Wolfgang Krieger
DIE DEUTSCHEN
GEHEIMDIENSTE
Vom Wiener Kongress
bis zum Cyber War
C.H.Beck
Ob deutsche Geheimdienste oder Nachrichtendienste aus anderer Herren Länder – ganz gleich, in was für einem politischen System sie agieren: Sie zeichnen sich stets durch das Bemühen aus, im Verborgenen, ja, gleichsam im Dunkeln zu wirken. Der vorliegende Band erhellt mit Blick auf die deutsche Geschichte dieses oft folgenreiche geheime Treiben. In seiner souveränen Einführung legt Wolfgang Krieger die Organisation, die Zielsetzungen und die politische Einbettung der deutschen Geheimdienste in ihrer historischen Entwicklung offen – von Vorläuferinstitutionen im Deutschen Bund, Kaiserreich und in der Weimarer Republik über die berüchtigten Sicherheitsorgane im NS-Regime, über die «Organisation Gehlen» in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis hin zum BND in der Bundesrepublik und dem Ministerium für Staatssicherheit in der DDR. Aus dieser wechselvollen Geschichte heraus, die aufs Engste mit der gesellschaftlichen Entwicklung Deutschlands verknüpft ist, wird das immer schon zwiespältige, von Misstrauen geprägte Verhältnis der Deutschen zu ihren Nachrichtendiensten verständlich. Diese Problematik setzt sich im Spannungsfeld zwischen NSA-Affäre und Terrorismusbekämpfung, NSU-Skandal und Aufdeckung staatsfeindlicher Netzwerke bis in die Gegenwart fort.
Wolfgang Krieger ist Professor em. für Neuere Geschichte an der Philipps-Universität Marburg und war Fellow in Harvard und Oxford. Einen Schwerpunkt seiner Forschung bildet die Geschichte der Geheimdienste im globalen Kontext. Er ist Mitglied der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945–1968. Im Verlag C.H.Beck ist von ihm bereits erschienen: Geschichte der Geheimdienste. Von den Pharaonen bis zur NSA (32014).
1. Die unbeliebten «Dienste» der Deutschen
2. Deutscher Bund und Kaiserreich
Inlandsspionage und Polizei
Exkurs: Die Legenden des Wilhelm Stieber
Militärische «Nachrichtendienste»: von Brandt zu Nicolai
Das Auswärtige Amt als geheimer Nachrichtendienst?
Eine magere Bilanz
Viel Geld für Lenin und der Sieg über Russland
Anschläge in Amerika
Leistungen und Defizite der deutschen Militäraufklärung im Krieg
Exkurs: Die Weltkriegsspionage und die Erinnerungen von Maximilian Ronge
3. Die «Abwehr» der Weimarer Republik
Der Staatsschutz als Inlandsgeheimdienst
4. Geheimdienste im NS-Regime
Wildwuchs der Organisation
Die Rolle des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA)
Beteiligung am militärischen Widerstand
5. Sicherheit mit Otto John und Reinhard Gehlen
Die Organisation Gehlen
Im Sold der Amerikaner
Der Impuls des Koreakrieges
6. Geheimdienste in der Bundesrepublik
Bedrohungen und Krisen im Sowjetblock
Der Verratsfall Heinz Felfe
Die Spiegel-Affäre
Reformen und neue Aufgaben des BND
Sicherheit im Inneren und in der Bundeswehr
7. Geheimdienste in der DDR
8. Internationale Entwicklungen seit 1990
Geheimdienst für die «Armee im Einsatz»
Edward Snowden und der deutsche NSA-Skandal
9. Perspektiven
Ausgewählte Bücher und Quellen
Standard- und Nachschlagewerke
Quellen
Darstellungen
Personenregister
In Deutschland sind die staatlichen Geheimdienste unbeliebt wie nirgendwo sonst in der westlichen Welt. Was die Niederländer, Franzosen, Briten, Spanier, Amerikaner, Israelis und andere im demokratischen Westen als einen selbstverständlichen Teil moderner Politik begreifen, wird hierzulande, jedenfalls in den Medien, Parteien und Parlamenten, als skandalanfälliges, notwendiges Übel erachtet, das möglichst starken Kontrollen zu unterwerfen sei. Defizite bei der Leistungsfähigkeit nimmt man billigend in Kauf.
