Buch
Warum Frauen in der Lebensmitte meist den Kürzeren ziehen – ein Buch voller Wut, Kampfgeist und Zuversicht
Frauen halten seit Jahrhunderten den Laden am Laufen, kümmern sich um Kinder und Angehörige. Sie investieren viel in Beziehungen und versuchen zudem, ihren beruflichen Anforderungen gerecht zu werden. Sie kämpfen an allen Fronten und verlieren dennoch. Vor allem in der Lebensmitte gehen immer mehr Ehen und Partnerschaften auseinander. Im Regen stehen diejenigen, die für die Fürsorgearbeit beruflich zurückgesteckt haben: Frauen. Die Politik verweist nur schulterzuckend auf die Gesetzeslage – und die ist aus frauenpolitischer Sicht ein Skandal. Wir sagen: Damit muss Schluss sein. Die Lebensleistung von Frauen – und damit meinen wir Fürsorglichkeit und die Übernahme von Verantwortung für andere – muss endlich anerkannt und sozial abgesichert werden. Frauen sind nun mal anders als Männer, und es ist das weibliche Prinzip, das unsere Gesellschaft zusammenhält.
Autorinnen
Britta Sembach, Jahrgang 1968, studierte Politikwissenschaften, Geografie und Portugiesisch. Sie arbeitete als Reporterin, Redakteurin und Kolumnistin bei mehreren namhaften Medien, darunter die Nachrichtenagentur Reuters und der WDR. Nach fünf Jahren in New York schreibt sie nun wieder Bücher in und über Deutschland. Außerdem hat sie eine Mediations- und Coachingpraxis, die sie mit Leidenschaft betreibt. Sie ist verheiratet und hat zwei Söhne, von denen einer schon erwachsen ist und der andere fast.
Susanne Garsoffky, Jahrgang 1968, studierte Geschichte und Politikwissenschaften. Sie arbeitete als Reporterin, Redakteurin und Chefin vom Dienst bei verschiedenen Tageszeitungen und dem WDR und gestaltete unter anderem das frauenpolitische Magazin frauTV. Seit ihrem Umzug nach Schleswig-Holstein schreibt sie gesellschaftspolitische Bücher, arbeitet als Podcasterin und ist Referentin in der Unternehmenskommunikation eines mittelständischen Unternehmens. Sie lebt mit ihren beiden Söhnen einen Steinwurf von der Nordsee entfernt.
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SUSANNE GARSOFFKY
BRITTA SEMBACH
DIE
KÜMMER-
FALLE
KINDER, EHE,
PFLEGE, RENTE –
WIE DIE POLITIK
FRAUEN SEIT
JAHRZEHNTEN
VERRÄT
Deutsche Verlags-Anstalt
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Viele Frauen und Männer haben uns für dieses Buch ihre Geschichten erzählt. Wir haben ihre Namen und Lebensumstände geändert. Ihre Geschichten sind jedoch wahr und die Zitate authentisch. Wir haben bewusst auf Gendersternchen oder Ähnliches verzichtet, verwenden aber immer wieder zusätzlich zu den männlichen Formen das generische Femininum.
