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Dietmar Rothermund

GESCHICHTE INDIENS

Vom Mittelalter bis zur Gegenwart

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Indien hat Europäer seit jeher fasziniert – früher hauptsächlich durch seine vielgestaltige Religiosität und fremdartige Kultur, heute fast mehr durch die boomende Software-Industrie. Verständlich wird der indische Subkontinent aber erst vor dem Hintergrund seiner Jahrtausende alten wechselvollen Vergangenheit. Dietmar Rothermund beginnt seine Darstellung der Geschichte Indiens im 6. Jahrhundert, als rivalisierende Regionalreiche das letzte große Gesamtreich des alten Indien ablösten. Er beschreibt die Eroberung dieser Reiche durch islamische Reiterkrieger im Spätmittelalter, die mehr als zwei Jahrhunderte währende glanzvolle Zeit der Mogulkaiser, an die heute noch Bauwerke wie das Taj Mahal erinnern, sowie die Zeit der britischen Kolonialherrschaft. Ein Schwerpunkt liegt auf dem 20. Jahrhundert, in dem das Land in einem langwierigen und dramatischen Freiheitskampf um den Preis der Teilung in die beiden Staaten Indien und Pakistan die Unabhängigkeit errang und schließlich mit mehr als einer Milliarde Einwohnern zur größten Demokratie der Welt wurde.

Über den Autor

Dietmar Rothermund ist emeritierter Professor für die Geschichte Südasiens am Südasien-Institut der Universität Heidelberg und Fellow der Royal Historical Society. Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. «Mahatma Gandhi» (2.Aufl. 2011), «Indien. Aufstieg einer asiatischen Weltmacht» (2008) sowie das international erfolgreiche Standardwerk «Geschichte Indiens. Von der Induskultur bis heute» (mit Hermann Kulke, 3., aktualisierte Aufl. 2018).

Inhalt

I. Mittelalterliche Reiche und religiöse Bewegungen

1. Feudale Herrschaft im «Kreis der Nachbarn»

2. Das Mächtegleichgewicht der «streitenden Reiche»

3. Der Niedergang des Buddhismus

4. Die Entwicklung des Hinduismus

II. Die Herrschaft der Reiterkrieger

1. Das Delhi-Sultanat: Kavalleriestaat der Sklaven und Usurpatoren

2. Die Sultanate des Hochlands

3. Die Hindu-Reiterkrieger des Südens

III. Das Reich der Großmoguln

1. Akbars Verwaltungsreform und Religionspolitik

2. Jahangir, Shah Jahan und Aurangzeb

3. Der Aufstieg der Marathen

4. Die indischen Mächte im 18. Jahrhundert

IV. Vom Kolonialstaat der Ostindiengesellschaft zum viktorianischen Kaiserreich

1. Der europäische Handel mit indischen Textilien

2. Die Errichtung der britischen Territorialherrschaft in Bengalen

3. Der große Aufstand von 1857

4. Königin Victorias indisches Kaiserreich

5. Die Radikalisierung des indischen Nationalismus

V. Krieg, Krise, Krieg und Freiheitskampf

1. Der Protest gegen das Ermächtigungsgesetz des Richters Rowlatt

2. Die Kampagne der Nichtzusammenarbeit

3. Vom Salzmarsch zur Konferenz am Runden Tisch

4. Die Wirtschaftskrise und der Kongress als Bauernpartei

5. Die «Quit-India»-Kampagne und die August-Revolution

VI. Die Tragödie der Teilung

1. «Pakistan-Resolution» und «Zwei-Nationen»-Theorie

2. Jinnahs Verrat an der muslimischen Diaspora

3. Der Erfolg der Veto-Politik

4. Lord Mountbatten und die «Vivisektion Indiens»

5. Das Kashmirproblem

6. Das Erbe der Teilung

VII. Wachstum und Wandel der Republik Indien

1. Die Veränderungen der politischen Struktur und der Aufstieg der «Mittelklasse»

2. Die Bharatiya Janata Party und die Kongresspartei

3. Wirtschaftsreform und Staatsfinanzen

4. Die wachsende Zahl der Bundesländer

VIII. Von der Bündnisfreiheit zum Atomstaat

1. Afro-asiatische Solidarität und friedliche Koexistenz

2. Die Bewegung der Bündnisfreien

3. Indiens Aufstieg zur Regionalmacht in Südasien

4. Indiens Achillesferse und die Gefahr der nuklearen Eskalation

5. Indiens Weltgeltung und die USA

 

