C.H.Beck
Der Heidelberger Assyriologe Stefan M. Maul legt hier eine neue Übersetzung des Gilgamesch-Epos vor. Spektakuläre Textfunde, die in diesem Buch erstmals bekannt gemacht werden, und behutsam vorgenommene Ergänzungen lassen das älteste Werk der Weltliteratur in nie zuvor gesehener Vollständigkeit wiedererstehen.
Die elegante und dennoch wortgetreue Übersetzung bewahrt die Sprachgewalt des babylonischen Originaltextes. Der leicht rhythmische Klang der Übertragung lädt zum Deklamieren ein und nähert sich den rhythmischen Versen der Vorlage an.
In der allgemeinverständlichen Einführung und den ausführlichen Kommentaren nimmt Stefan M. Maul den Leser mit in die Welt des Alten Orients und erläutert ihm die politischen, gesellschaftlichen und religiösen Vorstellungen der Kultur, die das Gilgamesch-Epos hervorgebracht hat.
Das Epos erzählt den Mythos des Königs Gilgamesch von Uruk, der seine Kräfte mit der ganzen Welt messen will, nach der Unsterblichkeit strebt und schließlich auf die Erkenntnis zurückgeworfen wird, daß auch für ihn das Leben endlich ist. Bis Gilgamesch bereit ist, diese Lehre anzunehmen, und dadurch die Fähigkeit erwirbt, ein guter Herrscher zu sein, muß er zahllose Abenteuer bestehen. Das Gilgamesch-Epos ist so einem modernen Entwicklungsroman vergleichbar, der von den Grundfragen des menschlichen Daseins handelt.
Stefan M. Maul, Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, lehrt als Ordinarius für Assyriologie an der Universität Heidelberg. Für seine Forschungsleistungen wurde er 1997 mit dem Leibnizpreis ausgezeichnet.
für Lilian
Einleitung
Lektüreempfehlungen
Die Hauptfiguren des Gilgamesch-Epos
Zusammenfassung des Geschehens
Das Gilgamesch-Epos
Die erste Tafel
Die zweite Tafel
Die dritte Tafel
Die vierte Tafel
Die fünfte Tafel
Die sechste Tafel
Die siebente Tafel
Die achte Tafel
Die neunte Tafel
Die zehnte Tafel
Die elfte Tafel
Kommentar
Abbildungsverzeichnis
Nur wenige Jahre nachdem die älteste Schrift der Menschheit, die mesopotamische Keilschrift, entziffert worden war und man die auf Tontafeln niedergeschriebenen Texte in der Sprache der alten Babylonier und Assyrer verstand, erregten die Ergebnisse altorientalischer Forschungen großes Aufsehen. Im Dezember 1872 stellte der britische Assyriologe George Smith auf einer Sitzung der Londoner Society of Biblical Archaeology das Bruchstück einer Tontafel vor, das man in den Ruinen der assyrischen Hauptstadt Ninive im Schutt des Palastes des Assyrerkönigs Assurbanipal (668–627 v. Chr.) gefunden hatte. Das Tafelfragment gehörte zu einem dichterischen Werk, in dem in formvollendeter poetischer Sprache, in dem dem Hebräischen recht nahe verwandten Babylonischen, die Geschichte von der Sintflut und dem «Überaus-Weisen» erzählt wurde. Dieser hieß in der neu entdeckten keilschriftlichen Fassung der Erzählung zwar nicht Noah, sondern Uta-napischti, aber wie Noah war Uta-napischti mit seiner Familie als einziger der alles vernichtenden Flut mit Hilfe einer nach genauen Vorgaben angefertigten Arche entkommen, in der, auf göttlichen Rat, auch die Tiere das urzeitliche Weltengericht überlebt hatten. Die bis in Einzelheiten gehenden Parallelen zwischen dem neu entdeckten ‹heidnischen› Sintflut-Mythos und der wohlbekannten Noah-Erzählung des ersten Buches der hebräischen Bibel (Genesis 6–9) ließen keinen Zweifel daran, daß die Verflechtungen des biblischen mit dem uralten mesopotamischen Gedankengut weitaus enger waren, als man es je zuvor angenommen hatte. Sofort erwachte ein starkes Interesse an dem altorientalischen Mythos, der die Einzigartigkeit und für nicht wenige damit auch die normative Autorität der deutlich jüngeren biblischen Überlieferung in Frage zu stellen schien.