Copyright © 2022 by Deutsche Verlags-Anstalt, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
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Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-26779-7
V001
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EINLEITUNG
1 DIE SCHEIDUNGSFALLE
WER SICH SPÄTER TRENNT, WIRD FRÜHER ARM
Späte Trennung: Ein Trend • Der Preis ist hoch • Ego schlägt Ehe • Ab 50 tut’s richtig weh • Alles neu macht der Mai – nur nicht beim Sex • Das »Frauen-Wegwerf-Gesetz« • Frauen gern allein zu Haus • Monogamie – der Todesstoß? • Mit anderen Menschen schlafen • Männer allein zu Haus • Reden wir über Geld • Für wie doof haltet ihr uns eigentlich? • Scheiden tut weh, vor allem im Portemonnaie • Reden wir über Gefühle • Und jetzt der Rosenkrieg
2 DIE GLEICHMACHFALLE
DER KLEINE UNTERSCHIED IST DOCH GANZ GROSS
Männer sind anders, Frauen auch • Kuscheln verboten • Mama wird’s schon richten • Hypnotisieren wir uns selbst? • Reden wir über Geschlecht • Wer die Macht hat, hat das Geld • Der kleine Unterschied – ein Blick zurück • Der kleine Unterschied ist riesengroß • Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit? • Die langen Schatten von Darwin und Freud • Der Morast, durch den wir waten mussten • Ein Tisch ist ein Tisch • Die Gretchenfrage des Feminismus • Wie alles begann • Exkurs: Eifersucht • Die Umerziehungsmaschinerie • Wollen Männer wirklich wie Frauen sein? • Unterschiedliche Weisen, zu sein • Die Freiheit der Einzelnen, die Missachtung der Vielen
3 DIE KÜMMERFALLE
FÜRSORGE IST DER BLINDE FLECK DER POLITIK
Auch ein Kaffeeklatsch ist Care-Arbeit • Von Musik und anderen Nebengeräuschen • Die Rechnung kommt in der Mitte • Sehenden Auges in den Abgrund • Zeit für Neues • Wir stehen im Regen • Her mit den Billionen! • Jede sorgt für sich allein • Plötzlich sind sie alle arm • Zugewinn – was ist das eigentlich? • Von allem die Hälfte • Auf eigenen Füßen stehen • Sorgen für heißt auch sorgen um • Gefühlsarbeit macht glücklich • Der Dreck muss weg • Einmal Kümmern rund um die Welt • Ausbeutung ist nicht modern • Hausarbeit ist unsichtbarer denn je • Ist das Arbeit oder kann das weg? • Weiber-Wirtschaft • Eine Abgabe fürs Kümmern • Der Fehler liegt im System • Auf die Barrikaden! • Alle denken nur an das Eine • Ein Leben in Wellen
4 DIE ROLLENFALLE
ES WIRD ZEIT FÜR DAS WEIBLICHE PRINZIP!
Warum Frauen nicht die besseren Männer sein müssen • Anders ist besser als gleich • Achtung Backlash • Eine Rolle rückwärts im Netz • Der Fluch des männlichen Prinzips • Der gemachte Mann • Hausmann verzweifelt gesucht • Wir dachten, wir seien schon weiter • Die Zukunft ist weiblich • Aus Minus wird Plus und umgekehrt • Zeit für das weibliche Prinzip • Es lebe der Unterschied
5 RAUS AUS DER KÜMMERFALLE
Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner • Kümmern – ein Milliardenmarkt • Mehr Mütter an die Macht • Eine Utopie? • Gleicher Lohn für unterschiedliche Arbeit • Hilfe im Haushalt • Eine Zukunftsrente für Kinder • Weg mit dem Frauen-Wegwerf-Gesetz • Das große Rad • Endlich ein Leben in Wellen
ANMERKUNGEN
Um es gleich vorwegzuschicken: Wir haben die Nase voll. Gestrichen voll, um genau zu sein. Damit jetzt kein Zweifel aufkommt: Wir sind deshalb nicht verzagt oder kleinlaut, wir sind wütend. Wir fühlen uns im Stich gelassen, verraten und verkauft. Und wir haben jeden Grund dazu. Warum das so ist? Weil wir alles geleistet haben, was Frauen im 21. Jahrhundert aus Sicht der politisch Verantwortlichen zu leisten haben. Wir haben sämtliche uns angebotene Chancen ergriffen, gewissenhaft Ausbildungen absolviert und Studiengänge abgeschlossen. Wir arbeiten in aufreibenden Berufen und zahlen dafür in einem nicht unerheblichen Maße Steuern und Sozialbeiträge. Damit nicht genug, haben wir auch noch die durchschnittliche Geburtenrate unseres Jahrgangs übererfüllt und je zwei Kinder geboren, die wir mit vollem Einsatz zu halbwegs zufriedenen Menschen zu erziehen versuchen. Und zwischendurch führen (oder führten) wir mehr oder weniger glückliche Ehen, füllen Kühlschränke, denken an Arzttermine, kochen Mittagessen und/oder Abendbrot und kümmern uns um unsere Eltern. Dafür hätten wir und alle anderen Frauen, die ihre Leben Tag für Tag, Jahr für Jahr so oder so ähnlich leben, mindestens die Zusicherung einer auskömmlichen Rente, wenn nicht gleich einen Lebensleistungsbonus in sechsstelliger Höhe verdient.
