Thomas Schäfer

Was die Seele krank macht und was sie heilt

Die psychotherapeutische Arbeit Bert Hellingers

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Thomas Schäfer

Thomas Schäfer wurde 1960 in Wittlich bei Trier geboren. Er studierte Soziologie und Politikwissenschaft und erlangte 1985 seinen Magister Artium an der Universität Heidelberg. Seit 1993 ist er als Heilpraktiker mit Schwerpunkt Psychotherapie in Heidelberg und Stockach tätig. Zahlreiche Aus- und Weiterbildungen in psychotherapeutischen Methoden, u.a. der Hypnotherapie Milton Ericksons. Veröffentlichungen von mehreren Büchern über Familienaufstellungen, Hildegard von Bingen und Märchen.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an:
Thomas Schäfer
Burgweg 27
78333 Stockach-Wahlwies
Tel.: 07771/919405
Fax: 07771/919406
www.FamilienaufstellungenThoSchaefer.de
E-Mail: tho.schaefer@t-online.de

Allgemeine Informationen (Therapeuten u.a.):
DGfS (Deutsche Gesellschaft für Systemaufstellungen)
Tel.: 089/38102710
www.familienaufstellung.org

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe April 2016

© 2016 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© 1997 / 2016 Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Gettyimages/Datacraft

ISBN 978-3-426-41986-1

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Fußnoten

Die Technik der Aufstellungen wird später beschrieben. Durch solche Aufstellungen kann man herausfinden, wie der Klient mit den Schicksalen anderer Familienmitglieder verbunden ist und welche Haltungen für seine Seele hilfreich sind.

Theoretiker wie Heinz von Foerster, Bateson, Glaserfeld und später der Biologe Maturana haben den Weg für ein konstruktivistisches Denken geebnet.

Siehe »Unterbrochene Hinbewegung« im Kapitel »Eltern und Kinder«.

Einige Klienten allerdings befinden sich in Psychotherapie und können anschließend mit ihrem Therapeuten über die Aufstellung reden.

Da ich meinen Klienten nicht jederzeit eine Gruppe anbieten kann, arbeite ich in meiner Praxis auch mit Platzhaltern. Dazu benutze ich bei Familienaufstellungen bunte Papierscheiben, die mit Pfeilen für die Blickrichtung versehen sind und auf die sich der Klient stellen kann. Sowohl der Klient als auch der Therapeut stellen sich zunächst abwechselnd auf eine solche Scheibe, um körperlich wahrzunehmen, wie sich das Familienmitglied fühlt. Sicherlich hat diese Form des Familienstellens nicht dieselbe Intensität wie mit Gruppenteilnehmern, doch lässt sich auch auf diese Weise Ordnung in das Familiensystem bringen, und es können Lösungen gefunden werden. Voraussetzung ist jedoch, dass man sämtliche Vorbehalte fahren lässt. Mit dem nötigen Ernst kann man sehr schnell eine wirklichkeitsgetreue Körperwahrnehmung erleben. Mittlerweile arbeite ich auch mit den von meiner Kollegin Frau Mack-Hamprecht entworfenen Holzfiguren.

Alice Miller: »Am Anfang war Erziehung«, Frankfurt 1980, und »Das Drama des begabten Kindes«, Frankfurt 1979

Der Mann hatte schon vor vielen Jahren seine asiatische Heimat verlassen und lebte in Deutschland.

Bert Hellinger: »Ordnung und Krankheit«, Videokassette, Heidelberg 1994

Gespräch von Paula Elisabeth Mölk mit der Psychotherapeutin Ilse Maly in der Illustrierten »Die Tirolerin«, 1996

Charlotte Wirl: »Workshop mit Cloé Madanes: Sex, Love and Violence«, in: M. E. G. a. Phon – Informationsblatt der Milton Erickson Gesellschaft, Nr. 22/1995, S. 11ff.

Sigmund Freud: »Angst und Triebleben«, zitiert nach: Ursula Franke: »Systemische Familienaufstellung«, Wien 1996, S. 97

Robert Bly: »Der Eisenhans – ein Buch über Männer«, München 1993, S. 136f.