Sehr bald hatte man erkannt, daß die von George Smith entdeckte keilschriftliche Sintfluterzählung ihrerseits in ein großes Epos eingefügt war, das von den Abenteuern und Heldentaten Gilgameschs, des sagenhaften Königs von Uruk, handelte. Leidenschaftlich suchten George Smith und andere Forscher nun unter den in London aufbewahrten Tontafeln aus Ninive nach weiteren Tafelfragmenten, die zu diesem umfangreichen Werk gehört haben könnten. Dies war kein leichtes Unterfangen. Denn die Eroberer Ninives hatten im Jahre 612 v. Chr., bevor sie den Palast in Brand gesteckt hatten, auch in den königlichen Bibliotheken übel gehaust und Abertausende von Bruchstücken der mutwillig zerschlagenen Tafeln in einem Umkreis von mehreren hundert Metern über Räume, Säle und Höfe des Palastes verstreut. Nur das, was zweieinhalb Jahrtausende später unter meterhohem Schutt noch aufzufinden war, war ins Britische Museum gelangt. Nach langer und geduldiger Arbeit (es müssen immer wieder kleine und kleinste Tafelbruchstücke als zusammengehörig erkannt und physisch miteinander verbunden werden) zeigte sich, daß die große Dichtung um König Gilgamesch stets auf Tontafeln niedergeschrieben worden war, die drei Kolumnen auf der Vorderseite und drei Kolumnen auf der Rückseite aufwiesen, wobei eine jede etwa fünfzig Zeilen umfaßte. Die Tafeln des Werkes waren numeriert, und schließlich fand sich eine, es war die zwölfte Tafel, auf der vermerkt war, daß es sich bei dieser um die letzte handelt. Zwölf Tafeln mit insgesamt weit über dreitausend Versen galt es also, aus den vielen kleinen Fragmenten zusammenzuflicken. Diese philologisch-physische und ganz grundlegende ‹Arbeit am Mythos› ist auch heute, mehr als 130 Jahre nachdem die erste Passage des Textes bekannt wurde, noch nicht abgeschlossen.
Mit seiner hervorragenden neuen wissenschaftlichen Edition des Gilgamesch-Epos aus dem Jahr 2003 stellte der Londoner Altorientalist Andrew R. George unsere Kenntnis des Gilgamesch-Epos auf eine völlig neue Grundlage. Seine jahrelange, unermüdliche Suche nach unerkannten Stücken des Epos in allen Museen der Welt war von großem Erfolg gekrönt. Der britische Gelehrte konnte über 100 Textzeugen des Epos zusammentragen, die keineswegs nur aus der Assurbanipal-Bibliothek in Ninive, sondern auch aus anderen Städten des Zweistromlandes stammen (aus Assur, Kalchu und Huzirina, aus Babylon und Uruk). Die neue Textrekonstruktion des Gilgamesch-Epos, in der zahlreiche zuvor unbekannte Tontafeln verwertet sind, hat zur Folge, daß alle vor dem Jahr 2003 erschienenen Übersetzungen des wohl bedeutendsten literarischen Werkes des Alten Orients mit einem Male veraltet sind.
Die hier vorgelegte Übersetzung fußt auf der neuen Textedition von Andrew R. George. Darüber hinaus werden in dem vorliegenden Buch zum ersten Mal fünf weitere, zum Teil umfangreiche Bruchstücke von Tontafeln aus Assur mit bislang unbekannten Passagen des Gilgamesch-Epos berücksichtigt. Die erst jüngst entdeckten Tontafelfragmente füllen Lücken in der ersten, fünften, sechsten, siebten und zehnten Tafel der Dichtung und erweitern unsere Kenntnis des Gilgamesch-Epos erheblich. Trotz der Fortschritte in der Textrekonstruktion fehlt von dem Epos um König Gilgamesch immer noch mehr als ein Drittel. Es bleibt daher leider noch allerlei Unklares und wohl auch manches Mißverstandene.
In der hier vorgelegten Übersetzung wurde versucht, ohne der deutschen Sprache Gewalt anzutun, den babylonischen Originaltext so wörtlich wiederzugeben, wie es nur möglich erschien. Dem Leser soll ein möglichst getreuer Eindruck von der Form und der Sprachgewalt des babylonischen Gilgamesch-Epos vermittelt werden. Wörter, die aus sprachlichen oder inhaltlichen Gründen in die Übersetzung aufgenommen wurden, obgleich sie keine Entsprechung in dem babylonischen Originaltext besitzen, wurden in runde Klammern gesetzt. In einem Kommentar, der sich an die deutsche Übertragung des Gilgamesch-Epos anschließt, sind die Passagen erläutert, die aus sich selbst heraus nur schwer verständlich blieben. Der Übersetzung ist außerdem eine frei formulierte Zusammenfassung des im Epos geschilderten Geschehens vorangestellt. Eine aufmerksame Lektüre dieses Abschnittes wird das Verständnis des in gebundener Sprache verfaßten Gilgamesch-Epos erheblich erleichtern.
Der leicht rhythmische Klang der deutschen Übersetzung soll den rhythmischen Versen des babylonischen Originaltextes gerecht werden. Die babylonischen Verse weisen keine Endreime auf (diese sind der assyrisch-babylonischen Poesie unbekannt). Sie enden aber mit einem Versfuß, der aus einer langen und einer kurzen Silbe besteht (Trochäus). Anders als in der hier vorgelegten deutschen Übersetzung findet sich in dem keilschriftlichen Originaltext des Gilgamesch-Epos keinerlei Strophengliederung. Dennoch ist schon bei oberflächlicher Lektüre des babylonischen Textes zu erkennen, daß sehr oft zwei Doppelverse eine Einheit bilden. Daneben gibt es auch drei- und fünfzeilige Verseinheiten. Das Gilgamesch-Epos wurde wohl wie die epischen Gedichte der griechisch-römischen Antike einem Publikum vorgetragen. Daher ist auch die deutsche Übertragung des Epos, so wie der babylonische Originaltext, nicht in erster Linie dazu gedacht, stumm gelesen zu werden. Die Schönheit des Textes entfaltet sich erst beim lauten Deklamieren.
