Stefan Breuer

Der charismatische Staat

Ursprünge und Frühformen staatlicher Herrschaft

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

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ISBN 978-3-534-26459-9

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-73891-5
eBook (epub): 978-3-534-73892-2

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Inhalt

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung

1. Vorspiel auf dem Theater: Ozeanien

Melanesien

Westpolynesien

Ostpolynesien

2. Andengebiet

Umweltbedingungen

Die Küstenstaaten bis zur Inkazeit

Die Hochlandstaaten bis zur Inkazeit

Der Inka-Staat

3. Mesoamerika

Umweltbedingungen

Die Tieflandstaaten (Olmeken, Maya)

Die Hochlandstaaten bis zur aztekischen Zeit

Der Staat der Azteken

4. China

Umweltbedingungen

Der Aufstieg des charismatischen Königtums

Zentrifugale Tendenzen: Die Westlichen Zhou

Vom charismatischen Staat zum Patrimonialstaat

5. Mesopotamien

Umweltbedingungen

Wege zum Staat: Khuzistan und Sumer

Ein sumerisches Prestigegüter-System: Die Expansion von Uruk

Die Herausbildung des patrimonialen Stadtkönigtums

6. Ägypten

Umweltbedingungen

Verbände und Staaten des Chalcolithikums

Das Alte Reich

Schritte zum Imperium

7. Die Ägäis

Umweltbedingungen

Die minoische Welt

Die mykenische Welt

Literatur

Karten: Peter Palm, Berlin

Abkürzungsverzeichnis

AA

American Antiquity

AAMT

Advances in Archaeological Method and Theory

AE

American Ethnologist

AF

Altorientalische Forschungen

AfO

Archiv für Orientforschung

AJA

American Journal of Archaeology

AM

Ancient Mesoamerica

AmAnthr

American Anthropologist

AO

Archaeology in Oceania

AP

Asian Perspectives

ARA

Annual Review of Anthropology

AsM

Asia Major

BAR

British Archaeological Reports

BICS

Bulletin of the Institute of Classical Studies

BSOAS

Bulletin of the School of Oriental and African Studies

CA

Current Anthropology

CAJ

Cambridge Archaeological Journal

CrA

Critique of Anthropology

CSSH

Comparative Studies in Society and History

EAZ

Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift

EC

Early China

GM

Göttinger Miszellen

HJAS

Harvard Journal of Asiatic Studies

HMAI

Handbook of Middle American Indians

HR

History of Religions

JAA

Journal of Anthropological Archaeology

JAAS

Journal of Asian and African Studies

JAMT

Journal of Archaeological Method and Theory

JAOS

Journal of the American Oriental Society

JAR

Journal of Anthropological Research

JAS

Journal of Asian Studies

JEAA

Journal of East Asian Archaeology

JESHO

Journal of the Economic and Social History of the Orient

JFA

Journal of Field Archaeology

JNES

Journal of Near Eastern Studies

JPH

Journal of Pacific History

JPS

Journal of the Polynesian Society

JRAI

Journal of the Royal Anthropological Institute

JSA

Journal of Social Archaeology

JSAm

Journal de la Société des Américanistes

JWP

Journal of World Prehistory

LAA

Latin American Antiquity

MDAIK

Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Abt. Kairo

MWG

Max Weber-Gesamtausgabe

MS

Monumenta Serica

NP

Ñawpa Pacha

OJA

Oxford Journal of Archaeology

PZ

Prähistorische Zeitschrift

SAK

Studien zur altägyptischen Kultur

TP

T’oung Pao

WA

World Archaeology

ZA

Zeitschrift für Assyriologie

ZfE

Zeitschrift für Ethnologie

Einleitung

„Keine geschichtliche Kategorie ohne ihre naturale Substanz, keine naturale ohne ihre geschichtliche Filterung.“1

Man findet nicht leicht einen Gegenstand, über den so konträre Urteile im Umlauf sind, wie den Problemkomplex, der mit der Entstehung des Staates zusammenhängt. Vertreter des Öffentlichen Rechts verkünden in apodiktischem Ton, „daß der Staat als Name und als Wirklichkeit etwas geschichtlich durchaus Einzigartiges ist und in dieser seiner neuzeitlichen Individualität nicht in frühere Zeiten hineingeschmuggelt werden darf“ (Hermann Heller). Sie wenden sich dagegen, den Staat „zu einem auf alle Zeiten und Völker übertragenen Allgemeinbegriff“ zu machen (Carl Schmitt), und erklären es für unzulässig, „vom Staat der Ptolemäer, der Ägypter, Azteken, Griechen und Römer zu sprechen“ (Ernst Forsthoff). Es gehöre, so Böckenförde, „zum gesicherten Bestand des wissenschaftlichen Bewußtseins, daß der Begriff Staat kein Allgemeinbegriff ist, sondern zur Bezeichnung und Beschreibung einer politischen Organisationsform dient“, die erst im neuzeitlichen Europa entstand.2 Auch ein so stark von der Jurisprudenz geprägter Soziologe wie Max Weber empfahl, den „Staatsbegriff […], da er in seiner Vollentwicklung durchaus modern ist, auch seinem modernen Typus entsprechend […] zu definieren“.3 Staat, folgerte Carl Schmitt deshalb nicht zu Unrecht, sei für Max Weber „eine spezifische Leistung und ein Bestandteil des occidentalen Rationalismus“ und dürfe „schon deshalb nicht mit Herrschaftsorganisationen anderer Kulturen und Epochen gleich benannt werden“.4

Zum gesicherten Bestand des wissenschaftlichen Bewusstseins gehören solche Ansichten jedoch mitnichten. Max Weber selbst hat sich an seine Empfehlung keineswegs gehalten und ganz selbstverständlich vom „autoritären Leiturgiestaat“ Altmesopotamiens und vom China der „Teilstaatenzeit“ gesprochen, vom „Fronstaat“ des pharaonischen Ägypten, vom „Inkastaat“, vom japanischen „Geschlechterstaat“ und vom römischen „Stadtstaat“, um nur einige Beispiele zu nennen. Davon abgesehen, belehrt ein Blick auf jene Disziplinen, die schon aus professionellen Gründen eine besondere Zuständigkeit für diesen Problemkomplex beanspruchen können – die Ethnologie bzw. Anthropologie, die Archäologie und die Prähistorie –, darüber, wie selbstverständlich der Staatsbegriff hier gebraucht und für ein offenbar unverzichtbares Instrument gehalten wird. Da ist nicht nur von den Staaten der Azteken, Griechen und Römer die Rede, sondern auch von solchen, die diesen zeitlich vorausliegen: von den Staaten der Olmeken und Zapoteken, der Maya und der Tarasken, der minoischen und mykenischen Palaststaaten der Bronzezeit und vielen anderen mehr.5 Auch wenn in diesen Wissenschaften unterschiedliche Auffassungen darüber bestehen, wo genau die Grenze zwischen den „Gesellschaften ohne Staat“ und den „Gesellschaften mit Staat“ zu ziehen ist, ob es intermediäre Formen wie das Häuptlingstum, den „Proto-Staat“ oder die „archaische Zivilisation“ gibt, ist man hier doch nicht im Zweifel, dass der Staat zeitlich lange vor der Neuzeit existiert und auch räumlich nicht auf Europa zu beschränken ist. Das dokumentieren nicht zuletzt die Forschungscluster, die sich um Konzepte wie den „frühen“ oder „archaischen Staat“ organisiert haben.6