Robert Bly, ebenda, S. 34

Jolande Jacobi: »Die Psychologie von C. G. Jung – mit einem Vorwort von C. G. Jung«, Frankfurt 1989, S. 123

Das ist bei Jung die Welt der Urbilder bzw. »Archetypen«, die in Märchen und Mythen anzutreffen sind.

C. G. Jung: »Archetypen«, München 1990, S. 32

»Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung«, herausgegeben von Aniela Jaffe, Olten 1990, S. 61

Viele heutigen Jungianer, wie Verena Kast, halten sich nicht mehr an Jungs strenge Definition von Animus und Anima. Für sie haben Frauen auch eine Anima und Männer einen Animus. Damit muss eine (moderne) Jung’sche Sichtweise Hellingers Systemischer Psychotherapie nicht unversöhnlich gegenüberstehen.

»Unreflektiertes patriarchales Denken – ein Gespräch mit Familiensoziologin Marianne Krüll«, in Psychologie heute 6/95, S. 27

Siehe in der Einführung das Unterkapitel: »Beeinflusst der Therapeut, was bei einer Aufstellung dargestellt wird?«

Peter Lauster: »Die Liebe«, Reinbek 1983, S. 186

Thomas Schäfer: »Leben, Werk und Musik der Hildegard von Bingen«, mit der CD »A feather of the breath of God«, München 1996, S. 209, sowie Hildegard von Bingen: »Heilwissen«, herausgegeben von Manfred Pawlak, Freiburg 1994, S. 98

Solche und andere Fragen hat Hans Jellouschek sehr differenziert dargestellt: »Die Kunst, als Paar zu leben«, Stuttgart 1992

Das beinhaltet auch, dass der Mann den Schmerz über den Verlust zulässt und nicht so tut, als wäre nichts geschehen.

»Die Märchen der Brüder Grimm«, München 1989. Der Text folgt der Version 1857. Ausführlich dargestellt habe ich dieses Märchen in dem Buch »Wie der Tod dem Leben dient«, München 2008.

Dieses Beispiel wurde entnommen aus: Thomas Schäfer, »Wenn Dornröschen nicht mehr aufwacht«, München 2001, S. 26

Siehe Kapitel »Wie menschliche Beziehungen gelingen«, Unterkapitel »Die Bindung«

Guntram Colin Goldner: »Zen in der Kunst der Gestalt-Therapie«, Augsburg 1986, S. 44

Alan Watts: »The way of Zen«, New York 1957, S. 20

Man nennt das »außerkörperliche Erfahrung«.

Philippe Aries: »Geschichte des Todes«, München 1995, S. 184

Roy und Jane Nichols: »Begräbnisse – eine Zeit der Trauer und Reife«, in: Elisabeth Kübler-Ross: »Reif werden zum Tode«, Stuttgart 1989, S. 84ff.

Siehe Kapitel »Eltern und Kinder«/Unterkapitel »Die unterbrochene Hinbewegung«

Jeffrey Zeig: »Die Weisheit des Unbewussten – Hypnotherapeutische Lektionen bei Milton H. Erickson«, Heidelberg 1995, S. 195

Diese Aufstellung wurde von Bert Hellinger durchgeführt und bislang in Buchform noch nicht veröffentlicht.

Der Frau wurde der fiktive Name Brigitte gegeben. Bert Hellinger wurde mit »H.« abgekürzt.

Verwendeter Abkürzungsschlüssel
von Bert Hellingers Literatur

Anerkennen, was ist – Gespräche über Verstrickung und Lösung. Mit Gabriele ten Hövel. München 1996: AWI.

Familienstellen mit Kranken – Dokumentation eines Kurses für Kranke, begleitende Psychotherapeuten und Ärzte. Heidelberg 1995. FS.

Finden, was wirkt – Therapeutische Briefe. München 1993: FWW.

Die Mitte fühlt sich leicht an – Vorträge und Geschichten. München 1996: MFL.

Ordnungen der Liebe – Ein Kurs-Buch. Heidelberg 1994: OL.

Schicksalsbindungen bei Krebs – Ein Buch für Betroffene, Angehörige und Therapeuten. Heidelberg 1997: SBK.

Verdichtetes – Sinnsprüche, kleine Geschichten, Sätze der Kraft. Heidelberg 1996: VS.

