen Jesus ein Kind war, nicht mehr Baby und noch nicht Jüngling, sind in dem Kindheitsbuch ausgelassen. Benedikt XVI. schildert die Ankündigung der Geburt, die Geburt selbst, den Besuch der Weisen und die Flucht nach Ägypten – da war Jesus noch ein Baby. Dann setzt Benedikt XVI. erst wieder bei dem beinah schon Jugendlichen ein. Und dazwischen? Er wird wissen, der zurückgetretene Papst, daß es Hinweise gibt, das Kindheitsevangelium des Thomas; wenn es auch nicht in den Kanon aufgenommen worden ist, galt es Christen vieler Jahrhunderte als ein Zeugnis, das beachtet werden muß.

Ohne mich in die philologische Debatte einmischen zu wollen, schien mir das Kindheitsevangelium stets ein sehr realistischer Text zu sein. Eben weil es verstört, sehr unvorteilhaft von der Vorstellung abweicht, die man sich gläubig oder ungläubig vom erwachsenen Jesus macht, konnte ich mir seine Bewahrung und Verbreitung innerhalb des Christentums nur mit einer besonders starken Überlieferungskette erklären. Denn schlüssig verbunden, in eins gesetzt mit dem geliebten Säugling und dem später so heftig liebenden Mann, fand ich das Kindheitsevangelium nie. Da spielt zum Beispiel – und das ist der Auftakt, so knallend – der Fünfjährige am Ufer eines Baches und leitet das vorbeirauschende Wasser mit bloßer Willenskraft in kleine Pfützen um. Ein Nachbarsjunge nimmt einen Weidenzweig und fegt das Wasser zurück in den Bach. Die beiden geraten in Streit, und bisher liest sich noch alles normal, eine Szene zwischen zwei Jungen, wie sie in jedem Kindergarten passiert. Aber dann schreit Jesus, daß der Nachbarsjunge wie ein Baum verdorren, weder Blätter noch Wurzeln noch Frucht mehr tragen solle. Und alsbald verdorrt der Nachbarsjunge ganz und gar, und das heißt wohl, er stirbt, verendet elendig und stürzt seine Eltern ins Unglück, wie es im Kindheitsevangelium ausdrücklich heißt. Ungerührt geht Jesus nach Hause.

Und so setzt sich der Bericht fort, genau in dem Stil, mit den gleichen Charakterzügen: Im Dorf stößt ein Junge im Laufen versehentlich an Jesu Schulter. Was tut Jesus? Tötet den Jungen mit einem einzigen Wort. Und als die Eltern dieses und des anderen Jungen und immer mehr Leute sich bei Josef beschweren – was tut Jesus? Läßt alle erblinden. Und als er seinen Lehrer Zachäus an Wissen überbietet, macht er den Greis vor allen Leuten zum Gespött; Zachäus verzweifelt und will nur noch sterben wegen dieses Kindes, das ein Ausbund an Scheußlichkeit sein muß.

Vielleicht sind Benedikt XVI. und mit ihm der katholische Freund zu sehr von der Schönheit gebannt, die ihnen am Christentum und damit an Jesus Christus selbst so wichtig erscheint, um das Häßliche ebenfalls zu sehen. Ich verstehe ihr Beharren, muß in einer Stadt wie Berlin nur einen gewöhnlichen Sonntagsgottesdienst besuchen, um beizupflichten, wie sehr dem Christentum Schönheit heute fehlt. Armut allein macht keinen Gott groß. Indes wird Schönheit auch erst mitsamt ihres Gegensatzes wahr. Jesus selbst sagte oder soll gesagt haben, in einem Spruch, den der Kirchenvater Hippolyt überliefert: «Wer mich sucht, wird mich finden unter den Kindern von sieben Jahren an.» Das heißt doch wohl, daß man den Erlöser nicht in dem Fünfjährigen findet, den das Kindheitsevangelium beschreibt. Es heißt, daß selbst der Sohn erst werden mußte, was er in den kanonischen Überlieferungen von Anfang an ist. Jesus könnte ein Rotzlöffel gewesen sein, ein Ungeheuer von einem Kind, mit Wunderkraft ausgestattet, ja, die er jedoch voller Arglist eingesetzt. Ich fürchte, man wird meinen, ich lästere Jesus nun selbst. Dabei ist es keine Lästerung und die Arglist ein Attribut, das Gott ebenfalls zugesprochen wird.