Frauen wie wir, Mitte vierzig bis Ende fünfzig, lachen schon an dieser Stelle laut auf. Wir müssen nicht erst unsere Rentenbescheide öffnen, um zu wissen, wo wir stehen. Die Quadratur des Kreises ist den meisten von uns nicht gelungen. Wir haben Familie und Beruf nur in einer Teilzeitstelle miteinander vereinbaren können, dafür auf Gehalt und Karrierechancen verzichtet und damit natürlich auch auf einen auskömmlichen Rentenanspruch im Alter. Dieser Spagat hat uns oft ans Ende unserer Kräfte und unsere Ehen an den Rand der Belastbarkeit getrieben, bei vielen ist nur noch ein Trümmerfeld übrig. Wer sich in der Lebensmitte trennte, dem brach auch noch der letzte Rest partnerschaftlicher Unterstützung weg, und vielen, auch uns, wird erst jetzt bewusst, dass das aktuelle neue Unterhaltsrecht uns keinerlei Schutz bietet. Willkommen in der Kümmerfalle.
Dies ist vielleicht unser persönlichstes Buch. Eine von uns hat eine schwierige und schmerzhafte Scheidung nach einer langen Ehe hinter sich, immerhin aber hat sie die meiste Zeit ihres Berufslebens fest angestellt und fast immer in Vollzeit gearbeitet. Die andere hat als Zuverdienerin und Freiberuflerin einen, zumindest was die eigenständige finanzielle Absicherung angeht, unsicheren Platz in ihrer langjährigen Beziehung. Allerdings hat sie einen Partner an ihrer Seite, der Ehe ganz selbstverständlich als eine Wirtschaftsgemeinschaft sieht, sein verdientes Geld als gemeinsames Einkommen betrachtet und sich ihrer enormen Leistungen als die Kümmernde bewusst ist.
Wären wir Soziologinnen, würden wir wahrscheinlich sagen: Jede Einzelne von uns wird zu einem Symbol für das Ganze. Und das bei aller Einzigartigkeit jeder individuellen Geschichte. Wir werden in diesem Buch einige solcher Geschichten erzählen, und es ist sicher kein Zufall, wenn Ihnen das ein oder andere Detail vertraut vorkommt. Leider ähneln sich die Geschichten trotz der persönlichen Besonderheiten oft. Vor allem dann, wenn es unschön wird.
Das hat viel mit der ungleichen Verteilung von Sorgearbeit in Partnerschaften zu tun. Denn es sind immer noch wir Frauen, die den Löwenanteil an unbezahlter Arbeit in der Familie leisten. Wir wissen ganz genau, dass wir das eigentlich nicht tun sollten. Die politischen Signale, sogar die entsprechenden Gesetze, sind eindeutig. Seit Jahrzehnten wird uns um die Ohren gehauen, dass wir auf keinen Fall Zeit in Haus- und Sorgearbeit, dafür aber viel Zeit in Ausbildung, Beruf und Erfolg stecken sollen. Wir wissen das – und tun dennoch Letzteres viel mehr als Ersteres.
In diesem Buch wollen wir hinschauen, warum das trotz des wachsenden politischen Drucks und des Wissens um die drohende Altersarmut immer noch so ist. Eine Erklärung ist: Weil es diese Arbeit nun einmal gibt. Weil Kinder großgezogen, alte Menschen gepflegt und Haushalte geführt werden müssen. Und zwar 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Da kommt kein Dienstleister mit. Väter oder Söhne schon eher, aber bei ihnen ist trotz anderslautender Bekundungen kein messbarer Verhaltensunterschied zu sehen, wir werden später darauf zurückkommen. Die Arbeit ist da, wir machen sie und werden dabei alleingelassen.
Von unseren Liebsten, von unseren Arbeitgebern, und ja, leider auch von diesem Staat. Eines muss dabei klar sein: Wir übernehmen diese Sorgearbeit nicht nur aus Nachgiebigkeit oder mangelndem Kampfgeist, sondern auch, weil wir es wollen. Weil die Menschen, um die es dabei geht, uns am Herzen liegen. Wir übernehmen Verantwortung für Aufgaben, ohne die ein Miteinander undenkbar ist. Wir geben zu: Auch wir haben über 20 Jahre, zwei Kinder und zwei Bücher dafür gebraucht, um zu erkennen, in welche Falle wir getappt sind. Denn das ist ja das tückische an Fallen: Sie sind gut getarnt, im Unterholz versteckt, sie schnappen erst zu, wenn es zu spät ist.
