Verlag C.H.Beck
In Irak und Syrien mündet der jahrhundertealte Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten, den größten Glaubensrichtungen im Islam, gerade in einen blutigen Religionskrieg. Wie kommt es zu dieser Zuspitzung, und wie kam es überhaupt zu der Spaltung des Islams? Heinz Halm beschreibt allgemeinverständlich die Glaubensvorstellungen der Schiiten und ihre mehr als 1300 Jahre alte religiöse Tradition, deren Kern Bußprozessionen und Passionsspiele sind. Von hier aus macht er den Zusammenhang zwischen der Religion der Schiiten und ihrem politischen Anspruch in der Gegenwart deutlich.
Heinz Halm war Professor für Islamwissenschaft an der Universität Tübingen und gilt international als einer der besten Kenner des schiitischen Islams. Zuletzt erschien von ihm «Kalifen und Assassinen. Ägypten und der Vordere Orient zur Zeit der ersten Kreuzzüge» (2014). In C.H.Beck Wissen liegen von ihm außerdem vor: «Der Islam» (9. Aufl. 2014) sowie «Die Araber» (3. Aufl. 2010).
Einleitung
I. Die zwölf Imame
Der Befehlshaber der Gläubigen ‛Alî ibn Abî Tâlib (656–661)
Der Verzicht al-Hasans (661)
Die Tragödie von Kerbelâ (680)
Die Ursprünge der schiitischen Religiosität: Der Zug der «Büßer» (684)
Abschied von der Politik: Der sechste Imam Dscha‛far as-Sâdiq (702–765)
Die Deportation des siebten Imams (796)
Der achte Imam ‛Alî ar-Ridâ als Thronfolger (816)
Der Schrein von Qom
Die Imame in Samarra (836–873)
Die Entrückung des zwölften Imams (873)
Die vierzehn Unfehlbaren
Die Wiederkehr des Mahdi
II. Geißlerprozession und Passionsspiel
Die Ursprünge des ‛Âschûrâ-Rituals
Die Schiitisierung Irans unter den Safaviden (1501–1722)
Die Elegie
Die zehn Tage des Muharram
Das Passionsspiel
Brustschläger und Geißler
III. Der Islam der Mollâs
Die Stellvertretung des Verborgenen Imams
Das Geld des Imams: der Fünft
Mitarbeit in der Regierung (10.–11. Jh.)
Die Grundlagen des schiitischen Rechts: die «Vier Bücher»
Das neue Zentrum: al-Hilla (13.–14. Jh.)
Die Basis der Macht der Mollâs: das Prinzip des Idschtihâd
Die Entstehung des schiitischen Klerus (16. Jh.)
Monarchie und Klerus als Rivalen (17. Jh.)
Usûlîs und Achbârîs: Rationalisten und Traditionalisten (17.–18. Jh.)
Weltlicher und geistlicher Arm (19. Jh.)
Die «Instanz der Nachahmung»: Mardscha‛ at-taqlîd
IV. Die revolutionäre Schia
Der Kampf gegen die Verwestlichung
Der Aufstieg von Qom
Schiitische Revolutionsideologie
Chomeinî und die «Regierung des Experten»
Der revolutionäre Führer
Idschtihâd am Beispiel der Geburtenkontrolle
Der Nachfolger des Rahbar
V. Schiiten außerhalb Irans
Aserbeidschan
Der Libanon
Indien und Pakistan
Der Irak
Ausblick
Anteil der Zwölfer-Schiiten an der Bevölkerung islamischer Länder
Literaturhinweise
Abbildungsnachweis
Hinweise zur Aussprache
Personenregister
Vor fünfundzwanzig Jahren erst sind die Schiiten ins Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit getreten, als 1979 schiitische Revolutionäre den Schah von Persien stürzten, die Islamische Republik Iran errichteten und sogleich die Auseinandersetzung mit dem Westen suchten. Schon bald traten weitere Konflikte im Nahen Osten hinzu, in die Schiiten verwickelt waren: der Bürgerkrieg im Libanon, in den die Schiiten des Landes nach der israelischen Invasion 1982 militärisch eingriffen; der Bürgerkrieg in Afghanistan, an dem sich auch schiitische Mudschâhedîn beteiligten; der Konflikt um Berg-Qarâbâgh, in dem sich christliche Armenier und schiitische Aserbeidschaner gegenüberstanden, und die Aufstände der Schiiten des südlichen Irak gegen Saddâm Hussein nach dem zweiten Golfkrieg 1991 und 1999. Nach dem Sturz Saddâm Husseins durch die amerikanisch-britische Intervention 2003 wurde plötzlich deutlich, daß die Schiiten die Mehrheit der irakischen Bevölkerung stellen und einen entsprechenden Anteil an der Macht in einem künftig unabhängigen Irak beanspruchen.
