image

Image

Hermann Kurzke

Die kürzeste
Geschichte
der deutschen
Literatur

und andere Essays

Verlag C.H.Beck

 

 

 

Zum Buch

 

 

Hermann Kurzke ist nicht nur ein Spezialist für Thomas Mann, Kirchenlieder und Kulturchristentum, sondern ein Essayist von Graden. Aus dem Plan zu einer großen Literaturgeschichte entstand vorerst eine kleine, persönliche: Kurzkes Kanon betitelt, und schließlich, noch weiter verdichtet, Die kürzeste Geschichte der deutschen Literatur. Sie ist die Bildungsgeschichte ihres Autors, aber zugleich wie beiläufig ein Ausschnitt der Bildungsgeschichte der deutschen Nation. Der Bogen reicht von Goethe, Novalis und Büchner über Bertolt Brecht und Thomas Mann, Ernst Jünger und Reinhold Schneider bis zu Günter Grass und Martin Walser. Der Ton dieser Prosa ist pointiert, exakt und zugleich emotional. Kurzkes Essays, Porträts und Betrachtungen öffnen einen neuen Zugang zur deutschen Literatur.

 

 

 

Über den Autor

 

 

Hermann Kurzke ist Professor em. für Neuere deutsche Literatur an der Universität Mainz. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: Novalis (2. Auflage 2001), Unglaubensgespräch (3. Auflage 2007, zus. mit Jacques Wirion), Geistliches Wunderhorn (Hrsg., 3. Auflage 2009), Thomas Mann. Epoche, Werk, Wirkung (4. Auflage 2010), Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk (5. Auflage 2009), Thomas Mann. Ein Porträt für seine Leser (2009).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

 

 

1. Abteilung

Kurzkes Kanon

Eine Bibliothek der Verdrängung

Thomas Mann, «Doktor Faustus»

Der Mensch: ein Schwein mit hoher Bestimmung

F. M. Dostojewski, «Die Brüder Karamasow»

Die Literatur als Sphinx

Johann Wolfgang Goethe, «Die Wahlverwandtschaften», Max Frisch, «Montauk»

Vergleiche dich! Erkenne, was du bist!

Über Biographien und Marcel Reich-Ranicki

Aufklärungsfrust und -lust

Christoph Martin Wieland, «Agathon», Gotthold Ephraim Lessing, Ringparabel

Wieviel Romantik braucht der Mensch?

Hermann Hesse, «Narziß und Goldmund»

Verschimmeltes Brot

Christa Wolf, «Der geteilte Himmel»

Die Rosse der Revolution

Georg Büchner, «Dantons Tod»

Edelmensch und Musterknabe

Karl May, Erich Kästner

Vereinzelt Perlen

Botho Strauß, «Paare Passanten»

Kriegsliteratur

Ernst Jünger, «Der Kampf als inneres Erlebnis»

Gerechtigkeit in einer mißgeschaffenen Welt

Heinrich von Kleist, «Michael Kohlhaas»

Sterbelehre

Theodor Fontane, «Der Stechlin»

Das weiße Segel

Gustave Flaubert, «Madame Bovary»

Seehunde und Zuckererbsen

Heinrich Heine, «Deutschland – ein Wintermärchen», Vorrede zum «Romanzero»

An der Vornehmheit zugrunde gehen

Knut Hamsun, «Hunger»

Das Buch der Bücher

Die Bibel

Vom Hervordenken Gottes

Thomas Mann, «Joseph und seine Brüder»

 

2. Abteilung

Die kürzeste Geschichte der deutschen Literatur

 

3. Abteilung

Porträts

Die kluge Liebe

Ignatius von Loyola

Die unaufklärbare Leidenschaft

Sophie La Roche und andere Liebesgeschichten des 18. Jahrhunderts

Stichwort: Goethe

Vom Nutzen der Religion nach der Aufklärung

Novalis

Das Opium der Nostalgie

Adalbert Stifter

Eine Geburtstagsrede

Friedrich Nietzsche, gesehen von Thomas Mann

Vom epischen Charme der Industrie

Erik Reger

Zu glatt und zu schlau

Erich Kästner

Ein dicker Hamlet

Georg Britting

Von der Krone bleibt die Dornenkrone, nichts sonst

Reinhold Schneider

Kein König

Theodor Haecker

Liebe Kitty

Die Tagebücher der Anne Frank

Anna Seghers contra Netty Reiling

Gesprungene Tassen

Hans Erich Nossack

Thomas Mann als Lyriker

Adams Apfel und die Waffen-SS

Günter Grass

Mit der Seele knirschen

Martin Walser über die Liebe des alten Goethe

 

4. Abteilung

Persönliches

Kilchberg, Alte Landstraße 39, Sommer 1976

Eine Begegnung mit Katia, Golo und Michael Mann

Mit Gefühl, fast ohne Ironie

Für Marcel Reich-Ranicki

Die Bibliothek als Lebensspiegel und Seelenraum

Ohne Pathos geht es nicht

Für Stefan Bodo Würffel

Was schätze ich am Christentum?

 

5. Abteilung

Vermischtes

Literatur als Lebenssimulator

Sieben Thesen über Bildung

Vom Elend der Satten

Augen wie Steine

Das Märchen vom Mann ohne Schlaf

Romantische Liebe

Novalis und Maastricht

Ein Versuch über «Die Christenheit oder Europa»

Kirchenlied und Psychoanalyse

Verstehen, nicht verurteilen

Die Manns – ein Jahrhundertroman. Anläßlich des Films von Heinrich Breloer

«Wann wir schreiten Seit an Seit»

Über das Absetzen von Göttern

 

Nachweise

 

Namenregister

Image

1. Abteilung

Kurzkes Kanon

Eine Bibliothek der Verdrängung

Thomas Mann, «Doktor Faustus»

In meinem Elternhaus wurde viel gelesen, aber nur Zweit- und Drittklassiges. Mein Vater war Physiker und hatte bei Kriegsende Grund, den Amerikanern dankbar zu sein. So kam es, daß unsere Bücherschränke angefüllt waren mit englisch-amerikanischer Literatur – das meiste namenlos, serienweise Kriminalromane und Reader’s Digest-Auswahlbücher, nur weniges noch heute bekannt. Da stand Margaret Mitchell (natürlich «Vom Winde verweht») neben John Steinbeck («Jenseits von Eden»), Cecil S. Forester war mit seinen Hornblower-Romanen vertreten und Thomas Wolfe mit «Schau heimwärts, Engel». Besonders gute Chancen, gekauft zu werden, hatten Autoren mit christlichem Hintergrund, Thornton Wilder und Bruce Marshall, C. S. Lewis und auch noch William Faulkner («Licht im August») – allein zu Lieblingen wurden sie nicht, obgleich meine Eltern jedes Buch, das sie gekauft hatten, pflichttreu zu Ende lasen. Aber die wahren Favoriten las man damals nicht nur einmal, sondern mehrfach, die Qualität war erst erwiesen, wenn der Band schiefgelesen war. Ernest Hemingway fehlte; er war Nihilist und Selbstmörder, hatte sich im Spanischen Bürgerkrieg auf die Seite der Kommunisten geschlagen und galt auch sittlich als nicht korrekt. Was fehlte sonst? Natürlich die Linke, Bertolt Brecht und Anna Seghers und überhaupt das deutsche Exil, das unter einem unbestimmten Generalverdacht stand, vermutlich dem der Vaterlandslosigkeit. Von Thomas Mann gab es lediglich die «Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull», die als unterhaltsam galten. Aber auch die Gruppe 47 fehlte. Böll und Grass, Jens und Eich, Frisch und Walser fielen unter die Kategorie anstrengend. Was sonst an deutscher Gegenwartsliteratur vorhanden war, stammte zumeist aus der christlichen inneren Emigration. Werner Bergengruen war präsent mit «Am Himmel wie auf Erden» und Reinhold Schneider mit «Las Casas vor Karl V.» – letzteres sogar in der Erstausgabe von 1938, was in der Bibliothek einer Flüchtlingsfamilie eine Rarität ersten Ranges war, denn Bücher schienen entbehrlich, als man 1945 mit kleinem Gepäck gen Westen zog.