Wir haben zu gerne dem Märchen geglaubt, dass diese Arbeit, die wir plötzlich mit der Familiengründung im Übermaß tun mussten, nicht wichtig und mit Leichtigkeit zu bewältigen oder abzugeben sei. Wir sind dem Ruf nach unserer eigenen Emanzipation gerne gefolgt, wir wollten in unseren Berufen bestehen und erfolgreich sein, irgendwann auch Familie haben, und haben erst sehr spät gemerkt, dass wir plötzlich zwei Jobs hatten: Unseren eigentlichen und den einer Hauswirtschafterin. Auf Letzteren hatte uns aber niemand vorbereitet, es hatte uns niemand gewarnt. Wie sollte man auch: Denn diese Arbeit gibt es als Arbeit bis heute offiziell nicht. Sie wurde mit der Industrialisierung ins Private verschoben, als Zeitvertreib geringgeschätzt – und damit dem Individuum überlassen. Sie verschwand so aus der öffentlichen Sichtbarkeit und dem Diskurs. Einziges Problem: Sie musste immer noch erledigt werden, denn sie war ja de facto noch da. Das war so lange zu bewältigen, solange Partnerschaften so funktionierten, dass einer (fast immer der Mann) das Geld verdiente und eine (fast immer die Frau) sich um den Rest kümmerte.
Spätestens seitdem der Anspruch an Frauen, am besten immerzu und ununterbrochen vollerwerbstätig zu sein, eindeutig formuliert wurde, brach dieses Konstrukt zusammen. Noch einmal: Die Arbeit war immer noch da. Was dann passierte, haben wir in der Alles ist möglich-Lüge schon detailliert beschrieben:
Wir haben als junge Mütter verzweifelt versucht, es irgendwie hinzukriegen. Jede neu gegründete Familie nach uns steht seither vor demselben Problem. Und alle denken, wie wir damals auch, sie seien ganz allein dafür verantwortlich, wenn es nicht klappt. Auch deshalb sind wir entsetzt: Weil sich, wenn überhaupt, Grundlegendes nur im Zeitlupentempo verändert, Verbesserungen – vor allem für Frauen und Kinder – nur in homöopathischer Dosis verabreicht werden. Die Einführung einer Kindergrundsicherung, einer finanziellen Unterstützung haushaltsnaher Dienstleistungen, wie sie die neue Bundesregierung jetzt plant, sind begrüßenswert, aber waren eigentlich schon vor mindestens einem Jahrzehnt fällig.
Und es ist noch lange nicht genug. Denn nach wie vor ist vor allem die Existenz von Müttern bedroht, wenn Ehen scheitern und sie im Beruf schlecht bezahlt mit verringerter Stundenzahl arbeiten.
Jede Häme an dieser Stelle ist unangebracht, ja eine Frechheit. Und wahnsinnig ungerecht. Denn: Wir sind nicht feige. Wir sind nicht dumm oder unbegabt, nicht bequem und auch keine Schattenfrauen. Wir sind Mütter und Töchter und Ehefrauen. Wir lieben unsere Kinder und haben sie trotz aller Schwierigkeiten großgezogen. Egal, welches Verhältnis wir zu unseren Eltern haben – wir kümmern uns jetzt im Alter um sie.
Wir alle haben viel in unsere Beziehungen gesteckt. Viel Kraft, viel Zeit, viel Liebe und viel Aufmerksamkeit. Das haben wir gerne getan und meist ohne darüber nachzudenken, was wir am Ende dafür bekommen. Jetzt aber, in der Mitte unseres Lebens, kommt etwas auf uns zu, womit wir nicht gerechnet haben: Wir erhalten die Quittung dafür, wie wir unser Leben und unsere Beziehungen führen. In der Mitte unseres Lebens wird abgerechnet. Unsere Kinder gehen aus dem Haus, ohne sich umzudrehen, viele unserer Männer haben uns betrogen, verlassen und feilschen mit uns seit Jahren um Kindesunterhalt und die Aufteilung unserer Ersparnisse, oft genug ziehen sie uns dabei gnadenlos über den Tisch – und der Gedanke an unser Leben im Alter erfüllt uns mit Furcht.
Aber statt Unterstützung ernten wir Spott. Wir lesen, dass wir uns besser um unsere Altersvorsorge statt um unsere Kinder hätten kümmern sollen. Dass wir selbst schuld seien, wenn uns die Vereinbarkeit nicht gelungen ist und unsere Männer uns als erschöpfte Teilzeitarbeiterinnen nicht mehr sonderlich attraktiv und spannend finden.