Zweierlei Glück – Die Systemische Psychotherapie Bert Hellingers. Herausgegeben von Gunthard Weber, Heidelberg 1993: ZG.

 

Eine aktualisierte Literaturliste befindet sich im Anhang.

 

das Manuskript Ihres neuen Buches habe ich mit Interesse und Bewunderung gelesen. Sie haben sich intensiv mit den Ordnungen der Liebe in menschlichen Beziehungen befasst, und Sie haben die besondere Gabe, vielschichtige Zusammenhänge übersichtlich und einfach darzustellen. Aus Ihrer eigenen reichen Erfahrung haben Sie wesentliche Einsichten auch inhaltlich weitergeführt und vertieft. So ist es ein reiches und schönes Buch geworden, und ich bin sicher, dass es vielen Leserinnen und Lesern eine wertvolle Hilfe sein wird, in ihren eigenen Beziehungen versöhnliche Lösungen zu finden.

Ich gratuliere Ihnen dazu

Dank

Mein besonderer Dank gilt Bert Hellinger. Ohne seine Ermunterung wäre dieses Buch nie entstanden. Er stellte mir Material zur Verfügung und hat für meine Fragen immer ein geduldiges Ohr gehabt.

Herzlich bedanken möchte ich mich auch für Anregungen und Kritik bei meiner verstorbenen Frau Elisabeth, Werner Baumgartl und Wolfgang Kasper.

Vorwort

»Gibt es denn gar kein leicht verständliches Buch über Familienaufstellungen?« Diese Frage wurde mir vor zwei Jahrzehnten unzählige Male von Klienten gestellt. Stets musste ich verneinen … Als mich dann Gerhard Riemann von Droemer Knaur fragte, ob ich nicht Lust habe, das erste deutschsprachige Taschenbuch zu diesem Thema zu schreiben, sagte ich zu.

Nie habe ich geahnt, dass dieses Buch zu einem Bestseller werden würde. Es wurde in vielen Buchformaten und Auflagen gedruckt und erschien in zahlreichen Sprachen, sogar im Chinesischen.

1997, im ersten Vorwort, schrieb ich damals: »Auf den folgenden Seiten habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, Bert Hellingers Gedanken zu bestimmten Themen zusammenzufassen und sie einem größeren Leserkreis näherzubringen.« Im Gegensatz zu meinen späteren Büchern habe ich in diesem Werk vor allem Bert Hellinger selber zu Wort kommen lassen, damit der Leser seine Gedanken möglichst authentisch erfassen kann. Wenn ich aus handschriftlichen Notizen aus einem Kurs von Hellinger zitiere, dann muss sich der Leser stets vor Augen halten: Es handelt sich um einen Kurs aus den neunziger Jahren! Aus heutiger Sicht habe ich damit dokumentiert, wie die Aufstellungsarbeit damals Fuß gefasst hat und wie sich ihre inhaltliche Basis herausgeschält hat. Doch auch für die Gegenwart stellt dieses Werk eine bewährte, umfassende und gründliche Einführung in die Familienaufstellungen dar.

In der Tat ist die Zeit seit dem Ersterscheinen nicht stehengeblieben. Bert Hellinger arbeitet heute völlig anders als damals (wer sich informieren möchte: Infos auf www.hellinger.com). Und in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten wurden von einer Reihe von Kollegen die unterschiedlichsten Konzepte entwickelt, wie man mit Aufstellungen arbeiten kann. Doch auch wenn viele Therapeuten neue Methoden der Aufstellungen entwickeln und anwenden: Die sogenannte »Klassische Familienaufstellung« bleibt die Basis jeglicher systemischer Aufstellungsarbeit! Und immer noch wird sie gegenwärtig von der Mehrheit der Aufstellungstherapeuten so verwendet, wie Hellinger sie in den neunziger Jahren entwickelt hat! Ich selber verbinde heute diese jahrelang bewährte (!) Aufstellungsarbeit mit meinem eigenen Konzept des »Aufstellens der Seele«, dargestellt in dem Buch Wie die Seele uns durchs Leben führt (2011).

