Das Jahrhundert der Genies
und der Kampf um die Relativitätstheorie
Aus dem Englischen
von Norbert Juraschitz
und Friedrich Pflüger
C.H.Beck
Die Biographie der Relativitätstheorie
Die Allgemeine Relativitätstheorie war und ist der größte Triumph der modernen Physik. Von dem Augenblick an, da Einstein seine Theorie im Jahr 1915 vorschlug, wurde sie mit Enthusiasmus aufgenommen, stieß jedoch ebenso auf erbitterten Widerstand. Bis heute ist sie Anlass von Fehden, ideologischen Kämpfen, aber auch fruchtbarer internationaler Zusammenarbeit.
Der Astrophysiker Pedro G. Ferreira hat die Biographie der allgemeinen Relativitätstheorie geschrieben. Sein Buch, das sich wie ein wissenschaftlicher Roman liest und ganz ohne Gleichungen und Kurven auskommt, ist eine fesselnde Erzählung der Ideen und Personen hinter Einsteins Theorie.
„Einsteins herrliche Theorie ist annähernd ein Jahrhundert alt, und sie hat seitdem ein wahres Crescendo an Entdeckungen ausgelöst. Mehr denn je ist ihr Platz heute an der vordersten Wissenschaftsfront, unverzichtbar für unser Verständnis des Universums. Pedro Ferreira beschreibt klar und unakademisch die wissenschaftlichen Durchbrüche, die von Einsteins Theorie ausgingen, und die Persönlichkeiten, die daran beteiligt waren.“
Martin Rees
„Die perfekte Lektüre.“
Steven Strogatz
Pedro G. Ferreira wuchs in Portugal und Großbritannien auf und ist nach Stationen in London, Berkeley und am CERN seit 2000 Professor für Astrophysik in Oxford. Seit mehr als 25 Jahren ist sein Forschungsschwerpunkt die Allgemeine Relativitätstheorie und die Kosmologie.
Für Gisa, Bruno und Mia
Vorwort
Kapitel 1 Wenn sich eine Person im freien Fall befindet
Kapitel 2 Der wertvollste Fund
Kapitel 3 Korrekte Mathematik, schreckliche Physik
Kapitel 4 Kollabierende Sterne
Kapitel 5 Komplett durchgeknallt
Kapitel 6 Radio Days
Kapitel 7 Wheelers Glanzzeit
Kapitel 8 Singularitäten
Kapitel 9 Die Suche nach der einheitlichen Theorie
Kapitel 10 Die Schwerkraft sehen
Kapitel 11 Das dunkle Universum
Kapitel 12 Das Ende der Raumzeit
Kapitel 13 Eine sensationelle Extrapolation
Kapitel 14 Es wird etwas geschehen
Dank
Anmerkungen
Bibliographie
Register
Am 6. November 1919 erhob sich Arthur Eddington bei einer gemeinsamen Versammlung der Royal Society und der Royal Astronomical Society und läutete mit seiner Verlautbarung sang- und klanglos den Untergang des bislang herrschenden Paradigmas der Gravitationslehre ein. Der Astronom aus Cambridge beschrieb feierlich und etwas langatmig seine Reise zu der kleinen, üppig bewachsenen Insel Príncipe vor der westafrikanischen Küste, wo er mit einem Teleskop Bilder einer totalen Sonnenfinsternis aufgenommen hatte, und wies dabei insbesondere auf einen blassen Sternenhaufen im Hintergrund hin. Durch genaue Bestimmung der Position dieser Sterne konnte Eddington nachweisen, dass die von Isaac Newton, dem Schutzheiligen der britischen Wissenschaften, aufgestellte Gravitationstheorie, die mehr als zwei Jahrhunderte lang als Wahrheit gegolten hatte, nicht stimmte. Er forderte, dass eine neue und korrekte Theorie an ihre Stelle treten müsse – die von Albert Einstein vorgeschlagene «allgemeine Relativitätstheorie».
Schon damals war Einsteins Theorie für ihr Erklärungspotenzial bezüglich des Universums ebenso bekannt wie für ihre Unverständlichkeit. Nach dem offiziellen Programm, und bevor sich alles ins abendliche London zerstreute, standen Publikum und Redner noch etwas beisammen, und der polnische Physiker Ludwik Silberstein schlenderte zu Eddington hinüber. Silberstein, selbst Autor eines Buchs über Einsteins enger gefasste «spezielle Relativitätstheorie», hatte Eddingtons Vortrag mit großem Interesse verfolgt und erklärte nun: «Professor Eddington, Sie müssen einer der drei Menschen auf der Welt sein, die die allgemeine Relativität verstanden haben.» Als Eddington nicht gleich antwortete, fügte er an: «Nur keine falsche Bescheidenheit, Eddington.» Der Angesprochene nahm ihn scharf ins Visier und entgegnete: «Ganz im Gegenteil. Ich überlege, wer die dritte Person sein könnte.»[1]
Schon zu der Zeit, als ich Einsteins allgemeine Relativitätstheorie für mich selbst entdeckte, musste Silbersteins Zahl höchstwahrscheinlich nach oben korrigiert werden. Das war zu Beginn der 1980er Jahre, als Carl Sagan in der Fernsehserie Unser Kosmos erklärte, wie sich Raum und Zeit ausdehnen und gleichzeitig schrumpfen können. Ich bat meinen Vater sofort, mir die Theorie zu erklären. Er konnte aber nur dazu sagen, dass sie sehr, sehr schwierig zu verstehen sei. «Kaum jemand versteht die allgemeine Relativitätstheorie», meinte er. So leicht ließ ich mich aber nicht davon abbringen. Etwas an dieser bizarren Theorie mit ihren verformten Gittern aus Raumzeit, die sich um tiefe, trostlose Abgründe des Nichts krümmen, übte eine gewaltige Anziehungskraft aus. Die Auswirkungen der allgemeinen Relativität konnte ich in alten Folgen von Raumschiff Enterprise sehen, wenn der Sternenkreuzer von einem Schwarzen Stern in der Zeit zurückkatapultiert wurde oder wenn sich Captain James T. Kirk mit den verschiedenen Dimensionen der Raumzeit vertat. War das denn wirklich so schwer zu verstehen?
Wenige Jahre später ging ich an die Universität von Lissabon und studierte Ingenieurwesen in einem für die faschistische Architektur des Salazar-Regimes typischen monolithischen Klotz aus Stein, Eisen und Glas. Passender hätte die Umgebung nicht sein können für die endlosen Vorlesungen, in denen man uns so nützliche Dinge beibrachte wie Computer, Brücken und Maschinen zu bauen. Manche von uns beschäftigten sich in der Freizeit als willkommene Abwechslung vom endlosen Büffeln mit moderner Physik, und wir alle träumten davon, Albert Einstein zu sein. Hin und wieder tauchte etwas von seinen Gedanken in unseren Vorlesungen auf. Wir lernten den Zusammenhang zwischen Energie und Masse und erfuhren, dass Licht aus Teilchen besteht. Als elektromagnetische Wellen an die Reihe kamen, führte man uns in Einsteins spezielle Relativitätstheorie ein. Diese hatte er 1905 entwickelt, im zarten Alter von 26 Jahren – nur wenig älter als wir selbst. Ein vergleichsweise fortschrittlicher Dozent riet uns, Einsteins Publikationen im Original zu lesen. Diese entpuppten sich als Muster an Prägnanz und Klarheit und standen in krassem Gegensatz zu den weitschweifigen Übungsaufgaben, die wir zu lösen hatten. Die allgemeine Relativitätstheorie, mit der Einstein die Raumzeit einführte, gehörte allerdings nicht zum Lehrplan.