Die Zählung der Verse richtet sich im wesentlichen nach der Zeilenzählung der antiken Textvorlagen. Um nicht unnötig Verwirrung zu stiften, weicht sie (auch wenn dies an einigen wenigen Stellen gerechtfertigt wäre) nie von der Zeilenzählung der wissenschaftlichen Edition von Andrew R. George ab. Wenn in der Tontafelvorlage zwei Verse in einer Zeile stehen, sind diese hier in zwei Zeilen wiedergegeben, die dennoch nur als eine Zeile gezählt werden. In einem solchen Falle wird der zweite Vers nach rechts eingerückt. Ebenso wurde verfahren, wenn die deutsche Übersetzung eines babylonischen Verses so lang ausfiel, daß sie aus ästhetischen Gründen in zwei Zeilen aufgeteilt wurde.
Textpassagen, die aufgrund von Parallelstellen sicher ergänzt werden können, obgleich keilschriftliche Textzeugen fehlen, sind nicht eigens gekennzeichnet, um das Schriftbild der Übersetzung nicht übermäßig zu belasten. Eckige Klammern sind nur dann eingefügt, wenn unergänzbare Lücken im Text stehenbleiben mußten. Mit einer Folge von Punkten sind erhaltene keilschriftliche Passagen kenntlich gemacht, deren Deutung sich dem Übersetzer entzieht. Um dem Leser ein sinnvolles Textgefüge an die Hand geben zu können, wurden (anders als in einer streng wissenschaftlichen Übersetzung) in dieser Übertragung des Gilgamesch-Epos an vielen Stellen Ergänzungen vorgeschlagen, die sich aus inhaltlichen Erwägungen ergaben, aber nicht auf Parallelstellen oder der Deutung erhaltener Schriftreste fußen. Sie sind ebenso wie solche Ergänzungen, die aus unterschiedlichen Gründen als nicht gesichert angesehen werden müssen, durch Kursivsatz kenntlich gemacht. Die Fachkollegen, die meinen jeweils zugrunde liegenden Gedankengang in der Regel rasch werden nachvollziehen können, wenn sie die wissenschaftliche Edition des Gilgamesch-Epos zur Hand nehmen, mögen mir eine solche Vorgehensweise nachsehen.
Vielerlei Anregungen und Hilfe verdanke ich Lilian Maul-Balensiefen. Zahlreiche sprachliche Verbesserungen meiner Übersetzung des Gilgamesch-Epos gehen auf Jörg Hüfner, Elsbeth Maul-Mandelartz, Wibke Meinhold, Konrad Volk und Helge Witzler zurück. Mein Tübinger Kollege Konrad Volk stand mir außerdem immer wieder mit wertvollem fachlichen Rat zur Seite. Ihnen allen sei von Herzen gedankt. Mein Dank gebührt auch Nadja Wrede, die die Zeichnungen für dieses Buch anfertigte und mich bei der Auswahl der Motive sachkundig beriet.
Die uralte Geschichte des Königs Gilgamesch, der seine Kräfte mit der ganzen Welt messen will, nach der Unsterblichkeit strebt und schließlich auf die Erkenntnis zurückgeworfen wird, daß auch für ihn das Leben endlich ist, hat auch nach Jahrtausenden nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Denn sie handelt von ganz grundlegenden und wohl durch alle Zeiten unveränderlichen Wünschen, Hoffnungen, Gefühlen, Schwächen und Ängsten des Menschen. Schon im frühen 20. Jahrhundert, als eine erste Übersetzung des damals Bekannten erschien, hatte ‹Der Gilgamesch› sich einen sicheren Platz in der Weltliteratur erobert. Rilkes Begeisterung für das, wie er es nannte, ‹Epos der Todesfurcht› ist berühmt geworden. Das 20. Jahrhundert hat in der Folge eine kaum noch zu überblickende Zahl von Theaterstücken und Romanen, ja sogar zwei Opern hervorgebracht, die ihren Stoff aus dem altorientalischen Gilgamesch-Epos schöpfen, das immerhin in sechzehn moderne Sprachen übertragen wurde.