Dies ist ein Buch von und für Frauen in der Lebensmitte. Und für junge Frauen, die alle diese Erfahrungen noch machen müssen. Die ihre Partnerschaften mit Streitereien belasten müssen, wer wann das Klo putzt und das Erbrochene der lieben Kleinen aufwischt. Es ist ein Buch für Frauen, die sich allen Anforderungen gestellt, mit den damit verbundenen Schwierigkeiten gekämpft und viele davon souverän gemeistert haben. Frauen, die dachten, sie hätten es endlich geschafft. Nun müssen sie und wir erkennen: Wir haben viel geleistet, auf allen Ebenen, beruflich wie privat – und stehen trotzdem im Regen.
Unsere Renten sind halb so hoch wie die der Männer, das Gesetz schützt uns im Falle einer Scheidung seit der Reform des Unterhaltsrechts 2008 bewusst nicht mehr, und wir erleben um uns herum eine Altersdiskriminierung, gerade in der Wirtschaft, die wir nie für möglich gehalten hätten. Zu einem Zeitpunkt, an dem wir genau das Gegenteil davon bräuchten: Anerkennung und Unterstützung für einen Neustart; Möglichkeiten, noch einmal richtig loszulegen. Vom Ideal einer On-Off-Biografie, das wir in unserem Buch Die Alles ist möglich-Lüge beschrieben haben, einem sozial abgesicherten Wechsel zwischen Phasen intensiver Berufstätigkeit und intensiver Sorgearbeit, sind wir weit entfernt.
Dass umfassende Berufstätigkeit für Frauen heute selbstverständlich ist, müssen wir hier nicht erwähnen. Keinesfalls selbstverständlich ist aber, dass Frauen immer noch einen Großteil der Beziehungs- und Care-Arbeit1 leisten. Obwohl klar ist, dass diese Arbeit weder bezahlt noch wertgeschätzt noch unterstützt wird. Warum, um Himmels willen, tun sie das? Wo bleibt der landesweite Aufstand von Frauen? Warum hören wir nicht einfach auf, uns zu kümmern, und überlassen die Kinder, Alten und Kranken sich selbst?
Die Beantwortung dieser Fragen ist komplexer, als man auf den ersten Blick meinen mag. Natürlich können wir historische und soziokulturelle Gründe dafür anführen. Gängige Argumente sind, wir seien halt so erzogen worden, wir übernähmen mehr oder weniger unreflektiert tradierte Rollen, wir folgten einem übersteigerten Frauen- und Mütterbild. Besonders interessant daran ist: Selbst Frauen, die anders erzogen wurden, die bewusst tradierte Rollenbilder ablehnen, die in vermeintlich gleichberechtigten Partnerschaften leben, finden sich irgendwann in der Kümmerfalle wieder.
Mittlerweile müsste aber allen klar sein, welches Risiko das Sorgen für andere birgt. Sich um andere zu kümmern, ist in einer Gesellschaft, in der die Existenz fast ausschließlich vom eigenen Erwerb abhängt, nahezu lebensgefährlich. Also noch einmal: Warum übernehmen Frauen immer noch neben der Erwerbsarbeit den Löwenanteil der Fürsorgearbeit, was läuft da schief?
Es gibt gute Gründe dafür. Sie liegen jenseits von Konventionen, Erziehung und historischen Rollenbildern. Wir werden sie in diesem Buch vorstellen und diskutieren. Eines vorweg: Uns haben diese Erkenntnisse entlastet und neue Perspektiven eröffnet. Wir müssen uns nicht schuldig oder falsch fühlen, wenn wir Hausaufgabenbetreuung für sinnvoll erachten, drei Mal in der Woche den Haushalt der Schwiegermutter schmeißen oder im Lockdown plötzlich jeden Mittag wie selbstverständlich für alle das Essen auf den Tisch stellen. Im Gegenteil: Es ist unsere Stärke, dass wir das tun, und es ist eine Qualität, die allen zugutekommt. Und für die wir uns nie mehr rechtfertigen wollen.