Während die Schiiten als politische Akteure in den Vordergrund rückten, blieben ihre Glaubensvorstellungen und ihre mehr als dreizehn Jahrhunderte alte religiöse Tradition weitgehend im Dunkel. Allenfalls sah man Bilder von Geißlern, die sich den Rücken blutig schlugen oder sich die Stirnen mit Schwertern zerhackten. Die verstörenden Bilder suggerierten die Vorstellung von etwas total Fremdem, Unverständlichem, dem man mit Adjektiven wie «mystisch» oder «irrational» beizukommen versuchte; das Schiitentum erschien als eine besonders bedrohliche Spielart des ohnehin als fanatisch verschrieenen Islams. Was vor allem unerklärt blieb, war der Zusammenhang zwischen der Religion der Schiiten und ihrem revolutionären Aufbruch von 1978/79, wenn auch ein solcher Zusammenhang allgemein als selbstverständlich unterstellt wurde: in Iran – so schien es – hatte der schiitische Islam eine Revolution ausgelöst, und nicht etwa Iraner, die zufällig schiitischen Bekenntnisses waren.
Von der Dämonisierung der Schiiten, wie sie auf dem Höhepunkt der iranischen Revolution im Westen gang und gäbe war, hat sich inzwischen einiges verflüchtigt. Der Aufstand der irakischen Schiiten gegen Saddâm Hussein hat sogar zeitweilig in den Medien die gewohnten Freund-Feind-Bilder durcheinandergebracht, wenn sich auch bald bei westlichen Politikern und Kommentatoren die alte, vage Furcht vor einer schiitischen Expansion wieder durchsetzte: man sah lieber einen geschwächten Saddâm, der aber den Irak zusammenhielt, als einen von den Iranern dominierten Schiitenstaat im Südirak. Auch nach dem Sturz des Diktators ist die Unsicherheit westlicher Beobachter nicht verschwunden; zwar differenzierte man zunächst zwischen «radikalen» und «gemäßigten» Schiitenführern, doch hat die rigoros pro-schiitische Politik des Ministerpräsidenten Nûrî al-Mâlikî (2006–2014) diese Unterschiede bald wieder verwischt.
Gegenstand des vorliegenden Buches ist indes weder die iranische Revolution noch die Nahostpolitik im allgemeinen, sondern die Religion der Schiiten. Bei der engen Verflechtung von Religion und Politik im Nahen Osten ist es jedoch unvermeidlich, daß die politischen Vorgänge immer wieder ins Zentrum der Betrachtung rücken. Die iranische Revolution ist natürlich auch ein Stück Geschichte des schiitischen Islams, und umgekehrt müßten die Vorgänge in Iran ohne Kenntnisse der Schia unverständlich bleiben. Dabei ist zu beobachten, daß die politischen Ereignisse auch die Religion selber verwandeln und ihre geschichtliche Entwicklung vorantreiben.
Die Schia ist so alt wie der Islam selber. Sie war jedoch stets eine Minderheit und meist in der Opposition, gelegentlich verfolgt, verachtet und unterdrückt. Ihre Geschichte hat ihr Weltbild und ihre Haltung zu Politik und Gesellschaft nachhaltig geprägt, und diese Haltung hat in den politischen Konflikten unserer Tage ihren Niederschlag gefunden.
