Die englische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel «Taliban. The Power of Militant Islam in Afghanistan and Beyond» bei I. B. Tauris & Co Ltd, London.
Copyright © 2000, 2001, 2008, 2010 Ahmed Rashid
Published by Arrangement with I. B. Tauris & Co Ltd, London
Die Teile 1–3 sowie der Anhang wurden von Harald Riemann übersetzt, Teil 4 sowie Ergänzungen zum Anhang von Rita Seuß, das Vorwort zur Neuauflage sowie Anhang 5 von Thomas Stauder.
1. Auflage. 2010
2. Auflage. 2011
Mit zwei Karten
3., aktualisierte und erweiterte Auflage. 2022
Für die deutsche Ausgabe:
© Verlag C.H.Beck oHG, München 2010
Umschlaggestaltung: Verlag C.H.Beck, München
Umschlagabbildung: Patrouille der Taliban am 31. August 2021 in Kabul, Foto:
Selcuk Samiloglu, © picture alliance/abaca
Satz: Janß GmbH, Pfungstadt
ISBN Buch 978 3 406 78467 5
ISBN eBook (epub) 978 3 406 78468 2
ISBN eBook (PDF) 978 3 406 78469 9
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Ahmed Rashid
Taliban
Afghanistans Gotteskämpfer
und der neue Krieg am Hindukusch
Aus dem Englischen von
Harald Riemann, Rita Seuß und
Thomas Stauder
C.H.Beck
Nach dem sowjetischen Truppenabzug aus Afghanistan 1989 eroberten die radikalislamischen Taliban – auch mit Hilfe russischer Waffen – das ganze Land und ließen es zur Drehscheibe des internationalen Terrorismus werden. Der Krieg der USA gegen die Taliban nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erwies sich schon bald als Fehlschlag. Als die Amerikaner im Sommer 2021 schließlich abzogen, besetzten die Taliban – nun mit amerikanischen Waffen – erneut Kabul. Angesichts dieser akuten Bedrohung für viele Afghanen und für die internationale Sicherheit hat der pakistanische Journalist Ahmed Rashid sein viel gerühmtes Standardwerk erweitert und aktualisiert. Er legt dar, woher die Taliban kommen, wie sie ihre Macht in Afghanistan gefestigt und gegen den Westen verteidigt haben und in welches komplizierte politische Spiel um Macht und Bodenschätze sie verstrickt sind.
Ahmed Rashid, geb. 1948, lebt in Pakistan und schreibt als Journalist für große britische und amerikanische Zeitungen und Zeitschriften. Für seine kritische Berichterstattung wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Er gilt weltweit als der beste Kenner der Lage in Afghanistan und Pakistan.
Normalerweise haben Guerillatruppen keine zweite Chance, ihre Gegner zu besiegen, das Land zu erobern, die Hauptstadt einzunehmen und die Macht zu ergreifen. Dass sie die einzige Supermacht der Welt – die Vereinigten Staaten von Amerika – besiegen, nachdem die Vorgängergeneration eine andere Supermacht – die Sowjetunion – besiegt hat, ist höchst unwahrscheinlich. Die Ausnahme von dieser Regel ist die afghanische Taliban-Bewegung, die 1996 zum ersten Mal Kabul einnahm, die Stadt 2001 verlor, sie aber im August 2021 wieder in ihre Gewalt brachte. Während die Taliban 1996 zwei Jahre brauchten, um Kabul zu besetzen, genügten ihnen 2021 nur fünfzehn Tage, um dasselbe zu tun.
Vor bald fünfundzwanzig Jahren habe ich ein Buch über die Taliban geschrieben, als sie gerade in der zweitgrößten Stadt Afghanistans, Kandahar, aufgetaucht waren. Monatelang konnte ich keinen Verleger finden, der bereit gewesen wäre, ein Buch über eine obskure Bewegung zu veröffentlichen, von der noch nie jemand gehört hatte und die in einem Land angesiedelt war, das nur wenige Menschen auf einer Weltkarte finden konnten. Sechs Monate, nachdem das Buch dann endlich erschienen war, brach in der Welt das Chaos aus, als Al-Qaida gekaperte Flugzeuge in die Twin Towers von New York und das in Washington gelegene Pentagon rammte. Das Buch wurde ein Bestseller, denn die Leser und speziell die Politiker wollten unbedingt mehr über die Taliban und Al-Qaida erfahren, während sich die USA und die NATO darauf vorbereiteten, in Afghanistan in den Krieg zu ziehen.