Zeittafel

Weiterführende Literatur

Register

Die indischen Bundesländer

I. Mittelalterliche Reiche und religiöse Bewegungen

Indiens Geschichte hat einen großen Tiefgang. Schon vor rund 8000 Jahren gab es in den Randgebieten des Industals sesshaften Ackerbau. Die Menschen dort domestizierten das Buckelrind (Bos indicus), das ihnen Nahrung gab und den Pflug zog. Sie konnten schließlich das gewaltige Schwemmland des Indus erobern, der doppelt so viel Wasser führt wie der Nil. Mit einem ebenfalls hier domestizierten dürrebeständigen Rundkornweizen erzielten sie reiche Ernten. Die Bevölkerung wuchs, große Städte entstanden. Gewaltige Mauern mit genormten Ziegeln, ein einheitliches System von Maßen und Gewichten und eine sich bis an den Rand der nördlichen Gangesebene und bis nach Gujarat und Maharashtra erstreckende Herrschaft zeugen von der Größe einer der frühen Kulturen der Menschheit. Da es weder Paläste noch Königsgräber, wohl aber religiös-rituelle Plätze und Siedlungen einer Elite in den Zitadellen der Städte gab, nimmt man an, dass eine Art Priesterschaft für die Normensetzung und die lange Erhaltung dieser Kultur zuständig war. Die auf vielen Siegeln befindliche Schrift dieser Kultur ist bisher nicht entziffert worden. Sie diente wohl in erster Linie der Übermittlung kommerzieller Informationen. Das Fernhandelsnetz der Induskultur war weit gespannt. Es bezog die südliche Arabische Halbinsel und Mesopotamien ein und reichte wohl bis nach Afrika. Von dort bezog man die afrikanischen Hirsearten, die es der Induskultur erlaubten, in Hochlandgebiete vorzudringen, in denen sich kein Weizen anbauen ließ. Diese Hirsearten sind bis auf den heutigen Tag für die Landwirtschaft dieser Gebiete bestimmend geblieben.

Um 1900 v. Chr. setzten klimatische Veränderungen und vermutlich auch tektonische Umbrüche der Induskultur ein Ende. Man nimmt an, dass die Niederschläge beträchtlich zurückgin gen, auch soll die Yamuna, die heute nach Osten fließt und in den Ganges mündet, früher wohl nach Südwesten geflossen sein, wo sie weite Landschaften östlich des Indus bewässerte. Als die Induskultur bereits dem Untergang geweiht war, lebten in Afghanistan, sozusagen im Vorhof Indiens, nomadische Hirten, die sich selbst «Arya» (die Edlen) nannten. Ihre Krieger zogen auf schnellen, leichten Streitwagen in den Kampf. Die Induskultur kannte das Pferd nicht und damit auch keine kriegerische Elite von der Art, die auf Streitwagen daherkam und sich Indien untertan machte. Die Trockenzeit, die die Waldungen der Gangesebene ausdörrte, ermöglichte es den Streitwagenkriegern, Brandrodungsbau zu betreiben und nach Osten vorzustoßen. In ihren mündlich überlieferten heiligen Schriften, den Veden, ist von dem Feuergott Agni die Rede, der ihnen auf dem Weg nach Osten «vorangeflammt» sei. Am Gandak (Sadanira), dem westlichen Grenzfluss des heutigen indischen Bundeslandes Bihar, machte Agni Halt. Das Land jenseits dieses Flusses galt den «Arya» lange Zeit als unreines Land. Sie konsolidierten ihre Herrschaft in der mittleren Gangesebene, wo es zu einer zweiten Urbanisierung kam. Die Städte, die hier ab ca. 550 v. Chr. entstanden, waren zwar nicht so bedeutend wie die der Induskultur, die rund 1500 Jahre zuvor erbaut worden waren, aber sie sind doch Zeugen einer eindrucksvollen urbanen Kultur mehrerer Königreiche, die jedoch bald von den Großmächten des Ostens besiegt wurden.