Das war mein Umfeld, als ich mich Ende der fünfziger Jahre als Jugendlicher geistig zu orientieren hatte. Ich las viel, wir hatten lange keinen Fernseher, aber zur Heimat wurden mir die Bücher meiner Eltern nicht. Man konnte mit ihnen viel Zeit totschlagen, aber den Hunger von Herz und Hirn stillten sie nicht. Ich gewöhnte mich daran, keine Fragen zu stellen, denn ich erhielt keine brauchbaren Antworten, weder auf Fragen nach Liebe und Sexualität noch auf Fragen nach Auschwitz. Das literaturkritische Urteil meiner Eltern umfaßte kaum mehr als die Pole spannend und langweilig. Nie gab es eine nennenswerte Diskussion über Bücher. Man fraß alles stumm in sich hinein. Man träumte sich irgendwohin fort. 1960 war ich siebzehn Jahre alt und wußte nichts, obgleich ich viel gelesen hatte. Mein Lesen war Teil eines fortwirkenden Verdrängungsprozesses, in den ich hineingezogen wurde, und nicht Aufklärung über jenen.

Schon daß es überhaupt keine älteren Bücher gab, war ein Problem. Die Zeit vor 1945 war wie weggeschnitten. Es gab weder die Nazis noch ihre Gegner, es gab nicht einmal harmlose Unterhaltungsliteratur aus dieser Zeit. Aber auch aus der Zeit davor war nichts da, nicht die großen Autoren der Weimarer Republik, nicht Kafka, Musil oder Döblin, nicht Tucholsky oder Joseph Roth, und auch weiter zurück fand ich weder Fontane noch Büchner noch Heine vor, weder Stifter noch Eichendorff, weder Goethe noch Schiller, weder Wieland noch Lessing. Auch keine Juden – das ergab sich aus der Genese dieser Bibliothek wie von selbst. Ich wußte damals nicht, was mir fehlte, aber immer häufiger stieg ein dumpfes Unbehagen auf, wenn ich vor den Büchern meiner Eltern stand. Sie rochen nicht nach dem Leben, sondern unfrisch wie Schwerkranke, die noch gelegentlich zucken, oder wie nicht ganz erkaltete Leichen.

Das war die Zeit, als ich anfing, Thomas Mann zu lesen, mit 21 Jahren, und sich mir eine andere Welt eröffnete. Ein Freund schenkte mir, es muß im Jahr 1964 gewesen sein, den «Doktor Faustus». Ich war Theologiestudent mit Zweitfach Germanistik. Ich suchte nach Wahrheit, nach Bekenntnissen und existentiellen Antworten und fand sie auch: in der Auseinandersetzung von Adrian Leverkühn und Serenus Zeitblom um Fragen des Glaubens, um Demut und Hochmut, um Sünde und Gnade, Verdammung und Erlösung. Jeder christliche Intellektuelle kennt das: demütig sein wollen, aber wie Adrian Leverkühn erleben, daß Erkennen und Durchschauen hochmütig macht. Das Motiv des Lachens – jenes spöttische Auflachen, das etwas von mokanter Eingeweihtheit hatte – erinnerte mich an einen Freund, dem ich mich geistig unterlegen fühlte. Ich erlebte mich theologisch als Leverkühn, psychologisch aber eher als Zeitblom, denn meine Ausdrucksweise war ernst und ungeschickt, Ironie und Eleganz waren mir unbekannt.

Das Schicksal Deutschlands im Dritten Reich sah ich im «Doktor Faustus» erstmals in einen großen Zusammenhang gestellt. Der Vorhang, der mir bisher den Blick nach rückwärts versperrt hatte, hob sich aufrauschend und gab ein überwältigendes Panorama frei. Das Drama der neuzeitlichen Geistesgeschichte zog ernst und feierlich über die Bühne. Der Roman hatte eine enorme Orientierungskraft für mich. Er schuf (am Beispiel der Musikgeschichte) nicht nur eine gewisse Ordnung im Reich des Geistes und der Kultur, sondern verband mich auch mit diesem Reich, zeigte mir meine Herkunft als Christ und Deutscher im Guten wie im Bösen.

Was mich damals am wenigsten ergriff, waren die Künstlerfragen – jene Problematik von der ausbleibenden Inspiration und der Erschöpftheit aller Mittel, die heute das aktuellste ist am «Doktor Faustus», der immer noch die Lektüre lohnt. Nirgendwo sonst wird Musik so treffend in Worte übersetzt. Wenn man die wunderbare Analyse von Beethovens Klaviersonate op. 111 gelesen hat, hört man danach auch die Musik viel genauer, inniger und tiefer. Das nationale Element des Faustromans und seine Deutung des Nationalsozialismus überzeugen heute weniger, und am wenigsten fasziniert das Theologische. Der Teufelspakt funktioniert nicht mehr richtig. Die Geschäftsgrundlage stimmt nicht mehr. Ohne Teufel verliert aber auch Faust seine entscheidende Dimension. Unsere Zeit empfindet nicht mehr faustisch. Die Götter sind entthront, man mißt sich nicht mehr titanisch mit ihnen. Der Fauststoff ist nicht aktuell. Wenn Regisseure sich um ihn bemühen, dann weil sie Faust auf dem Kanon wähnen, nicht, weil er aktuell wäre. Um seine Seele zu verkaufen, muß man glauben, daß sie unsterblich ist. Sonst hat sie für den Teufel keinen Wert.

Der Mensch: ein Schwein mit hoher Bestimmung

F. M. Dostojewski, «Die Brüder Karamasow»

Ein Kanon müßte eigentlich, dem Wortsinn nach, eine verbindlich vorgeschriebene Richtschnur sein, wie ein Lehrplan. Es dürfte ihn nur im Singular geben. Da es an einer anerkannten Zentralgewalt fehlt, die ihn aufstellen könnte, gibt es ihn seit einiger Zeit pluralisch – quot philosophi, tot canones. Leselisten und Kanonbibliotheken sind zum intellektuellen Massensport geworden. Im Ergebnis bildet sich ein amorpher Bücherwust heraus, den kein Mensch in seinem Leben je bewältigen kann. Er lastet als sozialer Druck auf denen, die sich zu den Gebildeten rechnen. Sie dürfen sich nicht dabei ertappen lassen, etwas von irgend jemandem Kanonisiertes nicht zu kennen. Darum wird getrickst und geheuchelt. Das ist leicht, weil das Gegenüber meistens auch keine präzisen Kenntnisse hat. Irgendein Schein von Eingeweihtheit reicht. Wer nie etwas von Dostojewski gelesen hat, der palavere von der russischen Seele. Cela suffit.