Nach den Ursachen für dieses Auseinanderklaffen der Diskurse muss man nicht lange suchen. Juristen verfügen zwar über eine beneidenswert klare Begrifflichkeit, nehmen sich aber nur selten die Zeit, die Ergebnisse anderer Disziplinen gründlicher zur Kenntnis zu nehmen – und das selbst dann nicht, wenn sie sich mit deren Gegenstand befassen.7 Anthropologen und Archäologen andererseits sind oft vom Anschauungsreichtum überwältigt und begnügen sich gern, um diesen nur ja nicht zu beschädigen, mit eher schlichten Kategorien, wenn sie nicht gar Idiosynkrasien gegen die „Jumbo-Historians“ entwickeln. So weiß etwa Julian H. Steward, der das Wort von der multilinearen Evolution geprägt hat, über den Staat wenig mehr zu sagen, als dass er ein „breites Level der soziokulturellen Organisation“ repräsentiere, das mehr sei als die Summe der Familien und Gemeinschaften, aus denen er bestehe.8 Nicht viel präziser ist der Verweis Leslie Whites auf die spezifische Funktion des Staates, das soziokulturelle System zu bewahren, von dem er ein Teil sei (White 1959, S. 313). Nach Marshall D. Sahlins ist der Staat für den gesellschaftlichen Organismus das, was das Zentralnervensystem für den biologischen Organismus ist; nach Morton H. Fried die Garantieinstanz für eine stratifizierte Ordnung9 – Auskünfte, die allesamt nicht über das hinausgelangen, was man schon bei Durkheim, Morgan oder Engels lesen kann. Auch die zum „archaischen Staat“ vorgetragenen Definitionen erscheinen wenig geeignet, diesem ein spezifisches Profil zu verleihen. Das gilt für den Vorschlag, archaische Staaten seien „Gesellschaften mit (wenigstens) zwei endogamen Klassen […] und einer Regierung, die sowohl hochgradig zentralisiert als auch intern spezialisiert“ sei,10 wie für die Version Kent Flannerys, der zufolge es sich um „zentralisierte Systeme mit einer administrativen Hierarchie“ handele, „in welcher Befehle nach unten und Informationen über den Output nach oben“ gingen.11 Es gilt aber auch für einen Kritiker dieser Sichtweise wie Richard Blanton, der den Staat lieber als „die größere soziale Arena“ sehen möchte, „innerhalb derer der gesellschaftliche Kampf um Macht ausgetragen wird“ (Blanton 1998, S. 140). Das ist eine Bestimmung, die auf Verbände aller Art zutrifft, und es ist nicht zu sehen, was dadurch gewonnen wird, wenn man sie, wie Blanton vorschlägt, um die Unterscheidung von verschiedenen Machtstrategien ergänzt.

Dieses Buch unternimmt den Versuch, die Ignoranzschwelle nach beiden Seiten zu senken. Nach der Seite der empirischen Forschung wird dies in den einzelnen Fallstudien geschehen, die der Entstehung des Staates anhand von verschiedenen Beispielen nachgehen. Für die Begriffsbildung dagegen ist diese Einleitung der geeignete Ort. Als Ausgangspunkt und Grundlage soll dabei nicht die berühmte Drei-Elemente-Lehre der Allgemeinen Staatslehre dienen, die nicht weniger abstrakt ist als die von manchen Archäologen bevorzugte Systemtheorie, sondern die Umschmelzung, die diese Lehre in der juristisch inspirierten Soziologie Max Webers erfahren hat. Weber hat wohl, wie erwähnt, seinen Staatsbegriff am modernen Staat gebildet, ihn jedoch zugleich so komplex angelegt, dass er durch eine methodische Reduktion und Spezifizierung der Merkmale auch für nicht- bzw. vormoderne Staatsformen nutzbar gemacht werden kann. Im Rahmen der „Soziologischen Grundbegriffe“ ist der nächstliegende Oberbegriff die Kategorie des „Verbandes“, worunter „eine nach außen regulierend beschränkte oder geschlossene soziale Beziehung“ mit einer bestimmten Ordnung zu verstehen sei, deren Einhaltung garantiert werde „durch das eigens auf deren Durchführung eingestellte Verhalten bestimmter Menschen: eines Leiters und, eventuell, eines Verwaltungsstabes, der gegebenenfalls normalerweise zugleich Vertretungsgewalt hat“ (Weber 1976, S. 26). Sofern die Leitung für ihre Anordnungen mit Fügsamkeit rechnen kann, handelt es sich um einen „Herrschaftsverband“; soweit die Ordnungen für ein angebbares Gebiet geltend gemacht werden, um einen „politischen Verband“; soweit dies für jeden innerhalb des Gebietes gilt, „auf den bestimmte Merkmale (Gebürtigkeit, Aufenthalt, Inanspruchnahme bestimmter Einrichtungen) zutreffen, einerlei ob der Betreffende persönlich – wie beim Verein – beigetreten ist und vollends: ob er bei den Satzungen mitgewirkt hat“, um einen „Anstaltsverband“ (ebd., S. 28). Hieran schließt die oft zitierte Definition an: „Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt“ (ebd., S. 29).