Irgendwann beschloss ich, mir die allgemeine Relativitätstheorie selbst beizubringen. Beim Stöbern in der Bibliothek der Universität stieß ich auf eine faszinierende Sammlung von Monographien und Lehrbüchern der berühmtesten Physiker und Mathematiker des 20. Jahrhunderts. Da war Arthur Eddington, der königliche Astronom aus Cambridge; der Göttinger Geometer Hermann Weyl; Erwin Schrödinger und Wolfgang Pauli, beide Väter der Quantenphysik – und jeder mit seiner eigenen Ansicht, wie Einsteins Theorie zu vermitteln sei. Ein Wälzer von mehr als 1000 Seiten voller blumiger Anmerkungen dreier Relativisten aus Princeton erinnerte eher an ein riesiges schwarzes Telefonbuch. Ein vom Quantenphysiker Paul Dirac verfasstes Bändchen brachte es dagegen gerade einmal auf 70 Seiten. Mir war, als wäre ich in ein neues Universum der Ideen voller faszinierender Persönlichkeiten eingetreten.
Ihr Gedankengut war nicht leicht zu verstehen. Ich musste lernen, auf eine völlig neue Weise zu denken, und war dabei angewiesen auf eine anfangs kaum zu begreifende Geometrie und aberwitzige Mathematik. Wer Einsteins Theorie entschlüsseln wollte, musste diese mathematische Fremdsprache meistern. Damals wusste ich noch nicht, dass es Einstein beim Austüfteln seiner Theorie nicht anders ergangen war. Aber welche ungeahnten Möglichkeiten eröffneten sich, wenn man sich das nötige Vokabular und die Grammatik einmal angeeignet hatte! In diesem Moment begann meine lebenslange Liebe zur allgemeinen Relativitätstheorie.
Es mag wie eine maßlose Übertreibung klingen, aber ich kann der Versuchung nicht widerstehen: Wer sich Albert Einsteins allgemeine Relativitätstheorie aneignet, erhält zum Lohn nichts Geringeres als den Schlüssel zur Geschichte des Universums, zum Beginn der Zeit und der Entstehung der Sterne und Galaxien des Weltalls. Die allgemeine Relativität verrät uns, was in den entlegensten Fernen des Universums zu finden ist, und erklärt, in welcher Weise dieses Wissen unsere Existenz hier und heute beeinflusst. Einsteins Theorie wirft außerdem Licht auf das, was sich in den allerkleinsten Maßstäben abspielt, wo aus dem Nichts Teilchen höchster Energie entstehen können. Sie erklärt, wie Raum und Zeit selbst als stoffliche Grundlagen der Wirklichkeit in Erscheinung treten und zu tragenden Säulen der Natur werden.
Bei der intensiven Beschäftigung wurde mir klar, dass Raum und Zeit mit der allgemeinen Relativitätstheorie eigentlich erst zum Leben erweckt wurden. Der Raum war fortan nicht mehr bloß ein Ort, wo Dinge existierten, und die Zeit keine tickende Uhr, um die Dinge im Auge zu behalten. Bei Einstein sind Raum und Zeit in einem kosmischen Tanz vereint und werden von allem beeinflusst – vom kleinsten Partikel bis zur größten Galaxie. Dabei verweben sie sich zu komplizierten Mustern, die äußerst bizarre Wirkungen hervorrufen können. Im Grunde seit dem Moment ihrer Entstehung half die Theorie beim Erforschen der Natur. Das Universum erwies sich nun als dynamisches Gebilde, das sich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit ausdehnt. Es steckt voller verheerender Fehlstellen in Raum und Zeit, «Schwarze Löcher» genannt, und wird durchmessen von ungeheueren Wellen, jede annähernd mit dem Energiegehalt einer ganzen Galaxie. Die allgemeine Relativitätstheorie hat uns weiter vordringen lassen, als wir uns je hätten vorstellen können.
Und noch etwas an der allgemeinen Relativitätstheorie imponierte mir von Anfang an: Obwohl Einstein nur ein knappes Jahrzehnt zu ihrer Ausarbeitung benötigte, ist sie seither völlig unverändert geblieben. Seit beinahe einem Jahrhundert gilt sie vielen als perfekte Theorie, zutiefst bewundert von allen, die das Vorrecht genießen, sich mit ihr befassen zu können. Ihre Stabilität ist sprichwörtlich, sie gilt als Kernpunkt des modernen Denkens und genießt als kulturelle Errungenschaft den gleichen Rang wie die Sixtinische Kapelle, Bachs Cellosuiten oder ein Film von Antonioni. Die allgemeine Relativitätstheorie lässt sich kurz und knapp in einer Reihe von Gleichungen und Regeln zusammenfassen. Diese sind nicht nur sehr elegant, sie verraten uns auch etwas über die reale Welt. Sie erlauben Vorhersagen über das Universum, die sich durch Beobachtungen bestätigen lassen. Einer verbreiteten Überzeugung nach sind in der allgemeinen Relativitätstheorie sogar noch weitere tiefe Geheimnisse versteckt, die nur darauf warten, aufgedeckt zu werden. Was mehr konnte ich mir wünschen?
Fünfundzwanzig Jahre lang war die allgemeine Relativitätstheorie Teil meines Alltags. Sie war Gegenstand meiner Forschung und bildete die Basis von vielem, das meine Mitarbeiter und ich zu verstehen versuchten. Dabei stehe ich mit meiner Begegnung mit Einsteins Theorie keineswegs allein; auf der ganzen Welt habe ich Menschen getroffen, die in ähnlicher Weise Feuer gefangen haben und ihr Leben damit zubringen, die Rätsel der Theorie zu lösen. Und ich meine wirklich die ganze Welt. Von Kinshasa bis Krakau, von Canterbury bis Havanna schickt man mir regelmäßig wissenschaftliche Arbeiten über neue Lösungen oder sogar mögliche Veränderungen an der allgemeinen Relativitätstheorie. Einsteins Theorie mag schwer zu verstehen sein, aber dafür ist sie demokratisch; gerade weil sie schwierig und widerspenstig ist, bleibt noch so viel zu tun, bis sie in ihrer gesamten Auswirkung verstanden ist. Und jeder, der nur über Bleistift, Papier und Ausdauer verfügt, kann sich daran beteiligen.