In der globalen hellenisierten antiken Welt hatte die altorientalische Dichtung um den König von Uruk einen solchen Nachhall, daß der römische Schriftsteller Aelian noch im 3. Jh. unserer Zeitrechnung, zu einer Zeit, als die Keilschrift bereits in Vergessenheit geraten war, von einem König Gilgamos zu berichten weiß. Lektüre und Studium des Gilgamesch-Epos waren im Babylon Alexanders des Großen, so wie in den vorhergehenden Jahrhunderten, ein fester Bestandteil der schulischen Ausbildung. Bereits in ihren ersten keilschriftlichen Schreibübungen notierten die babylonischen Schulanfänger neben orthographischen Übungen und auswendig niedergeschriebenen Passagen aus Wörterbüchern, Hymnen, Gebeten und Beschwörungen auch Zitate aus dem Werk, das ihnen unter dem Namen scha nagba imuru, «Der, der die Tiefe sah», geläufig war. Dieses Epos um den Herrscher von Uruk, so lehrte man sie, hatte Jahrtausende vor ihrer Zeit der kluge Berater und Chronist des Gilgamesch, Sin-leqe-unnini, der «erste Weise nach der Sintflut», als Tatenbericht seines Königs verfaßt.
Heute veranlaßt uns der Sprachstand des Gilgamesch-Epos zu glauben, daß das Werk in seiner vorliegenden Form im letzten Drittel des zweiten vorchristlichen Jahrtausends entstand. Obgleich in der Einleitung des Epos der Eindruck hervorgerufen wird, als sei die Heldendichtung ein uralter, ursprünglich auf steinerner Tafel niedergeschriebener Rechenschaftsbericht des Königs von Uruk, war der Dichter des Gilgamesch-Epos gewiß kein Zeitgenosse des Gilgamesch. Denn als das Epos des Sin-leqe-unnini seine endgültige Gestalt erhielt, waren die Sagen um König Gilgamesch bereits uralt. Heute wissen wir, daß dem Dichter Sin-leqe-unnini als Grundlage für sein Werk eine erheblich ältere Version des Epos zur Verfügung stand, die ebenfalls in babylonischer Sprache verfaßt und wohl schon im 18. vorchristlichen Jahrhundert entstanden war. In diesem uns bisher nur bruchstückhaft bekannt gewordenen altbabylonischen Gilgamesch-Epos waren mehrere, ihrerseits noch weit ältere, unabhängige Gilgamesch-Erzählungen zu einem harmonischen und schönen Ganzen zusammengefügt. Den Namen des Schöpfers dieses frühen sprachlichen Meisterwerkes kennen wir nicht. Sin-leqe-unnini übernahm mehr oder minder unverändert lange Passagen des alten Textes in sein umfangreiches Werk. Schon das altbabylonische Gilgamesch-Epos, das Sin-leqe-unnini als Vorlage gedient hatte, war zu großer Berühmtheit gelangt, als sich das Babylonische um die Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends von Kleinasien bis nach Ägypten als internationale Diplomatensprache der Welt des Alten Orients durchgesetzt hatte. Textfunde beweisen, daß sich die Dichtung um Gilgamesch, die ja nicht allein von der ernsten Frage nach Leben und Tod, sondern auch von Freundschaft und Liebe, von königlichen Heldentaten und kühnen Abenteuern handelt, auch an den Königshöfen Syriens, Palästinas und Kleinasiens großer Beliebtheit erfreute. In den Ruinen des Königspalastes der hethitischen Hauptstadt Hattuscha, 150 km östlich von Ankara, fand man sogar neben Textvertretern des altbabylonischen Gilgamesch-Epos eine hethitische Übersetzung, die am Hofe wohl denjenigen zum Vortrage gebracht wurde, die des Babylonischen nicht mächtig waren. Wir kennen sogar Bruchstücke einer hurritischen Fassung des Heldenliedes.
Die ältesten uns erhaltenen Erzählungen um König Gilgamesch sind in der uralten sumerischen Sprache niedergeschrieben, die die Schöpfer der frühen Hochkultur des südlichen Mesopotamien gesprochen hatten. An der Wende vom dritten zum zweiten vorchristlichen Jahrtausend zählten diese Texte zur Pflichtlektüre in den Schulen des Zweistromlandes und wurden von denjenigen, die die aussterbende sumerische Sprache erlernten, immer wieder abgeschrieben. Aus Hunderten von Tontafelbruchstücken, die sich im Ruinenschutt mesopotamischer Städte fanden, ließen sich diese Perlen sumerischer Literatur rekonstruieren. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß sich sogar unter den noch weitgehend unverständlichen ältesten literarischen Keilschrifttexten in sumerischer Sprache aus dem 26. Jh. v. Chr. dichterische Werke befinden, die von Gilgamesch, dem König von Uruk, künden. Die mündliche Überlieferung von Erzählungen der Abenteuer und Heldentaten des Gilgamesch dürfte bis in die Zeit des frühen dritten vorchristlichen Jahrtausends zurückgehen, als ein König namens Gilgamesch tatsächlich in der südmesopotamischen Stadt Uruk regiert haben mag.