Da diese Definition erklärtermaßen von der „Vollentwicklung“ des Staatsbegriffs in der Moderne her gewonnen ist, ist zu fragen, wie viele Abstriche von ihr gemacht werden können, ohne damit die Sphäre zu verlassen, innerhalb derer noch von Staat die Rede sein kann. Was auf keinen Fall unterschritten werden kann, sind die Merkmale des politischen Verbandes, insbesondere der Gebietsbezug, durch den sich der politische Verband von anderen Herrschaftsverbänden, etwa Parteien oder Krankenhäusern, unterscheidet. Gewiss stehen die Markierung und Kontrolle eines Territoriums nicht immer im Vordergrund des Alltagshandelns eines politischen Verbandes. In außeralltäglichen Situationen jedoch, speziell im Fall von Konflikten, zeigt sich die Eigenart des politischen Handelns in der Fähigkeit, ‚„ein Gebiet‘ (nicht notwendig: ein absolut konstantes und fest begrenztes, aber doch ein jeweils irgendwie begrenzbares Gebiet) und das Handeln der darauf dauernd oder auch zeitweilig befindlichen Menschen durch Bereitschaft zu physischer Gewalt, und zwar normalerweise auch Waffengewalt, der geordneten Beherrschung durch die Beteiligten vorzubehalten (und eventuell weitere Gebiete für diese zu erwerben)“.12 Und diese Bereitschaft pflegt in dem Maße zu wachsen und auf das Alltagshandeln durchzuschlagen, in dem bestimmte, für die Reproduktion des Verbandes und seine Ordnungen als notwendig erachtete Ressourcen als knapp perzipiert werden.13 Es versteht sich, dass dabei unter „Gebiet“ nicht einfach eine res extensa zu verstehen ist, sondern ein qualitativ bestimmtes, durch geo- und topografische Eigenheiten ausgezeichnetes Territorium, dem Weber in seinen kultur- und wirtschaftssoziologischen Studien, darin den „spatial turn“ der neueren Archäologie vorwegnehmend, stets beträchtliche Aufmerksamkeit gewidmet hat.14

Schwieriger steht es um den Anstaltscharakter, weil Weber hier neben dem Merkmal der „Zurechnung auf Grund rein objektiver Tatbestände“ (Weber 1973, S. 466) noch ein weiteres Kriterium ins Spiel gebracht hat: den Umstand, dass es sich um einen Verband mit „rational (planvoll) gesatzten Ordnungen“ handelt (Weber 1976, S. 28). Wäre dies eine conditio sine qua non, fiele der Staatsbegriff mit solchen politischen Verbänden zusammen, die durch „rationale Herrschaft“ bestimmt sind – eine Einschränkung, an die Weber sich selbst am wenigsten gehalten hat. In der Hinduismusstudie etwa definiert er Anstalt denn auch durch das Minimum „Zurechnung ohne eigenes Zutun“ qua Geburt (Weber 1996, S. 56). Nicht die Ordnung als solche, die zum Begriff des Anstaltsverbandes gehört, wohl aber ihre Spezifizierung im Sinne von rationaler Satzung, wäre also ein verzichtbares Merkmal, was dann freilich die Frage nach alternativen Begründungen der Ordnung aufwirft. Darauf wird zurückzukommen sein.

Für verzichtbar halten manche auch das Merkmal Gewaltmonopol. In der Staatsdefinition Henry T. Wrights, die von zahlreichen Autoren übernommen wurde, kommt nicht einmal das Wort Gewalt vor, geschweige denn deren Monopolisierung.15 Michael Mann vertritt die Auffassung, mit der von Weber angesprochenen physischen Gewalt sei in erster Linie militärische Gewalt gemeint, für die es in den meisten Staaten der Vergangenheit kein Monopol gegeben habe. Als Kern des Staates komme deshalb das „Monopol der verbindlichen und immerwährenden Regelsetzung“ infrage, für dessen Durchsetzung ein mehr oder minder großes Maß an physischer Gewalt in Anspruch genommen werde (Mann 1990, S. 29, 71). Ähnlich sieht es Robert Carneiro, für den ein Staat auch ohne Gewaltmonopol existieren kann, solange er drei essenzielle Fähigkeiten besitzt: „the power to draft, the power to tax, and the power to enforce law“.16

Bei der Erörterung dieser Frage kommt es darauf an, Extrempositionen zu vermeiden. Natürlich lässt sich nicht leugnen, dass bei den meisten geschichtlich bekannten politischen Verbänden die legitime Verfügung über Gewaltmittel breit gestreut war. Der aztekische Dreibund setzte sich aus halbautonomen Stadtstaaten zusammen, die über eigene militärische Aufgebote verfügten und manchmal sogar Kriege gegeneinander führten. Die Mauryas in Indien kontrollierten nur ihr Kerngebiet und mussten sich im Übrigen damit begnügen, militärisch besiegte Fürsten wieder in ihre Rechte einzusetzen. In der römischen Republik übte der pater familias über die Angehörigen seines Hauses das ius vitae necisque aus, und auch die Kriegführung war lange von privaten Initiativen geprägt. Hier von Monopol im Sinne eines Zustands, eines festen Besitztums zu sprechen, wäre daher irreführend.17 Ebenso wenig lässt sich jedoch leugnen, dass es sich bei all diesen Verbänden nicht um einfache „Ordnungen der gewalttätigen Selbsthilfe“ gehandelt hat.18 Offensichtlich gab es in ihnen Instanzen, die anderen Regeln oktroyierten, und die dies konnten, nicht weil sie über physische Gewaltmittel schlechthin verfügten, sondern weil sie ein größeres Maß davon besaßen, womit nicht nur die pure Quantität, sondern auch die Qualität gemeint sein soll. Zwischen den „Ordnungen der gewalttätigen Selbsthilfe“ und den Ordnungen mit einem Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit erstreckt sich ein Zwischenreich, in dem sich immer wieder Kräfte geltend machen, die mehr oder weniger erfolgreich die Entmachtung, „die Ausschaltung konkurrierender Mächte“ betreiben und darin zumindest der Tendenz nach eher in die Richtung des Monopols als des Oligopols weisen.19 Politischen Verbänden, in denen diese Tendenz klar erkennbar ist, sollte die Bezeichnung „Staat“ nicht verwehrt werden.

Aus diesem Zwischenreich ragen vor allem die großen Imperien hervor, die sich im Vorderen Orient seit den Akkadern, in Indien seit den Mauryas, in China seit der Reichseinigung durch die Qin und in der antiken Mittelmeerwelt mit dem Imperium Romanum gebildet haben – Staaten, die bei allen Unterschieden über eine Reihe von Gemeinsamkeiten verfügten: über stehende Heere beträchtlichen Umfangs, patrimonialbürokratische Verwaltungen und Formen der staatlichen Bedarfsdeckung, welche zwar z.T. auf „oikenmäßiger“ Eigenwirtschaft und Leistungen der Bürger bzw. Untertanen („Leiturgien“) beruhten, daneben aber bereits in erheblichem Maße Abgaben in Geldform bezogen, was auf eine fortgeschrittene Kommerzialisierung und soziale Stratifikation verweist. Auf diesen Typus bezieht sich eine breite Literatur, die allerdings oft mit wenig trennscharfen Kategorien arbeitet und nur selten der Gefahr entgeht, jedes politische Gebilde von einiger Ausdehnung darunter zu subsumieren.20