Nur zu oft habe ich gehört, wie Doktorväter ihren Studenten aus Angst um deren Berufsaussichten von der Arbeit an der allgemeinen Relativitätstheorie abrieten. Vielen ist sie zu abgehoben. Wer sein Leben der allgemeinen Relativitätstheorie widmet, tut es höchstwahrscheinlich aus einer unwillkürlichen Berufung heraus, als eine Art Liebesdienst. Hat es einen aber einmal gepackt, dann ist es so gut wie unmöglich, diese Gedankenwelt hinter sich zu lassen. Kürzlich traf ich einen der Hauptakteure für die Modellierung des Klimawandels. Er ist ein echter Pionier seines Fachgebiets, Mitglied der Royal Society und Experte für Wetter- und Klimaprognosen – einem noch immer höllisch vertrackten Forschungsfeld. Damit hat er aber nicht immer seinen Lebensunterhalt bestritten, denn als junger Mann in den 1970er Jahren studierte er die allgemeine Relativitätstheorie. Das lag nun fast 40 Jahre zurück, doch als wir uns kennen lernten, gestand er etwas wehmütig: «Eigentlich bin ich ein Relativist.»
Ein Freund von mir hat schon vor einiger Zeit der Wissenschaft den Rücken gekehrt, nach 20 Jahren Arbeit an Einsteins Theorie. Jetzt ist er bei einer Softwarefirma beschäftigt, für die er Systeme zum Speichern großer Datenmengen entwickelt und einrichtet. Er fliegt in der ganzen Welt herum und installiert bei Banken, Unternehmen und Regierungsstellen hochkomplexe und teuere Datenspeicher. Aber wann immer wir uns treffen, löchert er mich mit Fragen oder verrät mir seine neuesten Ideen über die allgemeine Relativitätstheorie. Er kommt einfach nicht davon los.
Was mich an der Theorie ebenfalls verblüfft, ist die Tatsache, dass sie auch fast 100 Jahre nach ihrer Formulierung noch immer zu neuen Erkenntnissen führt. Angesichts der ungeheueren Gedankenleistung, die ihr gewidmet worden ist, hätte ich angenommen, dass sie seit Jahrzehnten verstaubt und zu den Akten gelegt sein müsste. Sie mag schwierig zu begreifen sein, aber müssen die Erkenntnisse, die sie uns liefert, nicht auch ihre Grenzen haben? Sind denn Schwarze Löcher und ein expandierendes Weltall nicht genug? Im Laufe meiner langen Auseinandersetzung mit Einsteins Theorie und im persönlichen Austausch mit vielen brillanten Köpfen, die an ihr gearbeitet haben, ist mir klar geworden, dass die Geschichte der Relativitätstheorie einen Stoff bietet, der kaum weniger faszinierend und komplex ist als die Theorie selbst. Die Antwort auf die Frage, warum die Theorie noch immer so lebendig ist, liegt in ihrer wechselvollen, fast ein Jahrhundert währenden Geschichte verborgen.
Dieses Buch ist die Biographie der allgemeinen Relativitätstheorie. Einsteins Gedanken über den Zusammenhang zwischen Raum und Zeit haben längst ein Eigenleben entwickelt und den gescheitesten Köpfen des 20. Jahrhunderts gleichermaßen Freude und Frustration beschert. Die Theorie hat ständig neue und befremdliche Erkenntnisse über die Natur zutage gefördert, die auch Einstein selbst nur schwerlich akzeptieren konnte. Bei ihrer Weitergabe von einem Kopf zum nächsten haben sich immer wieder unerwartete Entdeckungen ergeben, und das in den merkwürdigsten Situationen. Das Konzept der Schwarzen Löcher entstand auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs und wurde von den Vätern der amerikanischen und der russischen Atombombe zur Reife gebracht. Ein belgischer Priester und ein russischer Mathematiker und Meteorologe postulierten als Erste die Expansion des Universums. Neue und seltsame astronomische Objekte, die bei der Durchsetzung der allgemeinen Relativitätstheorie eine entscheidende Rolle spielten, wurden mehr oder weniger zufällig entdeckt. So kam Jocelyn Bell den Neutronensternen mit Maschendraht auf die Spur, das sie in den Marschen der Cambridge Fens über einem zusammengenagelten Lattengerüst aufspannte.
Die allgemeine Relativitätstheorie war Gegenstand der vielleicht bedeutendsten intellektuellen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts. In Nazideutschland war sie Ziel einer Hetzkampagne, in Russland unter Stalin wurde sie verfolgt und im Amerika der 1950er Jahre wenig geschätzt. Im Kampf um die Weltformel traten die Großen aus Physik und Astronomie in ihrem Namen in den Ring. Es ging darum, ob alles mit einem großen Knall begann oder das Universum schon seit Ewigkeit besteht, und um die grundlegende Struktur von Raum und Zeit. Die Theorie ließ sogar politische Blöcke näher aneinanderrücken, als sich mitten im Kalten Krieg sowjetische, britische und amerikanische Wissenschaftler zusammentaten, um den Ursprung der Schwarzen Löcher aufzuklären.
Dabei spielt die Geschichte der Relativitätstheorie nicht nur in der Vergangenheit. Erst in den letzten zehn Jahren ist klar geworden, dass der größte Teil des Weltalls – sofern die allgemeine Relativitätstheorie zutrifft – dunkel ist. Der Raum ist voller Materie, die nicht nur kein Licht ausstrahlt, sondern auch keines reflektiert oder absorbiert, was sich durch Beobachtungen bestätigen lässt. Fast ein Drittel des Weltalls scheint aus dunkler Materie zu bestehen – schwerem, unsichtbarem Zeug, das die Galaxien wie eine Wolke wütender Bienen umschwärmt. Die anderen zwei Drittel bildet eine flüchtige Substanz, die sogenannte dunkle Energie, die den Raum auseinandertreibt. Nur vier Prozent des Universums bestehen aus dem, womit wir vertraut sind: Atomen. Wir sind völlig unbedeutend. Falls Einsteins Theorie stimmt. Es wäre aber auch möglich, dass wir ihre Grenzen erreichen und die allgemeine Relativität langsam erste Risse zeigt.
Auch für die neue Fundamentaltheorie der Natur, die derzeit theoretische Physiker gegeneinander aufbringt, ist Einsteins Theorie von entscheidender Bedeutung. In der Stringtheorie wird versucht, über Newton und Einstein hinauszugehen und alles in der Natur zu vereinheitlichen; dies geschieht auf der Grundlage komplizierter Raumzeiten mit seltsamen geometrischen Proportionen in höheren Dimensionen und ist mithin noch esoterischer als Einsteins Gedankenmodell. Viele bejubeln sie als endgültige Lösung. Andere halten sie für eine romantische Einbildung ohne wissenschaftlichen Wert. Wie eine Sekte von Abtrünnigen würde es die Stringtheorie ohne die allgemeine Relativitätstheorie gar nicht geben, aber viele Relativisten betrachten sie mit großer Skepsis.
