ZUM BUCH
Im 19. Jahrhundert wurde die Welt von der Industrialisierung, dem Druck der Masse und politischen Kämpfen erschüttert, doch Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard stellten mit radikalem Eigensinn das Selbstgefühl in das Zentrum ihres Schaffens: Werde, der du bist. In ihren Werken, die die System-und Schulphilosophie über den Haufen warfen, verbinden sich individuelle Lebenserfahrungen und Gedanken zu einer bis dahin ungekannten Einheit. Die Schatztruhe der Subjektivität, die Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard auf je eigene Weise fanden, geriet im 20. Jahrhundert in die Hände der Psychologen. Das Ich verlor dadurch seinen aristokratischen Glanz.
Dieses Buch stellt die Verbindung zwischen den drei Außenseitern her und zeigt, dass ihre Werke uns heute im Zuge der Identitätsdebatten viel zu sagen haben.
ZUM AUTOR
Eberhard Rathgeb lebt als Schriftsteller in Norddeutschland. Er war Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ihrer Berliner Sonntagsausgabe. 2013 erhielt er den aspekte-Literaturpreis für seinen Debütroman »Kein Paar wie wir«. 2016 erschien bei Blessing sein viel gelobtes Sachbuch »Am Anfang war Heimat. Auf den Spuren eines deutschen Gefühls«. 2019 folgte »Zwei Hälften des Lebens. Hegel & Hölderlin. Eine Freundschaft«.
EBERHARD RATHGEB
Die Entdeckung des
SELBST
Wie Schopenhauer, Nietzsche und
Kierkegaard die Philosophie
revolutionierten
Blessing Verlag
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Copyright © 2022 by Eberhard Rathgeb und
Karl Blessing Verlag, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Satz: Leingärtner, Nabburg
Umschlaggestaltung: SERIFA, Christian Otto, MÜNCHEN
Umschlagabbildung: Gustave Courbet, Die Begegnung
oder Bonjour Monsieur Courbet, 1854 (Detail)
© akg-images/Fine Art Images/Heritage Images
ISBN 978-3-641-24268-8
V001
www.blessing-verlag.de
»Die Filosofie ist ursprünglich ein Gefühl.«
Novalis
Inhalt
1 Einleitung – Flaschenpost eines Jahrhunderts
2 Keine Philosophie für Bürger – Drei Philosophen lehnen die Moderne ab
3 Der Mensch ist nicht frei – Schopenhauers Welt ohne Hoffnung
4 Probleme mit den Frauen – Eine neue Philosophie aus dem Gefühl
5 Die Wahrheit ist subjektiv – Kierkegaards Glaube an den Einzelnen
6 Eine Psychologie der Identität – Das Ich und sein neues Selbst
7 Das Leben ist nicht demokratisch – Nietzsches Wille zur Macht
8 Ein letzter Augenblick – Abschiede im 19. Jahrhundert
Anhang
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Bildnachweise
1
Einleitung
Flaschenpost eines Jahrhunderts
Heute wird heftig über Identität debattiert. Nietzsche, Schopenhauer und Kierkegaard hatten dafür ein anderes Wort: das Selbst. Es war das Zentrum, um das sie kreisten. Damit standen sie quer zu Philosophie und Wissenschaft ihrer Zeit. Sie pochten auf ihre Identität und ihr Selbstgefühl, an dem die Logik und die Rationalität abprallten wie Pfeile an einem Panzer. Ihre Philosophie ist nicht abstrakt, sondern emotional, sie dient nicht dem Dialog, der Verständigung und der Integration, sondern sie ist Monolog, Selbstvergewisserung und Abspaltung. Motive, die in der Psychologie, und Gründe, die in der Philosophie die entscheidende Rolle spielen, lassen sich bei ihnen ebenso wenig trennen wie intellektuelle Tradition und soziale Herkunft, Ideengeschichte und Lebensgeschichte.
Die Gedanken der drei Außenseiter trafen sich in einem entscheidenden Punkt, in der Ansicht, dass ein Leben gelebt werden muss, um verstanden werden zu können. Sie gingen von ihrem Gefühl für sich selbst aus und haben sich als Menschen, die sich letztendlich selbst ein Rätsel waren, sehr ernst genommen. Sie versuchten, dem Geheimnis, was es heißt, dieser eine bestimmte Mensch zu sein, auf die Spur zu kommen. Ihr Selbstgefühl war eine Lebensstimmung und ließ sich rational nicht rechtfertigen und vermitteln. Wie Aristokraten verweigerten sie sich der demokratischen Integration. Ihre Selbstbehauptung war absolut, nicht relativ. Im Jahrhundert der Moderne, der bürgerlichen Gesellschaft, der Rationalität und der Macht der Mehrheiten, waren sie Ausnahmen, die nicht nur eine neue Art des Philosophierens in die Welt setzten, sondern sich auch dem Zeitgeist radikal verweigerten.