Sumerer, Babylonier und Assyrer hegten keinen Zweifel daran, daß Gilgamesch tatsächlich gelebt und als König über die Stadt Uruk geherrscht hatte. Für sie war er der größte Fürst seit Menschengedenken, der Jahrtausende vor ihrer eigenen Zeit die uralte, in den Wassern der Sintflut untergegangene städtische Kultur des Zweistromlandes wiederhergestellt hatte. König Gilgamesch schrieb man es zu, die monumentale Stadtmauer von Uruk auf ihren vorsintflutlichen Fundamenten wiedererrichtet und so den Menschen aufs neue einen Raum erschaffen zu haben, in dem die Zivilisation gedeihen konnte. Spätere Herrscher von Uruk, die die gewaltige Mauer, deren Fundamente auch heute noch sichtbar sind, renovierten, wiesen in ihren Inschriften mit Stolz darauf hin, daß sie «das uralte Festungswerk des Gilgamesch» wiederhergestellt hatten. Nach dem Weltengericht der Flut soll Gilgamesch, ohne jede Mühsal zu scheuen, als erster hinaus in die Welt gezogen sein, den Menschen seines Landes Wege, Straßen und Pässe erschlossen haben, um sich selbst einen Namen zu machen und seine Stadt mit kostbaren Gütern aus fernen, zuvor unbekannten Ländern zu versorgen. In der Erinnerung Mesopotamiens war er auch der erste, der die Weltenmeere erkundete und dabei die Segelschiffahrt erfand. Die mächtigsten Fürsten der Welt soll er sich untertan gemacht haben. Ein keilschriftlicher Brief, dessen Historizität heute zu Recht bezweifelt wird, galt den babylonischen Gelehrten und Altertumskundlern hierfür als Beleg. Gilgamesch selbst soll ihn an seine Vasallen gerichtet haben, um von ihnen Gold, Lapislazuli und andere wertvolle Materialien einzutreiben. Die größte Leistung des Königs von Uruk sah man freilich darin, daß er die durch die Flut vernichteten Tempel des Landes wiedererrichtete und die von den Göttern eingesetzten Kultordnungen und Riten, welche nach der Sintflut in Vergessenheit geraten waren, abermals einführte. So hatte Gilgamesch nach der Katastrophe des Weltengerichtes das heilbringende Verhältnis zu den Göttern wiederhergestellt, welches dauerhaftes Gedeihen der menschlichen Kultur erst garantiert.
Die ‹Sumerische Königsliste›, die im ausgehenden dritten vorchristlichen Jahrtausend entstand, zeigt uns, daß die Gelehrten des Zweistromlandes sehr genaue Vorstellungen davon besaßen, wann Gilgamesch lebte und wirkte. Nach einer grauen Vorzeit, in der die Menschen noch ohne königliche Führung auskamen, so lehrt es die Königsliste, sei «das Königtum vom Himmel herabgekommen», und acht ungeheuer langlebige Fürsten hätten insgesamt 241.200 Jahre das Geschick der Menschen gelenkt, bevor die Götter in der Sintflut die alte Welt zugrunde gehen ließen. Bis Gilgamesch, der König von Uruk, endlich den Thron bestieg, um die Kultur in der aufs neue erstandenen Welt wiederherzustellen, sollten der ‹Sumerischen Königsliste› zufolge noch 26.554 Jahre vergehen. Nachdem nach der Flut für 24.510 Jahre, drei Monate und dreieinhalb Tage 23 Könige der sumerischen Stadt Kisch über das Land herrschten, sei das Königtum auf die Stadt Uruk übergegangen. Als fünfter König der ersten nachsintflutlichen Dynastie von Uruk soll schließlich Gilgamesch 126 Jahre lang regiert haben, bevor ihm sein Sohn Ur-Nungal im Amte folgte. Die Historiker des ausgehenden dritten Jahrtausends v. Chr. nahmen an, daß das Königtum danach in mehr als 6500 Jahren noch siebzehnmal von einer Stadt an die andere übergegangen war, bevor es in ihrer eigenen Zeit abermals in die Hände einer aus Uruk stammenden, aber in Ur residierenden mächtigen Dynastie gelangte, deren Herrscher sich als «Bruder des Gilgamesch» zu bezeichnen pflegten.