Von Bild zu Bild klickend, frage ich mich, ob Jesus nicht zum Liebenden wurde, indem er sich beschämt an die Lieblosigkeit des Kindes erinnerte, das er gewesen, ein endlich Verzückter, Beseelter, Erkennender, der selbst im Verbrecher das Gute hervorhob, selbst im Häßlichen die Schönheit pries? Es gibt diese Lieblingsanekdote der Sufis, die auch mir die liebste ist: Jesus kommt mit seinen Jüngern an einem toten, schon halb verwesten Hund vorbei, dessen Maul offensteht. «Wie schrecklich er stinkt», wenden sich die Jünger angeekelt ab. Jesus aber sagt: «Seht doch, wie herrlich seine Zähne leuchten!» Mit dem Hund meinte Jesus vielleicht auch das Kind, das er war.

Aber die Mutter – man wünscht keiner Mutter, einen solchen Sohn zu haben, ihr angekündigt von Engeln, von Königen verherrlicht, und dann entpuppt er sich als verzogenes Bürschchen, das vor Wunderkraft nur so strotzt. Das Kindheitsevangelium erwähnt Maria erst ganz zum Schluß, als Jesus schon älter als sieben Jahre ist. Bestimmt hat sie sich über ihn gegrämt, sich für seine Untaten auch geschämt und dennoch zu ihm gehalten, den Wonneproppen vorbehaltlos geliebt. Das ist die Mutter, die Mutter schlechthin: egal wie das Kind ist. Das ist der Sohn, jeder Sohn, der die Liebe von der Mutter erst lernt. Im Arm halten, wiegen, wollt ich den Jungen nicht.

 

 

SENDUNG

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Als Jugendlicher träumte ich öfters, Jesus erschiene heute, hier in Köln, am Bahnhof oder bei H & M, und sah jedesmal einen Freak, der auf der Straße lebte oder ein übriggebliebener Hippie mit langen, ungepflegten Haaren sein konnte, Hemd und Hose aus bunten Lumpen und an den nackten Füßen selbst im Winter jene Latschen, die schließlich seinen Namen tragen. Ein Sonderling, durchgeknallt, warnte er in einer Fußgängerzone vorm Weltende oder war ein politischer Aufrührer, aus Sicht seiner Mitmenschen ein Fanatiker, obschon friedlich und also harmlos, lächerlich mehr als gefährlich. Ich nehme an, daß solche Träume mehr über meine Zeit erzählen als über Jesus, sind sie doch Wunsch- oder Zerrbild jener uniformen Nonkonformität, die mich im Westen Deutschlands politisch sozialisierte. So gut wie für einen Penner hätte man den Jesus, von dem ich träumte, für ein Gründungsmitglied der Grünen halten können.

Später stellte ich fest, daß Jesus äußerlich nicht sonderlich auffiel. Johannes der Täufer sonderte sich ab, später die frühchristlichen Eremiten. Jesus selbst hatte so viel Freude am Essen und Trinken, daß die Gelage sogar gegen ihn verwendet wurden. Ohne sich ihren Vorwurf zu eigen zu machen, muß man ernst nehmen, was die Widersacher sagten, schließlich hätten sie ihn auch als Lügner, als Dieb abtun können. Aber sie riefen: «ein Fresser und ein Weinsäufer, der Zöllner und der Sünder Geselle!» (Matthäus 11,19) Gemeint war, daß Jesus Gastmähler für die Kollaborateure der römischen Besatzung und die Gottlosen abhielt. Ich glaube nicht, daß er mit ihnen sympathisierte. Eher wollte er die Gemeinschaft mit allen Angehörigen seines Volkes demonstrieren, nicht nur mit den Würdenträgern und den Rechtgläubigen, nicht nur mit den Ausgestoßenen und Benachteiligten – nein, mit allen, selbst mit den Kleingeistern und den Verbrechern, mit den Spießern und den Charakterlosen: mit uns. So betrachtet, war Jesus sogar das Gegenteil eines Sonderlings, nämlich ausgesprochen gesellig.

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Veronese (Paolo Caliari, 1528–1588), Die Hochzeit zu Kana. 1562/63. Öl auf Leinwand, 677 × 994 cm. Musée du Louvre, Paris

Bei Veronese feiert Jesus unter allen Leuten, neben ihm die Mutter, die Apostel Petrus, Andreas, Philippus und mit dem Messer in der Hand Bartholomäus aus Kana, den man bei lebendigem Leibe häuten wird, dazu Köche, Kellner, Weinschenke, Musikanten, mit orientalischem Turban der maître de table und im weißen, goldbestickten Gewand der offenbar sehr vornehme Sommelier. Überhaupt die Gewänder: nicht historisch, sondern aus der Gegenwart des Malers, des sechzehnten Jahrhunderts, weshalb es lange Zeit ein beliebtes Spiel war, alle möglichen Zeitgenossen mit den Gästen der Hochzeit zu identifizieren, angefangen mit Veronese selbst und einigen Malerkollegen über kirchliche Würdenträger bis hin zu Staatsführern wie Maria aus England oder Suleyman dem Prächtigen. Kann sein, gibt die Kunstgeschichte dazu eine sympathische Auskunft, kann aber auch nicht sein.