Was in diesem Buch dagegen interessiert, sind jene Staaten, die zu ihrer Bedarfsdeckung nicht auf „frei flottierende Ressourcen“ (Eisenstadt 19672, S. 27, 111) zurückgreifen konnten. Das Fehlen solcher Ressourcen bedeutete, dass der Leiter des Verbandes, der „Herrscher“, nur über die Erträge seiner eigenen Domäne sowie auf Naturalabgaben und Dienstleistungen zählen konnte; dass er zur Erfüllung seiner Aufgabe – der Garantie der Ordnungen – nur über einen rudimentären Erzwingungsstab verfügte, der sich aus Verwandten und persönlichen Gefolgsleuten rekrutierte; und dass entsprechend die physische Gewalt hinter anderen Formen des Zwangs zurücktrat, etwa der Durchführung bzw. Verweigerung von Ritualen, die dem allgemeinen Bewusstsein als unerlässlich für das Wohlergehen des Verbandes galten. Hier kommt der von Weber angeführte „psychische Zwang“ ins Spiel, der über die Spendung und Versagung von Heilsgütern ausgeübt wird; wobei Weber Wert auf die Feststellung legt, daß das entscheidende Merkmal nicht „die Art der in Aussicht gestellten Heilsgüter [ist] – diesseitig, jenseitig, äußerlich, innerlich – […], sondern die Tatsache, dass ihre Spendung die Grundlage geistlicher Herrschaft über Menschen bilden kann“ (Weber 1976, S. 30). Verbände, in denen solche Herrschaft ausgeübt wird, heißen „hierokratische Verbände“. Wird diese Herrschaft in monopolistischer Weise ausgeübt, handelt es sich um „Kirchen“ (ebd., S. 29).

Kirchen im vollen Sinne des Begriffs sind natürlich nicht weniger voraussetzungsvolle Gebilde als Staaten. Im Kapitel über „Staat und Hierokratie“ in den nachgelassenen Manuskripten zu Wirtschaft und Gesellschaft nennt Weber gleich ein ganzes Bündel von Merkmalen, das von einer ausdifferenzierten Berufspriesterschaft über die Abkoppelung von Haus, Sippe, Stamm und Nation sowie die Kanonbildung bis zur anstaltlichen Organisation mit Trennung von Person und Amt reicht (Weber 2005, S. 590f.). Gleichwohl kann auch in diesem Fall einiges abgezogen werden. So hat Weber mit Blick auf das Judentum, auf den Buddhismus und den Taoismus von einer Kirche gesprochen und selbst die Kastenordnung des Hinduismus als ‚kirchenständische‘ Rangordnung interpretiert, auch wenn ihm der Kirchenbegriff auf den Hinduismus nicht anwendbar erschien (ebd., S. 662; 1989, S. 435, 448f.; 1996, S. 103). Die Struktur der alten hinduistischen Königreiche galt ihm als „patrimonial-kirchenstaatlich“, und vom imperialen China heißt es, es sei ein „Kirchenstaat“ mit „Anstaltscharisma“ gewesen, eine „patrimoniale Gnadenanstalt“ (Weber 1996, 103, 191; 1989, 438, 434, 372).

Kirchen sind also keineswegs ein Spezifikum der Moderne, in der sie als mehr oder minder eigengesetzliche Institutionen neben dem Staat existieren. Es gibt sie auch dort, wo kein universalistischer Anspruch vorliegt, ja nicht einmal eine Erlösungsreligion und ein für sie spezifisches ‚religiöses Charisma‘ (Weber). Das Charisma kann vielmehr auch ‚magischer‘ Natur sein, wie im Fall des Taoismus oder – von einer gewissen Entwicklungsstufe an – des Buddhismus, der ursprünglich eine Erlösungsreligion ist, später aber eine Abwandlung ins Magische erfährt.21 Magie wird zwar von Weber nicht völlig scharf von Religion im weiteren Sinne getrennt, insofern beide für Beziehungen zu den „übersinnlichen Gewalten“ stehen, doch bezeichnet sie eine besondere Ausprägung dieser Beziehungen, die sich von Religion in einem engeren Sinne abgrenzen lässt: als „der zwingende Zauber gegen die über und in den Naturkräften waltenden Geister“ (Weber 1989, S. 105). „Man kann diejenigen Formen der Beziehungen zu den übersinnlichen Gewalten, die sich als Bitte, Opfer, Verehrung äußern, als ‚Religion‘ und ‚Kultus‘ von der ‚Zauberei‘ als dem magischen Zwange scheiden und dementsprechend als ‚Götter‘ diejenigen Wesen bezeichnen, welche religiös verehrt und gebeten, als ‚Dämonen‘ diejenigen, welche magisch gezwungen und gebannt werden.“22

Die so verstandene Magie entspringt zwar auch bei Weber wie bei Robertson Smith oder Durkheim individuellen Interessen, besitzt aber nichtsdestoweniger dieselbe Wirkung, die nach Durkheim nur der Religion zukommen soll: „die Menschen […] untereinander zu verbinden und sie in einer gemeinsamen Gruppe, die das gleiche Leben lebt, zu vereinen“.23 Die hieran anschließende Zuspitzung, es gebe keine magische Kirche, hätte sich Weber deshalb nicht zu eigen gemacht, wenn er sie denn gekannt hätte. Solange das begriffliche Minimum gegeben ist: die Existenz eines hierokratischen Verbandes mit Anstaltscharakter – eines Verbandes, in den man hineingeboren wird und in dem die Leitung über ein hinreichendes Maß an psychischen Zwangsmitteln zur Garantie der Ordnung verfügt –, solange ist auch auf der Grundlage einer ‚,magische[n] und Funktionsgötter-Religiosität“ (Weber 1989, S. 490) Kirche denkbar. Und je mehr wiederum die Religiosität in diese Richtung gravitiert, desto mehr tendiert kirchliche Herrschaft dazu, Gebietsherrschaft zu sein und damit koextensiv mit dem politischen Verband: eine Konstellation, die Leslie White mit dem treffenden Ausdruck „state-church“ belegt hat.24

Auch für ein solches Gebilde ist allerdings zu beachten, dass Herrschaft nicht nur auf der „Chance der Anwendung von physischem oder psychischem Zwang irgendwelcher Art“ beruht. Vielmehr gilt nach Weber auch hier, dass ein an der Erwartung solchen Zwangs orientiertes Handeln nur den „relativ labilen Grenzfall“ bildet. Die Chance der empirischen Geltung eines Herrschaftsverhältnisses wird ceteris paribus umso höher zu veranschlagen sein, je mehr im Durchschnitt darauf gezählt werden kann, „daß die Gehorchenden aus dem Grunde gehorchen, weil sie die Herrschaftsbeziehung als für sich ‚verbindlich‘ auch subjektiv ansehen. Soweit dies durchschnittlich oder annähernd der Fall ist, soweit ruht ‚Herrschaft‘ auf dem ‚Legitimitäts’-Einverständnis“ (Weber 1973, S. 470).