Entstanden ist die Schia im Irak, der bis heute eines der Kernländer des schiitischen Islams ist. Im Irak haben sich die entscheidenden Ereignisse der schiitischen Passionsgeschichte abgespielt, hier liegen die Grabheiligtümer von sechs der zwölf Imame, und hier ist die Theologie der Schia im Mittelalter entwickelt worden. Die Schia ist also ursprünglich ein arabisches Phänomen, wie der Islam selber, und der weitaus größte Teil ihrer Literatur ist in arabischer Sprache abgefaßt, auch von iranischen Autoren; bis heute ist Arabisch die Sprache der schiitischen Theologen in aller Welt. Mehr als die Hälfte der Iraker sind Schiiten; sie leben vor allem im Süden des Landes (etwa 18 Millionen). In Iran hat sich die Schia mit der Gründung der arabischen Kolonie Qom schon im 8. Jahrhundert festgesetzt, doch blieben die Schiiten lange Zeit eine Minderheit; ihre Gemeinden fanden sich vor allem in den Städten des nordwestlichen Iran. Erst mit der Etablierung einer schiitischen Schah-Dynastie 1501 setzte in Iran eine systematische Politik der Schiitisierung ein, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts abgeschlossen war. Von ihr waren auch die türkischsprachigen Bewohner Aserbeidschans betroffen: mehr als 8 Millionen Âzerîs in der Republik Aserbeidschan (85 % der Bevölkerung) und an die 7 Millionen Âzerîs in der gleichnamigen Nordprovinz Irans sind Schiiten. Iran hat mit 89 % seiner Bevölkerung den höchsten Schiiten-Anteil aller islamischen Länder (etwa 68 Mio.). Die Schiitengemeinden des Südlibanon und der libanesischen Biqâ‛-Ebene sind schon im 10. Jahrhundert bezeugt; sie stellen heute mit 30 % die zahlenmäßig bedeutendste Religionsgruppe des Landes (1,5 Mio.). Schiiten gibt es auch in den arabischen Staaten auf der westlichen Seite des Golfs, in Saudi-Arabien wie in den kleineren Golfstaaten Kuwait und Bahrain (zusammen etwa 2 Mio.). In Afghanistan sind die mongolischen Hezâra des zentralen Berglandes Schiiten, und auf dem indischen Subkontinent gibt es größere Inseln überwiegend schiitischer Bevölkerung im pakistanischen Pandschâb, in Indien um Audh nördlich des Ganges und um Haiderabad im zentralen Dekkan sowie im zwischen Indien und Pakistan umstrittenen Kaschmir; über die Zahl der indischen Schiiten liegen allerdings keine verlässlichen Schätzungen vor. Zusammen stellen die Schiiten geschätzte 10 bis 15 % der 1,6 Milliarden Muslime weltweit. Die Siedlungsgebiete der Schiiten bilden kein zusammenhängendes Territorium, und die Schiiten selber gehören verschiedenen ethnisch-sprachlichen Gruppen an; sie sind Araber, Iraner, türkische Âzerîs, mongolische Hezâra oder Inder.
Wenn hier und im folgenden von Schiiten die Rede ist, dann sind damit immer die «Imamiten» oder «Zwölfer» gemeint, die durch die politischen Ereignisse der letzten Jahre in die Schlagzeilen geraten sind. Die kleineren schiitischen Denominationen wie die Ismailiten des Agha Khan, die indischen Bohras, die jemenitischen Zaiditen, die syrischen Nusairî-Alawiten oder die Drusen werden hier nicht berücksichtigt. Im Mittelpunkt der folgenden Darstellung stehen die Passionsriten, die den eigentlichen Keim der Religiosität der Zwölfer-Schiiten ausmachen und über die allein der Zugang zum Verständnis ihrer wesentlichen Glaubensvorstellungen möglich ist.
Als der Prophet Muhammad im März des Jahres 632 von seiner letzten Mekka-Wallfahrt nach Medina zurückkehrte, rastete seine Karawane bei dem Teich von Chumm, etwa auf halbem Weg zwischen den beiden Städten. Hier soll sich am 16.März die folgende Szene abgespielt haben, deren die Schiiten bis heute mit einem Festtag gedenken: der Prophet sammelte seine Gemeinde um sich und sprach: «Habe ich nicht mehr Anspruch darauf, euch zu gebieten, als ihr selbst?», und als die Gemeinde freudig mit Ja antwortete, fuhr er fort: «Allen, denen ich gebiete, soll auch ‛Alî gebieten!»