Bei vielen Themen des vorliegenden Bandes gibt es heute weiterführende Einsichten. Wie könnte es auch anders sein? Zu den ersten großen Folgeauflagen des Werks habe ich noch hier und da versucht, neue Erkenntnisse »einzuschieben«, ohne dass der Lesefluss zu sehr gestört wurde. Doch irgendwann musste ich es aufgeben, sollte das Buch nicht aus allen Nähten platzen … Den meisten Kapiteln bzw. Grundthemen dieser Veröffentlichung habe ich deshalb im Laufe der zurückliegenden Jahre eigene Bücher gewidmet, so zum Beispiel Gesundheit und Krankheit, Partnerschaft, Kinder und ihre Probleme, Beruf und Erfolg, Tod und Sterben u.a. (s. Literaturverzeichnis), in denen ich die Summe der Erfahrungen aus meinen Seminaren und Einzeltherapien dargestellt habe.

 

Stockach, Bodensee, Dezember 2015


Einführung

Schuld und Unschuld, Gewissen, Ordnung, Bindung, Demut und das Ehren der Eltern – so lauten einige zentrale Begriffe der Systemischen Psychotherapie Bert Hellingers. In der gegenwärtigen Psychotherapie hört man diese Ausdrücke eher selten, und manchem erscheinen sie gar anrüchig und verstaubt. So verwundert es nicht, dass sich an Bert Hellinger die Geister scheiden.

Für die einen ist er derjenige, der bestimmten Werten zu einer Renaissance verhilft. Wir leben in einer Zeit, in der sich alles schnell relativiert. Nichts scheint lange Bestand zu haben, obwohl wir uns doch sehr nach Sicherheit und Verlässlichkeit sehnen. Und nun kommt jemand, der endlich Orientierung gibt und in all den persönlichen Tragödien und Schicksalen Ursachen und Sinn erkennt. Zusammenhänge zu verstehen, die wir jenseits des Begreifens wähnten: Das muss eine tiefe Sehnsucht wecken, mit dem eigenen Schicksal in Einklang zu kommen.

Für die anderen ist Hellinger ein konservativer, patriarchalischer Heilsverkünder, dessen »Lehre« in den orientierungslosen Köpfen vieler leichtes Spiel hat. In diesen Zusammenhang passt natürlich der Umstand, dass Hellinger lange Zeit in Afrika Missionar gewesen ist. Nachdem er den Orden verlassen hatte, entdeckte er die Psychotherapie als neues Aufgabenfeld. Um »biblische Psychotherapie« handele es sich, lesen wir in der Überschrift des Editorials der Zeitschrift »Psychologie heute« (6/95). Dort ist auch die Rede von einem »Guru«, der »weiße Magie« betreibt, wenn er in großen Gruppen einen Klienten seine Familie aufstellen lässt.[1]

Viele Therapeuten, die nach Hellingers Methode Familien stellen und seine Einsichten in ihrer täglichen Arbeit berücksichtigen, und viele, die heute mit Sympathie über ihn reden und schreiben, bekennen, dass sie bei der ersten Begegnung mit diesen ungewohnten Einsichten schockiert waren. Mir selbst erging es anders. Ich war tief ergriffen von dem, was ich las (»Zweierlei Glück«) und was ich kurz darauf in Hellingers Seminaren erlebte. Nachdem ich meine Familie aufgestellt hatte, wurde mir nicht nur meine persönliche Geschichte klarer, ich sah auch die Probleme meiner Klienten in einem neuen, ungewohnten Licht. Betroffen und verunsichert ließ mich damals nur eine Sache zurück: Hellingers Umgang mit dem Thema Inzest. Doch mittlerweile habe ich meine Meinung revidiert. Hellingers Sichtweise dieses äußerst heiklen Themas widerspricht zwar dem Zeitgeist, doch kann sie meiner Erfahrung nach den Opfern tatsächlich Heilung bringen (siehe das Kapitel »Eltern und Kinder«).