Als Grund für diesen deutschen Sonderweg in Sachen Geheimdienste liest man oft, die Deutschen litten noch unter dem Schock der Nazi-Gestapo und der DDR-Stasi. Doch im historischen Vergleich drängt sich eine andere, weitaus plausiblere Erklärung auf: Die Deutschen haben ihre Geheimdienste nie als Garanten ihrer nationalen und persönlichen Sicherheit oder als heroische Akteure bei der «Rettung des Vaterlandes» erlebt, wie es im Westen im Zweiten Weltkrieg geschah. Man denke an die Unterstützung der britisch-amerikanischen Geheimdienste für die europäischen Widerstandsbewegungen gegen die NS-Expansions- und Gewaltpolitik. Alle Versuche, ein solches Narrativ auch in Deutschland zu etablieren, schlugen nach 1945 gründlich fehl, wie noch zu berichten sein wird. Selbst der islamistische Terrorismus der Gegenwart und die neuen Bedrohungen durch das Internet konnten daran wenig ändern.
Hinzu kommt, dass die deutsche Geschichte vergleichsweise wenig von zwei Faktoren geprägt wurde, die bei anderen westlichen Nationen eine historisch verankerte Geheimdiensttradition begründeten: die Übersee-Reiche und die Hochseeflotten. Für beides sind effiziente Geheimdienste unerlässlich. Seit den antiken Großreichen der Ägypter, Babylonier, Assyrer und Perser ließen sich geographisch weit gespannte, multi-ethnisch zusammengesetzte Imperien nur dann aufrechterhalten, wenn Unruhen und Aufstände rechtzeitig unter Kontrolle gebracht wurden – mit Hilfe von geheimdienstlichen Informationen und gezielten Militäreinsätzen, die man als «Strafexpeditionen» kennt. Aber auch der Fernhandel bedurfte von jeher eines leistungsfähigen Informationsnetzes. Handelsflotten und Kriegsflotten waren ebenso auf diese Art von «Vorauswissen» gestützt, wie der chinesische Militärstratege Sunzi bereits um 500 v. Chr. klar herausarbeitete. Hieraus entstanden die wesentlichen Impulse für eine geheimdienstliche Tätigkeit. Im deutschen Sprachraum hat allenfalls die Habsburgermonarchie frühzeitig moderne geheimdienstliche Strukturen herausgebildet, weil sie sowohl im «Alten Reich» bis 1806 als auch danach multi-ethnisch angelegt und somit vergleichbaren Zwängen ausgesetzt war wie die neuzeitlichen Überseereiche der Spanier, Portugiesen, Niederländer, Briten und Franzosen. Im übrigen Deutschland dachte man lokal und festländisch. Das Maritime spielte erst seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine Rolle für Politik und Strategie, ohne dabei tiefer in das deutsche Staatsdenken einzudringen.
Vor diesem Hintergrund lässt sich besser verstehen, warum das nicht-habsburgische Deutschland, also das deutsche Kaiserreich von 1871 und sein Nachfolger, die heutige Bundesrepublik Deutschland, vergleichsweise spät – und dann nur eingeschränkt – den Anschluss an die Geheimdienstgeschichte der modernen Welt gesucht hat. Und es mag auch erklären, warum bisher eine wissenschaftlich fundierte Darstellung der Geschichte deutscher Geheimdienste fehlt, die hier im Rahmen eines kleinen Taschenbuches nur skizziert werden kann.