Kanon hat, so gesehen, weniger mit Bildung zu tun als mit pharisäischem Vorzeigen von «Bildung» als Standesmerkmal. «Bildung» degeneriert zu Prahlsucht, materialisiert sich zu einer Art Besitz, friert aus zu Last, Druck und Anspruch, anstatt unabhängig zu machen, frei und unerpreßbar, wie Diogenes in seinem Faß. Wer, um dazuzugehören, eine Leseliste fleißig durchgearbeitet hat, ist nicht gebildet, sondern ein Bildungsphilister. Das wollen auch die vielen sein, die man sagen hört: Ich les gern, aber ich komm nicht dazu. Sie passen zum Philister wie der Topf zum Deckel. Die Entfremdung genießt in weiten Kreisen mehr Ansehen als die Wahrhaftigkeit.

Aber was ist Bildung? Keine Anhäufung von Wissen, sondern eine Weise der Verinnerlichung. Zwar gilt: «Wir finden in Büchern immer nur uns selbst.» (Thomas Mann) Ja, aber das lohnt sich bisweilen. Wir lesen identifikatorisch, d.h. wir suchen nicht Lehren, sondern Bestätigungen. Nicht das Fremde, sondern das Eigene formulieren die Bücher uns aus. Erkenne dich selbst! Wir setzen uns aus der Weltliteratur ein idealisiertes Ich zusammen, an dem wir uns dann messen, einen mikrokosmischen Privatkanon, der mehr oder weniger geschickt Makrokosmos spielt. Wir nennen das Ergebnis «Bildung» oder «Geschmack» und unterwerfen hinfort jedes neue Buch diesem einmal gefundenen Raster.

Das klingt schlimmer als es ist. Das Beruhigende daran ist: Man braucht dazu gar nicht so viele Bücher. Ein rundes Dutzend mag zur Grundorientierung genügen. Es gibt ja auch nur ein oder zwei Dutzend Themen: Liebe und Tod, Seele und Gott, Individuum und Gesellschaft, Armut und Reichtum, Freiheit und Knechtschaft, Krieg und Frieden, Nation und Revolution, Sinnlichkeit und Geistigkeit, Kunst und Wissenschaft, Arbeit und Familie, Paradies und Unsterblichkeit. Spricht nicht jedes gute Buch vom ganzen Leben? An jedem kann man sein Ich ausbilden, sei es in Zustimmung, sei es im Widerspruch. Alle Bücher zu kennen ist philiströs. Die seinen herausfinden ist Bildung.

Es gibt Bücher für die Stunde und Bücher für’s Leben. Die ersteren sind nach der Lektüre fertig, ausgelesen im Wortsinn, entleert wie ausgeblasene Eier. Die zweite Art hält vor, verträgt das Wiederlesen, gibt jedes Mal Neues preis. Als ich siebzehn war, las ich das erste Mal «Die Brüder Karamasow». Mein idealisiertes Ich suchend verliebte ich mich in den jüngsten der Brüder, Aljoscha, den keuschen, lauteren und zudem hübschen Novizen, der still und innerlich wolkenlos erträgt, wo andere zuschlagen. Ein kleiner Junge, dem er geholfen hat, wirft nach ihm mit Steinen, er verteidigt sich nicht, «hält auch die andere Wange hin». Wäre die Menschengesellschaft erträglicher, wenn alle sich christusförmig verhielten? Nein. Der Junge beißt Aljoscha auch noch in die Hand, tief bis auf den Knochen. Es gibt in dieser Welt nichts ganz und gar Richtiges.

Wenig später erzählt Iwan Karamasow die Novelle vom Großinquisitor. Seine Pointe: Christus würde nur stören, wenn er wiederkäme. Er würde nur Unordnung bringen. Um der Ordnung willen aber gibt es Gesetze, gibt es die Kirche und gibt es den Großinquisitor, der Christus verbrennen will, um die Welt vor der Anarchie der Liebe zu schützen.

Nietzsche nannte Dostojewski den größten Psychologen der Weltliteratur. Die Größe hängt mit dem Riesenraum dessen zusammen, was hier Seele heißt, einem Raum, der sich über die Dreidimensionalität des Philisterlebens hinaus in die vierte Dimension des Religiösen abgründig erweitert. Religiosität und Psychologie sind bei Dostojewski kein Gegensatz. Seine Seelenkunde ist keine bloße Gesellschafts-, Familien- oder Individualpsychologie, sondern eine Psychologie von Geist und Fleisch vor Gott und Ewigkeit. Sie ist nicht einsinnig entlarvend, zeigt nicht nur reduktionistisch das Fleischliche im Geistigen, sondern sieht auch das Geistige im Fleischlichen. Dostojewskis Mensch ist ein Schwein, aber ein Schwein mit hoher Bestimmung. Noch der Verworfenste ist Ebenbild Gottes, und die niedrigste Lasterhaftigkeit ein verzweifeltes Gebet.

Als Sympathisant Aljoschas verstand ich mit siebzehn wenig vom «Fleisch», Fjodor Pawlowitschs (des Vaters) viehisches Betragen war mir zuwider, Dmitris Leidenschaftlichkeit war mir unverständlich (konnte man nicht ruhig und vernünftig sein?), und Gruschenka weckte eine mit sich selbst noch unbekannte Furcht vor der erotisch aktiven Frau, die mich fressen würde. Ich fand sie damals hurenhaft, was ihr nicht gerecht wurde, wie ich heute einsehe. Erst beim Wiederlesen des gewaltigen Buches bin ich in der Lage, aus dem Bann der Figuren, Themen und Ereignisse ein Stück weit herauszutreten und mich auch am Kunstwerk zu freuen: am schmiegsamen Parlando des Erzählers, der, als Klosterbruder, zugleich anteilnehmend und degagiert ist, jedenfalls immer den recht haben läßt, der gerade redet, und wäre es der Teufel selbst; an der Kraft, mit der große und größte Spannungsbögen über Hunderte von Seiten aufrechterhalten werden; an der ausbalancierten Rhythmisierung, dem Accelerando und Rallentando, der musikalischen Mischung des Lauten und des Leisen, des Lyrischen und des Tierischen, des Paradiesischen und des Infernalischen; – schließlich an der alles verstehenden Menschlichkeit dieses aufgewühlten und aufwühlenden Buches, das die Tränen kennt, von denen unsere Erde von der Rinde bis zum Mittelpunkt getränkt ist.