Unterschiede zu anderen
psychotherapeutischen Ansätzen

In der systemischen Sichtweise der Familientherapie wie auch in den meisten Richtungen der humanistischen Psychologie (Gestalttherapie, Gesprächspsychotherapie nach Rogers, Primärtherapie, Bioenergetik u.a.) spielt die Theorie des Konstruktivismus eine wichtige Rolle:[2] Es existiert keine feststehende Wahrheit, es gibt nichts objektiv zu Erkennendes; unsere Gefühle hängen weitgehend von unseren inneren Vorstellungen ab. In vielen Therapierichtungen geht man davon aus, dass der Klient über einen zielgerichteten Umgang mit sinnvollen Bildern und Vorstellungen die meisten seiner Ziele erreichen kann. Besonders beim NLP (Neurolinguistisches Programmieren), von dem ich als Therapeut viel profitiert habe, findet man recht naive Ansichten darüber, was alles »programmierbar« sei: Reichtum, Heilung von Krankheiten, das Finden des richtigen Partners usw. Die Vorstellung, dass man mit einer kraftvollen »Ressourcen-Mobilisierung« (NLP-Jargon) die meisten seiner Wünsche realisieren könne, ist natürlich nicht auf das NLP begrenzt. Das Credo einer großen Zahl von Therapeuten, zu denen auch ich gehört habe, lautet: »Jeder Mensch ist völlig frei und hat die Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen, wie er das möchte. Dazu muss er nur die verinnerlichten, hemmenden Vorstellungen (›Glaubenssätze‹) durch neue und bessere ersetzen.«

Je radikaler man konstruktivistisch denkt, desto dringlicher stellt sich die Frage nach der Ethik: Wenn jeder frei ist, zu tun und zu lassen, was er will, welche Folgen hat das dann für die anderen?

Hellinger zufolge sind wir nicht so frei, wie wir gerne glauben. Wenn wir ohne die Anerkennung unserer Bindungen handeln, ist das kein freies, sondern ein blindes Handeln. Ein Handeln in Freiheit ergibt sich erst durch die Zugehörigkeit zu einem System (Familie). Ein System definiert sich durch eine Menge von Elementen, zwischen denen bestimmte Beziehungen bestehen. Jede Veränderung eines Elements hat automatisch auch eine Wirkung auf die anderen Elemente. Jeder Mensch ist Teil eines Familiensystems und damit eines Beziehungszusammenhanges. Dadurch hat er Anteil an den Problemen der anderen Familienmitglieder, gleichgültig, ob ihm das bewusst ist oder nicht.

Ein Beispiel: Wenn ein Ehemann seine Frau und seine Kinder mit der Begründung »Ihr seid mir zu langweilig! Ich verlasse euch, weil ich mich erst einmal verwirklichen will« verlässt, mag er von der Richtigkeit seiner Ansicht überzeugt sein. Die Vorstellung, dass Frau und Kinder ihn binden, kann er als »altmodische und hemmende Vorstellung« aus seinem Kopf verbannen und durch Vorstellungen von absoluter Freiheit ersetzen. Doch die Bindung des Mannes an die Familie existiert objektiv weiter, was man als neutraler Beobachter ohne weiteres feststellen kann: Wenn sich jemand leichtfertig von der Familie trennt und nicht mehr für sie sorgt, stirbt nicht selten ein Kind an einer schweren Krankheit, bringt sich um oder entwickelt ein chronisches Leiden. Außerdem wird der Mann wahrscheinlich keine langfristige befriedigende Partnerschaft mehr eingehen können. Eine solch leichtfertige Trennung wird im System als Verbrechen erlebt und hat entsprechende Konsequenzen.

Das von vielen Therapeuten vertretene Credo der Selbstverwirklichung hat Hellinger wegen seiner Auswirkungen auf die anderen energisch kritisiert. Er erwähnt als Beispiel das »Gestaltgebet« des Gestalttherapeuten Fritz Perls, eines Vertreters der humanistischen Psychologie. Sinngemäß lautet es: »Ich mache meine Sache, du machst deine Sache. Wie es dir dann geht, ist nicht mehr meine Sache. Ich gehe meinen Weg.« Hellingers Kommentar dazu: »Hier werden Bindungen verleugnet, und anderen werden die Kosten aufgebürdet. Ich nenne diese Selbstverwirklicher Psychokapitalisten übelster Sorte.« (AWI: 129) Im Gegensatz zu der »Konstruktion der Wirklichkeit«, die jenem verhängnisvollen Credo Vorschub leistet, vertritt Hellinger die »Wahrnehmung der Ordnung«. Was »Ordnung« ist, wird uns in diesem Buch noch häufig beschäftigen. Schon jetzt sei gesagt, dass sie nicht mit landläufigen Vorstellungen verwechselt werden darf.