Dunkle Materie, dunkle Energie, Schwarze Löcher und Stringtheorie sind allesamt Früchte der Relativitätstheorie und als solche dominieren sie Physik und Astronomie. Bei meinen Vorträgen an verschiedenen Universitäten, bei Workshops und Sitzungen der Europäischen Weltraumorganisation ESA, die viele wichtige Wissenschaftssatelliten beaufsichtigt, ist mir klar geworden, dass wir in der modernen Physik gerade einen fundamentalen Umbruch erleben. Talentierte junge Physiker gehen heute mit einem Erfahrungsschatz an die allgemeine Relativitätstheorie heran, den Genies über ein ganzes Jahrhundert zusammengetragen haben. Sie rücken Einsteins Theorie mit beispielloser Rechenleistung auf den Leib, erproben alternative Gravitationstheorien, die Einsteins Theorie entthronen könnten, und suchen den Kosmos nach exotischen Objekten ab, die womöglich die Grundsätze der allgemeinen Relativität bestätigen oder auch widerlegen. Gleichzeitig entstehen immer größere Apparaturen, um weiter und mit größerer Klarheit denn je ins Weltall zu blicken, und Satelliten, die auf ihrem Weg die unglaublichen Vorhersagen testen sollen, die uns – wie es scheint – die allgemeine Relativitätstheorie aufgebürdet hat.
Die Geschichte der allgemeinen Relativitätstheorie ist großartig und allumfassend, und sie muss erzählt werden, denn das 21. Jahrhundert ist angebrochen und noch immer sind viele durch sie aufgeworfene Fragen und großartige Entdeckungen nicht befriedigend geklärt. In den kommenden Jahren wird sich etwas Bedeutsames ereignen, und wir müssen die Ursachen verstehen. War das 20. Jahrhundert vor allem von der Quantenphysik bestimmt, so hege ich die Vermutung, dass das 21. Jahrhundert ganz im Zeichen von Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie stehen wird.
Im Herbst 1907 arbeitete Albert Einstein unter großem Druck. Man hatte ihn gebeten, für das Jahrbuch der Radioaktivität und Elektronik eine maßgebliche Zusammenfassung seiner Relativitätstheorie zu erstellen – keine leichte Aufgabe, denn die Frist war kurz und Einstein konnte sich nur in seiner Freizeit damit beschäftigen. Von Montag bis Freitag arbeitete er von 8.00 bis 18.00 Uhr im Schweizer Patentamt in Bern, im neu erbauten Post- und Telegrafengebäude, wo er Konstruktionszeichnungen neuartiger elektrischer Gerätschaften auf ihre Tauglichkeit prüfte. Sein Vorgesetzter hatte ihm eingeschärft: «Wenn Sie ein Gesuch zur Hand nehmen, dann denken Sie, es sei alles falsch, was der Erfinder sagt»,[1] und er nahm sich diesen Rat zu Herzen. Den größten Teil des Tages verbannte er die Notizen und Berechnungen für seine eigenen Theorien und Entdeckungen in sein «Büro für theoretische Physik», wie er die zweite Schublade seines Schreibtischs nannte.
Einsteins Text war als Rekapitulation seiner triumphalen Vermählung der klassischen Mechanik von Galileo Galilei und Isaac Newton mit den neuen Lehren der Elektrizität und des Magnetismus von Michael Faraday und James Clerk Maxwell gedacht. Sein Ziel war, eine Reihe merkwürdiger Auswirkungen der Theorie zu erläutern, die ihm im Lauf der Jahre aufgefallen waren – wie Uhren, die langsamer gehen, wenn sie bewegt werden, oder Gegenstände, die bei hoher Geschwindigkeit schrumpfen. Darüber hinaus erklärte der Text die seltsame, magische Gleichung, der zufolge Masse und Energie austauschbar sind, sowie die Tatsache, dass sich nichts schneller als mit Lichtgeschwindigkeit bewegen kann. Nach dieser Abhandlung sollte sich fast die gesamte Physik durch ein neues, allgemeines Regelwerk beherrschen lassen.
Im Jahr 1905 hatte Einstein innerhalb weniger Monate eine Reihe von Publikationen verfasst, die in kurzer Zeit die Physik veränderten. Teil dieses kreativen Ausbruchs war die Erkenntnis, dass sich Licht – ähnlich wie Materiepartikel – wie Energiebündel verhielt. Das chaotische Zittern von Pollen und Staubteilchen in einer Schale voll Wasser hatte er mit der heftigen Bewegung schwingender und aneinanderstoßender Wassermoleküle erklärt. Und er war ein Problem angegangen, das Physiker beinahe ein halbes Jahrhundert geplagt hatte: Warum verhielten sich die physikalischen Gesetze verschieden, je nachdem, wie man sie betrachtete? Mit dem Relativitätsprinzip hatte er sie miteinander in Einklang gebracht.
All diese erstaunlichen Entdeckungen hatte er gemacht, während er als technischer Experte dritter Klasse im Schweizer Patentamt in Bern wissenschaftliche und technische Neuerungen prüfte. Im Jahr 1907 hatte er den ersehnten Sprung in die akademische Karriere noch immer nicht geschafft, und für jemanden, der gerade wichtige Grundregeln der Physik umgeschrieben hatte, wirkte Einstein ziemlich mittelmäßig. Beim Studium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich war er allenfalls dadurch aufgefallen, dass er Vorlesungen, die ihn nicht interessierten, schwänzte und gelegentlich genau die Menschen gegen sich aufbrachte, die seine Begabung hätten fördern können. Ein Professor erklärte ihm: «Sie sind ein sehr gescheiter Junge, Einstein, ein ganz gescheiter Junge. Aber Sie haben einen großen Fehler: Sie lassen sich nichts sagen!»[2] Als sein Diplomvater die Betreuung eines selbst gewählten Themas verweigerte, lieferte Einstein eine lustlos zusammengeschriebene Arbeit ab, deren Note seine Aussicht auf eine Assistentenstelle am Polytechnikum oder an anderen Universitäten, bei denen er sich beworben hatte, zunichtemachte.
Vom Abschluss des Diploms 1900 bis zur Anstellung am Patentamt 1902 erlebte er beruflich eine Serie von Fehlschlägen. Zu allem Übel wurde seine 1901 an der Universität Zürich eingereichte Dissertation im folgenden Jahr abgelehnt. In dieser Arbeit hatte er sich zum Ziel gesetzt, einige von dem großen theoretischen Physiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts Ludwig Boltzmann vorgebrachte Gedanken zu widerlegen, aber Einsteins Bilderstürmerei wurde nicht gut aufgenommen. Erst im Jahr 1905 erlangte er mit seiner wegweisenden Arbeit über Eine neue Bestimmung der Moleküldimensionen den Doktorgrad. «Er [der Doktortitel] erleichtert den Verkehr mit den Menschen nicht unwesentlich nach meiner Erfahrung»,[3] wie ein neuerdings diplomatischer Einstein bemerkte.