Der «unreine» Osten (Bihar und Bengalen) bot den dort entstehenden Großreichen eine enorme Machtbasis. In den Tiefebenen wuchs der Reis und damit auch die Bevölkerung. Im nahen südlichen Hügelland gab es Eisenerz, das von geschickten Handwerkern zu Werkzeugen und Waffen verarbeitet wurde. In den angrenzenden Wäldern konnte man Elefanten fangen und zähmen. Der Kriegselefant wurde zur Wunderwaffe der neuen Reiche. Er war dem Streitwagen in jeder Hinsicht überlegen. Dort im Osten entstanden aber auch neue religiöse Bewegungen, die die alte Religion der Veden herausforderten. Gautama begründete hier den Buddhismus, Mahavira den Jainismus. Diese Lehren fanden im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. eine rasche Verbreitung. Ashoka (268–233 v. Chr.), der dritte Herrscher der Maurya-Dynastie, war selbst ein Laienbruder des buddhistischen Ordens und verkündete in seinen Fels- und Säulenedikten, die von Afghanistan bis Ost-Bengalen und im Süden bis in die Gegend des heutigen Bangalore zu finden sind, eine Art buddhistischer Staatsethik. Sein Riesenreich war kein flächendeckender Territorialstaat. Seine Herrschaft stützte sich auf die Kontrolle der Fernhandelsstraßen und auf das fruchtbare Kerngebiet seines Reiches um die Hauptstadt Pataliputra (Patna). Bald nach seinem Tod löste sich dieses Riesenreich wieder auf. Im Osten herrschten regionale Könige, im Norden lösten sich Invasoren aus Zentralasien ab. Erst in der Zeit von 320 bis 497 n. Chr. gelang es der Gupta-Dynastie nochmals ein Großreich zu errichten, dessen Kerngebiet dasselbe war wie das des Ashoka. Ihre mächtigsten Rivalen waren die Vakatakas, die in Zentralindien herrschten. Mit ihnen gingen sie eine Heiratsallianz ein. Man spricht daher auch von der Gupta-Vakataka-Dynastie. Unter ihrer Herrschaft erlebte Indien eine kulturelle Blütezeit. Es entstand die klassische Sanskritdichtung, die Tempelskulptur zeichnete sich durch die große Schönheit ihrer lebensvollen Gestalten aus. Der Glanz dieser urbanen, höfischen Kultur strahlte auf die späteren Regionalreiche aus.