Es kommt nicht auf den Einzelnen an. Hier kommt es auf die Vielen an: Hundertdreißig Menschen hat Veronese in der Hochzeit von Kana plaziert, ihnen hundertdreißig je verschiedene Gesichter, Gesten und Blicke verliehen, so daß sich das Auge herrlich in den Details und Konstellationen, in der Architektur und den unzähligen Requisiten dieser Menschheitsbühne verliert. Als ich vor dem riesigen, fast siebzig Quadratmeter großen Bild stand, passierte genau das, was zu passieren drohte, erschiene Jesus heute: Ich beachtete ihn nicht mehr als jeden anderen. Er sitzt in der Mitte, das stimmt, und wird ebenso wie die Mutter von einem kleinen Heiligenschein erleuchtet, allein, was ist dieser Schein schon angesichts der Pracht und Fülle, die das Auge ringsum findet. Sieht man von den Jüngern ab, beachten ihn die Leute nicht, schweigen, plaudern, kochen, bedienen, musizieren, als ob nichts wäre. Das ist um so schmerzvoller, als sie, als zumindest einige – der Sommelier, die Schenke, links der schwarze Knabe, an beiden Tischenden die ersten Gäste und selbst einer der Hunde – bereits das Wunder bemerkt haben. Doch niemand schaut zu Jesus, der Wasser in Wein verwandelt. Demzufolge ahnt auch niemand, wessen Fleisch er essen wird. Daß es Lamm ist, erschließt sich aus der Platte, die zwei Diener oben rechts ins Bild tragen. Und tellergroß geschnitten wird es genau über Jesu Kopf.

Vielleicht hatten die Träume doch recht, nur daß sie Sonderbarkeit und Fremde Jesu an der Oberfläche festmachten, an der Kleidung, den Haaren. Auch in den Evangelien gehört er einer anderen, gleichsam einer zweiten Gegenwart an: Er ist auf Erden, er feiert mit allen Leuten, fällt nicht äußerlich auf – und ist doch im Innern so tief berührt worden, von Gott durchdrungen, daß er leuchtet, mögen es auch nur die Jünger, Künstler und Kinder von sieben Jahren an sehen. Nicht einmal Maria Magdalena erkannte den Auferstandenen auf Anhieb, nicht einmal die Jünger beim Emmaus-Mahl, so unscheinbar ist, was ihn unterscheidet. Es sind nicht einmal die Augen, ist nicht einmal die Stimme und können ebensowenig die Worte sein, wenn er wie so oft nichts sagt. Vielleicht ist es nicht mehr als ein Blick – alle anderen 129 Hochzeitsgäste schauen irgendwohin, sie sind nicht alle in ein Gespräch vertieft, sind still, häufiger wahrscheinlich als auf jeder gewöhnlichen Hochzeit, sind für sich, als ob sie doch das Licht bemerkt haben, zumindest irritiert worden sind. Aber Jesus schaut nirgends hin und damit auf alles. Der Unterschied wird deutlicher, vergleichst du seinen Blick mit dem der Mutter, die ebenfalls wie abwesend wirkt. Nur geht ihr Blick, der deshalb auch leicht gesenkt ist, ins Innere, wo sie trauert, weil sie mit dem ersten Wunder das Martyrium voraussieht, das ihren Sohn erwartet. Jesus hingegen blickt nach außen, aus seiner Gegenwart hinaus. Er blickt niemand anderen an als dich.