Während sich Einstein weiterhin schwertat, kam sein Freund Marcel Grossman auf dem Weg zur Professorenwürde rasch voran. Er war zuverlässig, fleißig und bei seinen Lehrern beliebt und half Einstein mit seinen präzisen Vorlesungsmitschriften mehr als einmal aus der Patsche. Einstein, seine zukünftige Ehefrau Mileva Marić und Grossman schlossen beim gemeinsamen Studium in Zürich Freundschaft. Anders als Einstein machte Grossman anschließend rasch Karriere. Er wurde Hochschulassistent in Zürich und schloss 1902 seine Promotion ab. Nach einer kurzen Phase als Gymnasiallehrer wurde er Professor für darstellende Geometrie an der ETH. Einstein hatte nicht einmal eine Lehrerstelle bekommen. Erst durch Grossmans Vater, der ihn dem mit ihm befreundeten Leiter des Berner Patentamts empfahl, kam Einstein schließlich als Sachverständiger unter.
Die Anstellung im Patentamt war ein Segen. Nach Jahren der finanziellen Abhängigkeit vom Vater konnte er nun endlich Mileva heiraten und in Bern eine Familie gründen. Die monotone Arbeit im Patentamt mit ihren klar definierten Pflichten und wenigen Ablenkungsmöglichkeiten bot Einstein einen fast idealen Rahmen, um seinen Gedanken nachzugehen. Dazu hatte er genügend Zeit, denn die täglichen Pflichten ließen sich in wenigen Stunden erledigen. So saß er mit einigen Büchern und den Notizen aus dem «Büro für theoretische Physik» an seinem kleinen Schreibtisch und konstruierte Experimente im Kopf. In diesen Gedankenexperimenten stellte er sich Situationen und Apparaturen vor, mit denen sich physikalische Gesetze untersuchen ließen, um herauszufinden, was sie in der realen Welt wohl anstellen würden. Da er nicht über ein Labor verfügte, spielte er alles sorgfältig in Gedanken durch und inszenierte Vorgänge, die er dann wieder peinlich genau untersuchte. Seine mathematischen Kenntnisse reichten gerade aus, um die Ergebnisse zu Papier zu bringen, wobei präzise ausgearbeitete wissenschaftliche Kleinode entstanden, die der Physik eine neue Richtung geben sollten.
Im Patentamt war man mit seiner Arbeit zufrieden und beförderte ihn bald zum technischen Experten zweiter Klasse. Niemand ahnte etwas von seinem wachsenden Ruhm. Er arbeitete sich noch immer täglich durch sein Pensum an Patentanträgen, als der deutsche Physiker Johannes Stark ihm 1907 den Auftrag für einen Essay Über das Relativitätsprinzip und die aus demselben gezogenen Folgerungen erteilte. In zwei Monaten sollte die Arbeit vorliegen. Während dieser Zeit gelangte Einstein zu der Einsicht, dass sein Relativitätsprinzip noch unvollständig war. Er musste es noch einmal völlig überarbeiten, wenn es wirklich allgemein gültig sein sollte.
Der Aufsatz im Jahrbuch war als Zusammenfassung von Einsteins ursprünglichem Relativitätsprinzip gedacht. Diesem zufolge sollten die Gesetze der Physik in jedem Inertialsystem in gleicher Weise gelten. Die Grundidee dazu war nicht neu, sondern schon seit Jahrhunderten bekannt.
Die Gesetze der Physik und der Mechanik beschreiben, wie sich Dinge unter Einwirkung von Kräften bewegen, wie sie beschleunigt oder abgebremst werden. Im 17. Jahrhundert formulierte der englische Physiker und Mathematiker Isaac Newton hierzu eine Reihe von Gleichungen. Seine Bewegungsgesetze beschreiben, was geschieht, wenn zwei Billardkugeln zusammenstoßen, eine Kugel aus einem Gewehr abgefeuert oder ein Ball in die Luft geworfen wird.
Ein Inertialsystem ist ein Bezugssystem, das sich mit gleichbleibender Geschwindigkeit bewegt. Wenn Sie dieses Buch an einem festen Ort lesen – einem gemütlichen Stuhl in Ihrem Arbeitszimmer beispielsweise oder am Tisch in einem Café –, dann befinden Sie sich in einem Inertialsystem. Ein anderes klassisches Beispiel ist ein gleichmäßig schnell fahrender Zug ohne Sicht nach draußen. Wenn Sie in einem solchen sitzen und er seine Reisegeschwindigkeit erreicht hat, lässt sich nicht mehr feststellen, ob Sie sich bewegen. Grundsätzlich sollte sich zwischen zwei Inertialsystemen nicht unterscheiden lassen, selbst wenn sich das eine mit hoher Geschwindigkeit bewegt und das andere stillsteht. Misst man in einem Inertialsystem die Kräfte, die auf einen Gegenstand wirken, dann sollte sich dasselbe Ergebnis ergeben wie in jedem anderen Inertialsystem. Die physikalischen Gesetze haben ihre Gültigkeit unabhängig vom Bezugssystem.
Im 19. Jahrhundert kam eine völlig neue Gruppe von Gleichungen hinzu, die zwei andere Naturkräfte zusammenbrachten – die Elektrizität und den Magnetismus. Zunächst erscheinen die beiden als völlig eigenständige Phänomene. Elektrizität kennen wir von der Beleuchtung zu Hause oder von den Blitzen am Himmel. Magnetismus dagegen lässt Magnete am Kühlschrank haften oder zieht die Kompassnadel nach Norden. Der schottische Physiker James Clerk Maxwell konnte jedoch zeigen, dass beide Kräfte als unterschiedliche Ausprägung einer einzigen Kraft – Elektromagnetismus – gesehen werden können. Wie sich diese Kraft darstellt, hängt davon ab, wie sich der Beobachter bewegt. Ein Mensch, der neben einem Stabmagneten sitzt, kann Magnetismus wahrnehmen, aber keine Elektrizität. Saust die Person aber mit hoher Geschwindigkeit vorbei, dann nimmt sie nicht nur Magnetismus, sondern auch ein bisschen Elektrizität wahr. Maxwell vereinte beide Naturkräfte zu einer einzigen, die unabhängig von der Position oder Geschwindigkeit des Beobachters denselben Wert annimmt.
Versucht man allerdings, Newtons Bewegungsgesetze und die maxwellschen Gleichungen für Elektromagnetismus zu kombinieren, dann ergeben sich Schwierigkeiten. Folgt die Welt tatsächlich beiden Gesetzen, dann müsste es prinzipiell möglich sein, aus Magneten, Drähten und Umlenkrollen eine Maschine zu bauen, die in einem Inertialsystem keine Kraft registriert, in einem anderen Inertialsystem hingegen wohl – ein klarer Verstoß gegen die Regel, dass Inertialsysteme nicht voneinander unterscheidbar sein sollten. Newtons Bewegungsgesetze und die maxwellschen Regeln sind also scheinbar nicht vereinbar. Einsteins Ziel war es, diese «Asymmetrien» in den physikalischen Gesetzen zu beheben.[4]
In den Jahren vor der Veröffentlichung von 1905 entwickelte Einstein das kurz gefasste Relativitätsprinzip mit Hilfe einer Reihe von Gedankenexperimenten, die dieses Problem lösen sollten. Er gelangte dabei zu zwei Postulaten. Das erste war im Grunde nur eine Neuformulierung des Prinzips, dass die Gesetze der Physik in jedem Inertialsystem dieselbe Form haben müssen. Das zweite Postulat war bereits radikaler: In jedem Inertialsystem hat die Lichtgeschwindigkeit denselben Betrag von 299 792 Kilometern pro Sekunde. Mit diesen Postulaten ließen sich Newtons Bewegungsgesetze so anpassen und mit den maxwellschen Gleichungen für Elektromagnetismus kombinieren, dass Inertialsysteme nicht mehr zu unterscheiden waren. Damit hatte Einsteins neues Relativitätsprinzip verblüffende Resultate erbracht.