Heute versichern mir viele Leser, die das Buch zum zweiten Mal in die Hand genommen, den Einband abgestaubt und die vergilbten Seiten noch einmal gelesen haben, dass das Buch für das Verständnis der Taliban weiterhin genauso relevant ist wie vor zwanzig Jahren. Denjenigen, die mich fragen, ob sich die Taliban verändert haben, kann ich nur antworten: »nicht sehr«. Vielleicht ist es das, was diesem Buch seine Langlebigkeit und seine Glaubwürdigkeit verleiht, und der Grund, warum es nicht veraltet ist.
Ich habe seit dem Einmarsch der Sowjets im Jahr 1979 über Afghanistan berichtet und viele Wochen sowohl mit den sowjetischen Truppen als auch mit den afghanischen Mudschaheddin oder Heiligen Kriegern verbracht, während ich die Ströme an Waffen und Geld nachverfolgte, die aus den USA und Saudi-Arabien an sie flossen. Als die Sowjets schließlich 1988/89 aus dem Land abzogen, ließen auch die Amerikaner Afghanistan im Stich und weigerten sich, ihr Versprechen zu erfüllen, beim Wiederaufbau einer afghanischen Nation zu helfen, die schätzungsweise eine Million Menschenleben geopfert hatte, um die Sowjetunion zu besiegen.
Als ich im Herbst 1994 in Kandahar eintraf, erwartete ich, dort afghanische Krieger vorzufinden, die vom Temperament her den Mudschaheddin ähneln würden, über die ich ein Jahrzehnt lang berichtet hatte. Ich stellte jedoch schnell fest, dass die Taliban ein völlig fremdes und andersartiges Phänomen waren – sogar für ihre afghanischen Landsleute. Die von ihnen vorgeschriebene strenge Religiosität, ihr Glaube an eine harte und unflexible Auslegung der Scharia (des islamischen Rechts), ihr Streben nach einem asketischen Leben, in dem kein Platz für Musik, Kultur oder Familie war, und die Macht, die ihre Mullahs ausübten, ließen viele Afghanen verwirrt, aber auch verschreckt und ängstlich zurück. Viele Krieger waren noch Jugendliche, Waisen des Krieges gegen die Sowjets, was zum Teil ihren Mangel an Verständnis für Ehefrauen, Mütter und Schwestern erklärte, da sie in einer ausschließlich männlichen Umgebung lebten. Die Mullahs, die ihr Leben bestimmten, betrachteten Frauen als eine Versuchung, die die Männer von den von Gott auferlegten Herausforderungen und vom Krieg gegen die Warlords ablenkte.
Die Afghanen sind zutiefst religiös, aber es gibt bei ihnen zahlreiche religiöse und ethnische Gruppen, die Gott auf ihre eigene Weise verehren. Im Koran heißt es in Kapitel 2 der Sure Al-Baqara (»Die Kuh«), Vers 256: »Es gibt keinen Zwang in der Religion. Niemand sollte gezwungen werden, gegen seinen Willen zu konvertieren.« Die Taliban hielten sich nicht daran, denn sie bestanden darauf, dass ihr Weg und ihr Verständnis des Islam die einzig richtigen seien. Sie hatten keine Geduld mit denjenigen, die nicht auf dieselbe Weise gläubig waren. Außerdem waren die Afghanen vom Sufismus durchdrungen, der mystischen Richtung des Islam, die aufgeschlossen war für Freude, Musik, Kultur sowie für die Liebe zur Familie und zu Freunden. Die Taliban jedoch waren bereit, gewaltsam gegen jede Abweichung von ihrem Glauben vorzugehen, und alles Mystische oder Fröhliche war für sie tabu. Diese jungen Männer, die von ihren Mullahs angeleitet wurden, kamen aus den Moscheen und Madrassas Westpakistans und Südafghanistans in ein Land, das sich mitten in einem brutalen, blutigen Bürgerkrieg zwischen Warlords, Banditen, Drogenschmugglern und Rebellen befand.