Die beiden Aussprüche des Propheten sind im arabischen Original mehrdeutig; sie sind hier bereits so übersetzt, wie die Schiiten sie interpretieren. Ein schiitischer Kommentator erläutert: «Indem der Prophet auf diese Weise Gehorsam gegenüber ‛Alî verlangte und ihn zum Gebieter machte, forderte er für diesen dieselbe gebietende Stellung, die er selbst ihnen gegenüber eingenommen hatte; er befahl ihnen, dies anzuerkennen, und sie verweigerten ihre Anerkennung nicht. Dies ist eine eindeutige Designation ‛Alîs als Imâm und Kalif».
Das arabische Wort imâm bedeutet «Gemeindeoberhaupt»; es ist von derselben Wortwurzel gebildet wie das Wort «Gemeinde» (umma). Chalîfa dagegen bedeutet «Stellvertreter» oder «Nachfolger». Nach der Deutung, die die Schiiten der Szene am Teich von Chumm geben, hat also der Prophet, der sein Ende nahe wußte, ‛Alî zu seinem Nachfolger als Oberhaupt der islamischen Gemeinde bestimmt.
‛Alî ibn Abî Tâlib war Muhammads Vetter, der Sohn von dessen Onkel Abû Tâlib. Der früh verwaiste Muhammad war ins Haus dieses Onkels aufgenommen und dort aufgezogen worden; später, als der Onkel selbst verarmte, nahm Muhammad, um ihn zu entlasten, den jungen Vetter ‛Alî in seinen eigenen Haushalt auf. ‛Alî soll denn auch – nach Muhammads erster Ehefrau Chadîdscha – der erste gewesen sein, der die Botschaft des Propheten, den Islam, annahm. Als Muhammad im Jahre 622 gezwungen war, seine Heimatstadt Mekka zu verlassen und nach Medina überzusiedeln, folgte ihm ‛Alî wenig später dorthin. Nach schiitischer Überlieferung sicherte ‛Alî die heimliche Flucht des Propheten aus Mekka, indem er in dessen Kleidern auf dessen Bett schlief, so daß die verblüfften Mekkaner, die in das Schlafgemach eindrangen, um den Propheten zu töten, den Falschen vorfanden und ihren Plan gescheitert sahen.
Während der zehn Jahre, in denen Muhammad in Medina die Grundlagen des islamischen Staatswesens legte (622–632), war der Vetter sein engster Vertrauter, und durch die Heirat mit Muhammads Tochter Fâtima wurde er auch sein Schwiegersohn. Beim Einzug des Propheten in das eroberte Mekka (630) trug ‛Alî – nach schiitischer Überlieferung – das Banner; er war es, der den Jemen eroberte und zum Islam bekehrte, und als der Prophet seinen letzten Kriegszug gegen die Oasenstadt Tabûk in Nordarabien unternahm (Herbst 630), setzte er ‛Alî als seinen Stellvertreter (chalîfa) in Medina ein.
Als der Prophet am 8. Juni 632 starb, wurde indes nicht ‛Alî sein Nachfolger, sondern sein alter Gefährte Abû Bakr, der ihn einst auf dem Ritt ins Exil (hidschra) nach Medina begleitet hatte. Als Abû Bakr nach nur zweijährigem Kalifat starb, soll er einen weiteren Gefährten Muhammads, ‛Umar, als Nachfolger designiert haben. Während des zehnjährigen Kalifats ‛Umars (634–644) begann die militärische Expansion des arabischen Reiches im Namen des Islam auf Kosten der beiden damaligen Großmächte, des römisch-byzantinischen Imperiums und des Perserreichs der Sasaniden; binnen weniger Jahre wurden Palästina und Syrien, Ägypten und Mesopotamien (arabisch: al-‛Irâq) erobert.