Indiens «klassisches Altertum» endete mit dem Hunneneinfall, der dem Guptareich den Todesstoß versetzte. Die Hunnenkönige Toramana und Mihirakula, die Nordwestindien von ca. 506 bis 528 beherrschten, vernichteten dort die urbane Kultur und wohl auch die buddhistischen Klöster. Lokale indische Fürsten vertrieben schließlich die Hunnen, die auch in Zentralasien Niederlagen erlebten, die ihre Macht versiegen ließen. Doch ein indisches Großreich konnte nun für lange Zeit nicht wieder entstehen. Indische Nationalisten des 19. und 20. Jahrhunderts, die sich im Freiheitskampf auf die Suche nach einer brauchbaren Vergangenheit begaben und im «klassischen Altertum» das goldene Zeitalter sahen, betrachteten das Mittelalter meist als finstere Epoche des Herrschafts- und Kulturverfalls. Dagegen versuchten indische Marxisten, in dieser Epoche Spuren eines indischen Feudalismus zu finden, um die indische Geschichte in die universale Stufenfolge einzuordnen, die Marx vorgezeichnet hatte. Marx selbst sah zwar Indien in ewiger Stagnation verharrend, zu der es durch die «asiatische Produktionsweise» verdammt war; seiner Ansicht nach hatten erst die Briten durch ihre Kolonialherrschaft dieser Stagnation ein Ende gesetzt und Indien dem Kapitalismus unterworfen. Dieses Urteil des Meisters war für indische Marxisten jedoch unerträglich. Sie mussten versuchen, einen indischen Feudalismus nachzuweisen. Dabei stießen sie auf die Kritik nicht-marxistischer Historiker, die sich an den Rechtsformen des europäischen Feudalismus orientierten und auf deren Fehlen in Indien hinwiesen. Diese Debatten spornten die Erforschung des indischen Mittelalters an, das sonst «finster» geblieben wäre. Doch sowohl die Marxisten als auch ihre Kritiker sahen den Feudalismus im Grunde als ein negatives Phänomen, anstatt ihn als eine mittelalterliche Inkorporationsstrategie zu betrachten, die es auf ihre Weise ermöglichte, «Staat zu machen». Der feudale Staat war ein Personenverband. Der Herrscher musste mit den ihm zur Verfügung stehenden kulturellen Strategien diesen Verband stabilisieren und die Personen, auf die es dabei ankam, in seinen «Hofstaat» inkorporieren.

1. Feudale Herrschaft im «Kreis der Nachbarn»

Die frühen Großreiche waren noch in der Lage, ihre Ordnung sozusagen «von oben» durchzusetzen. Ihre Herrscher trafen selten auf ebenbürtige Gegner. Unzugängliche Stammesgebiete, deren Eroberung mehr gekostet als eingebracht hätte, ließen sie unbeachtet und konzentrierten sich auf die Kontrolle der Handelswege und einiger fruchtbarer Kerngebiete. Eroberungszüge großer Herrscher dienten in erster Linie der Verbreitung ihres Ruhms und der Erringung von Beute. Besiegte Gegner wurden meist wieder eingesetzt und zu Abgabenleistungen und zum Erscheinen bei Hofe des Siegers verpflichtet. Die Allahabad-Inschrift Samudraguptas (ca. 350) zeigt dies in allen Einzelheiten. Die Machtmittel (Heer und Kriegselefanten), die einem Herrscher wie Samudragupta zur Verfügung standen, waren beträchtlich. Kein Zeitgenosse konnte ihm darin gleichkommen. Doch solche Machtdemonstrationen der Guptas hatten auch eine Vorbildwirkung. Ihr Herrschaftsstil und ihre Kriegstechnik ließen sich von vielen regionalen Herrschern später nachahmen. Nur konnten diese ihren Willen nicht mehr «von oben» durchsetzen, sondern mussten durch Inkorporationsstrategien sozusagen «von unten» her ihre Herrschaft aufbauen und sichern. Von besonderer Bedeutung waren dabei die Beziehungen des Herrschers zu den Brahmanen und zu seinen fürstlichen «Kollegen». Diese Beziehungen waren auf vielfältige Weise miteinander verknüpft, sie sollen aber hier nacheinander dargestellt werden.