Wie die Taliban entstanden sind und wie sie ihre Anführer auswählten, beschreibe ich in diesem Buch recht ausführlich. Bewaffnet und finanziert wurden sie von den Geheimdiensten und den islamischen Parteien Pakistans, von Sympathisanten und Verbündeten in der arabischen Welt sowie von Lastwagenbesitzern und deren Fuhrbetrieben. Die Spediteure hatten die Taliban gedrängt, die Straßen wieder befahrbar zu machen, damit sie ihren Warenverkehr zwischen Iran, Pakistan und Afghanistan fortsetzen konnten, ohne von Banditen drangsaliert zu werden, die an vielen Stellen Wegezölle verlangten.
Im Jahr 1994 eroberten die Taliban den Süden Afghanistans, ohne viel Gewalt anzuwenden, was die Bevölkerung zutiefst beeindruckte. Mit breiter Unterstützung der Einwohner entwaffneten sie die Warlords, bestraften sie und forderten Gehorsam und Frieden. 1995 zogen sie weiter nach Nordwesten, um die an der Grenze zum Iran gelegene Stadt Herat zu erobern, und dann in den Osten des Landes, wo sie fast zwei Jahre lang Kabul belagerten. Nachdem es ihnen nicht gelungen war, die Hauptstadt einzunehmen, riet der pakistanische Geheimdienst (mit dem englischen Akronym ISI für Inter-Services Intelligence) den Taliban, eine andere Strategie zu versuchen. In einer Blitzoffensive im September 1996, durchgeführt mit Hunderten von neuen japanischen Pickup-Trucks, die von Saudi-Arabien zur Verfügung gestellt wurden, und mit ISI-Offizieren als bewaffneten Beifahrern, eroberten die Taliban die ganz im Osten des Landes gelegene Stadt Jalalabad und setzten ihren Vormarsch auf Kabul von hier aus fort, während die afghanische Regierung in Panik nach Norden floh. Im Morgengrauen drangen die Taliban in Kabul ein und fuhren direkt zum Sitz der Vereinten Nationen, wo der ehemalige kommunistische Präsident Mohammed Nadschibullah unter UN-Schutz stand. Die Taliban setzten sich über das internationale Protokoll hinweg, töteten ihn auf besonders grausame Weise, zogen seinen Leichnam durch die Straßen und hängten diesen dann an einen Laternenpfahl. Dies war die erste eindringliche Botschaft, die die Taliban an die Außenwelt sandten. Nur drei Länder erkannten in der Folge die Taliban-Regierung an: Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Pakistan.
Die Ankunft Osama Bin Ladens in Kandahar 1996 und die gastfreundliche Aufnahme, die ihm dort durch den Taliban-Führer Mullah Omar zuteilwurde, brachten die Welt vor die Tür der Taliban: Als Gründer von Al-Qaida wurde Bin Laden von den USA steckbrieflich gesucht. Auch Pakistan fahndete nach ihm, weil er pakistanische Kämpfer, die sich dem Militärregime von General Pervez Musharraf widersetzten, ausgebildet und finanziert hatte. Die Taliban weigerten sich jedoch, Bin Laden den Amerikanern oder den Pakistanern auszuliefern, und gewährten ihm stattdessen Zuflucht, während Bin Laden einen Treueeid auf Mullah Omar schwor. Ich zeige in diesem Buch, wie die Rückendeckung für Bin Laden und sein Gefolge von arabischen Kämpfern zu erbittertem Streit unter den Taliban führte und den Zorn der ganzen Welt erregte. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurden die Taliban von den Amerikanern angegriffen und besiegt, doch Bin Laden konnte entkommen. Die Taliban flohen in ihre Dörfer im Süden Afghanistans und in ihre ehemaligen Koranschulen in Pakistan, wo sie von militanten Mullahs und Politikern, die den extremistischen Ansichten der Taliban nahestanden, aufgenommen und versorgt wurden. Bis 2004 konnten sie jedoch ihre bewaffnete Präsenz in Afghanistan wiederherstellen und begannen einen Guerillakrieg gegen die US- und NATO-Truppen.