Die Literatur als Sphinx

Johann Wolfgang Goethe, «Die Wahlverwandtschaften», Max Frisch, «Montauk»

«Die Hoffnung fuhr wie ein Stern, der vom Himmel fällt, über ihre Häupter weg. Sie wähnten, sie glaubten einander anzugehören; sie wechselten zum erstenmal entschiedene freie Küsse und trennten sich gewaltsam und schmerzlich.» Aber das Zeichen des fallenden Sterns trügt. Die Konjunktive deuten an, daß die Hoffnung nicht in Erfüllung gehen wird in diesem Roman, der davon handelt, wie wir uns die Zeichen zurechtmachen nach unseren Wünschen. Die Rede ist von Eduard und Ottilie, die sich füreinander bestimmt glauben, und das ablesen aus dem E & O-Monogramm eines alten Kelchglases und vielen anderen vermeintlichen Hinweisen des Schicksals.

Die Rede ist also von Goethes Roman «Die Wahlverwandtschaften». Eines Tages, es ist Jahrzehnte her, sah auch ich einen solchen Stern vom Himmel fahren und mein Leben schoß zu einer solchen Hoffnung zusammen. Meine noch junge Ehe war am Zerbrechen, die Studentenbewegung wirbelte alles fest Scheinende durcheinander, eine alte, immer unerfüllt gebliebene Jugendliebe meldete sich, von geheimnisvoll stimmigen Zeichen begleitet, für einen kurzen Augenblick zurück und verschaffte Goethes Roman eine plötzliche, die 160 Jahre seit seinem Erscheinen mühelos überspringende Aktualität.

Das Festhalten an dem einen Satz war natürlich töricht. Hätte ich mit Verstand weitergelesen, dann hätte ich schon wissen können, daß solche Hoffnungen sich höchstens im Jenseits erfüllen – «welch ein freundlicher Augenblick wird es sein», so schließt der Roman am Grabe der Liebenden, «wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.» Die Literatur ist eine Sphinx. Sie bietet uns Weisheit an, aber welches die richtige Weisheit für den richtigen Tag ist, das sagt sie uns nicht. Mit der Bibel kann einem das genauso passieren. Zur Startsequenz jener jungen Ehe gehörten Brautleute-Exerzitien. Ich erhielt eine Art Konfirmationsspruch zum Nach-Hause-Tragen, frei nach 1Kor 1,9: «Der euch beruft, ist treu. Er wird es auch vollenden.» ER vollendete es auf seine Weise. Er ließ die Ehe platzen (was sich dann ein paar Jahre lang zu einem Argument gegen IHN entwickelte). Freilich kam etwas Besseres nach und währt nun, der Lehre der Heiligen Mutter Kirche zum Trotz, schon bald vierzig Jahre.

Also Vorsicht vor Symbolen! Sie können vergiftet sein. Vorsicht vor Orakelsprüchen des Schicksals, Vorsicht vor willfährigen Deutungen im momentanen Interesse! Achtung auf die richtige Selektion der Zeichen! Die spätere, weisere Lektüre von Goethes Roman erkennt, daß Eduard nur die Zeichen sieht, die ihm schmeicheln, und diejenigen verdrängt, die ihm die unbequeme Wahrheit sagen. So ist er grob und unempfindlich und mißhandelt das feine Ahnungsvermögen seiner Frau Charlotte. Er scherzt über den Tintenfleck hinweg, der ein Fingerzeig ihrer beunruhigten Seele ist. Er malt «ein derbes Viereck» in den reinlich gezeichneten Plan, der aus ihrer Sphäre kommt. Er will durch «einen rohen Kanonenschlag» verkünden lassen, daß die Bahn für ihn und Ottilie frei sei. Es fehlt ihm an Stil und Gefühl (außer für Ottilie), und so zieht die Liebe ihn ihre abschüssige Bahn hinab, die, gesellschaftlich gesehen, in eine Katastrophe führt. Aber alles vollzieht sich mit einer solchen Naturgewalt, daß auch Charlotte sich vor den hier waltenden Mächten demütig beugt. «Charlotte gab ihm seinen Platz neben Ottilien und verordnete, daß niemand weiter in diesem Gewölbe beigesetzt werde.»

Normalerweise liest man belletristische Bücher nicht wie ein Wissenschaftler auf der Suche nach objektiver Erkenntnis. Man liest sie vielmehr wie Partituren, die man mit dem eigenen Leben orchestriert. Das kann fatal ausgehen. Man kann sich mit der Literatur Deutungswünsche erfüllen und kann sie in den Dienst falscher Träume stellen. Für alles findet man in der Literatur Vorbilder, auch für das Böse. Man kann nicht sagen, daß sie uns immer den richtigen Weg wiese. Sie hilft beim Guten, aber, das sollte man ehrlicherweise zugeben, auch beim Bösen. Sie stellt Bilder und Sätze zur Verfügung, mit denen man sein Leben formulieren, es aus der Stummheit und Unverstandenheit erlösen kann. Das formulierte Leben läßt sich dann besser handhaben, aber das ist meistens schon alles.

Im Glücksfall kann Lektüre Irrwege abkürzen. Die Literatur ist ein Lebenssimulator. Man sitzt bequem auf dem Sofa und ist doch dicht dabei, wenn Büchners Danton guillotiniert wird, Kleists Michael Kohlhaas die Stadt Wittenberg einäschert oder Peter Schlemihl dem Teufel seinen Schatten verkauft. Man kann mit Hilfe der Literatur schlimme Erfahrungen machen, ohne höchstpersönlich in der Pfütze gesessen zu haben. Man muß die Ehe nicht mehr selber brechen, wenn man «Madame Bovary» gelesen hat. Man findet dann vielleicht eine andere Lösung.

Max Frisch hatte nicht viel Phantasie. Er hat immer wieder eine Geschichte erzählt, in «Stiller», in «Homo Faber», in «Mein Name sei Gantenbein», schließlich in «Montauk»: die vom Wunder der Liebe und von der Unmöglichkeit der Ehe. Immer ging es um sein privatestes Privatleben, aber das mußte er die meiste Zeit mit allerlei literarischen Tricks verbergen, weil er verheiratet war und Diskretion wahren mußte. Erst als Ingeborg Bachmann tot war und seine zweite Ehe nur noch dahinvegetierte, fühlte er sich freier und schrieb «Montauk», sein ehrlichstes und daher auch bestes Buch. Allen, die unter Ehen leiden, gibt es das gute Gewissen, daß ihr Leiden nicht auf privater Unfähigkeit, sondern auf der prinzipiellen Unmöglichkeit der Ehe beruht. Die Stabilität der Ehe und die ewige Instabilität des Lebens vertragen sich nun einmal nicht. Wer lebt, muß sich auch trennen können. Allen Verheirateten, die sich verlieben und sich davon belebt fühlen, gibt Max Frischs Lebensgeschichte das gute Gewissen der vitalen Notwendigkeit, wenn auch nicht der moralischen Richtigkeit ihres Tuns. Aus dem Gedicht «Stufen» eines anderen Mehrfachverheirateten (Hermann Hesse) murmeln sie vor sich hin: «Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe / Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, / Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern / In andre, neue Bindungen zu geben.»