Nach ‛Umars Tod trat ein sechsköpfiges Wahlmännergremium (schûrâ) zusammen, das einen neuen Kalifen kürte: ‛Uthmân aus dem mekkanischen Clan Umayya. Dem Wahlgremium gehörte auch ‛Alî als einer der einflußreichsten Prophetengefährten an; er war damals etwa 46 Jahre alt (geboren um 598). Der Wahl ‛Uthmâns hat er sich nicht widersetzt, doch scheint er zu ihm in Opposition gestanden zu haben. In dem Gegensatz zwischen den beiden Männern werden die Spannungen sichtbar, die die islamische Urgemeinde wenig später in blutigen Auseinandersetzungen spalten sollten: ‛Uthmân, der zwar auch ein verdienter Kampfgenosse des Propheten war, repräsentierte den Clan Umayya und damit die alte Stadtaristokratie von Mekka, die lange Zeit heidnisch geblieben war und dem Propheten das Leben schwergemacht hatte; nun hatte sie den Islam angenommen – als «Trittbrettfahrer» gewissermaßen – und schickte sich an, ihre alte Vormachtstellung im Rahmen des neuen islamischen Gemeinwesens abermals durchzusetzen. ‛Alî dagegen repräsentierte die Muslime der ersten Stunde, die Exilanten von Medina, sozusagen den religiösen Uradel, dessen Verdienste die frühzeitige Annahme des Islam und die Hidschra, das freiwillige Exil in Medina, gewesen waren.
Die Spannungen innerhalb der Gemeinde entluden sich 656 in einem Machtkampf, in dessen Verlauf der Kalif ‛Uthmân in seinem Haus in Medina von Aufrührern ermordet wurde. Die Opposition erhob nun ‛Alî zum Kalifen; am 17. Juni 656 wurde er in der Moschee von Medina – auf dem Boden des ehemaligen Wohnhauses des Propheten – proklamiert. Nach schiitischer Auffassung kam damit endlich der einzig legitime Nachfolger des Propheten an die Macht. Die Schiiten erkennen also die Rechtmäßigkeit der drei ersten Kalifate nicht an; für sie sind Abû Bakr, ‛Umar und ‛Uthmân Usurpatoren. Für die Schiiten war ‛Alî schon seit Muhammads Tod der rechtmäßige Kalif und Imam; in einem schiitischen Kommentar heißt es: «nach dem Tod des Propheten hatte er vierzig Jahre lang das Imamat inne, doch vierundzwanzig Jahre und sechs Monate davon war er gehindert, die Regierungsgeschäfte zu führen, und mußte Verstellung (taqîya) üben und sich zurückhalten.» Die Schiiten erklären ‛Alîs Zurückhaltung oft mit Gottes Heilsplan: die Usurpation der drei ersten Kalifen sei vorherbestimmt gewesen, um die Gemeinde auf die Probe zu stellen und die wahren Gläubigen von den Heuchlern (munâfiqûn) zu scheiden.
Das kurze Kalifat ‛Alîs (656–661) war erfüllt von blutigen Auseinandersetzungen, in denen die Einheit der islamischen Umma nur zwei Jahrzehnte nach dem Tode des Propheten für immer zerbrach. ‛Alî wurde nicht allgemein anerkannt; er mußte sich aus Medina in den Irak zurückziehen, wo die Stadt Kufa (al-Kûfa) am Euphrat, ein arabisches Heerlager aus der Zeit der Eroberung, seine Residenz wurde. Sein Gegenspieler war der Gouverneur von Syrien, Mu‛âwiya aus dem Clan der Umayya, ein Verwandter des ermordeten Kalifen ‛Uthmân, der als Bluträcher gegen ‛Alî auftrat. Neben den erwähnten Spannungen in der Umma traten in diesem Konflikt regionale Gegensätze zutage: die Araber Syriens standen gegen die des Irak, Damaskus gegen Kufa. Auf dem Schlachtfeld von Siffîn am oberen Euphrat (im Bereich des jetzigen Asad-Staudammes in Syrien) lagen sich die beiden Armeen im Sommer 657 wochenlang gegenüber, ohne daß es – trotz zahlreicher Gefechte – zu einer Entscheidungsschlacht gekommen wäre. Schließlich vereinbarte man ein Schiedsgericht, das anscheinend Anfang 659 in dem Ort ‛Adhruh (im heutigen Jordanien, zwischen Petra und Ma‛ân) zusammentrat. Was die beiden Schiedsmänner dort vereinbarten, ist heute nicht mehr genau auszumachen, da die Überlieferungen widersprüchlich sind. Jedenfalls legte der Syrer Mu‛âwiya den Spruch zu seinen Gunsten aus und ließ sich im Sommer 660 in Jerusalem als Kalif huldigen; er wurde weithin anerkannt, und damit war die Spaltung der Umma besiegelt.