Zu dieser Zeit waren die Amerikaner bereits mit dem Krieg beschäftigt, den sie im Irak begonnen hatten, um Saddam Hussein zu stürzen. Pakistan fürchtete, dass ein amerikanischer Rückzug aus Afghanistan Indien die Möglichkeit geben würde, seinen Einfluss in Kabul wiederzuerlangen, und unterstützte erneut heimlich die Taliban, um die Amerikaner weiter im Land zu binden. Angesichts der Tausenden von Gefallenen, die sie bei ihrer Niederlage zu verzeichnen hatten, war das Wiedererstarken der Taliban erstaunlich, auch wenn die USA jeden Gedanken daran zurückwiesen, dass diese erneut eine Bedrohung für Kabul darstellen könnten.
In den folgenden Jahren sahen die Taliban geduldig zu, wie die amerikanische Militärmaschinerie in Afghanistan aufgrund der strategischen Ratlosigkeit in den USA zeitweise auf über 100 000 Soldaten ausgebaut wurde, um dann wieder auf wenige Tausend reduziert zu werden. Die Taliban setzten ihren Zermürbungskrieg fort, bis sie von den Amerikanern, die Afghanistan nunmehr unbedingt verlassen wollten, zu Gesprächen über die Beendigung des Krieges überredet wurden, um den Abzug der US-Truppen zu ermöglichen. Die Amerikaner waren überzeugt, dass es im Krieg gegen die Taliban zu einer Pattsituation gekommen war, für die es keine militärische Lösung gab. In Wirklichkeit waren die Taliban bereits dabei, das von ihnen beanspruchte Land Stück für Stück zurückzuerobern.
Das Abkommen, das die Taliban im Februar 2020 im Golfstaat Qatar mit amerikanischen Unterhändlern schlossen, war kein Friedensvertrag, obwohl es als solcher getarnt war. In Wirklichkeit handelte es sich um eine Abzugsvereinbarung, die die geordnete Evakuierung der US-Truppen aus Afghanistan bis September 2021 vorsah. Die Amerikaner hegten dabei die Hoffnung, dass die neu aufgebaute afghanische Armee die Stellung halten würde, solange die Regierung in Kabul und die Taliban zwecks einer Machtteilung über eine afghanische Koalitionsregierung verhandeln würden. Durch das Abkommen mit den Taliban verloren die USA jedoch das Vertrauen der afghanischen Regierung und ihrer Armee, die nicht an den Verhandlungen zwischen den Amerikanern und den Taliban beteiligt worden waren.
Als das Jahr 2021 erreicht war, hatten die USA den längsten Krieg ihrer Geschichte geführt, und die Kosten dafür wurden immer höher. Seit 2001 waren nach Angaben des US-Sondergeneralinspektors für den Wiederaufbau Afghanistans (SIGAR) 2440 US-Militärangehörige getötet und über 20 000 verwundet worden. Die geschätzte Zahl der getöteten afghanischen Soldaten und Polizisten betrug 69 000. Von den Soldaten aus NATO-Ländern und weiteren Mitarbeitern der Streitkräfte aus etwa 50 Ländern hatten insgesamt 1100 ihr Leben verloren; außerdem starben 444 humanitäre Helfer und 75 Journalisten. Für Washington beliefen sich die Kosten des Krieges auf 2,3 Billionen US-Dollar. Trotz des militärischen Scheiterns gab es echte Fortschritte bei der Bildung, in der Gesundheitsfürsorge, bei den Frauenrechten, beim Angebot an Arbeitsplätzen und in anderen Bereichen der Entwicklung. Die Generation der jungen Afghanen, die in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten am meisten profitiert hatte und keine Erfahrung mit einem Taliban-Regime hatte, sollte in den kommenden Monaten am meisten verlieren. Viele von ihnen flohen aus Afghanistan.