Anders als die meisten psychotherapeutischen Richtungen kümmert sich Hellinger nicht um die theoretische Begründung seiner Arbeit. Immer wieder betont er, dass er keine »Lehre« oder Theorie geschaffen habe, sondern dass er Phänomenologe sei. Er schaut auf das, was ist, statt sich mit den Vorstellungen und Interpretationen des Klienten zu beschäftigen oder selbst Theorien zu entwickeln. Das, was ist, stellt aber keine objektive Wahrheit oder ein unumstößliches Gesetz dar, sagt Hellinger, sondern lebendige Wirklichkeit; es ist etwas Schöpferisches.

Hellinger unterscheidet auch Beobachten und Wahrnehmen. Beobachtungen führen zu Teilkenntnissen unter Verlust der Gesamtschau. Wenn man das Verhalten eines Menschen beobachtet, sieht man nur Einzelheiten. Wenn ich mich dagegen der Wahrnehmung aussetze, entgehen mir Details, doch ich erfasse sofort das Wesentliche, den Kern, und zwar im Dienste des anderen. Vielleicht kann das ein Beispiel erläutern. Als Kind war ich davon fasziniert, was geschieht, wenn man sich im Dunkeln auf ein winziges Licht konzentriert. Was passiert? Man sieht es nicht! Erst wenn man sich ein wenig entspannt und erweitert schaut, können die Augen es deutlich wahrnehmen.

Die von Hellinger beschriebene Form von Wahrnehmung ist nur möglich, wenn man sich dem Klienten absichtslos und mit der Bereitschaft zur Beziehung zuwendet. Dann entsteht eine innige Verbindung, die mit höchster Achtung, aber auch mit Distanz verbunden ist. Eine innere Distanz muss sich beim Aufstellen aber immer verbinden mit tiefer Achtung vor dem Ratsuchenden. Stets sollte man wahrnehmen können, wie stark oder schwach der seelische Impuls sein sollte, den der Klient benötigt.

Wenn Hellinger bestimmte Zusammenhänge erklärt, wird ihm oft Dogmatismus vorgeworfen. Doch wenn man ihm genau zuhört, wird deutlich, dass es ihm nicht um das Festzurren von einengenden Regeln geht. Wenn in einem Seminar die Frage gestellt wird: »Ist die Dynamik bei dieser Krankheit immer so, wie Sie es hier schildern?«, antwortet er oft: »Ob das in allen Fällen so ist, weiß ich nicht, doch bislang habe ich diesen Zusammenhang immer wieder feststellen können. Wenn Sie oder ich neue Wahrnehmungen machen, wird man erneut darüber nachdenken müssen.«

 

In der Vergangenheit war Hellinger der Umgang mit Theorien durchaus nicht fremd, denn er wurde nach seiner Ordenstätigkeit Psychoanalytiker. Geblieben ist ihm aus dieser Zeit der Blick auf die Familie. Doch wonach er schaut, nämlich nach den Ordnungen, in die wir eingebettet sind, und auch wie er schaut, unterscheidet sich völlig von der klassischen Psychoanalyse, in der viel mit Traumdeutung und Assoziation gearbeitet wird.

Wenn Hellinger auf die Familie blickt, vollzieht er das mit einer bestimmten Grundeinstellung, die sich deutlich von der vieler Psychoanalytiker unterscheidet. Der Mensch kommt aus der Familie. Ihr verdankt er das Leben mit allen Möglichkeiten und Grenzen, und durch sie wird er in bestimmte Schicksale hineingezogen. Aus diesen Gründen gibt es für Hellinger nichts Stärkeres als die Familie, und deshalb darf der Therapeut nicht wichtiger als ein Familienmitglied werden, indem er zum Beispiel Ersatzvater oder Ersatzmutter für den Klienten wird.