Weber unterscheidet bekanntlich drei Hauptformen, in denen dieses Legitimitäts-Einverständnis auftreten kann: zwei, die alltäglicher Natur sind und mit gewöhnlichen Mitteln operieren – die legale und die traditionale Herrschaft –, und eine dritte, die auf dem Glauben an die Wirksamkeit außeralltäglicher oder mindestens außergewöhnlicher Kräfte beruht – die charismatische Herrschaft. Historisch gesehen treten diese Typen keineswegs in einer eindeutigen Reihenfolge auf, wie sie sich auch sachlich-empirisch in mannigfacher Weise verbinden können. Dennoch gilt, dass das Charisma mit fortschreitender Rationalisierung der Ordnungen an Bedeutung verliert, während umgekehrt „in den uns zugänglichen Anfängen von Gemeinschaftsverhältnissen […] jede Gemeinschaftsaktion, welche über den Bereich der traditionellen Bedarfsdeckung in der Hauswirtschaft hinausgeht, in charismatischer Struktur auf[tritt]“ (Weber 2005, S. 513). Charisma ist in diesem Sinne „typische Anfangserscheinung religiöser (prophetischer) oder politischer (Eroberungs-)Herrschaften“ (Weber 1976, S. 147), womit freilich nicht gesagt ist, dass es dies auch bleiben muss. Darüber später.

Der für charismatische Herrschaft grundlegende Glaube ist ein transepochales Phänomen, gebunden an anthropologische Konstanten, die gegenüber der sozialen wie der natürlichen Umwelt relativ resistent sind. Erklärungsansätze dafür kann man sowohl in „biokulturellen“ Deutungen als auch in der Kognitionspsychologie Piagets finden, auf die hier nur pauschal verwiesen sei.25 Andererseits liegt auf der Hand, dass die außeralltäglichen Kräfte sehr unterschiedlich konzipiert sein können, und dass diese Unterschiede in engem Zusammenhang mit der Entwicklung magischer und/oder religiöser Weltbilder und sozialer Beziehungen stehen. Das Charisma kann, wie z.B. im Christentum, als Gnadengabe eines einzigen, überweltlichen, persönlichen Gottes gedacht werden. Es kann, im Rahmen eines polytheistischen Weltbildes, bestimmten Göttern zugeordnet werden (und anderen nicht). Und es kann als Wirksamkeit von sich verbergenden Wesenheiten, „Geistern“, vorgestellt werden, die zu den Personen oder auch Objekten, auf die sie einwirken, in unterschiedlichen Beziehungen stehen können: Beziehungen eher „naturalistischer“ bzw. „präanimistischer“ Art, bei denen sie „bei einem oder innerhalb eines konkreten Objekts oder Vorgangs mehr oder minder dauernd und exklusiv ‚hausen‘“; Beziehungen „animistischer“ Art, bei denen sie „bestimmte Vorgänge und bestimmte Dinge oder Kategorien solcher irgendwie ‚haben‘ und also über deren Verhalten und Wirksamkeit maßgebend verfügen“; oder Beziehungen „symbolischer“ Art, bei denen sie durch Dinge – Pflanzen, Tiere oder Menschen – nur symbolisiert werden, „selbst aber als irgendwie nach eigenen Gesetzen lebende, aber normalerweise unsichtbare Wesen gedacht“ sind, deren Verhalten man sich nach den Regeln der Analogie denkt (Weber 2001, S. 125). Präanimismus, Animismus, Symbolismus: diese drei ‚,Stufe[n] der Abstraktion“ liegen dem zugrunde, was Weber als „magisches Charisma“ bezeichnet und von anderen Erscheinungsformen des Charisma, etwa dem religiösen oder prophetischen Charisma, abgrenzt.

Die von Weber genannten Begriffe entstammen, wie nicht umständlich begründet werden muss, dem religionswissenschaftlichen Diskurs des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Heute wird hier vieles anders gesehen. In dem beeindruckenden Entwurf einer „monistischen Anthropologie“ von Philippe Descola beispielsweise steht die Bezeichnung Naturalismus für ein idealtypisches Identifikationsmuster, das eine Diskontinuität der „Interioritäten“ (das sind Annahmen über die geistige, seelische und bewusstseinsmäßige Verfassung) mit einer Kontinuität der „Physikalitäten“ (der äußeren Gestalt der Körper, der physiologischen, perzeptiven und sensomotorischen Prozesse) verbindet und zugleich davon ausgeht, dass die Materie und das Leben universellen Gesetzen gehorchen (Descola 2013, S. 181f., 259). Der von Marett eingeführte und vor allem von der Durkheim-Schule zu religionssoziologischer Prominenz erhobene Präanimismus taucht in diesem Entwurf nicht mehr auf. Die mit ihm gemeinte Vorstellung einer Kontinuität der Interioritäten im Sinne einer unpersönlichen, geistig-seelischen Substanz, die Menschen und Nichtmenschen gemeinsam ist, wird dem neu gedeuteten Animismus als einem mixtum compositum zugeschrieben, welches Ähnlichkeit der Interioritäten mit einer Differenzierung der Physikalitäten verbindet und zugleich die Möglichkeit einer Austauschbarkeit bzw. Transzendierung der äußeren Formen durch Individuen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten eröffnet, wie z.B. Schamanen, Zauberer und rituelle Spezialisten.26 Webers Symbolismus deckt sich mit Descolas „Analogismus“, der Unterschiede sowohl der Interioritäten als auch der Physikalitäten kennt (ebd., S. 301ff.), wohingegen der von Weber in anderen Zusammenhängen erwähnte, zeitweilig in Misskredit geratene „Totemismus“ für beide Ebenen Ähnlichkeiten postuliert (ebd., S. 219ff.). Typisch für den Analogismus, dem sich „die Gesamtheit der Existierenden in eine Vielzahl von Wesenheiten, Formen und Substanzen aufsplittert“, die per analogiam wieder zusammengefügt werden, sind Phänomene wie Besessenheit, Seelenwanderung und Reinkarnation (ebd., S. 318); typisch für den Totemismus Konzepte wie die „Traumzeit“ der australischen Aborigines, die die Welt als Produkt von Mischwesen aus Menschen und Nichtmenschen auffassen (ebd., S. 222ff.). Obwohl Descola bisweilen die Auffassung äußert, dass sich die Identifikationsmuster und die auf ihnen beruhenden „ontologischen Schemata über die ganze Erde verteilen, je nach der Vorliebe der Völker für diese oder jene Weise, ihr Verhältnis zur Welt und zu den anderen zu organisieren“, zeigen seine näheren Ausführungen doch, dass sie in Korrelation – Weber würde sagen: Wahlverwandtschaft –zu bestimmten Formen sozialer Beziehungen stehen: der Totemismus zum (verallgemeinerten) Tausch, wie er für die Heiratsallianzen der australischen Aborigines typisch ist; der Animismus neben Beziehungen des Tauschs auch zu solchen der Gabe und des Raubes; der Analogismus insbesondere zum Schutz, „häufig in Kombination mit der segmentären Logik der Anzestralität“, die sich wiederum aus dem Beziehungsmodus der Übermittlung ergibt; der Naturalismus durch (Handels-)Austausch und durch Schutz (der Bürger durch den Staat) (ebd., S. 567ff.). In der gröberen Schematik der differenzierungstheoretischen Soziologie ließen sich Totemismus und Animismus der segmentären Differenzierung, der Analogismus der stratifikatorischen Differenzierung und der Naturalismus der funktionalen Differenzierung zuordnen, wofür auch die von Descola gewählten Beispiele sprechen.27 Für die in diesem Buch verfolgte Fragestellung sind die animistischen und analogischen Verbände von besonderem Interesse, da der totemistische Verband allen Gliedern den gleichen Status zuweist und damit politischen und hierokratischen Zwang ausschließt, während der Naturalismus beide kennt, aber scharf voneinander trennt. Auch Descola verortet die Anfänge des Staates zwischen diesen beiden Extrempolen, lenkt die Aufmerksamkeit aber stärker, als ich es tun werde, auf die analogischen Verbände, die aufgrund ihrer relativ hohen Mitgliederzahlen einer politischen Zwangsgewalt bedürften, um „von Tag zu Tag den Zusammenschluß der Singularitäten in einer wirklichen Hierarchie zu gewährleisten“ (ebd., S. 441). Das ist gewiss ein plausibler Gesichtspunkt, wird in diesem Buch aber als Fluchtpunkt verstanden, zu dem hin auch bereits in der animistischen Welt starke Kräfte gravitieren.