Als der September 2021 und damit der Zeitpunkt, zu dem der Abzug der Amerikaner aus Afghanistan abgeschlossen sein sollte, immer näher rückte, starteten die Taliban eine Offensive, die schnell zur Auflösung der afghanischen Armee führte. Die Strategie dafür hatten sie in den Wintermonaten 2020/21 verfeinert, als sie isolierte Armeeposten und Dorfälteste in Nordafghanistan auf ihre Seite zogen. Mit einer Mischung aus Zwang, Drohungen und Bestechungsgeldern boten die Taliban ihnen an, sie unbehelligt zu lassen, wenn sie ihre Posten, Waffen und Fahrzeuge an sie abgeben würden. Andernfalls wäre ihnen der Tod sicher gewesen. Diese ausgehandelten Kapitulationen wurden bald dazu genutzt, um ganze Städte und Provinzzentren einzunehmen und die Straßen zu kontrollieren, insbesondere die Grenzübergänge, über die anschließend Importe und Steuern an die Taliban flossen. Ihr Ziel war es, Kabul vom Rest des Landes abzuschneiden. Von der Eroberung von Dörfern gingen sie über zur Einnahme von Städten und ganzen Provinzen, in denen sich die staatlichen Armeeeinheiten kampflos ergaben. Bei jeder Kapitulation des Gegners eigneten sich die Taliban dessen Waffen, gepanzerte Fahrzeuge, Artillerie und die gesamte Kriegslogistik an.
Die erste Provinzhauptstadt, die die Taliban besetzten, war am 6. August Sarandsch in der Provinz Nimroz ganz im Südosten des Landes. Zehn Tage später standen sie bereits vor den Toren von Kabul. Die USA weigerten sich, ihre Luftwaffe einzusetzen, um afghanische Soldaten aus der Bedrängnis zu retten. Jeder Sieg der Taliban ließ es unausweichlich erscheinen, dass sie den Krieg gewinnen würden, was wiederum zu weiteren Kapitulationen der afghanischen Truppen führte. Während die afghanischen Soldaten ihre Posten verließen, kamen aus den pakistanischen Koranschulen, die die Taliban seit langem unterstützt hatten, Tausende von Rekruten, um deren Reihen zu verstärken und an ihrer Seite zu kämpfen.
Kabul wurde eingeschlossen; die öffentliche Ordnung brach zusammen, und die Taliban drangen am 15. August in die Stadt ein. Die in Panik geratene Bevölkerung belagerte den internationalen Flughafen Hamid Karzai. Viele versuchten verzweifelt, einen Platz in einem der Flugzeuge zu ergattern, mit denen die USA und andere Länder ihre Bürger, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, Soldaten, afghanisches Personal und Dolmetscher aus dem Land bringen wollten. Die Geschwindigkeit, mit der die Taliban Afghanistan erobert hatten, verblüffte alle. Präsident Biden sah sich mit einer politischen Krise konfrontiert, da seine Regierung sogar von Mitgliedern der eigenen Demokratischen Partei scharf kritisiert wurde – nicht, weil sie den Abzug der US-Truppen angeordnet hatte, sondern weil sie so schlecht auf die Folgen vorbereitet war. Präsident Biden und seine Generäle bestritten, dass es Hinweise darauf gegeben habe, dass die afghanische Armee und Regierung so schnell zusammenbrechen würden oder dass Präsident Ashraf Ghani aus dem Land fliehen würde, doch die Kritik hielt an.
Bald ernannten die Taliban in den Provinzen ihre eigenen Gouverneure und Polizeichefs, befreiten ihre inhaftierten Anhänger aus den Gefängnissen und erklärten, sie würden den Tausenden von fremden Staatsbürgern und Afghanen, die auf ihre Flüge ins Ausland warteten, freies Geleit gewähren. Taliban-Sprecher Zabiullah Mujahid verkündete die Gründung des Islamischen Emirats Afghanistan, änderte damit den Namen des Landes und wies die Beamten an, die afghanische Flagge einzuholen und stattdessen die weiße Flagge der Taliban zu hissen. Die gebildete und beruflich hochqualifizierte afghanische Elite, die sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten herausgebildet hatte, verließ zum großen Teil das Land mit Hilfe der Luftbrücke, die 120 000 Menschen zur Flucht verhalf. Viele weitere Afghanen traten zu Fuß den Weg ins Exil an, in Richtung der Grenzübergänge nach Pakistan und Iran.