Ein weiteres Problem sind die großen Forschungslücken. Nur für die vier Jahrzehnte nach 1945 gibt es eine breit angelegte, auf einer gründlichen Auswertung von Akten und anderen Quellen beruhende Forschungsliteratur. Das gilt vor allem für die Geschichtsschreibung zur DDR-Staatssicherheit, die hauptsächlich den Mitarbeitern der Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU) zu verdanken ist. Zur Geschichte des westdeutschen Bundesnachrichtendienstes (BND), von seiner Entstehung 1945/46 bis zum Ende der Ära Gehlen 1968, erscheint derzeit eine 15-bändige Buchreihe aus den Arbeiten der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes (UHK). Zum Bundesamt für Verfassungsschutz und zum Bundeskriminalamt liegen neueste Untersuchungen vor, allerdings mit dem Schwerpunkt auf dem NS-belasteten Personal der ersten Jahrzehnte nach 1945. Eine historische Studie zum Militärischen Abschirmdienst (MAD) wurde ebenfalls publiziert. Die Inlandsgeheimdienste der Länder (Verfassungsschutz) sind allerdings noch wenig erforscht.
Welchem Zweck dienten diese Dienste? In welchem Verhältnis standen sie zu den beiden anderen Typen von sicherheitspolitischen Institutionen, nämlich Polizeibehörden und Militär? Wie war ihr Einsatz geregelt? Wer übte jene Kontrolle über sie aus, die alle Staatstätigkeit auf ihre Verfassungsmäßigkeit und auf die Einhaltung der Gesetze zu prüfen hat? Das sind einige der Fragen, die hier zu stellen sind. Aus der Fülle der Ereignisse und handelnden Personen wird nachfolgend eine Auswahl getroffen, um grundsätzliche Fragen und durchgängige Themen anschaulich zu machen. Bei Forschungslücken ist man auf begründete Vermutungen, bei Erklärungsdefiziten auf plausible Hypothesen angewiesen, die dem Leser als solche angezeigt werden. Eine Parade der «Skandale» oder der «großen Spione», wie man sie in der einschlägigen Publizistik findet, hat hier nichts zu suchen. Allerdings verdient das Führungspersonal nach 1945 unsere Aufmerksamkeit, weil sich hieran einiges über den Umgang der Politik mit ihren «Diensten» aufzeigen lässt. Für die minutiösen historischen Details, soweit sie erforscht sind, sei auf Nachschlagewerke und Spezialliteratur verwiesen, die im Anhang sowie auf der Internetseite zu diesem Buch genannt werden.
Begrifflich werden in diesem Band diverse Vereinfachungen vorgenommen. Anstelle des amtlich verordneten Begriffs «Nachrichtendienst» wäre «Geheimdienst» präziser, denn ohne den Zusatz «geheim» bezeichnet der deutsche Begriff «Nachrichtendienst» eine Nachrichtenagentur oder fachbezogene Periodika. Zuweilen findet man die Erklärung, ein «geheimer Nachrichtendienst» beschaffe nur Informationen, während ein «Geheimdienst» zusätzlich Geheimoperationen («verdeckte Operationen») durchführe. Das deutsche Strafgesetzbuch (Paragraph 99) spricht von der (strafbaren) Tätigkeit für den «Geheimdienst einer fremden Macht». Das ist eine implizite moralische Abwertung ausländischer Dienste gegenüber dem «Bundesnachrichtendienst», der laut BND-Gesetz (Paragraph 1) «zur Gewinnung von Erkenntnissen über das Ausland, die von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland sind, die erforderlichen Informationen» sammelt und auswertet. Ob er noch andere Aufgaben hatte oder hat, ist nicht gesetzlich festgelegt und nicht offiziell bekannt. Somit sind die Begriffe «geheimer Nachrichtendienst» und «Geheimdienst» weitgehend austauschbar zu verwenden. Ein wenig seltsam ist die Bezeichnung der deutschen Inlandsgeheimdienste als Ämter «für Verfassungsschutz», weil sie streng genommen nicht die Verfassung, sondern die Verfassungsordnung samt ihren Organen sowie die Bevölkerung einschließlich ihrer zivilgesellschaftlichen Institutionen zu schützen haben. Die Sprache verrät das Unbehagen im Umgang mit den «Diensten».