Was sind Frischs Argumente für die Unmöglichkeit der Ehe? Er sagt mit Nietzsche: Das Erkannte ist tot. Er sagt mit Kleist: Alles Unwillkürliche, jede erste Bewegung ist schön, und schief und verschroben alles, sobald es der Verstand begreift. Lebendig ist nur das Unerforschte, Unberechenbare und Geheimnisvolle. Nun läßt es sich schwer vermeiden, daß man einander erkennt, wenn man verheiratet ist. Die Ehe frißt die Liebe. Die Dauer tötet den Augenblick. Lebendig ist ja nur der unmittelbare Moment des Erlebens selbst. Gleich danach, in der Erinnerung bereits, in der Erzählung, in jeder Versprachlichung, erstarrt er, vereist er, gerinnt er zu Literatur. Liebe kann keine Dauer haben, weil sie sich durch Erkenntnis verzehrt.

In «Montauk» will Max Frisch die Liebe überlisten. Literarisch raffiniert erzählt er als Vordergrundebene die bewußt oberflächliche Geschichte seiner Beziehung zu der jungen Amerikanerin Lynn. Er will sie nicht ausforschen. Diese Liebe soll vordergründig bleiben, ein langer, leichter Nachmittag, eine kurze Gelegenheitsaffäre, die keine Dauer erhalten darf. «Lynn wird kein Name für eine Schuld.» Vor der Folie dieser flüchtigen Begegnung erzählt er dann die schwergewichtigen langjährigen Liebesgeschichten, die er durch Erkenntnis zerstört hat: die zu Käte, seiner jüdischen Braut aus Hitler-Berlin, die zu Ingeborg Bachmann und die Geschichte seiner Ehen mit Constanze und Marianne.

Aus jener Lebensphase, in der ich «Montauk» las, einen Ausweg zu finden, war so wenig leicht, wie aus «Montauk» einen Ausweg zu finden, aber es gibt ihn. Frischs Logik ist dann nicht stimmig, wenn Menschen sich verändern können, das heißt, wenn ihr Geheimnis nicht aus ihnen herausgeschleckt werden kann wie aus einem Honigtopf, der danach leer ist, sondern wenn dem Geheimnisabbau durch Erkenntnis ein gleichschneller Geheimniszuwachs die destruktive Spitze nimmt. Oder wenn das Geheimnis eines Menschen so tief ist, daß ein Leben nicht reicht, es zu erschöpfen. Lebendig ist nicht die Ehe, in der die Partner sich restlos kennen, sondern diejenige, in der niemals der Stoff ausgeht, einander zu erforschen.

Vergleiche dich! Erkenne, was du bist!

Über Biographien und Marcel Reich-Ranicki

Mit Goethe fahre ich manchmal Auto. Ich zeige ihm unsere Welt – nicht um mit ihr anzugeben (er reagiert auch meistens ziemlich unerstaunt), sondern um Halt zu finden bei seiner Unbestechlichkeit. Was hättest du gemacht? frage ich ihn fortwährend. (Ich duze ihn, unverschämterweise.) Und er schaut mich an mit seinen großen klaren Augen, vor denen alles Hysterische nichtig wird.

Lebensläufe sind wie Bücher, in denen man lesen kann. Autoren, wo nicht auch das Leben ein Zeugnis ist, schicksallose Buchstabenseelen, machen mich mißtrauisch. Lebensläufe sind wie Heiligenviten, voll von prototypischen Situationen, denen man nachfolgen kann. Je nach momentanem Bedarf lassen sich wechselnde Vorbilder verwenden. Als meinen Namenspatron betrachte ich weder Hermann den Cherusker noch (meinem Geburtsjahr 1943 trotzend) Hermann Göring, sondern Hermannus Contractus (Hermann den Lahmen), einen verwachsenen, schon als Kind gelähmten Reichenauer Mönch des 11. Jahrhunderts, der nur schreibend existierte, weil sein Körper ihm sonst nichts erlaubte (eine Weltchronik verfaßte er und das wunderschöne «Salve Regina»). Er kommt zum Einsatz, wenn es ums ganz Grundsätzliche geht, wenn alles Glänzen und Hetzen und Jagen relativiert werden muß.

Meine Hausheiligen deute ich nach dem vierfachen Schriftsinn: zuerst wörtlich (sensus litteralis), dann geistlich-weltanschaulich (sensus allegoricus), dann ethisch-lebenspraktisch (sensus moralis) und schließlich vom Ende her, unter dem Blickwinkel von Tod und Vollendung (sensus eschatologicus). Was haben sie gemacht, wie haben sie gedacht, wie haben sie entschieden, wie sind sie verschieden? Verstehen ist Experimentieren und Imitieren, ein Ausprobieren, welche Rolle paßt und welche nicht. Ich phantasiere mich hinein: Wäre ich wie Thomas Mann 1914 vom Krieg begeistert gewesen? Wahrscheinlich ja. Den schmerzlichen Weg der Jahre 1914–1922 hätte ich dann mit ihm gehen müssen, um zu Vernunft und Republik zu finden, aber wie er (so bilde ich mir ein) wäre ich dadurch gegen die Begeisterung von 1933 immun gewesen.

Und wo wäre ich 1933–1945 gestanden? Alle Faktoren hochgerechnet vermutlich bei der katholischen inneren Emigration. Der protestantische Exilautor Thomas Mann muß deshalb vorübergehend die Bühne verlassen. Wer soll dann amtieren? Eine Zeitlang bemühte ich mich um Reinhold Schneider. Er war kein Demokrat, trotzdem eine integre Figur, ein kompromißloser Christ. Aber für seinen Stil (im Leben wie im Schreiben) konnte ich mich niemals erwärmen. Er schrieb allzu schwerflüssig deutsch, immer «tief», kannte kein Augenzwinkern und keine Liberalität, hatte weder Humor noch Lebenslust, war nie richtig verliebt, lebte pfarrhaushälterisch mit einer 22 Jahre älteren Frau, die ihn von der Kante des Selbstmords geholt hatte – kurzum, das war nichts für mich. Aber auch keine andere Figur aus der inneren Emigration ist meinem Herzen wirklich nahe. Mit Brecht würde ich gern die eine oder andere Flasche leeren, aber nicht mit Wiechert oder Carossa oder Gertrud von le Fort. Vielleicht gab es damals kein richtiges Leben im falschen, vielleicht war Verschrobenheit die Minimalkonzession, wenn Wahrhaftigkeit nicht lebbar war.

Vergleiche dich! Erkenne, was du bist! (Sagt Antonio zu Tasso bei Goethe). Denn nur durch Vergleichung unterscheidet man sich und erfährt, was man ist, um ganz zu werden, der man sein soll. Aber zum Vergleichen gehört eine ziemliche Portion Anmaßung. Am besten, man ist dabei allein – man macht sich sonst leicht lächerlich. Goethes Ehe oder Thomas Manns Ehe zum Beispiel, wie man sie aus den Büchern von Sigrid Damm und Inge Jens kennt, – man hat kaum ein Recht auf sie und läuft Gefahr, bei solchen Modellen der Vorteilsnahme bezichtigt zu werden (die Ehefrauen als dienstbare Geister der Genies). Ein Gutes aber hatten die Ehemänner Goethe und Thomas Mann: sie haben (anders als Max Frisch, der aus Armut an Stoffen dieser Versuchung nicht widerstehen konnte) ihr Eheleben für sich behalten und ihre Frauen nicht literarisiert. Goethe hat Christiane nicht ausgespäht, Thomas Mann Katia nicht. Ihre dichterischen Inspirationen bezogen sie nicht aus den Intimitäten der Wirklichkeit, sondern aus den unrealisierten Träumen, von Friederike Brion bis Marianne von Willemer, von Willri bis Franzl. Die Ehen tragen die Lasten des unpoetischen Alltags: Die Frauen treten auf als Organisationsgenie und Allzweckwaffe, die Dichter sieht man genervt von tausend Verpflichtungen, aufgerieben von Nichtigkeiten, ringend um ein Minimum von guter Zeit für die Produktion. Gelegentlich tut es wohl, auch diese Seite zu sehen. Freilich möchte man denen, die Goethe nur aus der Küchenzettelperspektive kennen, doch anraten, gelegentlich ein paar Verse aus dem «Faust» zu lesen, damit sie nicht glauben, er sei nichts als ein egoistischer Philister gewesen. Es ist niemals leicht, dem widerspenstigen Leben ein solches Werk abzupressen. Kein Dichter wird von der Genialität eimerweise überschüttet, jeder braucht Disziplin und kluge Verwaltung, um ausreichend viele Tropfen zu sammeln.