Die Taliban-Kämpfer, die 2021 Kabul eroberten, waren von einem anderen Schlag und gehörten einer anderen Generation an als diejenigen, die ich 1994 kennengelernt hatte und die zwei Jahre später Kabul einnahmen. Diese frühen Taliban weigerten sich kategorisch, am modernen Leben teilzunehmen. Sie hängten Fernsehgeräte und Computer an Bäume und gingen brutal gegen schiitische Muslime wie die Hazara vor. Sie arbeiteten mit Osama Bin Laden und dessen arabischen Kriegern zusammen und erlaubten Kämpfern aus anderen Ländern wie Pakistan und den Staaten Zentralasiens, sich diesen anzuschließen. Ihre ersten Versuche, eine Regierung zu leiten und die Amtsgeschäfte zu führen, zeigten, dass sie nicht wussten, wie man ein Land am Laufen hält, geschweige denn, wie man dessen Bevölkerung Dienstleistungen und Unterstützung zur Verfügung stellt. Die Taliban-Minister saßen in ihren Büros, tranken Tee und vertrieben sich die Zeit, weil sie keine Ahnung hatten, was sie tun sollten. Diese frühen Taliban waren besessen davon, niemandem aus der westlichen Welt den Aufenthalt in Afghanistan zu gestatten. Nach langwierigen Verhandlungen zwangen sie sogar UN-Hilfswerke und internationale Nichtregierungsorganisationen, die die von Dürre und Hunger geplagte Bevölkerung medizinisch versorgten und mit Lebensmitteln belieferten, zum Verlassen des Landes.
Ganz anders die Situation im Jahr 2021: Die neue, junge Generation der Taliban ist tief gespalten in Bezug auf Bildung und die Strenge, mit der religiöse Pflichten zu befolgen sind. Diejenigen, die sich im pakistanischen Exil aufgehalten haben, sind nun besser ausgebildet, politisch bewusster und ziehen es vor, eine Berufstätigkeit aufzunehmen und Karriere zu machen. Ganz anders steht es um die jungen Männer derselben Generation, die ständig an Kämpfen teilgenommen haben. Sie sind zu Befehlshabern geworden, die im Kampf gestählt sind und nicht bereit, Kompromisse mit der Regierung in Kabul einzugehen. Sie werden auf der Fortsetzung von Krieg und Dschihad bestehen, bis zur vollständigen Säuberung Kabuls von ausländischen Einflüssen. Für eine sogar noch härtere Gangart treten die jungen Männer ein, die viele Jahre lang im Gefangenenlager von Guantanamo oder in Gefängnissen in Afghanistan inhaftiert waren. Nach ihrer Befreiung wurden sie von den Taliban in Afghanistan in die Kriegsräte eingebunden, damit sie die Front gegen die zögerliche Haltung jener Taliban verstärkten, die ein angenehmes Leben in Qatar oder Pakistan genossen hatten.
Diese Hardliner-Taliban waren nicht gewillt, eine gemeinsame Regierung mit dem Kabuler Regime zu bilden. Sie wollten Rache nehmen, und als sie 2021 in Kabul einmarschierten, trugen einige Taliban Listen von Ministern, Beamten, Armee- und Polizeioffizieren sowie Journalisten bei sich, die sie verhaften und töten wollten. Sie klopften an viele Türen, um sie zu finden, und versetzten die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Wenn die Taliban nicht bereit sind, ihre Haltung zu mäßigen, menschenfreundlicher zu werden und das Land besser zu regieren als bei der ersten Taliban-Herrschaft, wird Afghanistan für viele Jahre der Dreh- und Angelpunkt für Unruhen und Turbulenzen in Zentralasien bleiben.
Ahmed Rashid
An einem warmen Frühlingsnachmittag ließen die Ladenbesitzer in der Stadt Kandahar ihre Rollläden herunter und bereiteten sich auf das Wochenende vor. Mürrische Männer vom Stamm der Paschtunen mit langen Bärten und schwarzem, eng um den Kopf gewundenem Turban bahnten sich ihren Weg durch die engen, staubigen Gassen zum Fußballstadion, das genau oberhalb des Hauptbasars lag. Kinder, meist zerlumpte Waisen, liefen die Gassen auf und ab und veranstalteten einen Radau beim Gedanken an das Schauspiel, das sie erwartete.