Wer bringt denn auch seine Mutter mit zu einer Hochzeit! Ein junger, gutgewachsener Mann wie Jesus kommt mit einem Mädchen oder, wenn er kein Mädchen hat, kommt er, um eines kennenzulernen. Seine Mutter ist schon äußerlich eine Spaßverderberin, rückt dem Sohn nicht von der Seite und trägt die traditionellen Trauerfarben schwarz, blau und grau, wo andere doch nur feiern wollen. Das wäre in meiner Zeit das Sonderbare, das absolut Fremde und Aussondernde gewesen: daß er stets die Mutter bei sich hatte – Sponsa Christi wird sie auch noch genannt, Braut Christi – die Mutter! Wahrscheinlich waren wir im Westen Deutschlands deshalb so bemüht, ihm ein Verhältnis mit Maria Magdalena anzudichten: um seine Nonkonformität etwas konformer zu haben. Die Evangelien jedenfalls liefern für Erotik keinen Anhalt. Allenfalls könnte man aus Maria Magdalenas Klage heraushören, daß sie den jungen Mann liebte. Umgekehrt jedoch richtet Jesus nirgends ein Wort an sie, das auf die Liebe zur Frau deutete. Jesus war allein. Bei all seiner Geselligkeit, inmitten von 129 Hochzeitsgästen war Jesus allein. Allenfalls war er mit seiner Mutter. Und mehr als das: Er verlangte auch das Alleinsein von jedem einzelnen seiner Gemeinschaft. «So jemand zu mir kommt und haßt nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger sein.» (Lukas, 14,26) Es gibt keinen Charakterzug, der sich deutlicher durch alle vier Evangelien zieht, als sein Beharren, beziehungslos zu sein, nicht nur frei von aller Verwandtschaft, Freundschaft, Verliebtheit, sondern auch von allen Dingen, von Häusern und Äckern, wie er in Matthäus 19,29 ausdrücklich hinzufügt.

Es machte mich verrückt, daß niemand ihn erkannte, ich auch niemanden von seiner Anwesenheit überzeugen konnte, nicht einmal zu überzeugen versuchte, weil es mir aussichtslos schien und ich vielleicht selbst für verrückt gehalten worden wäre, für einen der Spinner, die in der Fußgängerzone vorm Weltende warnen oder sich an den Eingang von H & M ketten, um gegen Billiglöhne zu demonstrieren.

 

 

LIEBE I

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Nicht zu sagen, ob Jesus Augen und Mund vor Entsetzen oder bloß vor Anspannung aufreißt, die ausgebreitete Hand abwehrend oder gebietend hochhält. Nicht zu sagen, ob Marias Staunen verzückt oder panisch ist, ihre Hand zum offenen Grab geht oder den Bruder von sich abhält. Nicht zu sagen, ob Martha wirklich zurückweicht, so schemenhaft nur ist sie in der unteren linken Ecke zu erkennen. Nicht zu sagen, was in den Köpfen der drei Männer vorgeht, die auf den wiedererweckten Lazarus starren, ganz hinten womöglich der Apostel Petrus. Nicht zu sagen, ob Lazarus lächelt, wie mühsam und müde auch immer, oder eher Nein! schreit, ich will nicht. Rembrandt hat das offengelassen; hat nicht gedeutet und schon gar nicht gewertet. Aber er hat die Anstrengung kenntlich gemacht, die seelische und ebenso die körperliche Belastung Jesu, der nicht entspannt ein Wort spricht wie bei den anderen Malern, vielmehr «mit lauter Stimme» ins Grab ruft, was im Lutherdeutsch «schreien» oder «kreischen» meint, der «ergrimmt» ist und gerade noch geweint hat und voraussieht, daß die Hohenpriester ihn spätestens jetzt fürchten und zum Tode verurteilen werden, da sie seine Macht erkennen. Rembrandt hat die beiden Schwestern nicht fromm und dankbar die Hände zum Himmel heben lassen, sondern Maria ein fassungsloses Staunen, Martha die Andeutung eines Zurückweichens verliehen – niemand ist hier froh, auch nicht die drei Männer, nicht einmal Petrus. Vor allem aber hat Rembrandt radikal mit seinen Vorgängern gebrochen, die Lazarus einen wohlgeformten Körper gemalt haben. Bei ihm trägt der Erweckte deutliche Züge der Verwesung und phosphoresziert auch noch leichenhaft grün.