Könige und Brahmanen hatten schon in den vorangegangenen Epochen der indischen Geschichte ein symbiotisches Verhältnis zueinander. Der König unterhielt und belohnte die Brahmanen und diese legitimierten seine Herrschaft, indem sie ihre kulturelle Manifestation gestalteten. Sie gaben die Themen vor, die der König von Künstlern in Tempeln darstellen ließ. Sie schufen literarische Werke, die nicht selten dem Lob der Taten des Herrschers gewidmet waren. All dies nahm in den mittelalterlichen Regionalreichen eine neue Qualität an. Brahmanen wurden sozusagen «berufen» und mit genau dokumentierten Landschenkungen versehen. Diese Dokumente wurden auf Kupfertafeln eingraviert und haben so dem Zahn der Zeit widerstanden. Wir verdanken ihnen entscheidende Einblicke in die mittelalterliche Geschichte Indiens. Das Formular ähnelt in vieler Weise dem mittelalterlicher europäischer Dokumente – insbesondere in seinem operativen Teil einschließlich der Garantie von Immunitäten, der Pönformel, die dem Strafen androhte, der den Bestimmungen zuwiderhandelte, etc. Doch im Unterschied zu den europäischen Dokumenten dieser Art haben die indischen jeweils eine lange Einleitung (prashasti), in denen die Taten des Herrschers und seiner Vorfahren beschrieben werden. Vermutlich wurden diese Dokumente von dem beschenkten Brahmanen bei entsprechenden Anlässen laut vorgelesen und dienten damit der Herrschaftsmanifestation. Der Brahmane wurde so zum «Königsmann».

Die Entstehung von Regionalreichen in allen Teilen Indiens – einschließlich des zuvor in dieser Hinsicht noch weniger entwickelten Südens – schuf einen großen «Arbeitsmarkt» für Brahmanen. Sie schwärmten von ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten in der Gangesebene nach allen Richtungen aus. Mancher Herrscher, der zuvor kaum mehr als ein Stammeshäuptling gewesen war, ließ sich von den Brahmanen zeigen, wie man «Staat macht» und sich zum König emporstilisiert. Dieser «Arbeitsmarkt» erstreckte sich bald über Indien hinaus bis nach Südostasien. Das Modell des indischen Königtums bewährte sich als «Exportartikel».

Der mittelalterliche indische Regionalkönig konnte sich freilich nicht nur auf die Brahmanen stützen. Er musste auch das Verhältnis zu seinen fürstlichen Kollegen im Sinne einer Inkorporationsstrategie entwickeln. Der Bedeutungswandel des Wortes «samanta» (wörtlich «Nachbar») zeigt an, wie das geschah. Zunächst wurde aus dem eigenständigen Nachbarn ein unterworfener, aber in seinem Herrschaftsbereich im Wesentlichen autonomer «Vasall». Er hatte Abgaben zu leisten und musste zu gewissen Anlässen bei Hofe erscheinen. Der «Kreis der Nachbarn» (samantachakra), die ihm so verpflichtet waren, gereichte dem König zu Ehre und Ansehen. Sie umringten als gekrönte Häupter seinen Thron. Wuchs das Reich, so erlangten bald auch einige der Samantas administrative Stellen bei Hofe und erhielten gar den Titel «Mahasamanta» (großer Nachbar). Sie waren dann eigentlich keine «Nachbarn» mehr, sondern befanden sich ständig in der Umgebung des Königs. Um diesen «Nachbarn» nicht allein die Macht bei Hofe zu überlassen, ernannte der König auch Prinzen von Geblüt zu Ministern, die dann den Titel «Kumaramatya» (Prinzminister) trugen.

Die Brahmanen bekleideten ebenfalls Positionen bei Hofe und waren nicht nur als «Königsmannen» in der Provinz vertreten.

Im alten Indien gab es keine Tempel. Die Brahmanen errichteten für ihre hochkomplizierten Opferrituale temporäre Altäre auf freiem Feld. Ein Großteil ihrer Ritualkenntnisse bezog sich gerade auf die Bestimmung von Ort und Zeit für die Errichtung solcher Altäre. Erst in der Zeit der Gupta-Dynastie wurden mit eindrucksvollen Skulpturen versehene Tempel errichtet, die aber noch von bescheidenen Ausmaßen waren. Im frühen Mittelalter (6.–7. Jahrhundert) entstanden vielerorts Höhlentempel, deren eindrucksvolle Skulpturen in ihrer Schönheit und Ausdruckskraft später kaum noch übertroffen wurden. Der Höhlentempel von Elephanta im Hafen von Mumbai (Bombay) ist ein großartiges Beispiel dieser religiösen Kunst.