Hellingers Umgang mit der Familie ist von tiefer Achtung geprägt. Insbesondere achtet er die Eltern. Elternschaft ist für Hellinger etwas so Wesentliches, dass er sich nie gegen die Eltern stellen würde. Eine solche Haltung muss erstaunen, da wir es doch gewohnt sind, die Eltern für alles Übel verantwortlich zu machen. Auch in der Therapie verbündet sich der Therapeut häufig mit dem Klienten gegen die Eltern oder einen Elternteil. Die oft zu hörende Ansicht »Du musst dich von deinen Eltern befreien« lehnt Hellinger ab. Es ist für ihn absurd, denn: »Wie kann man sich von seinen Eltern befreien? Er oder sie ist ja seine Eltern.« (AWI: 98) Ich bin meine Eltern? Das klingt für viele nach Mittelalter. Was damit tatsächlich gemeint ist, wird im Kapitel »Eltern und Kinder« ausführlich gezeigt werden.

Hellinger leugnet allerdings nicht, dass für den Einzelnen aus der Bindung an die Familie sehr großes Leid entstehen kann. Nur die Schlussfolgerung daraus unterscheidet ihn von den meisten anderen Therapeuten. Statt den Klienten zu bestärken, die Wut gegen die Eltern herauszuschreien, wofür er sich hinterher nur bestrafen würde, bringt er ihn wieder mit der ursprünglichen Eltern-Kind-Liebe in Kontakt, die vor der Wut einmal existiert hat.[3] Wenn aus der Bindung an die Familie großes Leid entsteht und jemanden krank macht, geschieht das nicht, weil irgendjemand böse ist, sondern weil in der Familie Schicksale wirken, die auf alle Einfluss haben.

In Hellingers Arbeit wird die Familie als ein System gesehen, aus dem man sich nicht einfach ausklinken kann. Unsere Eltern haben wiederum Eltern und kommen aus Familien mit bestimmten Schicksalen. All das wirkt sich in der jetzigen Familie aus. Wenn in der Vergangenheit etwas Schlimmes passiert ist, hat das über Generationen hinweg Folgen. Diese unbewussten Verstrickungen bewusst zu machen und die ursprüngliche Liebe wieder zum Fließen zu bringen ist die Aufgabe von Hellingers Form der Familienaufstellungen.

Was ist gute Psychotherapie?

Auch der Rahmen ist bei Hellinger anders als in den meisten klassischen Therapien: Das Familienstellen ist eine gruppentherapeutische Form der Kurzzeittherapie. Hellinger sieht viele Klienten nur ein einziges Mal.[4] Allerdings ist beim Aufstellen vom Therapeuten zu gewährleisten, dass eine Nachbetreuung möglich ist, wenn der Ratsuchende sie benötigt! Eine Psychoanalyse ist dagegen von vorneherein eine sich nicht selten über Jahre erstreckende Einzeltherapie. Dem Faktor Zeit in der Therapie misst Hellinger große Bedeutung zu. In seinem Buch »Verdichtetes« findet sich folgende Geschichte (VS: 73):

Die Dauer

Eine Angestellte sagte zu ihrem Chef: »Mir geht es schlecht. Ich habe eine Psychotherapie begonnen, und der Therapeut hat gesagt, die Psychotherapie brauche fünf Jahre.«

Darauf der Chef: »Er hat gesagt, erst in fünf Jahren kann es Ihnen besser gehen. Kein Wunder, wenn es Ihnen schlecht geht.«

Gute und effektive Psychotherapie besteht für Hellinger darin, dass der Psychotherapeut sich möglichst rasch überflüssig macht.

Die Aufstellungen

Ähnlich wie Träume das persönliche Unbewusste des Träumers widerspiegeln, so spiegelt eine Familienaufstellung das Unbewusste eines Familiensystems. In den Aufstellungsgruppen sitzen die Ratsuchenden in einem Kreis. Der Therapeut fragt den, der aufstehen will, zunächst nach seinem Anliegen. Dann wird entschieden, ob die Herkunftsfamilie oder die Gegenwartsfamilie aufgestellt wird. Daraufhin tritt der Klient in die Mitte des Kreises und bittet den Teilnehmer aus der Gruppe, stellvertretend die Rolle eines Familienmitgliedes zu übernehmen. Auf diese Weise werden Vater, Mutter, Geschwister und ein Stellvertreter für den Aufstellenden ausgewählt. Der Therapeut achtet darauf, dass missliebige oder totgeschwiegene Familienmitglieder, wie uneheliche Kinder, tot Geborene, Psychiatrieinsassen oder frühere Verlobte, nicht übergangen werden. Bei alldem braucht der Therapeut nur wenige Informationen. Charakterisierungen, wie »mein Vater war immer sehr dominant«, sind dabei unwichtig. Allein schicksalsschwere Ereignisse im System sind von Belang, zum Beispiel der Tod einer Mutter im Kindbett oder ein Selbstmord.