Als selbständige Institutionen im Staatsapparat gibt es Geheimdienste erst seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, einige Jahrzehnte früher als Abteilungen im Militärapparat und in den Behörden der inneren Sicherheit. Jedoch begann die Professionalisierung, also eine systematische Ausbildung des Personals, noch erheblich später – ausgenommen die Spezialisten für die Ver- und Entschlüsselung von Meldungen (Kryptologen). Sie entwickelten bereits in der Frühen Neuzeit eine eigene Fachliteratur. Während jedoch Geheimdienste (als eigenständige Bürokratien) vergleichsweise neue Institutionen der «Staatsgewalt» (Wolfgang Reinhard) sind, reichen die schriftlichen Belege für die «geheimdienstliche Tätigkeit» etwa 3500 Jahre zurück bis ins Alte Ägypten.
Diese Unterscheidung zwischen der geheimdienstlichen Tätigkeit und ihrer Institutionalisierung (und Bürokratisierung) ist historisch von großer Bedeutung, hilft aber auch, die aktuelle Lage besser zu verstehen, weil selbst heute noch an vielen Stellen außerhalb «der (staatlichen) Dienste» geheimdienstlich gearbeitet wird. Das ist vor allem in der Privatwirtschaft der Fall, also bei Kaufleuten, Reedereien und Banken, später in Ölfirmen und bei High-Tech-Konzernen. Ob Wirtschaftsspionage eine staatliche Aufgabe sein soll, ist in den westlichen Demokratien umstritten. Allerdings gehört sie offiziell zum Auftragsprofil des britischen MI6. Wie mehrere ehemalige britische Minister öffentlich bestätigten, ließen britische Regierungen ausländische Verhandlungsdelegationen, beispielsweise im Rahmen der Europäischen Union, abhören, um sich Vorteile zu verschaffen. In Frankreich gibt es seit 1997 eine staatliche «École de guerre économique» sowie eine große Fachliteratur, die in zahlreichen spezialisierten Ausbildungsgängen an Universitäten und Wirtschaftsakademien verwendet wird. In den USA wird die ausgreifende Sanktionspolitik sowie die unter Präsident Donald Trump forcierte Zoll- und Handelspolitik vor allem durch das amerikanische Finanzministerium betrieben, dem die Geheimdienste zuarbeiten. Ausländische Firmen, auch deutsche, werden in den USA regelmäßig zu horrenden Strafzahlungen verurteilt, um sie (und ihre Regierungen) davon abzuhalten, die US-Sanktionspolitik – beispielsweise gegenüber Russland und dem Iran – zu unterlaufen. Das Beweismaterial für diesen Wirtschaftskrieg stammt aus einer engen Zusammenarbeit von Staatsanwälten, mächtigen Anwaltskanzleien und Regierungsbürokratie, denen die US-Geheimdienste zuliefern. Zu dieser «Exterritorialität der amerikanischen Sanktionen» präsentierte der französische Senat im Oktober 2018 einen hochinteressanten Bericht, aus dem klar hervorgeht, dass die USA die Geltung ihrer Sanktionen mit allen Mitteln durchzusetzen bereit sind, eben auch mit geheimdienstlichen. Weder die Europäische Union noch ihre Mitgliedstaaten können (oder wollen?) sich dagegen effektiv zur Wehr setzen. In Deutschland befasst man sich damit, wenn überhaupt, in defensiver Hinsicht, nämlich als Spionageabwehr gegen die Industrie-, Wirtschafts- und Technologiespionage von Diktaturen, obgleich das Bundesverfassungsschutzgesetz (§ 3) die Abwehr «geheimdienstlicher Tätigkeit … für eine fremde Macht», also für alle ausländischen Staaten vorschreibt.
In Religionsgemeinschaften und politischen Parteien finden sich zumindest einige Elemente geheimdienstlicher Tätigkeit. Besonders aktiv waren hier die kommunistischen Parteien. Aber auch die NSDAP hatte ihren «Sicherheitsdienst» (SD), um die Zuverlässigkeit der Parteimitglieder und Funktionäre zu erforschen. Nach 1945 hatten die westdeutschen Parteien (SPD, CDU, FDP) ihre «Ostbüros», mit denen sie Kontakte zu inhaftierten oder bedrängten Parteifreunden in der Sowjetischen Besatzungszone und später der DDR unterhielten. Aktuell sind nicht-staatliche Akteure dieser Art vor allem auf dem Feld des islamistischen Terrorismus zu finden, beispielsweise bei al-Qaida, IS oder Hamas.