Der Impuls für ihre philosophische Revolution erwuchs aus einer persönlichen Tiefe, in die eine Kultur nicht hineinreicht. Der Ausdruck von Gefühlen mag kulturell geformt werden, die Gefühle selbst entziehen sich dieser Macht. Liebe, Hass, Selbstvertrauen, Angst sind keine Erfindungen der Kultur. In Hinblick auf diese emotionale Tiefe gleicht die kulturelle Identität einem Kleidungsstück, das seine Träger zu tragen gewohnt sind, so, wie ihnen die Muttersprache so lange natürlich und selbstverständlich vorkommt, bis sie eine andere Sprache kennenlernen. Die Erfahrungen von Fremde und Fremdheit, wie psychische Abweichungen oder der verzweifelte und vergebliche Versuch, sich mitzuteilen, erinnert sie daran, dass Sozialisation, der Zugriff von Gemeinschaften und Gesellschaft nicht lückenlos ist, dass die Funktionen in einem System nicht immer restlos ausgefüllt werden.
Das Leben dieser drei Extremisten verlief nicht reibungslos, es war von Irritationen, Rebellion und Scheitern geprägt, von intellektuellen Dissonanzen und emotionalen Brüchen. Sie wurden auf ihr Selbstgefühl zurückgeworfen, an den dunklen Anfang ihrer Individualität, an den Kern ihrer gefühlten Identität, der vor dem Wissen liegt. Das Gefühl der eigenen Identität hat etwas zutiefst Undemokratisches, es verweigert sich der Kommunikation, die auf Verständigung und Integration pocht, es beharrt auf einer eigensinnigen Souveränität, auf dem Unsagbaren. Kunstwerke verweigern sich in gleichem Maße dem Zugriff einer letzten Interpretation. Sie gehen in ihr nicht auf.
Wer dem Selbstgefühl radikal zu folgen in der Lage ist, der verlässt manchmal, nicht nur im übertragenen Sinne, die Heimat der Gewohnheiten, das Geburtsland des konventionell geformten und agierenden Ich, und geht ins Ausland der Ungewissheiten, der neuen Gedanken und Ausdrucksmöglichkeiten. Der emotionale Druck führt über die Grenzen hinaus, die von der Kritik am Gegebenen nur erreicht werden. Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche waren viel mehr als Kritiker ihrer Zeitgenossen, sie standen quer zu ihrer Zeit, sie hoben sich aus ihr heraus, wie das nur denen gelingen mag, die für ihr Denken einen neuen Anfang setzen. Das 19. Jahrhundert kannte viele Kritiker der Gesellschaft, aber nur ganz wenige, die sich dem Sog der Moderne verweigerten und radikal Neues probierten.
Die drei Solitäre schrieben Monologe, wie es sie in dieser ausgeprägten Form in der Philosophie noch nicht gegeben hatte. Als intellektuelle Künstler blieben sie sich treu, ihrem Eigensinn verpflichtet, ihrer Mission. Bettina von Arnim, die aus eigenem Erleben wusste, welche Kraft Gefühle hatten, und die Empfindungen und Stimmungen sehr ernst nahm, nannte das stilistische Mittel für diese Art inwendiger Gespräche »Selbstsprache«.
Jean-Jacques Rousseau war der erste Philosoph, der sich genötigt sah, eine Biografie seiner Gefühle zu schreiben, um sein theoretisches Streben zu legitimieren und zur eigenen Rechtfertigung einzusetzen. Seine Bekenntnisse aus den Sechzigerjahren des 18. Jahrhunderts sollten die Wahrheit seiner intellektuellen Bestrebungen bestätigen durch die Wahrhaftigkeit seiner schonungslosen Selbstbefragung, die auch vor peinlichen Enthüllungen nicht zurückschreckte. Wenn Wahrheit und Wahrhaftigkeit zusammenfielen, dann schien eine Authentizität erreicht, die für die Gegner, die Rousseau auch persönlich angriffen, uneinnehmbar sein musste.