Wenn alle Familienmitglieder benannt und ausgesucht sind, nimmt der Klient in gesammelter Haltung die Stellvertreter am Arm und stellt sie nach seinem inneren Bild im Raum auf. Dadurch treten die Stellvertreter untereinander in Beziehung. Anschließend kann sich der Klient wieder auf seinen Platz setzen. Schon allein das äußere Bild der Familienaufstellungen kann in manchen Fällen Aufschlüsse geben. Wenn zum Beispiel Vater und Mutter so aufgestellt wurden, dass sie sich gegenüberstehen, stammt der Betreffende häufig aus einer Familie, bei der die Eltern sich scheiden ließen. Manchmal allerdings ist eine Ehe nur innerlich geschieden, ohne dass es zu einer äußerlich sichtbaren Trennung gekommen wäre.

Wenn alle zueinander in Beziehung stehen, fragt der Therapeut die Stellvertreter, wie sie sich körperlich und emotional fühlen und was sie den anderen Familienmitgliedern gegenüber empfinden. Obwohl es sich bei den Stellvertretern um völlig fremde Menschen handelt, ist es immer wieder verblüffend, wie detailliert diese die Geschichte der Familie darstellen können. Die Stellvertreter fühlen wie die wirklichen Familienmitglieder. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Aufstellung, bei der ich als Stellvertreter das Gefühl hatte, mir wären beide Beine abgeschnitten. Auf Befragen stellte sich heraus, dass der Mann, den ich vertrat, an beiden Beinen amputiert war. In einer solchen Stellvertreterposition kann man die unterschiedlichsten körperlichen Beschwerden wahrnehmen, die der Betreffende hatte oder hat, zum Beispiel einen chronischen Magendruck oder ein Herzrasen. Man spürt auch sofort, wer zu wem Antipathie oder Sympathie empfindet.

Bei einem Seminar hatte eine Klientin ihren Vater aufgestellt, den sie nahezu zwei Jahrzehnte nicht gesehen hatte. Die Art, wie sich in der Aufstellung sein Charakter darstellte, stimmte kaum noch mit dem überein, was ihr die Mutter über ihn erzählt hatte. Schon bald nach dem Seminar fasste sich die Klientin ein Herz und besuchte ihren Vater. Wie sie mir berichtete, war sie ziemlich verblüfft, dass der Vater sich exakt so verhielt wie sein Stellvertreter in der Aufstellung. Es ging sogar so weit, dass der Vater nicht nur inhaltlich dasselbe sagte wie sein Stellvertreter in der Gruppe, sondern dass er sich zum Teil identischer Worte bediente!

Wenn bei einer Aufstellung in der Gruppe jemand vergessen worden ist, zeigt sich das oft daran, dass alle Stellvertreter wie hypnotisiert auf eine leere Stelle schauen. Hier fehlt jemand! Sobald der Betreffende, beispielsweise ein vergessener Selbstmörder, durch einen ausgewählten Stellvertreter auf diesen vakanten Platz gestellt wird, atmen die anderen sichtbar auf.

Nachdem alle Familienmitglieder bzw. Stellvertreter gesagt haben, wie sie sich fühlen, verändert der Therapeut die Positionen der Familienmitglieder, bis eine Ordnung gefunden wird, bei der jeder sich wohl fühlt. Die Suche nach der Lösung dient nicht nur dem Klienten, sondern der ganzen Familie. Der Therapeut orientiert sich dabei an der verbalen wie nonverbalen Resonanz der Aufgestellten: Wie reagiert der Körper? Was teilen Gestik und Mimik mit? Es ist immer wieder erstaunlich, wie schnell man sich an Körpersignalen orientieren kann. Wenn für alle die Lösung gefunden ist, erkennt man das an einem Leuchten in den Gesichtern und der entspannten Körperhaltung.