Der arme Clemens Brentano, über den man alles Wichtige in der Biographie «Schwarzer Schmetterling» von Hartwig Schultz nachlesen kann, war auch ein Vielschreiber, aber weit schlechter organisiert als Goethe. Außerdem hatte er kein Glück. Zwei Mal war er verheiratet (mit Sophie Mereau und mit Auguste Bußmann) und noch mindestens zwei Mal aufs schwerste verliebt (in Luise Hensel und in Emilie Linder). Alles ergreifend, erschütternd, tragisch und komisch – so wenn er seine innigsten Gedichte auf Sophie kokett umschreibt auf Auguste oder Luise oder Emilie, oder gar auf das liebe Jesuskind, in der Zeit, die er am Krankenbett der stigmatisierten Nonne Anna Katharina Emmerick zubringt. Da ist so viel Verrücktes dabei, daß man ihn unwirsch abtun möchte, aber groß ist er trotz alledem, und er findet schließlich doch noch zu einer Form, wird streng katholisch, den Germanisten gefällt es nicht, aber sein frommes Lebensende ist so authentisch wie das fromme Ende Heinrich Heines, der bei klarer Besinnung war, als er das kühne Nachwort zum «Romanzero» mit den Zeilen schloß: «Sei getrost, teurer Leser, es gibt eine Fortdauer nach dem Tode …» Da unser bißchen Aufgeklärtheit nur für’s Leben halbwegs ausreicht, aber nicht für’s Sterben, ist es jedenfalls geziemend, sich auf dem Gebiet des sensus eschatologicus eher hörend als urteilend zu verhalten.

In einem Rutsch und mit heißen Backen habe ich in den letzten zehn Jahren nur ein einziges Buch gelesen: die Autobiographie von Marcel Reich-Ranicki. Das war spannend vom ersten bis zum letzten Wort, und zwar nicht nur wegen der ungeheuerlichen Ereignisse dieses Lebenswegs, sondern auch des Stils halber, der präzis und packend ist, aber niemals sentimental, niemals aufgeblasen, der auch vornehm ist, weil er darauf verzichtet, von einer moralisch überlegenen Position aus den Deutschen Druck zu machen. Die große Wirkung des Buches war eine Folge der Erschütterung durch die mordlüsterne Ausgrenzung dieses Menschen, der doch ein Berliner Gymnasiast war, wie ich 23 Jahre nach ihm einer gewesen wäre, wenn die Schreckenszeit meine Familie nicht weggetrieben hätte. Warum um ihn herum, obgleich er doch ein arrivierter Repräsentant des bundesrepublikanischen Kulturlebens ist, kein Kumpelbehagen aufkommt, das kann nun jeder wissen. Er ist ein Einsamer, noch wenn er poltert. Bei allem Ruhm wirbt er doch immer noch um Aufnahme; es schneidet einem ins Herz. Bei allem Erfolg kommt er nicht zur Ruhe. Wie man so unverbogen sein kann nach solchen Schicksalen! Man spürt keinen Weihrauch, wenn man mit ihm arbeitet. Man spürt Präsenz und Witz, Aufmerksamkeit, Freundestreue und Unabhängigkeit. Leute, die anderes erlebt haben, mögen anderes erzählen, ich erzähle, was sich für mich gebührt. Es gibt bei ihm keine Filzigkeit, keine Büroluft, kein Gefühl von «Literaturbetrieb». Natürlich hat er nicht immer recht, aber wie kommt es, daß so viele Rechthaber neben ihm verzwergen?

Man muß ihn deshalb nicht nachahmen. Nicht jede Rolle läßt sich ausprobieren, und nicht immer entsteht aus Rollenerprobungen eine Identität. Macht vielleicht auch nichts. Möge unser Herz doch unruhig bleiben! Nach allem Vergleichen und Unterscheiden wird man mit dem Erkennen oft trotzdem nicht fertig und erfährt niemals endgültig, was man ist.

Aufklärungsfrust und -lust

Christoph Martin Wieland, «Agathon», Gotthold Ephraim Lessing, Ringparabel

Mündigkeit? Toleranz? Menschenrechte? Aufklärung? Klingt gut! Aber was tun, wenn die meisten Menschen unmündig sind (oder sogar alle, denn wie weit reicht unsere Souveränität schon)? Wenn Toleranz zur Identitätsschwäche degeneriert und die Unfähigkeit zur Verteidigung der eigenen Kultur euphemistisch verhüllt? Wenn von den Menschenrechten große Gruppen ausgeschlossen werden, zum Beispiel die Kinder (beiläufig plädiere ich für das aktive Kinderwahlrecht, von Vater und Mutter je hälftig wahrzunehmen), und wenn diese am Staat nicht mitwirken können oder dürfen, wie es in unterschiedlichen Abstufungen für Träumer, Verrückte, Kranke, Gefängnisinsassen, Arbeitslose und Ausländer gilt, oder wie es anderthalb Jahrhunderte lang für die Frauen galt? Denn bei ihrer Deklaration im 18. Jahrhundert handelte es sich nicht um Menschen-, sondern um Männerrechte, und Kant selbst behauptete in seiner berühmten «Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?» auf hagestolz-bornierte Weise, daß «das ganze schöne Geschlecht» an Mündigkeit restlos desinteressiert sei.

Was sind das überhaupt für Rechte, die einem abstrakten Menschen zukommen sollen unter Absehung von Geschlecht, Alter, Gesundheit, Hautfarbe, Beruf, Religion und Intelligenzgrad, unter Absehung also von allem, was einen konkreten Menschen ausmacht? Ist Weltethos nicht eine Luftnummer? Joseph de Maistre spottete, er kenne Spanier und Franzosen, Engländer und Deutsche, und auch von der Existenz von Persern habe man ihn überzeugt, aber einen Menschen habe er seiner Lebtag noch nicht gesehen. Gleiche Rechte für alle können nur ungerecht sein, wenn alle verschieden sind. «Jeder kann Präsident werden.» Wirklich? Ob nicht jedes Städtchen seine eigene, besondere Verfassung haben sollte, fragte maliziös Justus Möser 1778. Gesetzesgewänder, die verschiedene Rechte für verschiedene Menschen vorsehen, schmiegen sich dem Gesellschaftsleib unter Umständen sehr viel natürlicher an als das schlotternde Einheitskleid der Demokratie.