Umgekehrt haben frühmoderne Staaten ihre nachrichtendienstliche Tätigkeit im Militär, in der Diplomatie, im Finanzwesen sowie – etwas später – in Post und Polizei kaschiert und als Arkanbereich streng abgeschirmt. Beispielsweise gab es im Postwesen des Heiligen Römischen Reiches sogenannte «schwarze Kabinette», in denen Post heimlich geöffnet, kopiert und dann der Staatsführung vorgelegt wurde. Heute spricht man von Kommunikationsüberwachung und Fernmeldeaufklärung (FMA).
Die Grenzen zwischen staatlicher und privater geheimdienstlicher Tätigkeit sind selbst im 20. Jahrhundert oft fließend. Typischerweise verschmelzen die Sicherheitsorgane von Partei und Staat, sobald totalitäre Parteien an die Regierung kommen. Das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) von Heinrich Himmler ist dafür ein Beispiel, aber auch die «Stasi» verstand sich als «Schild und Schwert der Partei», obgleich das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) eine staatliche Behörde war. Grauzonen von staatlicher und privater Geheimdiensttätigkeit finden sich bereits im 19. Jahrhundert, wo private Detekteien für Staatsorgane tätig waren. Seit dem späten 20. Jahrhundert spricht man vom «outsourcing» bestimmter Dienstleistungen, das bei den US-Geheimdiensten weit verbreitet ist, wie man spätestens seit dem Skandal um Edward Snowden weiß.
Das primäre Ziel der geheimdienstlichen Tätigkeit, nämlich geheim gehaltene Informationen über den Gegner zu beschaffen und an den Auftraggeber zu liefern, hat sich im Laufe der Geschichte wenig geändert. Doch die Wege der Beschaffung wurden seit dem 19. Jahrhundert revolutioniert – einerseits durch Übertragungstechniken vom Telegraphen zum Telefon, zum drahtlosen Funk, dann zur Mobiltelefonie und zum Internet, andererseits durch nichtsprachliche Informationsträger wie Bilder, Videos, Radar, Sonar, radioaktive und elektromagnetische Strahlung sowie chemische, genetische und andere biologische Informationsträger. Historisch neu ist auch die mit der Drucktechnik beginnende offene Informationsbeschaffung (OSINT), die heute um das Internet und die Sozialen Medien (SOCMINT) erweitert wird. Die verdeckte Suche nach den Geheimnissen des Gegners oder des Rivalen hat jüngst Konkurrenz bekommen, denn durch die systematisierte Zusammenstellung offener Informationen lassen sich die dahinterliegenden Zusammenhänge oftmals erschließen, jedenfalls weitgehend. Dabei hilft die Digitalisierung von Informationen, also Data-Mining und Cloud-Computing mit der erforderlichen Hard- und Software (Algorithmen). Um es vereinfacht zu sagen: Internetkonzerne wie Google, Amazon und Facebook haben vermutlich mehr private Daten gespeichert als die Geheimdienste einzelner Staaten.
Aus politischer Sicht ist bemerkenswert, dass Diktaturen und freiheitliche Demokratien gleichermaßen dazu tendieren, keine unbeobachteten Kommunikationsräume zu dulden. Bei den Diktaturen bedarf diese Zielsetzung keiner besonderen Erklärung, weil sie eine demokratische Mitsprache der Bevölkerung verweigern und dadurch ein Potential an Resistenz, Verweigerung, Protest und Widerstand provozieren, das sie mit mehr oder weniger brutaler Repression auszuschalten versuchen – bekanntlich unter Einsatz von geheimdienstlichen Mitteln. Aber auch Demokratien wollen keine rechtsfreien Räume zulassen. Nur so glauben sie, die Sicherheit der Bürger und der Staatsorgane gewährleisten zu können. Doch hierbei entsteht ein Dilemma, wie kriminelle Personen und Feinde der freiheitlich-demokratischen Ordnung verfolgt werden können, ohne dabei die menschen- und bürgerrechtlich garantierten Freiheiten sowie die Privatheit der Bürger zu verletzen oder unverhältnismäßig einzuschränken.