Für das zweite Postulat mussten die newtonschen Gesetze etwas verändert werden. Im klassisch-newtonschen Universum gilt bei Geschwindigkeiten das Additionsprinzip. Das Licht, das ein fahrender Zug nach vorn ausstrahlt, bewegt sich schneller als das einer stationären Quelle. In Einsteins Universum ist das nicht mehr der Fall. Stattdessen gilt eine kosmische Geschwindigkeitsbeschränkung von 299 792 Kilometern pro Sekunde. Selbst die stärkste Rakete kann diese Schranke nicht durch brechen. Dies hat erstaunliche Auswirkungen. So wird jemand, der sich annähernd mit Lichtgeschwindigkeit bewegt, langsamer altern, wenn er von jemandem beobachtet wird, der am Bahnsteig sitzt und den Zug vorüberfahren sieht. Und der fahrende Zug wird kürzer aussehen als der stehende. Die Zeit dehnt sich, der Raum zieht sich zusammen. Solche Effekte sind Anzeichen für etwas sehr Grundlegendes: In der Welt der Relativität sind Zeit und Raum miteinander verknüpft und wechselseitig austauschbar.
Es scheint, als habe Einstein die Physik mit seinem Relativitätsprinzip vereinfacht, allerdings mit kuriosen Auswirkungen. Als er sich im Herbst 1907 ans Schreiben machte, musste er sich jedoch eingestehen, dass seine Theorie zwar brauchbar war, aber nicht vollständig. So wie er sich die Relativitätstheorie vorstellte, passte Newtons Gravitationstheorie nicht hinein.
Vor Einstein war Isaac Newton in der Physik fast wie ein Gott verehrt worden. Sein Werk galt als höchste Ausprägung des menschlichen Geistes. Ende des 17. Jahrhunderts hatte er die auf sehr kleine wie auf sehr große Dinge wirkende Schwerkraft in einer einzigen einfachen Gleichung zusammengefasst. Damit ließ sich das Weltall genauso gut erklären wie Vorgänge im Alltagsleben.
Newtons Gesetz der allgemein wirkenden Schwerkraft oder das «(Quadrat-)Abstandsgesetz» könnte einfacher kaum sein. Es besagt, dass die Anziehungskraft zwischen zwei Objekten proportional zu der Masse jedes Objektes und umgekehrt proportional zum Quadrat ihres Abstandes ist. Wird also die Masse eines Objekts verdoppelt, so verdoppelt sich auch die Anziehungskraft. Verdoppelt sich dagegen der Abstand der beiden Objekte, dann beträgt die Anziehungskraft nur noch ein Viertel. Mehr als zwei Jahrhunderte lang lieferte Newtons Gesetz zuverlässig Erklärungen für unzählige physikalische Phänomene. Besonders spektakulär war neben der Beschreibung der Umlaufbahnen der bekannten Planeten insbesondere die Vorhersage neuer Himmelskörper.
Seit Ende des 18. Jahrhunderts war an der Umlaufbahn von Uranus eine seltsame Unwucht aufgefallen. Die Astronomen hatten immer mehr Beobachtungsdaten gesammelt und die Bahn des Planeten im Raum immer genauer bestimmt. Dabei war die Vorhersage von Uranus’ Umlaufbahn keineswegs leicht. Man ging zwar von Newtons Gravitationsgesetz aus, musste aber den Einfluss der anderen Planeten auf seine Bewegung berücksichtigen, hier und da Korrekturen anbringen, wobei der Orbit immer komplizierter wurde. Die Astronomen und Mathematiker veröffentlichten ihre Bahnberechnungen in Form von Tabellen, aus denen für bestimmte Tage und Jahre abzulesen war, wo am Himmel Uranus zu sehen sein musste. Verglichen sie ihre Vorhersagen mit tatsächlichen Himmelsbeobachtungen, dann blieb allerdings immer eine gewisse Abweichung, die sie nicht erklären konnten.
Der französische Astronom und Mathematiker Urbain Le Verrier besaß besonderes Geschick bei der Bestimmung und Berechnung der Umlaufbahnen der verschiedenen Planeten des Sonnensystems. Als er sich den Planeten Uranus vornahm, ging er aufgrund seiner Erfahrung mit anderen Planeten davon aus, dass Newtons Theorie vollkommen war. Wenn das der Fall war, dann musste da etwas anderes sein, das noch nicht berücksichtigt worden war. Und so wagte es Le Verrier, die Existenz eines bisher unbekannten Planeten vorherzusagen, für den er eine eigene astronomische Tabelle anfertigte. Zu seiner großen Freude richtete der deutsche Astronom Gottfried Galle sein Fernrohr auf die in Le Verriers Tabelle angegebene Stelle und entdeckte einen großen, unbekannten Planeten, der in seinem Gesichtsfeld schimmerte. In seinem Brief an Le Verrier schrieb er: «Monsieur, der Planet, dessen Position Sie bestimmt haben, existiert tatsächlich.»
Le Verrier war mit Newtons Theorie einen Schritt weiter gegangen und dafür belohnt worden, denn jahrzehntelang war Neptun nur als «Le Verriers Planet» bekannt. Marcel Proust erwähnte Le Verriers Entdeckung in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als Beispiel für das Aufdecken von Korruption,[5] und Charles Dickens verdeutlichte an ihr in seiner Kurzgeschichte The Detective Police die Mühen der Kriminalarbeit.[6] Es war zweifellos eine besonders gelungene Nutzung der Regeln wissenschaftlicher Deduktion. Le Verrier sonnte sich in seinem Erfolg und wandte sich dann Merkur zu – auch dieser folgte offenbar einer merkwürdigen, unerwarteten Umlaufbahn.
Der newtonschen Schwerkraft zufolge kreist ein einzelner Planet in einem einfachen, geschlossenen und etwas verformten Kreis um die Sonne, in einer sogenannten Ellipse. Er kreist und kreist stets auf derselben Bahn und kommt der Sonne dabei abwechselnd näher und entfernt sich wieder. Der sonnennächste Punkt der Umlaufbahn – das Perihel – bleibt über die Zeit konstant. Manche Planeten, beispielsweise die Erde, haben fast kreisförmige Umlaufbahnen, und die Ellipse des Orbits ist kaum verformt. Andere Planeten, wie der Merkur, haben deutlich elliptischere Umlaufbahnen.