Relevant für die Ursprünge und Frühformen des Staates ist das (magische) Charisma freilich nicht so sehr in seiner genuinen, d.h. persönlichen und außeralltäglichen Gestalt. Wichtiger sind die Formen, die es im Wege der „Veralltäglichung“ anzunehmen vermag. Dieser Begriff ist bei Weber sehr weit gefasst, da er auch jene Prozesse der „Traditionalisierung“ und der „Legalisierung“ einschließt, bei denen das Charisma ersetzt oder zerstört wird (Weber 1976, S. 143). Für die hier verfolgten Zwecke ist jedoch vor allem jene Transformation von Interesse, bei welcher das Charisma zwar wesentliche Merkmale einbüßt, jedoch so, „daß stets der Charakter des Außergewöhnlichen, nicht jedermann Zugänglichen, den Qualitäten der charismatisch Beherrschten gegenüber prinzipiell Präeminenten erhalten bleibt“ (Weber 2005, S. 517). Das kann etwa dadurch ermöglicht werden, dass sich die Vorstellung durchsetzt, die spezifische charismatische Qualifikation, sei sie magischer, religiöser, politischer oder sonstiger Natur, liege „im Blute“ und könne in Gestalt eines „Erbcharisma“ oder „Gentilcharisma“ gewissermaßen ohne Verdienst und Ansehen der Person von Generation zu Generation weitergegeben und dadurch zur Grundlage einer „Art von ständischer Gliederung gemäß den charismatischen Qualifikationsunterschieden“ werden (ebd., S. 517ff., 740f.). Erhalten bleibt das Charisma aber auch dann, wenn sich die Vorstellung verfestigt, dass es eine „durch eine bestimmte Art von Hierurgie, Salbung, Händeauflegung oder andere sakramentale Akte übertragbare oder erzeugbare magische Qualität“ sei, die „an den Inhaber eines Amts oder an ein bestimmtes institutionelles Gebilde“ geknüpft sei (ebd., S. 741, 517). Ist dies der Fall, hat man es mit „jener eigentümlichen institutionellen Wendung des Charisma“ zu tun, welche „seine Anhaftung an ein soziales Gebilde als solches [bewirke], als Folge der an die Stelle des charismatischen persönlichen Offenbarungs- und Heldenglaubens tretenden Herrschaft der Dauergebilde und Traditionen“ (ebd., S. 526).

Max Weber hat mit diesen Begriffen ein Instrumentarium geschaffen, das noch immer relevant ist. Seine Herleitung ständischer Ordnungen etwa hat weit über die Soziologie hinaus gewirkt und nicht zuletzt in der Anthropologie Widerhall gefunden, etwa bei Morton H. Fried mit dem Konzept der rank society oder bei Mary W. Helms, die, ohne den Begriff des Charisma zu verwenden, die Ursprünge von „qualitativer Hierarchie“ und Aristokratie mit dem Glauben an übermenschliche bzw. übernatürliche Kräfte und Qualitäten in Verbindung bringt und diese wiederum an kosmologische Vorstellungen, den Zugang zu Ahnen, himmlischen Geistern und Göttern koppelt.28 Dennoch finden sich auch bei Weber Übertreibungen, die der Sache nicht förderlich sind. Dazu gehört insbesondere seine Neigung, die Veralltäglichung des Charisma als „Versachlichung“ zu verstehen und diese nicht als Objektivierung, sondern als Entpersönlichung zu deuten. Bezieht man das magische Charisma auf die Ontologien des Animismus und des Analogismus, dann muss man davon Abstand nehmen. Solange der Animismus dominiert, ist vielmehr mit einer Kombination von persönlichen und unpersönlichen Momenten zu rechnen, während der Analogismus sogar eine „Flut von Singularitäten“ erzeugt (Descola 2013, S. 339), zugleich aber auch die Möglichkeit eröffnet, institutionelle Gebilde in Analogie zu persönlichen Wesen zu denken. Die katholische Kirche etwa wird in einem häufig verwendeten Bild als Person bzw. als Teil einer Person gedacht, nämlich als „Leib in Christo“ (Römer 12, 5).

Übertrieben erscheint auch, wie Weber das Veralltäglichungskonzept auf die Entstehung des Staates bezog. Obwohl ihm dafür mit der Unterscheidung von magischem und politischem Charisma sowie der entsprechenden Rollen von Zauberer/Schamane und Kriegshäuptling ein breites Spektrum von Deutungsmöglichkeiten zur Verfügung stand, entschied er sich meist dafür, vor allem die zweite Seite dieses Duals zu akzentuieren. „Der typische Keim derjenigen Vergesellschaftung, welche wir heute ‚Staat‘ nennen, liegt in freien Gelegenheitsvergesellschaftungen von Beutelustigen zu einem Kriegszug unter selbstgewähltem Führer einerseits, in der Gelegenheitsvergesellschaftung der Bedrohten zur Abwehr anderseits. Es fehlt völlig das Zweckvermögen und die Dauer. Ist der Beutezug oder die Abwehr gelungen (oder: mißlungen) und die Beute verteilt, so hört die Vergesellschaftung zu bestehen auf. Von da bis zur Dauervergesellschaftung der Kriegerschaft mit systematischer Besteuerung der Frauen, Waffenlosen, Unterworfenen und weiter zur Usurpierung richterlichen und verwaltenden Gesellschaftshandelns führt in lückenlosen Uebergängen ein weiter Weg“ (Weber 1973, S. 451).