Schon ein halbes Jahr später, Ende Januar 661, wurde ‛Alî am Tor einer Moschee in Kufa von einem Bluträcher – einem gewissen Ibn Muldscham – niedergestochen und erlag zweiTage später seinen Verletzungen, im Alter von etwa 62 oder 63 Jahren. So ist schon der erste Imam der Schiiten als Opfer gefallen – der erste in einer langen Reihe von Märtyrern der Schia.
Das arabische Wort schî‛a bedeutet «Partei». Als «Partei ‛Alîs» (schî‛at ‛Alî) bezeichnete man dessen Anhänger in dem Konflikt mit Mu‛âwiya und den Syrern. Diese Partei bestand nach seiner Ermordung fort; seine Residenz Kufa am Euphrat wurde zu ihrer Hochburg; hier lebten seine Mitkämpfer von Siffîn, und hier hoffte man, einer der Söhne ‛Alîs werde das Erbe seines Vaters antreten und das Blatt wieder wenden; tief saß bei den Irakern der Unmut gegen die Statthalter, die nun aus Damaskus, der neuen Hauptstadt des Kalifats, geschickt wurden.
Eine besondere religiöse Färbung hat der Widerstand der Schia zu dieser Zeit noch nicht; sie ist lediglich eine Partei im Kampf um die Macht, zunächst in der Generation der ehemaligen Gefährten des Propheten (‛Alî und Mu‛âwiya) und dann in der Generation der Söhne. Für die Schiiten ist ‛Alî der einzige rechtmäßige Nachfolger des Propheten; ihm allein kommt daher der militärische Titel des Kalifen, «Befehlshaber der Gläubigen» (amîr al-mu’minîn), zu; so wird ‛Alî – unter Weglassung seines Namens – von den Schiiten meist genannt. Als Zeichen seiner Befehlsgewalt hat er das Schwert des Propheten, Dhû l-Fiqâr, geerbt, das auf bildlichen Darstellungen sein festes Attribut ist. ‛Alîs Bild wurde in der Tradition seiner Parteigänger alsbald idealisiert und mit Legenden überhöht: für die Schiiten ist er der Prototyp des jugendlichen Helden; gern erzählt man, wie er bei der Belagerung der Oasenstadt Chaibar mit übermenschlicher Kraft das Stadttor aus den Angeln hob, es als Schild benutzte und dann in den Graben schleuderte. ‛Alî gilt als meisterlicher Beherrscher der arabischen Sprache; die ihm zugeschriebenen Reden und Briefe, die erst sehr viel später gesammelt wurden (und deren Echtheit umstritten ist), gelten bis heute als Muster arabischer Prosa. Auch sein Begräbnis ist von Wundern umsponnen: auf sein eigenes Geheiß wird ‛Alî von seinen Söhnen al-Hasan und al-Husain sowie mehreren Vertrauten auf einer Bahre hinaus in die Wüste getragen, bis zu einem weißen Felsen, von dem ein Licht ausstrahlt; dort hebt man ein Grab aus und stößt dabei auf einen Schild mit der Inschrift: «Dies hat Noah für ‛Alî ibn Abî Tâlib aufbewahrt». An der Stelle von ‛Alîs Grab erhebt sich heute der Schrein von Nadschaf (an-Nadschaf).
‛Alî hinterließ mehrere Söhne, davon zwei aus der Ehe mit Fâtima, der Tochter des Propheten. Der ältere dieser beiden, al-Hasan, war beim Tode seines Vaters etwa 36 oder 37 Jahre alt. Er konnte, wenn er Anspruch auf das Kalifat erhob, auf die kufischen Parteigänger seines Vaters, eben die Schia, zählen. Tatsächlich wurde er zum Kalifen ausgerufen, doch als Mu‛âwiya an der Spitze des syrischen Heeres in den Irak einrückte, zeigte sich al-Hasan unentschlossen und schwankend. In al-Madâ’in am Tigris – dem antiken Ktesiphon – kam es zu Verhandlungen, die damit endeten, daß al-Hasan auf das Kalifat verzichtete. Größere Summen Geldes und die Anwartschaft auf die Steuereinkünfte einer ganzen iranischen Provinz haben dem Prophetenenkel den Verzicht vergoldet. Der Kalif Mu‛âwiya konnte nun in Kufa, der Metropole des Irak, seinen Einzug halten; al-Hasan stellte sich ebenfalls ein und bekräftigte in der Moschee der Stadt noch einmal öffentlich seinen Verzicht – zur großen Enttäuschung der Partei ‛Alîs. Al-Hasan kehrte nach Medina zurück und lebte dort bis zu seinem Tode als reicher Grandseigneur, ohne sich je wieder in die politischen Händel zu mischen; das einzig Bemerkenswerte, das die Quellen noch über ihn zu berichten wissen, sind seine zahlreichen Ehen und seine große Nachkommenschaft. Nicht einmal sein Todesjahr ist bekannt; er muß zwischen 670 und 680 gestorben sein und wurde auf dem Friedhof al-Baqî‛ in Medina bestattet.