Man sollte sich hüten, die Gestalt des Gilgamesch allzu schnell dem Reich der Sagen zuzuweisen. Denn zumindest einer der Herrscher, die der ‹Sumerischen Königsliste› zufolge vor Gilgamesch regiert haben sollen, muß als historische Persönlichkeit des frühen dritten vorchristlichen Jahrtausends gelten. Obgleich man ihm, so wie auch Gilgamesch selbst, eine undenkbar lange Regierungszeit zuschrieb, beweisen Keilinschriften dieses Fürsten eindeutig dessen Historizität. Es ist daher keineswegs unwahrscheinlich, daß auch ein König mit dem Namen Gilgamesch in Uruk regierte. Die eindrucksvolle, mehr als 9 km lange, turmbewehrte Mauer, die Uruk umfriedete, könnte durchaus von diesem König errichtet worden sein. Archäologische Forschungen der letzten Jahrzehnte bestätigen jedenfalls, daß, in Übereinstimmung mit der Überlieferung der altorientalischen Gilgamesch-Dichtungen, die wohl erstmals im frühen dritten Jahrtausend v. Chr. errichtete Mauer von Uruk tatsächlich die älteste Stadtmauer des Zweistromlandes ist. Die Ausgrabungsergebnisse der letzten Jahrzehnte lassen auch keinen Zweifel daran, daß in der Frühgeschichte Mesopotamiens Uruk die führende Rolle spielte. Im vierten Jahrtausend v. Chr. hatte sich die schnell anwachsende Stadt zum Mittelpunkt der sumerischen Hochkultur entwickelt und baute weit über Mesopotamien hinausreichende Handelsbeziehungen auf. Die immer komplexer werdenden Verwaltungsaufgaben, die mit dem Unterhalt und der Beschäftigung Zehntausender von Menschen verbunden waren, führten im Uruk des ausgehenden vierten vorchristlichen Jahrtausends zu einer folgenreichen Innovation. Weitsichtige Verwaltungsbeamte hatten dafür gesorgt, daß erstmals in der Geschichte der Menschheit eine Schrift entwickelt wurde, um schwierige Buchungsvorgänge auch langfristig überschauen und so Planungssicherheit garantieren zu können. Von Uruk aus nahm der Siegeszug der Keilschrift, die rasch weite Verbreitung fand, seinen Lauf. Reste der von gewaltigen Tempelanlagen, riesigen Verwaltungsgebäuden, Vorratsspeichern und künstlich angelegten Kanälen geprägten Stadtanlage der Frühzeit zeugen auch heute noch von der Tatkraft und dem Organisationstalent der ersten Fürsten von Uruk. Im Gilgamesch-Epos sind Erinnerungen an diese frühe Zeit wachgeblieben.
Die Erinnerung an Gilgamesch lebte nicht allein in der Literatur des Alten Orients fort. Auch im Alltagsleben der Menschen des Zweistromlandes war der König von Uruk gegenwärtig, und dies nicht allein, weil im Rahmen eines Festes die jungen Männer der Städte «in ihren Toren» Ringkämpfe austrugen, um an den sagenhaften Kampf zwischen Gilgamesch und Enkidu zu erinnern (siehe Gilgamesch-Epos, Tafel II, 111–115). Keilschrifttexte dokumentieren, daß Gilgamesch schon in der Mitte des dritten vorchristlichen Jahrtausends als Gott verehrt wurde, dem Opfer dargebracht und auch von einfachen Leuten Weihegeschenke zugeeignet wurden. Der Überlieferung des Gilgamesch-Epos, der König von Uruk sei nach seinem Tode zum Gott erhoben worden, entspricht also eine durchaus lebendige Kultpraxis. Zwar hatten die Götter, so ist es in einer sumerischen Gilgamesch-Erzählung ausführlich geschildert, dem lebendigen Fürsten, der nach der Unsterblichkeit strebte, das ewige Leben wie jedem anderen Menschen verweigert. Nach seinem Tode aber erhoben sie Gilgamesch, der schon seit Geburt zu zwei Dritteln Gott gewesen war, zu einem der Ihren und unterstellten ihm die Unterwelt. Denn er hatte mit seiner Sorge um den toten Freund Enkidu (siehe Gilgamesch-Epos, Tafel VIII) den Menschen ein Beispiel gegeben und damit die Regeln des Totenkultes eingeführt. Zahlreiche Gebete und Anrufungen, die an Gilgamesch gerichtet sind, zeigen, daß man dem ruhmreichen König von Uruk zuschrieb, in der jenseitigen Welt als König über die Geister der Toten zu herrschen und Gericht über die Verstorbenen zu halten. Wie ein Gebet belegt, das auf einer Tontafel aus dem 7. Jh. v. Chr. aufgeschrieben wurde, konnte sich auch der einfache Mann in Todesnot an Gilgamesch, den Gott der Unterwelt wenden, um ihn um Verschonung zu bitten: «Gilgamesch, vollkommener König, Richter der Unterweltsgötter. (…) Könige, Statthalter und Fürsten liegen auf Knien vor dir. Du betrachtest ihre Omen, über sie fällst du die Entscheidung. Ich (…), den Krankheit befiel, liege auf Knien vor dir, auf daß ein Urteil gesprochen, eine Entscheidung gefällt werde. Sprich mein Urteil! Fälle die Entscheidung über mich! Reiße aus meinem Körper die Krankheit heraus! (…)»
1. Wissenschaftliche Edition des Gilgamesch-Epos (mit ausführlichen Erläuterungen und Kommentaren):
A. R. GEORGE, The Babylonian Gilgamesh Epic. Introduction, Critical Edition and Cuneiform Texts, Vol. I und II, London 2003
2. Geschichte, Kulturgeschichte und Archäologie des Alten Orients:
E. CANCIK-KIRSCHBAUM, Die Assyrer. Geschichte, Gesellschaft, Kultur, München 2003