Man muß sich klarmachen, daß niemand, der an die Auferstehung glaubt, in dieser Welt wiedergeboren werden möchte. Jesus selbst, der Lazarus mehr als andere Menschen «lieb hat», was im Lutherdeutsch eine Steigerung der Liebe ist, Jesus ist sich bewußt, daß er dem verstorbenen Freund keinen Dienst erweist, indem er ihn ins Leben zurückruft. Es geht Jesus um die Jünger – «auf daß ihr glaubet» – und die Umstehenden – «daß sie glauben». Ja, anfangs, als die Nachricht von der Erkrankung des Lazarus eintrifft, stellt Jesus sogar klar, daß es im Kern um ihn selbst geht: «daß der Sohn Gottes dadurch geehrt werde». Denn er sieht richtig voraus, daß Lazarus sterben und dessen Erweckung den Anlaß liefern wird, Jesus selbst zu kreuzigen – nichts anderes als Jesu Auferstehung ist schließlich mit «Verherrlichung» gemeint. Dem entspricht, daß Jesus seinen Gang nach Bethanien als Rückkehr nach Jerusalem versteht – «laßt uns wieder nach Judäa ziehen» –, ihn mit dem Zeitenlauf in Verbindung bringt – «sind nicht des Tages zwölf Stunden?» – und Thomas die anderen Jünger auffordert: «Laßt uns mitziehen, daß wir mit ihm sterben!» Dem entspricht zumal das Weinen, das sehr bemerkenswerte, wohl auch heftige Weinen Jesu in Bethanien, das oft als Trauer um Lazarus gelesen wird – doch weshalb sollte Jesus den Tod desjenigen betrauern, den er gleich wiedererweckt? Hippolyt und andere Kirchenväter deuteten Jesu Tränen daher keineswegs als Trauer über den Tod des Freundes, sondern im Gegenteil als Betrübnis über dessen Wiederkehr ins Leben. Anders gesagt: Jesus gehen «die Augen über», weil er seinen Freund, den besonders geliebten Lazarus, ins Elend dieser Welt zurückzwingen muß, um selbst getötet zu werden und auferstehen zu können. Und tatsächlich gibt es, kaum beachtet, eine entscheidende Pause während der Totenerweckung, als die Grabplatte abgehoben wird: «Vater, ich danke dir, daß du mich erhört hast», sagt Jesus, als er die Leiche sieht. Erst danach ruft, nein, schreit und kreischt er – und zwar «um des Volks willen, das umhersteht, sage ich’s, daß sie glauben, du habest mich gesandt» – Lazarus aus dem Grab heraus. Das heißt, der Dank, erhört worden zu sein, geht der leiblichen Auferweckung voraus, ist zeitlich und sprachlich von ihr getrennt. Der Dank scheint sich also auf etwas anderes zu beziehen. Aber worauf?

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Rembrandt (1606–1669), Die Auferweckung des Lazarus. Ca. 1630. Öl auf Holz, 96,4 x 81,3 cm. Los Angeles County Museum of Art

Ich gehe nochmals an den Anfang der Geschichte in Johannes 11: «Unser Freund schläft», sagt Jesus, da er hört, daß Lazarus in Bethanien krank liegt. «Herr, schläft er, so wird’s besser mit ihm», erwidern die Jünger, die meinen, Jesus spreche vom leiblichen Schlaf. Jesus jedoch klärt sie auf, daß Lazarus gestorben ist: «Ich gehe hin, daß ich ihn aufwecke.» Weil man das Ende der Geschichte schon kennt, setzt man voraus, daß Jesus hier ankündigt, Lazarus in die irdische Existenz zurückzurufen. Tatsächlich könnte mit aufwecken genausogut noch Erweckung im Sinne von Auferstehung gemeint sein. Jesus selbst sagt, als ihm vor Bethanien Martha entgegenkommt, die Schwester des Lazarus, der schon vier Tage im Grab liegt: «Dein Bruder soll auferstehen.» Worauf Martha sich nicht einmal wundert: «Ich weiß wohl, daß er auferstehen wird in der Auferstehung am Jüngsten Tage.» Und Jesus bestätigt, was Martha sagt: «Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben.» Hier geht es deutlich um das ewige Leben – «ob er gleich stürbe» –, nicht um die Fortsetzung oder Wiederaufnahme der zeitlich begrenzten irdischen Existenz: «Glaubst du das?» Worauf Martha, eine einfache Frau und nicht etwa einer der männlichen Jünger, das Bekenntnis der neuen Gemeinde spricht: «Ja, ich glaube, daß du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.» Der Dank, erhört worden zu sein, muß sich auf die eigentliche und eigentlich doch ewige Auferstehung beziehen. Die nachfolgende, leibliche Wiederbelebung des Lazarus ist da nur die Illustrierung, daß durch Jesus die Toten auferstehen, ein äußeres Zeichen für die Ungläubigen und Unsicheren, wohlgemerkt nicht für den armen Lazarus selbst.

Oder gehen Jesus die Augen deshalb über, weil er bei der Ankunft in Bethanien noch gar nicht daran denkt, Lazarus ins Leben zurückzurufen, also seinen Freund tatsächlich vermißt und noch nicht damit rechnet, ihn bald wiederzuhaben? «Siehe, wie hat er ihn so liebgehabt», haben selbst die Juden, die ihm so sehr mißtrauen, Mitgefühl mit ihm. Aber da nun einige unter ihnen Jesus provozieren, indem sie ihm vorhalten, den Tod des Freundes nicht verhindert zu haben, geht er zum Grab und verlangt, daß der Stein abgehoben werde. «Herr, er stinkt schon», will ihn Martha noch abhalten und erinnert: «Denn er ist vier Tage gelegen.» Doch Jesus mahnt Martha, an ihn zu glauben – an ihn also, der die Auferstehung und das Leben ist –, und läßt den Stein entfernen. Nachdem Jesus seine Augen emporgehoben und Gott gedankt hat, fährt er um des Volkes willen fort, damit es ihn als Gesandten anerkenne, und weckt den Verstorbenen auf. Worauf Lazarus aus dem Grab tritt, die Hände und Füße mit Tüchern verbunden, sein Gesicht sicher nicht zufällig von einem Schweißtuch verhüllt. Rembrandt freilich läßt das Schweißtuch fort und liefert so eine Erklärung für Jesu seltsame Reaktion. Denn statt den Freund, den er so betrauert hat, zu umarmen oder auch nur zu begrüßen, sagt Jesus nur: «Löset ihn auf und lasset ihn gehen» – wohin?