Gleichzeitig aber macht Kümmern enorm verletzlich. Weil es abhängig macht. Der Umkehrschluss kann aber nicht sein, dass wir uns deshalb nicht mehr kümmern. Stattdessen müssen wir das Kümmern aufwerten. Initiativen dafür gibt es genug und seit Jahren – passiert ist nichts. Und wir müssen Erwerb neu denken. Wie kann es sein, dass Erwerbsarbeit immer noch nach männlichen Spielregeln abläuft? Höher, schneller, weiter statt weniger, intensiver und nachhaltiger? Die Rufe nach einer Familienarbeitszeit von 30 Stunden schallen seit Jahren ungehört durch die Republik. Wie kann es sein, dass der Druck auf Wirtschaft und Politik offenbar immer noch nicht hoch genug ist, um Arbeit und vor allem Arbeitszeit, Zeitregime überhaupt, anders zu denken und zu strukturieren?
Wir haben unsere Leben genug optimiert und angepasst. Dass wir jetzt trotzdem in der Kümmerfalle sitzen, ist nicht unsere individuelle Schuld, es ist strukturelles Versagen. Auch deshalb greift allein der Ruf nach mehr Beteiligung der Männer an der Sorgearbeit viel zu kurz. Das kann keine Lösung sein für den Konflikt zwischen Sorge- und Erwerbsarbeit. Warum das so ist, werden wir in den folgenden Kapiteln ausführlich erläutern.
Dieses Buch ist ein Plädoyer für mehr Zusammenhalt und für einen Blick auf Frauenleben aus allen Generationen, so unterschiedlich sie auch sein mögen. Und eine politische Aufforderung zum Aufruhr. Denn wir können etwas ändern. Wir sind viele. Wir sind die Frauen der Babyboomer-Generation, eine Generation Frauen, für die es selbstverständlich ist, den Mund aufzumachen. Wir können sicher sein: Wenn wir zusammenhalten, wenn wir Gerechtigkeit fordern, wenn wir laut sind, wird man uns hören. Vielleicht haben wir gerade jetzt – weil die Pandemie ein Schlaglicht auf vieles vorher Unsichtbares geworfen hat – die Chance zu einer Veränderung, von der nicht nur wir, sondern auch unsere Söhne und Töchter profitieren können.
Frauen werden noch immer nicht genug gehört und gesehen. Dabei ist jedes Frauenleben immer zutiefst politisch. Weil ihre Entscheidungen unsere Gesellschaft gestalten, prägen und verändern. Frauen wirken durch ihre Art, Beziehungen zu führen, ihre Möglichkeit, Kinder zu bekommen und sie von Anfang an zu prägen, tief in die Gesellschaft hinein.
Wie tief, das zeigt exemplarisch die Situation in den neuen Bundesländern. Dort hat schon vor Jahrzehnten, gleich nach dem Mauerfall, eine Entwicklung eingesetzt, deren Folgen vollkommen unterschätzt wurden: Frauen verließen ländliche Regionen und suchten ihr Glück woanders. Gut ausgebildete, junge Frauen, die ihr Leben in die Hand nehmen und nicht in strukturschwachen Räumen versauern wollten. Das hatte gravierende Folgen. Frauen, die nicht mehr da sind, feiern keine Kindergeburtstage, backen keine Muffins für Schulfeste, pflegen keine Mütter oder Schwiegereltern und spülen kein Geschirr nach dem Grillabend im Verein. Männer haben diese Rollen nicht übernommen. Im Gegenteil, wie eine Studie des Berliner Instituts für Bevölkerung und Entwicklung zeigt: Sie trauten sich nicht, etwas Neues zu wagen, waren unbeweglich, vereinsamten und wurden entweder depressiv oder aggressiv.2
Frauen sind für den Zusammenhalt unerlässlich. Unsere Art, Beziehungen zu pflegen und in Bindungen zu investieren, ist ein konstituierendes Moment unserer Gesellschaft. Das liegt auf der Hand und ist erforscht. Trotzdem werden diese Qualitäten nicht wertgeschätzt, geschweige denn abgesichert. Wie kann das sein?
Dieses Buch ist eine Fortschreibung unserer Kampfschrift Die Alles ist möglich-Lüge. Und weil wir immer wieder junge Frauen treffen, die uns auch heute noch sagen – übrigens genau wie wir damals in unseren Zwanzigern – »Frauenbewegung brauchen wir nicht mehr. Wir sind emanzipiert und gleichberechtigt genug«, ist es auch ein Buch, das auf den Nachttischen der Töchter, Schwiegertöchter und Enkelinnen landen sollte. Weil wir doch irgendwann mal anfangen müssen, aus der Geschichte, ja aus dem, was gerade vor unserer Nase passiert, zu lernen und nicht immer dieselben Fehler zu machen.