Befürworter einer primär sicherheitspolitischen Denkweise gehen davon aus, dass die Tätigkeit von Geheimdiensten niemals vollständig in einen Rechtsrahmen gezwängt werden kann und sollte, um eine rasche Anpassung an aktuelle Herausforderungen zu ermöglichen und damit prioritär eine hohe Effizienz der Dienste zu erreichen. Sir David Omand, ein ehemaliger britischer Geheimdienstchef, glaubt: Wer nicht bereit ist, moralische Risiken einzugehen, hat im Geheimdienst nichts zu suchen. Demgegenüber fordern die Vertreter einer primär bürgerrechtlichen Sichtweise, grundsätzlich jede geheimdienstliche Tätigkeit, auch im Ausland und in Kriegssituationen, bis in alle Einzelheiten gesetzlich zu regeln. Dabei nehmen sie Einbußen bei der Effizienz der Dienste bewusst in Kauf und schließen eine Vielzahl von nachrichtendienstlichen Praktiken von vornherein aus.
Diese zwei Positionen stehen in engem Zusammenhang mit zwei sehr unterschiedlichen Sichtweisen der Geschichte der deutschen Geheimdienste. Die eine betont die Entwicklung der Dienste als Instrumente der inneren und äußeren Sicherheit. Sie fragt nach ihren Leistungen und Fehlschlägen in der Vergangenheit, aber auch nach ihrer institutionellen Einbettung, Professionalisierung und Anpassung an technologische und politisch-gesellschaftliche Entwicklungen. Die andere Sichtweise betont den repressiven, tendenziell antidemokratischen und deshalb für die freiheitliche Gesellschaft gefährlichen Charakter der Dienste. Deshalb sieht sie als historisches Leitmotiv eine Abfolge von Pannen, «Machenschaften» und Bürgerrechtsverstößen. Gewiss wird die Epoche der deutschen Diktaturen in beiden «Meistererzählungen» als Absturz ins Verbrecherische begriffen, doch ergeben sich auch hier signifikante Unterschiede in der Darstellung und Bewertung.
Vor 1900 finden sich nur wenige Ansätze für eine dauerhafte institutionelle Verankerung der nachrichtendienstlichen Tätigkeit im Staatsapparat, wobei Österreich im deutschen Sprachraum eine Pionierrolle spielte. Bereits in der Regierungszeit von Kaiserin Maria Theresia entstanden schrittweise moderne Polizeibehörden. Ihr Staatskanzler Wenzel Anton von Kaunitz-Rietberg verbesserte das «schwarze Kabinett», welches zur Spionageabwehr, aber auch zur politischen Spionage diente. Beim Militär wurde 1758 auf Vorschlag von Feldmarschall Leopold Joseph Graf von Daun ein Generalquartiermeisterstab aus zunächst 40 Offizieren gebildet, der unter anderem für die Einrichtung sicherer Kommunikationswege und für die Beschaffung von militärisch relevanten Informationen über den oder die Gegner zuständig war. Gewiss wurden derartige Stäbe in Friedenszeiten immer wieder verkleinert. Ihre Finanzmittel wurden gekürzt. Doch ein personeller Kern und vor allem das gesammelte Informationsmaterial blieben erhalten.