Natürlich fragt man sich oder frage vielleicht nur ich mich, was für ein Leben das noch sein könnte, das Lazarus gerade wiedergewonnen hat, die Haut schon vermodert, das Fleisch eingefallen oder gar von Würmern angefressen, aasig riechend und also ein Schrecken für alle Leute, um von der seelischen Zersetzung gar nicht zu reden, dieser Schock, als Gerechter in Gottes Frieden zu ruhen, der ewig sein soll, und dann doch wieder in den Körper zurückversetzt zu werden, der nicht mehr bloß gebrechlich ist, sondern bereits fault? Und Jesus weiß doch schon, daß er selbst getötet wird, sehr bald und auf grausamste Weise, er weiß, daß Lazarus dann umgekehrt um ihn trauert, hat Lazarus bei der Salbung sogar bei sich, die die Passion einleitet – wie kann ein Freund das einem Freunde antun? Oder tut er es ihm an, gerade weil Lazarus sein Freund ist, so wie auch ein Mann seine Frau, eine Frau ihren Mann oder Eltern ihre Kinder, deren Tod sie betrauern, ins Leben zurückschreien und -kreischen möchten, ob sie an die Auferstehung glauben oder nicht? Auch ich wünsche mir, spreche den Wunsch in eingestandener Selbstsucht gelegentlich aus, so Gott will vor meiner Frau und zumal vor unseren Kindern zu sterben, damit mir nicht die Augen an ihrem Grab übergehen. Nur Jesu Liebe übersteigt menschliches Maß. Lazarus hingegen hat er so liebgehabt. Nicht zu sagen, ob der Freund lächelt, wie mühsam und müde auch immer, oder eher Nein! schreit, ich will nicht.

 

 

LIEBE II

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Gesetzt, du kenntest den Titel des Bildes nicht, erkenntest nicht einmal das Paar, hieltest deshalb auch den Heiligenschein für eine verdeckte Sonne, der in der angedeuteten Form eines Kreuzes Christi Kopf rahmt, sähst nur einen Mann und eine Frau, beide sehr jung und die Frau noch etwas jünger, aber auch der Mann erst Anfang, allenfalls Mitte zwanzig, die Stirnen faltenlos, die Wangen rosig, die Lippen samtweich wie bei Kindern und zugleich sinnlich gewölbt, das Altern lediglich in der Einwölbung unterhalb der Augen angedeutet – was glaubtest du zu sehen? Obwohl ich in einer Ausstellung El Grecos stand, der so oft Jesus und Maria gemalt, und bereits gelesen hatte, daß das Bild den Abschied Christi von seiner Mutter zeigt, glaubte ich, zwei Liebende zu sehen, oder präziser: zwei, die einander lieben, und zwar eindeutig nicht wie Mutter und Sohn. Natürlich erzeugt den Eindruck auch ihr Alter, dieser gerade vollzogene Übergang zum Erwachsensein, an dem die Malerei, die klassische Literatur, selbst die Musik die große Liebe zu Recht ansiedelt, weil wir davor zu wenig über das Erlebte wissen und es danach zu schnell in ein Verhältnis setzen. Aber es ist mehr als das Alter, die Mater dolorosa wird schließlich häufig jung und manchmal jünger als Christus gemalt. Bei El Greco fehlt ihr insgesamt das Mütterliche; nicht richtet sich ihr Blick besorgt oder bekümmert auf den Sohn, sondern mit einem Ausdruck ruhigen Glücks in die Ferne oder ins Nichts. So selbstverloren blickt eine, die sich beim Geliebten geborgen weiß. Und tatsächlich schaut er sie mit Augen an, die zugleich begehren und behüten. Das ist weniger ein Erlöser als einer, der in der Liebe selbst Erlösung fand, das ist ein Brennen und Bewundern, ein beinah schon komisches Schmachten, wie du dir einen Romeo oder Abaelard vorstellst, und müßtest dich doch nur erinnern, wie du selbst groß geliebt.