Die aktuelle gesellschaftliche Debatte um die drohende Altersarmut von Frauen macht deutlich, wie brisant dieses Thema ist. Alle Frauen, die wir dazu interviewt haben, vor allem diejenigen, deren Ehen relativ spät im Leben gescheitert sind – im Übrigen ein eher neuer und politisch nicht zu vernachlässigender Trend –, haben davor Angst. Aus guten Gründen. Es bedarf einer gesellschaftlichen Diskussion darüber, wie es so weit kommen konnte, wie man gegensteuern kann und wie die Verantwortung wieder bei den Richtigen ankommt. Denn Frauen sind mitnichten selbst schuld an dieser Situation. Wir sind auch nicht zu blöd, die negativen Folgen unserer privaten Entscheidungen einzuschätzen. Wir treffen sie aber dennoch. Aus zutiefst menschlichen Gründen.
Aus dieser Beziehungsarbeit entstehen vor allem für Frauen existenzielle Probleme – das darf in einer Gesellschaft, die sich Gleichstellung und Gleichberechtigung auf die Fahnen geschrieben hat, nicht sein. Die einzige Antwort, die man darauf derzeit hört, lautet sinngemäß: Lebe halt wie ein Mann, dann bist du sicher. Aber das ist zu wenig und zu kurz gedacht. Fakt bleibt: Wir zahlen jetzt, ab 50, die Zeche für die Fehler der Politik vor allem im Bereich Fürsorgearbeit und Familienpolitik der vergangenen 25 Jahre.
Zur kaum entrinnbaren Falle wird das Ganze, wenn die Ehe scheitert und der Partner, auf den man sich verlassen hatte, nichts anderes im Sinn hat, als schnell viel Geld zur Seite zu schaffen. Bitter wird es, wenn man merkt, dass es keinerlei Solidarität mehr gibt mit der Mutter seiner Kinder. Der Unwille zur nachehelichen Solidarität ist in Deutschland, so Experten im Zweiten Gleichstellungsbericht für die Bundesregierung, besonders groß (siehe Kapitel 3). Und nicht einmal mehr das Gesetz schützt Frauen vor dem Sturz ins Bodenlose. Frauen, die einen großen Teil ihres Lebens damit verbracht haben, dem Mann eine gute Berufstätigkeit zu ermöglichen, indem sie neben ihren eigenen Jobs weitgehend hauptverantwortlich waren für die Kinder, den Haushalt und die sozialen Kontakte.
Wenn man sich die gesellschaftliche Realität in Deutschland ansieht, erkennt man sehr schnell, dass unser sozialpolitischer Rahmen nicht in der Gegenwart angekommen ist. Wir schleppen einen Regel- und Werteballast mit uns herum, der aus einer anderen Zeit stammt. Wir stülpen ihn jungen Familien über, die anders leben wollen, und wundern uns, dass das nicht zusammenpasst. Dennoch versuchen alle, sich durchzuwurschteln und individuelle Lösungen für die strukturellen Probleme zu finden.3 Der Vollständigkeit halber zählen wir hier die schlimmsten Stolpersteine auf dem Weg in eine moderne, gleichberechtigte Gesellschaft noch einmal kurz auf:
• Altersarmut ist weiblich. Im Durchschnitt erhalten Frauen in Deutschland 45 Prozent weniger Rente als Männer. Damit belegt Deutschland neben Luxemburg den unrühmlichen Spitzenplatz in Europa.
• Das Steuerrecht unterstützt immer noch Alleinverdiener-Ehen. Es setzt starke Anreize, damit die sich kümmernde Person beruflich enorm zurücksteckt, dabei aber keine eigene Altersvorsorge aufbaut. Bleibt abzuwarten, wie die geplante Reform des Ehegattensplittings der Ampelkoalition ausformuliert und angewandt wird. Das Grundproblem bleibt aber: Die Sorgearbeit und ihre Absicherung werden nicht thematisiert.
• Wenn die Ehen scheitern, bestraft das Scheidungsrecht Fürsorge sogar regelrecht. Wie diese gravierende Ungerechtigkeit beseitigt werden kann, dafür gibt es zurzeit noch gar keine Ideen. Altersarmut bleibt ein Schreckgespenst, weil Care-Arbeit nirgends anerkannt wird. Nicht mal vom eigenen Mann und Vater der Kinder, der davon enorm profitiert hat. Und im Fall einer Trennung relativ unbeschadet vom Hof reitet, während Frauen existenziell bedroht sind.