Wieviel Aufklärung braucht der Mensch? Das schöne Wort, auf das wir heute so große Stücke halten, muß sich einige Fragen gefallen lassen – die alten Fragen, die schon Möser und Hamann, Burke und Gentz, Schopenhauer, Nietzsche und die deutsche Romantik gestellt haben. «Herrschaft der Vernunft» hört sich gut an, ist aber doch auch Herrschaft, mithin Unterdrückung alles Unvernünftigen, Unterdrückung von Traum, Rausch, Wahn, Mythos, Tabu, Geheimnis, Religion, Gefühl, Liebe, Trieb, Einfalt, Natürlichkeit und Spontaneität. Ist eine Kultur des Unaufklärbaren nicht hilfreicher als die formale Vernünftigkeit des kategorischen Imperativs, auf den sich auch die SS berief? Kann man einem Menschen trauen, der nie eine tiefe Liebe erlebt hat (Kant)? Nur auf die Vernunft gestellte Entscheidungen des Kopfes rumoren im Bauche weiter, das Verdrängte kehrt wieder, die Eruption wirft das mühsame Werk der Vernunft über den Haufen. Die Zeugnisse jener utopistisch-weltverbesserischen Aufklärung, die die Welt aus Prinzipien kurieren wollte, sind heute unerträglich – die Staatsromane von Schnabel («Insel Felsenburg»), Loen («Der Redliche Mann am Hofe») und Haller («Usong») ebenso wie die Luftgespinste der Perfektibilitätstheoretiker wie Condorcet oder die hochherzig tugendhaften und doch blutgetränkten Reden der Revolutionäre von Robespierre bis Mazzini. Lesenswert sind allein die Skeptiker, die die Grenzen der Aufklärung kannten, Christoph Martin Wieland, dessen «Agathon», Gotthold Ephraim Lessing, dessen «Minna von Barnhelm» und dessen Ringparabel ich zum eisernen Bestand meines Kanons zähle.

Wieland: Er scheint nicht wiedererweckbar, obgleich die Verserzählungen, die ihm einst viele Leser und den Ruf der Frivolität einbrachten, urkomisch sind und noch heute manche Geselligkeit würzen könnten. «Kombabus» zum Beispiel – die Geschichte eines jungen Mannes, der die schöne Frau seines königlichen Freundes betreuen soll, welcher für zwei Jahre auf Reisen ist. Kombabus traut der eigenen Tugend nicht, entmannt sich vorsichtshalber, verwahrt sein Glied in einem kostbaren Kästchen, lebt nun vergnügt und vertraut mit der schönen Frau. Er kann, als der König, über die entstehenden Gerüchte erbost, zurückkommt, seine Unschuld beweisen… Wieland kennt die Macht der Triebe. Sein Agathon, der die Liebe bis dahin nur als platonische erfahren hatte, wird von der reizenden Hetäre Danae verführt und erliegt ihr vollkommen für viele Monate, bis er sich mühsam ernüchtert und flieht. Er wird dann Politiker, will die Welt verbessern und erlebt jedes nur denkbare Auf und Ab, viel Versagen und Verrat, dazwischen auch vergängliches Glück, aber jedenfalls keinen nachhaltigen Fortschritt des Menschengeschlechts. Am Ende bleibt ihm eine bescheidene Lehre. Er erkennt, «daß es seine Natur ist, immer das Gute zu wollen und zu tun; unbekümmert ob es erkannt oder verkannt, mit Dank oder Undank, mit Ruhm oder Schande belohnt werde; unbekümmert was es fruchte, wie lang es dauern, und von wem es wieder zerstört werden könnte.» Das ist das Wort eines Skeptikers, der sich nicht niederdrücken ließ und dem die Skepsis nicht zum Feigenblatt egoistischer Untätigkeit wurde. Das Wort begleitet mich nun seit vierzig Jahren durch Phasen des Aufbruchs und der Resignation und hat sich in allen Zeiten bewährt. Unbekümmert was es fruchte: Die Welt will dieser Agathon nicht mehr verbessern, aber er will sich und seinem Namen treu sein. Er ist ein trotziger Idealist. Das kann man auch heute noch sein, auch wenn die Mitmenschen, die stets nach niedrigen Beweggründen suchen, dann irritiert sind. Können wir das Gute tun, ohne dabei unseren Vorteil zu suchen? Wir können. Fichte dozierte, angesteckt von der Französischen Revolution: «Der Mensch kann, was er will, und wenn er sagt, er kann nicht, dann will er nicht!»

Lessing strebte nach Wahrheit, aber er glaubte nicht, sie zu haben. Gegen die prinzipienfeste preußische Männerwelt ließ er in «Minna von Barnhelm» Frauenlist und -liebe siegen. Mit knapper Not gerät das Ende glücklich. Das Glück verträgt kein Machen, keine Berechnung. Es ist nur schön, wenn es als Geschenk und Gnade kommt. Dazu mußte der Major von Tellheim erst von seinem Souveränitäts- und Mündigkeitsthron gestürzt werden.

Das «größtmögliche Glück der größten Zahl» als Ideal einer gewissen Aufklärung ist erst recht in Gefahr, massenhaftes Unglück zu erzielen. Lessing verzichtete auf das Entwerfen von Staatsutopien. Aber ihm lag an der Aussöhnung der Religionen, und etwas Besseres als sein Rezept hat seitdem noch niemand auftreiben können. Ich meine die berühmte Parabel von dem Mann im Osten, der einen Ring von unschätzbarem Wert besaß, welcher die geheime Kraft hatte, vor Gott und Menschen angenehm zu machen, welcher immer dem liebsten der Söhne vererbt wurde, bis einmal einer drei gleich liebenswürdige Söhne hatte und allen dreien den Ring, von dem er zwei Duplikate herstellen ließ, zu versprechen die fromme Schwachheit hatte. Welcher Ring ist nun der echte? Welche Religion die richtige? Der weise Richter sagt: «Hat von Euch jeder seinen Ring von seinem Vater: So glaube jeder sicher seinen Ring den echten.» Keiner missioniere den anderen, jeder hole aus seiner Religion das Optimum an Sinngebung und Menschlichkeit heraus. «Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen!»

Freilich kommt damit ein Element von Fiktion in den Glauben. Man tut nur so, als ob der eigene Ring der echte wäre, und weiß es doch in Wirklichkeit nicht. Die absolute Gewißheit ist unweigerlich dahin. Der Glaube wird zum Spiel. Aber das muß nichts Schlechtes sein, ist doch, nach Schillers Wort, der Mensch nur da ganz Mensch, wo er spielt. Schon zu Lessings Zeiten war es eine Frage der Ehrlichkeit, wie man mit der offenkundigen Relativität (weil Zeit- und Ortsgebundenheit) der Glaubenswahrheiten umging. Heute leitet der postmoderne Wahrheitsskeptizismus mit seiner Aufwertung von Spiel und Fiktion frisches Wasser auf Lessings Mühlen. Wenn es keine Wahrheit gibt, nur die Konkurrenz der Diskurse, dann muß man seine Rollen besonders gut spielen, um dem zerfließenden Leben Form und Halt zu geben. Jeder steht in seiner Überlieferung und hat das Recht dazu, keiner kann von einem anderen verlangen, daß er einer fremden Überlieferung glaube. Jeder respektiere als Gast das Recht des Gastgebers, in seinem Haus über die Regeln zu bestimmen. Jeder respektiere als Gastgeber seine Gäste und gebe ihnen so viel Raum, wie er übrig hat. Vielleicht sind ja alle drei Ringe echt.