Um diese Sammlung dauerhaft abzusichern, richtete Erzherzog Karl 1802 die «Evidenthaltungs-Abteilung» im Wiener Kriegsarchiv ein, der neben den im Ausland tätigen Militärspionen vor allem die entsprechenden Dienststellen in den Grenzprovinzen zulieferten. 1828 löste man die «Evidenthaltungs-Abteilung» aus dem Kriegsarchiv heraus und bildete eine kriegsgeschichtliche Abteilung, in der nicht nur die Kriegsgeschichte, hauptsächlich Operationsgeschichte, als unmittelbares Lehr- und Anschauungsmaterial für die aktuelle Generalstabsarbeit vorgehalten wurde, sondern auch das rasch anwachsende Informationsmaterial zu den interessierenden Regionen Süd- und Osteuropas. Doch erst 1850 gründete man das «Evidenzbureau», welches nach den leidvollen politisch-militärischen Erfahrungen der 1848er-Revolution einen zentralen militärischen Geheimdienst Österreichs auf der höchsten Kommandoebene bildete. Der erste Leiter war Oberst Anton von Kalik, der bis 1864 im Amt blieb. Österreich war damit fast allen größeren Mächten einen erheblichen Schritt voraus. Allerdings fehlte noch eine taktische Komponente, denn das 1813 geschaffene «Botenmeister-Corps», das aus berittenen Unteroffizieren der Grenz- und Feldjägerbataillone bestand und wahlweise in Uniform oder in Zivil zur Beobachtung eingesetzt werden konnte, hatte man bei Kriegsende aufgelöst.
In Preußen wurden die Kriegsakademie und ein Generalstab erst mehrere Jahrzehnte später als in Österreich eingerichtet. Das geschah im Zuge der Militärreformen von Gerhard von Scharnhorst und August Neidhardt von Gneisenau (1807/1814), nachdem Preußen vom napoleonischen Frankreich vernichtend geschlagen und in seiner staatlichen Existenz bedroht wurde. Preußen war jedoch ein Pionier, indem es das Prinzip der Generalstabsarbeit nicht nur auf die oberste Führungsebene, sondern auch auf große Einheiten (Division, Korps) anzuwenden begann. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde dieses Modell weiter ausgebaut und perfektioniert. Die Blitzkriege von 1866 und 1870 galten später als Erfolge dieser Generalstabsarbeit, die weltweit für viele Militärreformen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zum Vorbild wurde.
Seit 1810 wurden, erneut einer Idee von Erzherzog Karl folgend, Offiziere an verschiedene österreichische Botschaften entsandt, um dort ihren militärischen Sachverstand in die Diplomatie einzubringen. Daraus entwickelte sich der militärische Attaché-Dienst, doch es dauerte noch einige Jahrzehnte, bis dieser Gedanke von anderen Mächten aufgegriffen wurde. Immerhin schlug der russische Zar Alexander I. diesen Austausch auf dem Wiener Kongress vor. Doch dachte er eher an Liaison-Offiziere, also an persönliche Vertraute der Monarchen der Heiligen Allianz, um die für gemeinsame militärische Interventionen erforderliche Abstimmung zu erleichtern. Persönliche militärische Vertreter gab es zwischen Preußen und Russland bereits während der Befreiungskriege von 1813 bis 1815. Als dann der preußische Stabschef 1816 vorschlug, zu allen wichtigen Mächten militärische Vertreter zu entsenden, fehlten das Geld und der feste Wille. Auch der französische Außenminister hielt damals noch einen ähnlichen Vorschlag aus der französischen Militärführung für zu kostspielig.
Im Mai 1830 schickte Preußen den Generalstabsoffizier Kapitän von Cler nach Algerien, um die französische Kolonialexpedition zu beobachten. Sein Bericht, aber auch die Französische Revolution vom Juli 1830, führten zu einem Sinneswandel. Von Cler wurde als ständiger Beobachter in der preußischen Botschaft in Paris untergebracht. Möglicherweise war dieser Schritt die Geburtsstunde des Militärattachés im späteren Wortsinn. Doch blieb dies noch für viele Jahre ein Sonderfall. Erst 21 Jahre später akkreditierte Frankreich einen Militärattaché in Berlin. Wichtiger waren zunächst die Ad-hoc-Missionen zu besonderen Anlässen, insbesondere im Kriegsfall. Die Überlegenheit des residierenden Militärattachés konnte man allerdings am Beispiel des Krimkrieges erkennen, als die dreiköpfige amerikanische Delegation wegen allerlei bürokratischer Schwierigkeiten erst nach dem Fall der Festung Sewastopol eintraf, während der preußische Militärattaché aus Wien eine genaue Beobachtung der Politik und der Militärbewegungen Österreichs lieferte.