Für die Schiiten ist al-Hasan der rechtmäßige Nachfolger seines Vaters ‛Alî und der zweite Imam, und zwar bis zu seinem Tode. Daß er sich Mu‛âwiya beugen mußte, erklären sie damit, der Imam habe angesichts der militärischen Übermacht der Syrer den aussichtslosen Kampf und das Blutvergießen unter Muslimen vermeiden wollen; er sei der Gewalt gewichen, ohne indes auf seine Rechte verzichtet zu haben. Wie alle Imame wird auch al-Hasan von den Schiiten als Märtyrer betrachtet: er soll auf Anstiften Mu‛âwiyas von einer seiner Ehefrauen vergiftet worden sein.
Im Frühjahr 680 starb der Kalif Mu‛âwiya in Damaskus, nachdem er seinem Sohn Yazîd als Kalifen hatte huldigen lassen. Mit Yazîd bestieg erstmals ein Mann den Kalifenthron, der den Propheten Muhammad nicht mehr persönlich gekannt hatte; zugleich bedeutete seine Nachfolge die Etablierung des dynastischen Prinzips: bis zum Jahr 750 sollte die Dynastie der Umayya in Damaskus regieren. Der Thronwechsel in Damaskus war für die irakischen Parteigänger der Aliden das Signal für einen erneuten Versuch, die Macht wieder an sich zu reißen. ‛Alîs zweiter Sohn von Fâtima, al-Husain, der in Medina lebte, war zu diesem Zeitpunkt schon etwa 54 Jahre alt. Boten aus Kufa suchten ihn auf und bedrängten ihn, in den Irak zu kommen, an die Spitze der «Partei» zu treten und das syrische Regime zu stürzen. Al-Husain selber schickte seinen Vetter Muslim nach Kufa, um die Lage zu erkunden, und der schrieb, die Situation sei günstig; Tausende von Parteigängern seien bereit, sich einer Erhebung anzuschließen. Obwohl er vor dem Abenteuer gewarnt worden war, verließ al-Husain daraufhin im September 680 heimlich Mekka, wohin er sich zur Pilgerfahrt begeben hatte, und machte sich auf der Pilgerroute quer durch die Wüste Zentralarabiens auf den Weg nach dem Irak. Ihn begleiteten seine Familie und ein kleines Häuflein Getreuer – Verwandte und Freunde –, insgesamt wohl nicht mehr als etwa fünfzig Männer.
Im Irak war man gewarnt. Der dortige Gouverneur, ‛Ubaid Allâh ibn Ziyâd, ließ die Wüstenrouten durch Patrouillen überwachen und die führenden Unruhestifter in Kufa – darunter al-Husains Vetter Muslim – hinrichten. Al-Husain erfuhr davon erst, als er sich dem Euphrat näherte; dennoch setzte er seinen Weg fort. Eine Patrouille des Gouverneurs hinderte ihn, nach Kufa selbst zu gelangen, und drängte seinen kleinen Trupp nach Norden ab. Von den angeblich Tausenden kufischer Parteigänger erschien nicht ein einziger, um dem Enkel des Propheten zu Hilfe zu kommen. Am 2.des Monats Muharram (2. Oktober 680) lagerte al-Husains Trupp bei dem Flecken Kerbelâ, 70 km nördlich von Kufa, 20 km westlich des Euphrat. Am nächsten