Wieviel Romantik braucht der Mensch?

Hermann Hesse, «Narziß und Goldmund»

Wieviel Aufklärung braucht der Mensch? So lautete die Frage in der vorigen Folge. Auf die Gegenfrage: Wieviel Romantik der Mensch brauche?, ist natürlich erst einmal zu antworten: Genug, um die Aufklärung auszuhalten. Denn das von seiner Mündigkeit überforderte Ich regrediert romantisch, das ist klar. Der Theorie nach bräuchte, wer Aufklärung im Vollsinn hätte, eigentlich überhaupt keine Romantik. Er verbesserte die Welt so lange, bis sie seinen Wünschen entspräche, und lebte dann zufrieden und behaglich. In der Praxis aber erzeugt Wunscherfüllung leider nicht Zufriedenheit, sondern neue Wünsche.

Deshalb weicht der Romantiker (das Wort schließe künftig die Romantikerin ein) der Verwirklichung seiner Träume aus. Er hat kein Ziel und ist trotzdem immer unterwegs. Er ist wie der Reiseesel Mallorca, der (in einem Bilderbuch von Janosch) den Glückssuchern versichert: «Das Glück liegt in der Ferne», und deshalb sofort wieder aufbricht, wenn er irgendwo angekommen ist – denn das Glück liegt ja in der Ferne. Der Romantiker verehrt die Sehnsucht und kultiviert sie bis zum Schmerz. Er liebt das Planen und Entwerfen, aber nicht das fertige Werk. Er will ein großes Buch schreiben, bringt aber keine Zeile zu Papier, um die Größe nicht zu beschädigen. Er phantasiert viele Traumhäuser aus, lebt aber in einer Dreizimmerwohnung im vierten Stock. Er verteidigt sich mit Leonardo da Vinci: «Nachdenken ist ein edles Werk, Ausführen ein unterwürfiges.» Das ist nicht Unfähigkeit, sondern Unersättlichkeit, ein metaphysisches Ungenügen, ein das Irdische übersteigender Wille zu hundertprozentiger Vollkommenheit – eigentlich etwas Religiöses. Der Romantiker träumt stets vom Paradies, mit weniger gibt er sich nicht ab. Er möchte Sterne pflücken, in der Tiefsee schweben, mit Blumen und Tieren sprechen. Er möchte frei sein und zieht deshalb die wunderbare Fülle der Möglichkeiten der einen stets beschränkten Wirklichkeit vor, welche die Möglichkeiten vernichten würde. Unbestechlich ist sein Gefühl dafür, wie lächerlich sich das Geträumte ausnimmt, wenn es verwirklicht zu sein vorgibt. Ausgezeichnet beherrscht er den verlorenen, abgrundtief traurigen Ich-kann-nicht-Blick, wenn die Wirklichkeit ihre Ansprüche stellt.

Er haßt deshalb die Verwirklicher. Die auf ihre Leistung Stolzen nennt er Philister. Aber auch der Romantiker muß leben und Miete zahlen. Weil die Wirklichkeit ihn zu lauter häßlichen Kompromissen zwingt, gibt es ihn in Reinform nur in der Literatur. Dort kann er faul sein, daß ihm die Knochen knacken, wie Eichendorffs Taugenichts oder wie Gontscharows liebenswürdiger Dickwanst Oblomow, die beide nichts ökonomisch Meßbares leisten und dennoch als die besseren Menschen dastehen – humaner als die Tüchtigen.

Die immer rasanteren Modernisierungswellen der letzten zweihundert Jahre haben stets Wellen von Romantik in ihrem Kielwasser gehabt. Es ist, als käme die Seele nicht nach. Sie romantisiert das jeweils Vergangene, das gerade unerreichbar Gewordene, seien es nun Posthörner im Zeitalter der Eisenbahn oder Schellackplatten oder das Kirchenlatein oder die Ente von Citroën, als sie noch zwölf PS und eine Fliehkraftkupplung hatte. Je schneller der Wandel, desto aktueller ist deshalb das Romantische. Ohne Romantik ist die Modernität nicht auszuhalten.

Von heute aus gesehen war die Studentenbewegung keine Revolution, sondern lediglich eine Modernisierungskrise mit dem Ziel, das rückständige Bewußtsein an den sozialökonomischen Iststand anzupassen. Der Versuch, der Seele das Tempo vorzuschreiben, weckte sogleich eine Romantik, die sich virtuos in die ganze Gesellschaftsveränderei einschlich – denn Bärte und Barfußläufer, Cowboyhosen und Jesus People, Blumenkinder und Bridges over Troubled Water sind Romantik, nicht Aufklärung. Man las in Seminaren Marx und Bakunin, aber zu Hause las man den großen Neuromantiker Hermann Hesse. In meinem Fall war es der Roman «Narziß und Goldmund» (zuerst 1930 erschienen), für mich damals und heute der Inbegriff von Romantik, sehr sentimental, fast kitschig, aber das konnte ich ertragen. Dem ganzen hochgemuten Welterklärungs- und -verbesserungsgerede der Achtundsechziger stand hier plötzlich ein ergreifender Irrationalismus entgegen: «Ach, alles war unverständlich und eigentlich traurig, obwohl es auch schön war. Man wußte nichts. Man lebte und lief auf der Erde herum oder ritt durch die Wälder, und manches schaute einen so fordernd und versprechend und sehnsuchterweckend an: ein Stern am Abend, eine blaue Glockenblume, ein schilfgrüner See, das Auge eines Menschen oder einer Kuh, und manchmal war es, als müsse jetzt gleich etwas Niegesehenes und doch lang Ersehntes geschehen, ein Schleier von allem fallen; aber dann ging es vorüber, und es geschah nichts, und das Rätsel wurde nicht gelöst und der geheime Zauber nicht entbunden, und zuletzt wurde man alt …»

Das Buch ist einfach gestrickt. In einem stilisierten Mittelalter stehen sich der asketische Narziß, ein hochintelligenter Novize, und der sinnliche Goldmund als Freundespaar gegenüber. Der eine ist nur Gehirn auf der Brücke, der andere west unten, wo die Triebdiesel stampfen. Des einen Leben verläuft in den geordneten Bahnen des Klosters, dessen Abt er schließlich wird. Des anderen Leben ist ziellos und wahllos, aber reich; von vielen Frauen geliebt, vagabundiert Goldmund durch hohe Freuden und tiefe Schrecken. Zeitweise ist er Künstler, aber das Geheimnis des Lebens selbst entzieht sich ihm, es darf, so wie der Name Gottes, nicht ausgesprochen werden. Zum Sterben erst, als er zu alt geworden ist, um die Frauen zu faszinieren, kehrt er ins Kloster zurück. Dort wird in großen Gesprächen Bilanz gezogen.