Arthur Schopenhauer, Søren Kierkegaard und Friedrich Nietzsche wollten das eigene Erleben nicht wie ein Hindernis beim Denken umgehen. Bei der Gewinnung neuen philosophischen Landes spielten ihre Erfahrungen eine zentrale Rolle. Sie gingen dennoch davon aus, dass sie konsequent dachten. Konsequenz war eine Bedingung richtigen, logischen Denkens, und wo immer in den unterschiedlichen philosophischen Theorien der Tradition deren Anfänge lagen, die Folgerungen wurden nicht willkürlich gezogen, sondern unter dem Druck, überzeugen, Beweise liefern, sich für den eingeschlagenen Weg rechtfertigen zu müssen. Wenn der Anfang einer Philosophie im eigenen Erleben, im Selbstgefühl lag, wie ließ sich dann ihre Dringlichkeit beweisen? Die drei Einzelkämpfer überließen sich der Leidenschaft, der Kunst der Darstellung, der Rhetorik des Herzens, so, wie ein Liebhaber seinem Liebesgeständnis Druck nicht durch Argumente, sondern durch Stil, durch Eigenart und Vehemenz die nötige Verführungskraft verleiht.
In den Träumereien eines einsamen Spaziergängers, seinem letzten Buch, verschwieg Rousseau nicht, dass er sich als soziales Wesen nur im Plural kannte, sich je nach dem Kontext definierte, in dem er stand und aus dem heraus er mit und gegen andere Menschen agieren musste. Doch die Sehnsucht nach einem Urquell, dem Selbstgefühl, war da und erfüllte sich, als er an einem sonnigen Tag mit einem Boot auf den Bieler See hinausfuhr und den Augenblick als Selbstempfindung in einer Reinheit genoss, die für ihn nur in der Natur zu finden war. Die Zivilisation und die Wissenschaften zerstörten diese Einheit. Kindern, die das Glück hatten, in der Natur aufzuwachsen, war sie zugänglich.
Die Kindheit wird im Leben und Denken der drei sonderbaren Philosophen eine wichtige Rolle spielen. Sie werden deswegen nicht zu einem Fall für Psychologen, die im 20. Jahrhundert ein Selbst nach ihren Bedürfnissen und Theorien zu formen begannen. Der erste Sozialpsychologe, der Amerikaner George Herbert Mead, sah im Selbst ein notwendiges Ergebnis der Kommunikation, den individualisierten Ausdruck einer mächtigen sozialen Allgemeinheit, vor der die drei Selbstdenker flohen. Sozialisation lautete der neue Begriff für die psychische Formung und Eingemeindung eines Menschen in die Gesellschaft durch soziale Kräfte. Das Ich war ein Resultat der anderen. Wenn die Sozialisation nicht gelang, produzierte sie Außenseiter, Fehlertypen, deviantes Verhalten.
Das innere Meer war unheimlich, eine ungezähmte Kraft, ein nicht ausgeschöpftes Potenzial. Wären die drei Philosophen dafür unempfänglich gewesen, hätten sie nicht auf sich gehört, dann wären sie in die Bahnen der Konventionen geglitten, sie hätten Anschluss an ihre Zeit gefunden. Schopenhauer wäre Kaufmann geworden, Kierkegaard hätte eine Pfarrstelle angenommen, Nietzsche wäre Professor der Philologie geblieben. Sie hätten privat und beruflich funktioniert, wie Gleichungen ohne Unbekannte, und wären in den Schlaufen der bürgerlichen Anerkennung hängen geblieben, wie sie der gelungenen Integration zuteil wird. Aber sie rebellierten, etwas in ihnen empörte sich und hieß sie eigene Wege gehen. Sie wurden aus einem inneren Drang heraus ins Abseits getrieben, nicht aus Empörung über die intellektuellen, sozialen und politischen Zustände ihrer Zeit, dank derer sie nur zu Kritikern ihrer Kollegen, ihres Faches, ihres Berufsstandes geworden wären, ohne der Gegenwart den Rücken zu kehren und sich aus der Zeitgenossenschaft herauszulösen. Sogar der radikale Karl Marx schrieb sich mit seiner Kritik der politischen Ökonomie in den Zeitgeist hinein und konnte sich ein Leben ohne Parteiprogramm nicht vorstellen.
Sie würden, dachten die drei Solitäre, dem Leben, ihrem Selbst nur nahekommen, wenn sie ihrem inneren Impuls nachgaben. Wie sie sich dabei im Tiefsten gefühlt haben, das verrieten sie der Nachwelt nicht. Dafür reichen die Wörter und die Gedanken nicht aus. Das Denken ist der Existenz, dem Selbstgefühl immer einen kleinen, aber entscheidenden Schritt hinterher.
Ein Besuch bei ihnen kann die Kraft stärken, die eigene Identität zu behaupten, das eigene Selbstgefühl besser kennenzulernen und zu leben, in einer Zeit, die nur noch Integration durch kommunikative Anerkennung und Desintegration durch kulturelle Identität zu kennen scheint.
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Keine Philosophie für Bürger
Drei Philosophen lehnen die Moderne ab