Obwohl Le Verrier den Einfluss aller anderen Planeten auf die Bahn des Merkur rechnerisch berücksichtigt hatte, hielt sie sich nicht an das newtonschen Gravitationsgesetz: Das Perihel wanderte um etwa 40 Bogensekunden pro Jahrhundert. (Eine Bogensekunde ist eine Einheit der Winkelmessung; der gesamte Himmelskreis misst etwa 1,3 Millionen Bogensekunden oder 360 Grad.) Diese als Präzession des Merkurperihels bekannte Anomalie konnte nicht mit Newtons klassischer Mechanik erklärt werden. Es musste noch etwas anderes im Spiel sein.
Wieder nahm Le Verrier an, dass Newton recht haben musste, und ging davon aus, dass es sehr nahe an der Sonne noch einen weiteren Planeten etwa von der Größe Merkurs geben musste: Vulcan. Dies war eine kühne, sehr unwahrscheinliche Mutmaßung, über die Le Verrier selbst sagte: «Wie könnte ein äußerst heller und immer in Sonnennähe befindlicher Planet während einer totalen Sonnenfinsternis übersehen worden sein?»[7]
Le Verriers Vermutung war das Startsignal zu einem Wettrennen um die Entdeckung des neuen Planeten Vulcan. In den folgenden Jahrzehnten gab es immer wieder Meldungen über in Sonnennähe gesichtete Objekte, aber keine Beobachtung erwies sich als stichhaltig. Die Suche nach Vulcan endete nicht mit Le Verriers Tod und die Präzession des Merkurperihels blieb den Astronomen im Gedächtnis. Statt eines unsichtbaren Planeten musste sich eine andere Erklärung für die Abweichung von 40 Bogensekunden finden lassen.
Bei den Gedanken, die sich Einstein 1907 über die Schwerkraft machte, ging es darum, Newtons Theorie mit seinem eigenen Relativitätsprinzip in Einklang zu bringen. Dass damit auch die Erklärung des Merkurorbits anstand, war zumindest ein Hintergedanke – was die Sache nicht einfacher machte.
Newtons Erklärung der Schwerkraft verstieß gegen beide Postulate von Einsteins Relativitätsprinzip. Zum einen ist die Wirkung der Schwerkraft nach Newton unmittelbar. Befinden sich zwei Objekte plötzlich nahe beieinander, dann wirkt die Anziehungskraft sofort zwischen ihnen – sie muss nicht erst von einem Objekt zum anderen wandern. Aber wie ist das möglich, wenn sich nach dem Relativitätsprinzip nichts, weder ein Signal noch eine Wirkung, schneller als mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten kann? Ebenso bedeutsam wie irritierend war die Tatsache, dass Einstein bei der Vereinheitlichung von Mechanik und Elektromagnetismus Newtons Gravitationsgesetz nicht berücksichtigen konnte. Die newtonsche Schwerkraft variierte je nach Inertialsystem.
Den ersten Schritt zur Lösung des Gravitationsproblems und hin zur allgemeinen Relativitätstheorie machte Einstein – in Gedanken – eines Tages an seinem Schreibtisch im Patentamt in Bern. Jahre später erinnerte er sich an die Idee, die zu seiner Gravitationstheorie führte: «Wenn sich eine Person im freien Fall befindet, dann spürt sie ihr eigenes Gewicht nicht.»[8]
Stellen Sie sich vor, Sie wären Alice im Wunderland, die ins Kaninchenloch fällt, und nichts könnte Sie aufhalten. Ihre Geschwindigkeit wird unter dem Einfluss der Schwerkraft stetig zunehmen. Da die Beschleunigung dabei genau der wirkenden Schwerkraft entspricht, werden Sie keinerlei Kräfte – sei es Zug oder Druck – verspüren, auch wenn Ihnen die immer schnellere Bewegung einen gehörigen Schrecken einjagen dürfte. Stellen Sie sich nun einige Gegenstände vor, die mit Ihnen fallen, ein Buch, eine Teetasse und ein ebenso erschrockenes weißes Kaninchen. Sie alle werden ebenso stark beschleunigen, um die wirkende Schwerkraft auszugleichen, und daher mit Ihnen im Fallen zusammen schweben. Wollen Sie anhand der Bewegung dieser Gegenstände relativ zu Ihnen selbst die wirkende Schwerkraft experimentell bestimmen, so werden Sie scheitern. Sie werden sich schwerelos fühlen und die Gegenstände werden schwerelos wirken. All dies deutet auf eine enge Beziehung zwischen Beschleunigung und Schwerkraft hin, die sich in diesem Fall gegenseitig aufheben.
Vielleicht gehen wir mit dem freien Fall einen Schritt zu weit. Um Sie herum passiert zu viel; der Wind zerrt an ihnen und die Angst, schließlich am Boden aufzuschlagen, hilft nicht gerade, klar zu denken. Beginnen wir lieber etwas einfacher und geruhsamer. Stellen wir uns vor, dass Sie gerade den Fahrstuhl im Erdgeschoss eines hohen Gebäudes betreten haben. Der Fahrstuhl fährt nach oben, und während der ersten Sekunden, in denen er beschleunigt, fühlen Sie sich ein bisschen schwerer. Nehmen wir umgekehrt an, Sie seien ganz oben im Gebäude und der Fahrstuhl setzt sich nach unten in Bewegung. Während der Aufzug in den ersten Augenblicken Fahrt aufnimmt, fühlen Sie sich leichter. Erreicht die Kabine dann ihre normale Fahrgeschwindigkeit, dann fühlen Sie sich natürlich weder schwerer noch leichter. Ganz zu Anfang aber, während der Aufzug beschleunigt, ist ihr Gefühl für das eigene Gewicht, und mithin der Schwerkraft, beeinträchtigt. In anderen Worten, ihre Wahrnehmung der Schwerkraft hängt völlig davon ab, ob Sie aufwärts oder abwärts beschleunigt werden.
Als sich Einstein an jenem Tag des Jahres 1907 den Menschen im freien Fall dachte, kam er einer Verbindung zwischen der Schwerkraft und der Beschleunigung auf die Spur, die entscheidend für die Eingliederung der Schwerkraft in seine Relativitätstheorie sein sollte. Wenn er diese so abwandelte, dass die Gesetze der Mechanik nicht nur in gleichförmig bewegten, sondern auch aufwärts oder abwärts beschleunigten Systemen galten, dann sollte es gelingen, die Schwerkraft mit dem Elektromagnetismus und der Mechanik zusammenzubringen. Wie das gehen sollte, wusste er nicht, aber diese Erkenntnis war der erste Schritt hin zu einer umfassenderen Relativitätstheorie.
Auf Druck des Herausgebers des Jahrbuchs vollendete Einstein seinen Aufsatz Über das Relativitätsprinzip und die aus demselben gezogenen Folgerungen und fügte ihm ein Kapitel über die Konsequenzen an, wenn er sein Prinzip auf die Gravitation ausdehnte. Dann würde die Schwerkraft die Lichtgeschwindigkeit ändern und Uhren langsamer gehen lassen. Überdies könnten die Auswirkungen des verallgemeinerten Relativitätsprinzips sogar die geringe Abweichung des Merkurorbits erklären. Diese beiden am Ende des Essays eingestreuten Vermutungen waren geeignet, Einsteins Idee in der Praxis zu erproben, aber sie mussten zuerst sorgfältig und in allen Einzelheiten ausgearbeitet werden. Doch vorerst war dazu keine Zeit, und Einstein sollte für mehrere Jahre nicht an der Relativitätstheorie weiterarbeiten.