Für die indischen Könige war der Tempelbau Teil einer neuen Inkorporationsstrategie. Der Reichsgott war auf besondere Weise mit dem König identifiziert, beanspruchte aber auch die Aufmerksamkeit der Großen des Reiches, die ihm generöse Stiftungen angedeihen ließen. Dem Tempel dienten Scharen von Brahmanen. Dem König kam eine besondere rituelle Stellung im Dienste des Gottes zu, dem der Tempel geweiht war, und er konnte dies gegenüber seinen «Samantas» ausspielen. Einige Regionalkönige gingen so weit, ihr Reich dem Gott zu übertragen und sich selbst nur als Sachwalter des Gottes zu bezeichnen. Illoyalität wurde damit zur Unbotmäßigkeit gegenüber diesem Gott. Vom einfachen «Samantachakra» bis zu dieser Art der Organisation ritueller Souveränität hatte die Inkorporationsstrategie beachtliche Fortschritte gemacht. Sie trug zur Konsolidierung der Regionalreiche bei, die freilich untereinander in ständigem Wettstreit lagen, dabei aber immer wieder kulturelle Anleihen beieinander machten. Im Grund trug dieser Wettstreit zur Verbreitung einer gemeinsamen indischen Kultur bei, die jedoch bedeutsame regionale Varianten aufwies. Gerade darin bestand der Reichtum dieser Kultur.

2. Das Mächtegleichgewicht der «streitenden Reiche»

In China gilt die Periode der «streitenden Reiche» (480–249 v. Chr.) als ein Ausnahmezustand, während der Bestand eines einheitlichen Großreiches die Regel war. Im indischen Mittelalter war die Existenz streitender Reiche die Regel, der Ausnahmezustand eines einheitlichen Reiches trat erst sehr viel später wieder ein. Die indischen Regionalreiche waren sich in ihrer Struktur sehr ähnlich. Das ergab sich aus der Gleichförmigkeit der Inkorporationsstrategien. Sie waren sich aber auch in Bezug auf die Kriegstechnik ähnlich, die sich bis zum Erscheinen der islamischen Reiterkrieger nicht änderte. Der Kriegselefant war schon die Wunderwaffe der alten Großreiche gewesen, er blieb es auch für die Reiche des Mittelalters. Elefanten konnten nicht domestiziert, sondern nur gezähmt und dressiert werden. Neue Elefanten konnten nur in den Wäldern des indischen Ostens gefangen werden. Der Elefantentreiber (mahout) war meist ein Stammesangehöriger aus dem Waldland, aus dem die Elefanten stammten. Er war kein Krieger und blieb auch in der Schlacht unbewaffnet. Auf einer auf dem Rücken des Elefanten befestigten Plattform war Platz für eine Schar von Bogenschützen, die ihre Pfeile nach allen Richtungen schießen konnten. Auch der Feldherr – oft der König selbst – thronte auf einem Elefanten, der für ihn ein mobiler Feldherrnhügel war. Das Fußvolk diente meist nur dazu, die Elefanten gegen Angriffe des Gegners abzuschirmen. Durchtrennte man mit einem Schwerthieb die Sehnen des Elefanten, dann war es um ihn und seine Besatzung geschehen. Solche Attacken musste das Fußvolk verhindern. Es war dabei aber oft auch den eigenen Kriegern im Wege. Das in Indien erfundene Schachspiel bildet die traditionelle indische Strategie getreulich ab.

Im Unterschied zum alten indischen Streitwagen, der nur auf einem ebenen Schlachtfeld eingesetzt werden konnte und nicht für unwegsames Gelände geeignet war, konnte der Elefant überall eingesetzt werden. Er konnte Berge überwinden, Wälder durchqueren, durch Flüsse schwimmen und sich überall von den Blättern der Bäume ernähren. Doch seine Anschaffung und Haltung waren kostspielig. Nur mächtige Herrscher konnten sich Kriegselefanten in großer Zahl leisten. Damit trug der Elefant zur Zentralisierung der Macht bei. Andererseits konnte jeder Machthaber, der genügend Mittel hatte, um sie in Kriegselefanten zu investieren, seinen Gegner übertrumpfen.