Überhaupt könnte das Bild kaum offener seinem eigenen Titel widersprechen, der mehr als nur einen Abschied, nämlich einen Höhepunkt der Passionsgeschichte anzeigt. Folgt man der Bibel, wendet sich Jesus zum letzten Mal Sekunden vor seinem Tod an Maria, als er vom Kreuz herabruft: «Weib, siehe das ist dein Sohn!» Indes gehört der Abschied von der Mutter in Bethanien zu den Motiven aus Jesu Leben, bei denen die Maler nicht auf biblische Quellen zurückgriffen. Vielmehr geht die Darstellung wohl auf die mittelalterlichen Meditationen über das Leben Christi des Pseudo-Bonaventura zurück, der den Abschied zwischen die Erweckung des Lazarus und den Einzug in Jerusalem vorverlegt. Das erscheint mir als Außenstehendem etwas merkwürdig, weil die gleichen Maler Maria auch in Jerusalem und selbst auf dem Golgatha noch auf ihren Bildern zeigen, vom Anfang bis zum Ende des Kreuzwegs. Sie ist anwesend, wenn er seinen schweren Gang antritt, sie reicht ihren Schleier zum Bedecken seiner Blöße, von den anderen Frauen gehalten steht sie wehklagend unterm Kreuz. Aber auch, wo sich die Maler den Abschied Christi von seiner Mutter in Bethanien vorstellen, der Heimat des Lazarus, und also unter Umständen, die äußerlich nicht die Dramatik einer Kreuzigung haben, bleibt die Szene im höchsten Maße schmerzhaft, die letzten Worte zwischen einer Mutter und ihrem Sohn, der in den sicheren Tod geht, zumal die Popularisierung des Motivs eng mit der aufkommenden Marienmystik zusammenhängt, in welcher der Schmerz der Gottesmutter schon mit der Geburt des Sohnes einsetzt, wie etwa die heilige Brigitta beschreibt: «Als sie ihn in die Windeln wickelte, betrachtete sie in ihrem Herzen, wie sein ganzer Leib mit scharfen Geißeln zerrissen werden sollte, so daß er wie ein Aussätziger anzuschauen sein würde. Und wenn die Jungfrau ihres kleinen Sohnes Hände und Füße leise in die Windeln band, vergegenwärtigte sie sich, wie hart dieselben mit eisernen Nägeln am Kreuze durchbohrt werden sollten.» Folglich wird Maria beim Abschied in gebeugter Haltung, häufig kniend oder bei Dürer vor Schmerz zusammengebrochen gezeigt und versucht Jesus sie vergeblich zu beruhigen, umfaßt ihre Schulter oder hält ihre Hände, spricht tröstend auf sie ein. Wie könnte auch ein Sohn seine Mutter beruhigen, dem ein solches Martyrium bevorsteht? Auf manchen Bildern umarmen Jesus und Maria sich, auf anderen kniet er vor ihr, die ihn segnet, oder sie umklammert ihn, damit er nicht geht. Fast immer sind auch Maria und Martha zu sehen, die Schwestern des Lazarus, und viele Jünger, sie alle weinend, klagend, verzweifelt. Nichts davon bei El Greco oder sogar das genaue Gegenteil bei ihm.

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El Greco (1541–1614), Der Abschied Christi von seiner Mutter. Ca. 1578–1580. Öl auf Leinwand, 64 × 93 cm. Privatsammlung

Schon die Farben sind licht und warm, das leuchtende Blau des Himmels, um Jesu Kopf der Heiligenschein, der wie gesagt auch Sonnenlicht sein könnte, rund um Maria ebenfalls ein Schimmern, das aber mehr wie ein freundliches Wölkchen aussieht, dazu das volle Rot und Moosgrün ihrer Gewänder, das helle Kopftuch, die gesunde Frische ihrer Stirnen, Wangen, Lippen. Zudem sind alle Hinweise vermieden, die auf einen bestimmten Ort, eine bestimmte Station auf dem Kreuzweg deuteten; nur daß sich die beiden im Freien verabschieden, unter heiterem Himmel, läßt El Greco erkennen, die Szene könnte allerdings auch im Himmel spielen. Besonders aber sind es die Blicke, deretwegen ich an alles, nur an keine Passion denke, besonders der Blick der Frau, in dem mehr als nur Liebe liegt, nämlich die Seligkeit ihrer Erfüllung. Hingegen der Mann – und das ist der einzige Anflug des Schreckens auf dem Bild – scheint die Endlichkeit aller Dinge und erst recht des Glücks zu ahnen, ein Was-wäre-wenn, das gerade einen Liebenden überfällt: wenn ihr etwas zustieße, wenn es sie nicht mehr gäbe, wenn ich je wieder ohne sie leben müßte. Avicenna lehrt, so habe ich einmal gelesen, daß die Melancholie auf beiden Funktionen des Gehirns beruht, auf dem Denken und der Einbildungskraft – daß sie aus der Gleichzeitigkeit entsteht, Anwesendes zu verstehen und Abwesendes zu evozieren. Der Melancholiker genießt den Sommer, während und sogar: weil er an den Winter denkt, er sieht die Dinge und zugleich ihre Vergänglichkeit.