D. O. EDZARD, Geschichte Mesopotamiens. Von den Sumerern bis zu Alexander dem Großen, München 2004
B. HROUDA (Hrsg.), Der Alte Orient. Geschichte und Kultur des alten Vorderasien, Gütersloh 1991
B. HROUDA, Mesopotamien. Die antiken Kulturen zwischen Euphrat und Tigris, München 42005
M. JURSA, Die Babylonier. Geschichte, Gesellschaft, Kultur, München 2004
H. KLENGEL (Hrsg.), Kulturgeschichte des Alten Vorderasiens, Berlin 1989
H. J. NISSEN, Geschichte Altvorderasiens, München 1999
G. WILHELM (Hrsg.), Zwischen Tigris und Nil. 100 Jahre Ausgrabungen der Deutschen Orient-Gesellschaft in Vorderasien und Ägypten, Mainz 1998
3. Religion des Alten Orients:
B. GRONEBERG, Die Götter des Zweistromlandes, Düsseldorf/Zürich 2004
4. Literatur des Alten Orients:
W. RÖLLIG (Hrsg.), Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Band 1. Altorientalische Literaturen, Wiesbaden 1978
5. Altorientalische Texte in deutscher Übersetzung:
O. KAISER U. A. (Hrsg.), Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Gütersloh 1982–1997
6. Die Keilschrift (Schriftentstehung, Schriftentwicklung, innere Struktur des Schriftsystems):
R. CLAIBORNE, Die Erfindung der Schrift, Reinbek bei Hamburg 1978
H. J. NISSEN, P. DAMEROW, R. K. ENGLUND, Frühe Schrift und Techniken der Wirtschaftsverwaltung im alten Vorderen Orient. Informationsspeicherung und -verarbeitung vor 5000 Jahren, Berlin 1990
Gilgamesch (lies: Gilgmesch), der König der Stadt Uruk (lies: Úruk), zu zwei Dritteln Gott, zu einem Drittel Mensch
Ischtar (lies: Íschtar), die Göttin der Liebe und des Krieges, die mächtige Stadtgöttin von Uruk, die König Gilgamesch über viele Umwege zur Einsicht bringt
Anum (lies: num), der gemeinsam mit seiner göttlichen Tochter Ischtar in Uruk verehrte Himmelsgott
Enkidu (lies: Enkdu), der von den Göttern erschaffene Freund und Gefährte des Gilgamesch
der Fallensteller, der Ahnherr aller Fallensteller, die in der Steppe wilde Tiere fangen
Schamchat (lies: Schámchat [ch wie in «ach»]), eine Dirne aus Uruk, die eine treue Dienerin der Liebesgöttin Ischtar ist
Schamasch (lies: Schámasch), der Sonnengott, unter dessen besonderem Schutz Gilgamesch und Enkidu stehen
Ninsun (lies: Nínsun) oder Ninsunna (lies: Ninsúnna), die göttliche Mutter des Gilgamesch, die Träume deutet und in die Zukunft schauen kann
Humbaba (lies: Humbba), der schreckenerregende Wächter des Zedernwaldes
der Himmelsstier, ein gewaltiger geflügelter menschenköpfiger Stier von ungeheurer Kraft, der Anum im Himmel zu Diensten stand, bis Ischtar sich seiner bedient
der Skorpionmensch, ein angsteinflößendes, vogelbeiniges Wesen mit einem menschlichen Oberkörper und dem Unterleib eines Skorpions, das am Ende der Welt den Zugang zur Bahn der Sonne bewacht
die Frau des Skorpionmenschen, die ihrem Mann aufmerksam zur Seite steht
Siduri (lies: Sidri), eine tief verschleierte Göttin, in deren Gestalt Ischtar in der jenseitigen Welt ein Wirtshaus betreibt, um Gilgamesch den rechten Weg zu weisen
Ur-schanabi (lies: Ur-schanbi), der Fährmann des Uta-napischti
Uta-napischti (lies: ta-napíschti), der babylonische Noah, der in seiner Arche die Weltenflut überlebt hatte und die Unsterblichkeit erlangte
die Frau des Uta-napischti, die Gilgamesch mit sieben Broten um die Hoffnung auf ewiges Leben bringt
die Schlange, die Gilgamesch den Weg zur Erkenntnis freimacht
Das Gilgamesch-Epos beginnt mit einem Preislied auf den heldenhaften König von Uruk (I, 1–48), der auf seiner Suche nach dem ewigen Leben nicht nur bis an das Ende der Welt gelangte, sondern dabei auch als erster und einziger Mensch in Bereiche unter, über und jenseits der begehbaren Erde vordrang. Ihre Kenntnis der fernen, unzugänglichen Länder, der Weltenmeere und des gesamten Kosmos verdanken die Menschen des Zweistromlandes König Gilgamesch, der Straßen und Wege in die fernen Regionen der Welt bahnte und damit Handel und Wandel ermöglichte. Aber nicht allein dies begründet den im Prolog des Epos besungenen Ruhm des größten aller Könige. Nach langen Irrungen und Wirrungen, in denen Ischtar, die große Göttin von Uruk, ihn fast unmerklich leitet, findet der zunächst ganz selbstsüchtige Fürst zu seiner wahren Bestimmung. Nach der Katastrophe der Sintflut, von der Gilgamesch durch den babylonischen Noah erfährt, baut der König von Uruk die durch die Flut zerstörten Tempel, die lange brach gelegen hatten, wieder auf und stellt die alten Kult- und Opferregeln und damit die segenbringende Gemeinschaft von Göttern und Menschen wieder her (I, 43–44). Am Ende der im Epos beschriebenen Abenteuer ist der einst nur auf den eigenen Vorteil bedachte Gilgamesch den ihm anvertrauten Menschen der «gute Hirte», der ihnen mit der mauerbewehrten Stadt Uruk eine sichere «Hürde» bietet und damit die hohe Kultur Mesopotamiens ermöglicht (vgl. I, 11–23).