Das historische Anschauungsmaterial hierfür entnahm Weber, von wenigen Ausnahmen abgesehen, der mediterranen und germanischen Frühgeschichte, mit der er über seine agrarhistorischen Arbeiten bestens vertraut war. Mykenische Burgenkönigtümer, römische Adelspolis, germanische principes oder feudaler Flächenstaat des Mittelalters – in all diesen Fällen sah Weber Abwandlungen des in Kriegs-, Raub- und Eroberungszügen sich bewährenden charismatischen Gefolgschaftswesens, das sich je nach den Machtverhältnissen zum monokratischen Kriegsfürstentum oder Königtum entwickeln oder eine mehr aristokratisch-oligarchische Form annehmen konnte.29 Auch wenn sich dies auf den ersten Blick wie eine Bestätigung der These einer ‚kriegszentrierten‘ Betrachtungsweise Max Webers lesen mag:30 Für Weber war nicht der Krieg als solcher oder die Unterwerfung eines Stammes unter einen anderen „der entscheidende[n] Schritt, an welchen man zweckmäßiger Weise den Begriff Königtum und Staat anknüpft“, sondern die Manifestation des ‚militärischen Charisma‘, das auf diese Weise zur Grundlage eines „weltlichen […] Führertums“ wurde (Weber 2005, S. 515, 535, 736, Hervorhebung d. Verf.).

Auch diese Gedankenkette ist jedoch nur begrenzt tragfähig. Was ihren Ausgangspunkt angeht: die Unterscheidung zwischen ‚magischem‘ und ‚politischem Charisma‘, so hat die Forschung seither vielfältige Belege für die Relevanz dualer Muster und die von Weber postulierte Asymmetrie beider erbracht. Die neoevolutionistische wie die strukturale Anthropologie haben nachgewiesen, dass egalitäre wie transegalitäre Verbände nicht nur durch verwandtschaftliche Beziehungen reguliert wurden, sondern auch durch „nonkinship moieties“ (White 1959, S. 159), die vielerorts höchst unterschiedliche Aufgaben wie die Regelung der Heiraten oder des wirtschaftlichen und rituellen Austauschs erfüllten und zuweilen auch mit einer Zweiteilung der Macht zwischen einem zivilen und einem militärischen Leiter verbunden waren.31 In Teotihuacan, bei den Maya und bei den Azteken verwandelten sich die Hälften in „political moieties“, in Verbände, in denen der „external leader“ politisch die Vorherrschaft gewann und seine Position erblich wurde, was zugleich mit einem Übergang zu staatlichen Organisationsformen verbunden war.32 Noch einen Schritt weiter in dieser Richtung hat das bronzezeitliche Europa getan, von dem es heißt, „dass Kriegertum die einzige Form der Herrschaftslegitimation der Elite ist, für die der archäologische Befund […] deutliche Hinweise bietet“ (Ruppenstein 2012, S. 52). Im Spanien der El Argar-Kultur, im Sardinien der Nuraghen-Kultur und auf dem griechischen Festland der frühmykenischen Kultur hat man es mit aristokratischen Eliten zu tun, die wenig Bereitschaft zeigten, in die architektonische Gestaltung heiliger Bezirke zu investieren, und sich stattdessen in permanenten kriegerischen Auseinandersetzungen und Fehden ergingen.33

Weber hat hier also Zusammenhänge gesehen, die sich nicht bestreiten lassen. Dessen ungeachtet ist jedoch festzuhalten, dass er es versäumt hat, mit gleicher Aufmerksamkeit dem anderen Strang nachzugehen, der sich aus seinen Überlegungen ergibt: der Institutionalisierung bzw. Veralltäglichung des magischen Charisma. Um dieses Manko auszugleichen, habe ich mich in früheren Arbeiten auf weite Strecken mit den Deutungsangeboten beholfen, die die in den 70er-Jahren von Jonathan Friedman und anderen entwickelte „epigenetische Theorie der Zivilisation“ bereitstellte:34 eine Konzeption, an der ich auch heute noch bewundere, wie dicht in ihr anthropologische und archäologische Fakten mit langfristig angelegten Prozessanalysen verwoben sind, an der mich inzwischen aber auch manches stärker stört als bei der ersten Rezeption. Das betrifft nicht so sehr die von der Kritik monierte unzureichende Berücksichtigung von Weltbildfaktoren bzw., genau umgekehrt, deren Überschätzung zulasten des Zwangs,35 als vielmehr die aus dem Marxismus übernommene Fixierung auf Produktionsverhältnisse; das funktionalistische Weber-Verständnis; die Annahme, „daß die Welt niemals mit Teilen beginnt, die sich irgendwie zu größeren Gesamtheiten fügen“, vielmehr im Gegenteil „die Gesamtheiten oder Strukturen bereits den Teilen inhärent sind und die Teile keine autonome Existenz haben können“ (Ekholm Friedman/Friedman 2008, S. 10); den damit verbundenen holistischen Anspruch, “,total‘ systems of social reproduction“ erfassen zu wollen, und die entsprechende Überschätzung der Kohäsion des „Ganzen“ und der Interdependenz seiner Teile; schließlich die Tendenz, das von Wallerstein und anderen entwickelte Konzept des „Weltsystems“ mit seiner Gliederung in Zentrum und Peripherie historisch immer weiter zurückzuverlagern, bis in die Frühdynastische Periode in Mesopotamien und das Alte Reich in Ägypten.36 Dies alles sind Hypotheken, mit denen sich ein an Max Weber orientierter Analyserahmen besser nicht belasten sollte.