• Die Vereinbarkeit ist eine Lüge. Der Spagat zwischen Familie und Beruf war und ist nicht zu schaffen. Wenn die Kinder aus dem Haus sind, wird uns klar, welchen Preis wir für eine falsche Arbeits- und Sozialpolitik zahlen, weil es immer noch keine Wiedereinstiegsprogramme und keine späten Karrieren gibt.
• Der »neue« Mann ist ein Mythos oder zumindest ein relativ seltenes Exemplar. Zur Lösung sämtlicher Probleme wird er gerne herbeigewünscht oder auch mal herbeigeredet, allein: Es stimmt nicht, dass Männer nur darauf warten, endlich regelmäßig den Wasserkocher entkalken zu dürfen. Es ist ein Märchen, dass er nur von schlechten politischen Rahmenbedingungen, der fehlenden Toleranz in Unternehmen oder der eigenen Partnerin davon abgehalten wird. Selbstverständlich gibt es fürsorgliche Männer, die – wie die meisten Frauen zusätzlich zu ihrem Job – ihre Kinder gerne erziehen, den Haushalt schmeißen, alle Arzttermine im Blick haben und die Geschenke für den nächsten Kindergeburtstag kaufen. Aber ihre Anzahl ist immer noch beschämend gering. Männer verbringen durchschnittlich nur halb so viel Zeit mit Fürsorgearbeit wie Frauen. Noch skandalöser ist der Anteil bei Familien mit betreuungspflichtigen Kindern. Da liegt der Unterschied aktuell bei 83,3 Prozent!4
• Pflege ist immer noch meistens Privatsache, sie wird zu Hause geleistet und vor allem von Frauen. Fast 75 Prozent aller alten Menschen werden zu Hause gepflegt.5 Davon mehr als zwei Drittel von ihren Angehörigen, in der Mehrzahl von Töchtern und Schwiegertöchtern zwischen 45 und 60, also von uns. Kaum sind die Kinder aus dem Haus, droht uns also das nächste Vereinbarkeitsproblem. Wieder keine Zeit und Kraft für eine Vollzeitstelle, wieder ein Ausfall in der Rentenkasse. Wir zahlen die Zeche für eine verfehlte Pflege- und Gesundheitspolitik.
• Wir sind die erste Frauengeneration, die mit dem Gedanken aufgewachsen ist, wir könnten alles genauso gut wie Männer, uns stehe die Hälfte von allem zu und Gleichberechtigung sei selbstverständlich. Wir haben den Feminismus der dritten Welle nicht für notwendig gehalten, weil wir davon ausgegangen waren, dass wir längst auf Augenhöhe mit Männern sind. Wir hatten das Selbstbewusstsein der gut ausgebildeten jungen Frauen, die auch heute wieder sagen: »So etwas kann und wird mir nicht passieren«, wenn uns erfahrenere Frauen vor den Fallstricken gewarnt haben. Was wir uns – auch schon vor über 20 Jahren! – überhaupt nicht vorstellen konnten: Haben wir Beziehungen und übernehmen Verantwortung für andere, werden etwa Mutter, ist es schneller mit der Gleichberechtigung vorbei, als wir gucken können. Und das nicht, weil wir nicht wollen oder nicht leistungsbereit sind. Wir haben versucht, unsere Leben individuell zu optimieren. Aber niemand hat sich bisher erfolgreich politisch dafür eingesetzt, die Weichen für ein gleichberechtigtes Leben auch in den Familien und am Arbeitsplatz zu stellen. Elterngeld hin und Kitaausbau her. Fürsorgearbeit ist nach wie vor nicht abgesichert und führt im schlimmsten Fall zu einem prekären Leben.
Alle diese Zumutungen wollen wir nicht länger hinnehmen. Wir wollen auch, dass die Generationen nach uns nicht immer wieder dasselbe erleben und erfahren und letztlich an den Strukturen scheitern müssen. Und: Wir haben keine Lust mehr, für das bestraft zu werden, was eine Gesellschaft dringend braucht und was viele von uns tatsächlich verantwortungsbewusst und mit Leidenschaft tun. Wir fordern eine echte Gleichstellungspolitik, in der alle Rahmenbedingungen auf ihre Konsequenzen für Frauen hin überprüft werden. Und eine Sozialpolitik, die Fürsorge für andere endlich anerkennt und absichert!