Die Einleitung des Gilgamesch-Epos schafft die Fiktion, als sei das Epos selbst ein auf steinerner Tafel niedergeschriebener Tatenbericht des Königs Gilgamesch (vgl. I, 24–28).
Der riesenhafte und über alle Maßen schöne Gilgamesch (I, 49–62), ist nur zu einem Drittel Mensch. Zwei Drittel an ihm sind Gott (I, 48). Er hat weiter nichts im Sinn als sein eigenes Vergnügen. Der junge, vor Kraft strotzende König kommt seiner Aufgabe, als ‹guter Hirte› den ihm anempfohlenen Menschen eine ‹Hürde› der Sicherheit und des Wohlergehens zu bieten, nicht nach. Die jungen Männer seiner Stadt Uruk zwingt er mit Waffengewalt, für ihn bei Tag und Nacht zum Ballspiel als Spielgefährten bereit zu stehen (I, 63–70). Auch die jungen Frauen müssen ihm allein zu Diensten sein (I, 71–72). Mann und Frau, Braut und Bräutigam können so nicht mehr zueinanderfinden. Die Klage der Frauen dringt zu Ischtar, der Göttin der Liebe, die die Patronin Uruks, der Stadt des Gilgamesch, ist (I, 73–78). Wie die Liebesgöttin sind auch der in Uruk verehrte Göttervater, der Himmelsgott Anum, und der Götterkönig Enlil verärgert (I, 79–93). Sie wollen dem Treiben Gilgameschs ein Ende setzen und fordern die Muttergöttin Aruru auf, ein Wesen zu erschaffen, das dem König von Uruk Einhalt gebieten kann (I, 94–98). In der von der Kultur ganz unberührten Wildnis erschafft Aruru Enkidu, einen Ur-Menschen, der in Größe und Schönheit Gilgamesch nicht nachsteht (I, 99–108). Der behaarte, nackte Enkidu wird von den Wildtieren der Steppe großgezogen und lebt mit diesen, als sei er eines von ihnen (I, 109–112).
Der Fallensteller (oder genauer: der Ahnherr aller Fallensteller) lauert der Herde des Enkidu immer wieder in der Steppe an einer Wasserstelle auf. Doch er kann keines einzigen Tieres habhaft werden, da der kraftvolle Enkidu seine Herde stets zu schützen weiß (I, 113–121). Als sich der Fallensteller bei seinem Vater über den immerwährenden Mißerfolg beklagt (I, 122–133), rät ihm dieser, Enkidu nicht mit Muskelkraft, sondern mit einer List zu bezwingen. Schamchat, die Dirne aus Uruk, soll Enkidu von der Herde weglocken (I, 134–145). Der Fallensteller zieht nach Uruk, und Gilgamesch selbst empfiehlt ihm, Enkidu mit Hilfe der Dirne zu überlisten (I, 146–166). In der Steppe an der Wasserstelle warten Schamchat und der Fallensteller. Als Enkidu mit seiner Herde naht, entblößt sich die Dirne und bietet sich Enkidu an. Sieben Tage und sieben Nächte lieben sich die beiden. Danach aber schrecken die Wildtiere vor Enkidu zurück. Der durch die Dienerin der Liebesgöttin nun zum Menschen gewordene Wilde hat zwar die Fähigkeit verloren, schnell wie die Herdentiere zu laufen. Aber auf einmal besitzt er Verstand und versteht und beherrscht die menschliche Sprache (I, 167–205).
Die Dirne lädt Enkidu ein, mit ihr in die Stadt zu kommen (I, 206 bis 213, 224ff.). Verführerisch preist sie die Verlockungen der Stadt, nicht ohne den kraftstrotzenden Gilgamesch und sein unangemessenes Treiben zu erwähnen. Enkidu zieht es nun nach Uruk. So wie die Götter es vorgesehen hatten, will er seine Kräfte mit denen des Königs von Uruk messen. Er will Gilgamesch besiegen und so die Menschen von Uruk von der Unterdrückung befreien (I, 214–223). Der keineswegs ernst gemeinte Rat der Schamchat, von diesem Plan abzulassen, da Schamasch, der Sonnengott, Gilgamesch liebt (I, 240–242), bleibt ungehört. Schamchat bekräftigt Enkidus Entschluß, nach Uruk zu ziehen, indem sie ihm zwei Träume Gilgameschs schildert, die dem König von Uruk bereits die Ankunft Enkidus angekündigt hatten und erkennen ließen, daß Gilgamesch Enkidu nicht besiegen können wird, sondern daß die beiden Genossen, Freunde und Brüder werden (I, 243–298).