Davon unberührt bleibt freilich die Auflösungs- und Trennschärfe der von der epigenetischen Zivilisationstheorie bereitgestellten Entwicklungskonstruktion, die zahlreichen Untersuchungen zur Grundlage gedient hat.37 Grundlegend hierfür war zunächst Friedmans Re-Interpretation von Edmund Leachs klassischer Studie über die politischen Systeme im Hochland von Burma, die am Beispiel der Kachin demonstrierte, wie aus egalitär strukturierten Gemeinschaften eine „Rang-Gesellschaft“ werden kann.38 Als entscheidend erschien dabei der Umstand, dass unter den Bedingungen eines, mit Descola zu reden, animistischen Weltbildes, das die segmentäre Struktur in die Welt der Ahnen-Geister verlängerte, jeder Erfolg in der Produktion und insbesondere jede Steigerung des Mehrprodukts als Indiz für die besondere Nähe des betreffenden Haushalts bzw. einer Lineage zu den ältesten und eo ipso höchsten Ahnen-Geistern gedeutet und dadurch zur Quelle von Prestige bzw. Charisma wurde. Die Bewährung dieses Charisma erfolgte in der Regel durch „feasting“, d.h. durch Distribution des Mehrprodukts unter die übrigen Lineages.39 Darüber hinaus manifestierte es sich in einer Steigerung des Brautpreises für die Töchter der dominanten Lineage, was zu einer weiteren Verstärkung der Rangdifferenzierung führte. Am Ende dieses Prozesses stand die Identifikation der dominanten Lineage und ihres Oberhauptes mit den höchsten Ahnen-Geistern/Göttern und eine Umdeutung der bis dahin relativen Rangordnung in eine absolute, in der alle kollateralen Filiationslinien, aber auch alle Individuen, nach der Reihenfolge der Geburt des jeweiligen Familiengründers und nach der segmentären Distanz zur Hauptabstammungslinie abgestuft waren: der aus der Anthropologie seit Kirchhoff wohlbekannte „konische Klan“.40 Die älteste Lineage stellte fortan nicht nur den Häuptling, sie wurde zugleich zur Vermittlungsinstanz zwischen den Göttern und den übrigen Lineages, wodurch sie zum Empfänger von Tributen und Arbeitsleistungen wurde, die zuvor den Ahnen und Göttern der einzelnen Lineages geopfert worden waren. „Durch diese Monopolisierung der imaginären Produktionsbedingungen wird der Häuptling in die Lage versetzt, einen beträchtlichen Teil der Gesamtarbeit der Gemeinschaft zu kontrollieren. Dies ist ein neues vertikales Produktionsverhältnis zwischen einer Lineage und der Gemeinschaft als Ganzer, das sich direkt aus der vorangegangenen Struktur ergibt. Der konische Klan kann daher nicht als eine besondere Institution angesehen werden, er ist vielmehr die Form einer im Entstehen begriffenen Stammesgesellschaft“ (Friedman 1975, S. 211).

Damit war eine Dynamik in Gang gesetzt, deren weiterer Ausgang freilich maßgeblich durch Umweltbedingungen beeinflusst wurde. Dort wo, wie etwa bei den Chin und Naga, der territorialen Expansion teils wegen der ungünstigeren Produktionsbedingungen, teils wegen der Existenz der benachbarten Shan-Staaten, enge Grenzen gesetzt waren, schlug die Dynamik des Tribalsystems in eine Devolution um, die unter Umständen bis zu völliger Fragmentierung führen konnte (Friedman 1998, S. 242ff.; ders. 1975, S. 192f.). Wo dagegen die ökologischen Bedingungen eine Steigerung der Surplusproduktion erlaubten, wie bei denjenigen Gruppen, die die gebirgigen Regionen von Oberburma verließen und sich in Assam ansiedelten, konnte die Zentralinstanz ihre Stellung ausbauen, indem sie ihren Stab und ihr Territorium vergrößerte, vor allem aber die potentiellen Träger der gumlao-Revolten, die adligen Lineages, durch verwandtschaftliche Bindungen und Zuweisung von Herrschaftspositionen im Zentrum domestizierte. Resultat dieser Entwicklung war der sogenannte „asiatische Staat“ bzw. „konische Klanstaat“, in dem der Häuptling zum König wurde und nach und nach alle Rituale der Gemeinschaft an sich zog, bis er am Ende allein den Zugang zur Welt des Übernatürlichen kontrollierte, sodass nur über ihn eine Kommunikation mit den unsichtbaren Kräften möglich war, die als Garanten der Fruchtbarkeit und des Wohlergehens fungierten. Nach Ansicht Friedmans ist dies der Weg, der für die Staatsbildung nicht nur in Südostasien, sondern auch in China sowie anderen Teilen der Welt bestimmend geworden ist (Friedman 1998, S. 274ff.).

Zur Charakterisierung der Herrschaftsstruktur des konischen Klanstaates verwendet Friedman gelegentlich den ebenso altehrwürdigen wie vieldeutigen Begriff der „Theokratie“ (ebd., S. 347f.; Friedman und Rowlands 1977, S. 227). Da dieser auch bei Max Weber vorkommt, dort allerdings in einem deutlich engeren Sinne, sind zur Vermeidung von Missverständnissen einige Erläuterungen erforderlich. Für Weber verkörpert die Theokratie eine gesteigerte Form der Hierokratie – diese Letztere nicht nur verstanden im Sinne des hierokratischen Verbandes, sondern in dem der Herrschaft einer besonderen Personengruppe, die „auf den regelmäßigen, an bestimmte Normen, Orte und Zeiten gebundenen und auf bestimmte Verbände bezogenen Kultusbetrieb“ eingestellt ist: der Priesterschaft (Weber 2001, S. 159). Hierokratie sans phrase liegt vor, wenn die Priesterschaft einen nicht aus ihren Reihen stammenden „weltlichen Herrscher“ legitimiert, indem sie ihn entweder als „Inkarnation“ der höchsten Gottheit beglaubigt oder seiner Herrschaft attestiert, „gottgewollt“ zu sein bzw. „magische Qualität“ zu besitzen, welche wiederum von ihr „durch eine bestimmte Art von Hierurgie, Salbung, Händeauflegung oder andere sakramentale Akte“ übertragen wird. Im Falle der Theokratie dagegen steigert sich die „Verfügungsgewalt über die Krone, welche damit in die Hände der Priesterschaft gelegt ist, […] bis zu einem förmlichen Priesterkönigtum […], bei welchem der Chef der geistlichen Hierarchie als solcher auch die weltliche Gewalt ausübt, […] also als Priester auch die Königsfunktionen“ versieht.41 Gemeinsames Begriffsmerkmal von Hierokratie und Theokratie ist hier das Vorhandensein eines Stabes von Personen, der sich berufsmäßig und organisiert mit Kultus und Seelsorge, der Spendung oder Versagung von Heilsgütern befasst – eine Bedingung, die historisch ebenso voraussetzungsvoll ist wie die Ausdifferenzierung administrativer, militärischer oder polizeilicher Erzwingungsstäbe.

Für die meisten der in diesem Buch behandelten Fälle gilt jedoch eine andere Einsicht Webers: dass es Kultus auch „ohne gesondertes Priestertum“ gibt (Weber 2001, S. 159), getragen und unterhalten von Ältesten, moieties, Häuptlingen oder, bei vollzogener conicization4243