Mit dem Jahr 1907 neigte sich Einsteins Wirken im Verborgenen dem Ende zu. Seine Veröffentlichungen von 1905 hatten die Runde gemacht und er erhielt nun regelmäßig Briefe von berühmten Physikern, die seine Ideen diskutierten und um Sonderdrucke baten. Erfreut über diese Entwicklung, berichtete Einstein einem Freund: «Meine Arbeiten finden viel Würdigung und geben Anlaß zu weiteren Untersuchungen.»[9] Ein Bewunderer scherzte: «Ich muß Ihnen offen sagen, daß ich mit Staunen gelesen habe, daß Sie 8 Stunden am Tage in einem Bureau sitzen müssen! Es gibt oft einen Treppenwitz in der Geschichte!»[10] Dabei führte Einstein kein schlechtes Leben. Durch die Stelle in Bern hatte er mit Mileva eine Familie gründen können, und 1904 war der Sohn Hans Albert geboren worden. Die Arbeitszeit am Patentamt ließ ihm sogar Zeit, zu Hause Spielzeug für seinen kleinen Sohn zu bauen, aber Einstein war bereit, in die akademische Welt zu wechseln.
Im Jahr 1908 wurde er endlich Privatdozent an der Universität Bern und konnte fortan für zahlende Studenten Vorlesungen halten. Das Unterrichten fand er aber sehr beschwerlich, was sich schnell in seinem Ruf als Dozent niederschlug. Dennoch folgte er 1909 einer Berufung als außerordentlicher Professor an die Universität Zürich. Dort blieb er allerdings wenig länger als ein Jahr, denn 1911 trug man ihm eine Stelle als ordentlicher Professor an der deutschsprachigen Prager Universität an – ohne Lehrverpflichtung. So fand er fern von der Hektik universitärer Lehrverpflichtungen wieder zu einem Geisteszustand zurück, wie ihn auch die geordnete und isolierte Umgebung des Berner Patentamts ermöglicht hatte. Nun konnte er sich wieder Gedanken über die Verallgemeinerung der Relativitätstheorie machen.
Seinem Freund und Kollegen, dem Physiker Otto Stern, vertraute Albert Einstein einmal an: «Wissen Sie, wenn man zu rechnen anfängt, b’scheisst man unwillkürlich.»[1] Schon in der Schule hatte er in Mathematik geglänzt und wusste sie für seine Zwecke zu nutzen. Seine Veröffentlichungen boten eine ausgewogene Mischung aus physikalischem Denken und gerade so viel Mathematik, wie als Grundlage nötig war. Seine Vorhersagen von 1907 bezüglich der allgemeinen Relativitätstheorie waren in mathematischer Hinsicht allerdings äußerst dürftig – einer seiner Züricher Professoren nannte die Präsentation der Arbeit «mathematisch umständlich».[2] Einstein verachtete die Mathematik als «überflüssige Gelehrsamkeit»[3] und spottete: «Seit die Mathematiker über die Relativitätstheorie hergefallen sind, verstehe ich sie selbst nicht mehr.»[4] Aber als er sich 1911 seinen Essay wieder vornahm, erkannte er, dass er seine Ideen mit Hilfe der Mathematik noch etwas weiter voranbringen könnte.
Wieder dachte er im Zusammenhang mit dem Relativitätsprinzip über das Licht nach. Stellen Sie sich vor, Sie reisen fern von Planeten und Sternen mit einem Raumschiff durch das All. Angenommen, ein Lichtstrahl von einem weit entfernten Stern tritt durch ein kleines Fenster zu Ihrer Rechten ein, wandert durch das Raumschiff und verlässt es wieder durch ein Fenster zur Linken. Wenn Ihr Raumschiff stillsteht und das Licht direkt auf das Fenster trifft, dann wird es durch das Fenster links von Ihnen wieder austreten. Bewegt sich das Raumschiff beim Eintritt des Lichtstrahls dagegen sehr schnell, aber mit konstanter Geschwindigkeit, dann hat sich das Raumschiff ein Stück weiterbewegt, wenn der Lichtstrahl die andere Seite der Kabine erreicht, und das Licht wird durch ein Fenster weiter hinten ins Freie treten. Von Ihrem Gesichtspunkt aus tritt das Licht unter einem Winkel in die Kabine ein und durchquert sie in einer geraden Linie. Ganz anders sieht es aus, wenn das Raumschiff beschleunigt: Dann biegt sich der Lichtstrahl in der Kabine und tritt weiter hinten wieder ins Freie.
Hier kommt Einsteins Erkenntnis über die Natur der Schwerkraft ins Spiel. Eigentlich sollte sich die Wirkung der Schwerkraft in einem beschleunigenden Raumschiff nicht anders anfühlen als in einem ruhenden, denn Beschleunigung lässt sich nicht grundsätzlich von Gravitation unterscheiden. Jemand, der im Raumschiff sitzt, während es an der Oberfläche eines Planeten steht, muss dasselbe sehen wie der Passagier eines beschleunigenden Raumschiffs: einen Lichtstrahl, der durch die Schwerkraft gebogen wird. Einstein begriff, anders gesagt, dass die Schwerkraft das Licht genau so ablenkt wie eine Linse.
Die Gravitationskraft musste natürlich ziemlich stark sein, um eine sichtbare Ablenkung zu bewirken. Die Anziehung eines Planeten genügte möglicherweise nicht. Einstein schlug folgenden einfachen Test vor – an einem sehr viel massereicheren Objekt: Die Sonne sollte das Licht entfernter Sterne in ihrer Nähe messbar ablenken. Wenn die Sonne vor ihnen vorbeiwanderte, sollte sich ihre Winkelposition um den winzigen Betrag von etwa einem viertausendstel Grad ändern – eine fast unmerkliche Abweichung, die mit den damaligen Teleskopen aber durchaus messbar war. Da die entfernten Sterne neben der hellen Sonne unmöglich genau auszumachen waren, musste ein solches Experiment allerdings während einer totalen Sonnenfinsternis erfolgen.
Nun hatte Einstein zwar eine Möglichkeit gefunden, die Gültigkeit seiner neuen Ideen zu testen, aber mit der Theorie selbst kam er nicht richtig voran. Noch immer hing alles an seiner Idee aus dem Patentamt mit dem Menschen im freien Fall. Und obwohl er frei von Lehrverpflichtungen war und alle Zeit der Welt hatte, um seine Gedankenexperimente durchzuführen und sich noch mehr in seine Theorie zu vertiefen, war er nicht glücklich. Seine Familie war inzwischen gewachsen. Kurz vor der Ankunft in Prag war der zweite Sohn Eduard geboren worden, aber Einsteins Frau war unzufrieden und fühlte sich fern der gewohnten Umgebung in Bern und Zürich einsam. Schon 1912 packte Einstein die erste Gelegenheit beim Schopf und kehrte als Professor an der ETH nach Zürich zurück.