Die dem Herrscher zur Verfügung stehenden Mittel standen im Verhältnis zu seiner Herrschaftsreichweite. Darunter ist der Radius des Gebiets zu verstehen, in dem Souveränität unmittelbar ausgeübt werden konnte. Er betrug im Mittelalter selten mehr als 150–200 Kilometer. Die Interventionsreichweite eines Herrschers konnte jedoch wesentlich größer sein als seine Herrschaftsreichweite. Eroberungszüge über mehr als 1000 Kilometer waren keine Seltenheit. Solche Interventionen über große Entfernungen hinweg konnten natürlich nur sporadischer Art sein. Sie dienten allenfalls der Machtdemonstration und der Erringung von Kriegsbeute. Wichtiger schon war das enger begrenzte, aber dauerhafte Interventionspotenzial, das Entfernungen bis etwa 600 Kilometer betraf. Dieses Potenzial bewirkte, dass sich jeweils keine zweite Macht gleicher Bedeutung in einer der indischen Großregionen halten konnte. Etwas vereinfachend sollen hier die nordindische Ebene, der Osten (Bengalen, Orissa), das südliche Hochland und die Südostküste als solche Großregionen bezeichnet werden. Die Schwerpunkte der jeweiligen Hegemonialmächte in den Großregionen konnten von Zeit zu Zeit verschieden sein. Damit veränderte sich auch das Interaktionsmuster der Großregionen. Lag der Schwerpunkt im Norden in der mittleren Gangesebene und im Süden im nördlichen Hochland, dann kam es öfter zu Konflikten zwischen diesen beiden Großregionen. Über 2000 Kilometer hinaus gingen auch sporadische Interventionen kaum. So konnte es zur beziehungslosen Zeitgenossenschaft großer Könige des äußersten Südens mit Eroberern des Nordwestens kommen. Die Eroberungszüge des Königs Lalitaditya von Kashmir, der im 7. Jahrhundert bis tief nach Süden und danach auch noch nach Zentralasien vorstieß, waren die einsame Ausnahme. Lalitaditya zog wie ein Komet über den Himmel Indiens und bewirkte nichts. Die kriegerischen Auseinandersetzungen anderer Regionalherrscher führten jedoch zu einem mehr oder weniger stabilen Gleichgewicht der Mächte.

Bereits rund ein Jahrhundert nach dem Untergang des Guptareiches artikulierten sich die «streitenden Reiche» der Großregionen nach dem oben beschriebenen Muster. Im Norden gelang es König Harshavardhana, der seine Hauptstadt in Kanauj in der mittleren Gangesebene errichtete, noch einmal den Glanz des Guptareiches wiederaufleben zu lassen. Doch im Osten stand ihm zunächst König Sasanka von Bengalen als ebenbürtiger Widersacher entgegen. Nach Sasankas Tod konnte er den Osten weitgehend unterwerfen. Als er dann aber nach Süden zog, trat ihm der Chalukya-König Pulakeshin II. entgegen und bereitete ihm (ca. 630) eine empfindliche Niederlage. Pulakeshin wiederum maß seine Kräfte mit den Pallava-Königen Mahendravarman und Narasimhavarman, deren Hauptstadt Kanchipuram in der Nähe von Madras lag, etwa 600 km südöstlich von Pulakeshins Hauptstadt Badami, das im heutigen Karnataka liegt. Beiden Seiten gelang es in mehreren Kriegen jeweils die gegnerische Hauptstadt einzunehmen, aber keine Seite trug letztlich einen nachhaltigen Sieg davon. Dabei beeinflussten diese beiden streitenden Reiche des Südens einander kulturell. Zunächst vermittelten die Chalukyas den Pallavas das Erbe der Guptakunst des Nordens, dann nahmen sie ihrerseits Anregungen der Pallavakunst auf.