Der Mann auf dem Bild muß kein Melancholiker sein, er könnte im nächsten Moment schon wieder fröhlicher schauen. Dennoch ist in seinem Blick, so scheint mir, das Wesen der Melancholie eingefangen. Dauerte sie doch länger als einen Moment, sehr viel länger, bliebe sie auf dem Gesicht haften, würde die Melancholie gerade das zerstören, worum ihr bang ist. Die Melancholie verträgt sich nicht mit der Liebe, weil sie unweigerlich den Eindruck hervorruft, nicht zu leben, sondern das eigene Leben zu beobachten, weshalb Avicenna und überhaupt die mittelalterliche Medizin sie als Krankheit behandelten. Als ein Moment jedoch, als der erwähnte Anflug steigert die Melancholie noch einmal dein Gefühl, wo du es schon für das Höchste hieltest. Du trittst aus der Gegenwart und bist gleichzeitig in ihr. Ich stelle mir vor, daß es ein Hinweis ist, der dem Mann auf den Lippen lag, als er den Zeigefinger hob, ein Hinweis, die Dinge für einen Augenblick von außen zu sehen, aber besser, er spricht ihn nicht aus, damit sie nicht zugleich deren Vergänglichkeit sieht.

Und doch hat El Greco das Bild «Christi Abschied von seiner Mutter» genannt und nicht «Liebesidyll» oder so, deutet das Licht um seinen Kopf ein Kreuz an, ist das Helle um Maria bestimmt keine Wolke. Ist es nicht verwunderlich, daß ausgerechnet von den beiden Menschen, die wie keine anderen geliebt, nirgends die Liebe des Mannes und der Frau überliefert ist? El Greco, so scheint mir, hat sich gewundert, als er ihre Lippen so sinnlich malte, daß sie sich jeden Augenblick zu einem Kuß vereinigen möchten. Er hat zwei Blicke hinzugefügt, die in den Evangelien fehlen und doch jeder erinnern müßte, der je groß geliebt.

 

 

ERNIEDRIGUNG

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Nichts erniedrigte Jesus mehr als die Gleichgültigkeit der Kriegsknechte, denen Pilatus die Kreuzigung überantwortet hatte. Warum das Volk, warum besonders die Hohenpriester und Ältesten Jesus nicht nur sterben, sondern öffentlich gemartert sehen wollten, dafür liefern die Evangelien eine Reihe von Gründen, von denen der wichtigste und zugleich banalste der ist, den Pilatus selbst erkennt: Neid, wobei Neid vielleicht zu allgemein ist und man heute, in diesen Jahren, präziser von Ressentiment als jener Abneigung sprechen müßte, die auf Neid, aber eben nicht nur auf Neid, sondern auch auf Vorurteilen und Mißgunst, Furcht und dem Gefühl der Unterlegenheit beruht, also notwendig ins Unbewußte reicht, weshalb das Volk, weshalb die Hohenpriester und Ältesten auf Pilatus’ Frage, was Jesus denn Übles getan habe, keine Antwort wußten, sondern nur noch mehr schrieen und sagten: Laß ihn kreuzigen!

Ohne die Anklage rechtfertigen zu wollen, fühle ich nach, warum die äußerste Demut und die äußerste Anmaßung, die sich in Jesus vereinten, das Volk, zumal die Hohenpriester und Ältesten, zur Weißglut trieben, erst recht wenn ich das apokryphe Kindheitsevangelium des Thomas hinzunehme: Jesus als ein widerwärtiges kleines Ungeheuer, das die Erwachsenen schikaniert und selbst bei kleinen Streitigkeiten sich auf seine jenseitige Vollmacht beruft. Aber auch der Bescheidenheit, der Ergebenheit, dem alles Erdulden, die die Evangelien dem erwachsenen Jesus zuschreiben, ist gewollt oder ungewollt ein Hochmut zu eigen, indem die ostentative Selbstlosigkeit für nachrangig, ja für lachhaft erklärt, was gewöhnlichen Menschen als wesentlich erscheint: das eigene Wohl. In dem Satz von Markus 10,45, er «ist nicht gekommen, daß er