Es war März 1997, und Kandahar war seit zweieinhalb Jahren die Hauptstadt jener grimmigen islamischen Krieger, der Taliban, die bereits zwei Drittel Afghanistans erobert hatten und jetzt um das noch verbliebene Drittel des Landes kämpften. Einige dieser Taliban hatten in den achtziger Jahren gegen die sowjetische Rote Armee gekämpft, viele von ihnen hatten das Regime von Präsident Nadschibullah bekämpft, der nach dem Rückzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan noch vier Jahre lang an der Macht geblieben war. Die Mehrheit jedoch hatte nicht am Kampf gegen die Kommunisten teilgenommen und entstammte Hunderten von Madrassas, Koranschulen, die in den afghanischen Flüchtlingslagern in Pakistan entstanden waren.
Seit ihrem dramatischen und unerwarteten Erscheinen Ende 1994 hatten die Taliban relativen Frieden und Sicherheit nach Kandahar und in die benachbarten Provinzen gebracht. Kriegerische Stammesgruppen wurden zerschlagen, ihre Führer gehängt, und der Bevölkerung nahmen sie die vielen Waffen ab; die Verbindungsstraßen wurden geöffnet, um den lukrativen Schmuggel zwischen Pakistan, Afghanistan, Iran und Zentralasien zu erleichtern, der die hauptsächliche Stütze der Wirtschaft bildete.
Die Taliban entstammen der größten ethnischen Gruppe Afghanistans, den Paschtunen, die etwa 40 Prozent der Gesamtbevölkerung von ungefähr 20 Millionen Menschen ausmachen. 300 Jahre lang hatten die Paschtunen Afghanistan regiert, doch zogen sie seit einiger Zeit gegenüber den kleineren ethnischen Gruppen des Landes den Kürzeren. Der Sieg der Taliban entfachte die Hoffnung neu, die Paschtunen könnten Afghanistan wieder beherrschen und einen Nationalismus in ihrem Sinne etablieren.
Zum Entsetzen vieler Afghanen und der ganzen muslimischen Welt führten die Taliban jedoch eine extreme Auslegung der Scharia, der islamischen Gesetzgebung, ein. Alle Mädchenschulen wurden geschlossen, und den Frauen gestattete man nur in Ausnahmefällen, das Haus zu verlassen; nicht einmal das Einkaufen war ihnen mehr erlaubt. Jede Art von Unterhaltung war strikt verboten. Der Verzicht auf Musik, Fernsehen, Video, Kartenspiel, Drachensteigenlassen und die meisten Sportarten wurde Gesetz. Der islamische Fundamentalismus der Taliban war so extrem, dass er letztlich die islamische Botschaft von Frieden und Toleranz sowie die Fähigkeit, mit religiös und ethnisch differierenden Gruppen in Harmonie zusammenzuleben, verunglimpfte. In Pakistan und Zentralasien wurde diese neue, extremistische Form des Fundamentalismus Vorbild; Kompromisse mit traditionellen islamischen Werten, sozialen Strukturen und existierenden staatlichen Systemen lehnten die Taliban strikt ab.
Ein paar Wochen zuvor hatten sie in Kandahar ihr schon länger bestehendes Fußballverbot aufgehoben. Die UN-Hilfsorganisationen ergriffen diese seltene Gelegenheit, etwas für die öffentliche Unterhaltung tun zu können, beim Schopfe und eilten herbei, um die Tribünen und Sitze des ausgebombten Fußballstadions wieder aufzubauen. Doch an diesem milden Donnerstagnachmittag, der das muslimische Wochenende einleitete, hatte man keinen ausländischen Entwicklungshelfer zur Neueröffnung des Stadions eingeladen. Es war auch kein Fußballspiel angesetzt. Stattdessen fand eine öffentliche Hinrichtung statt, bei der der Delinquent zwischen den Torpfosten erschossen werden sollte.
Ich war gerade in einem Flugzeug der UNO aus Pakistan gekommen, und ausländische Entwicklungshelfer erzählten mir beschämt im Flüsterton von dieser Hinrichtung.
«Das wird die Weltöffentlichkeit nicht gerade ermuntern, weitere Gelder für Entwicklungsprojekte in Afghanistan zur Verfügung zu stellen. Wie sollen wir erklären, auf welche Weise die Taliban unsere Renovierung ihres Fußballstadions nutzen?», fragte einer der westlichen Entwicklunghelfer.
Etwas nervös beäugten sie auch meine Kollegin Gretchen Peters, eine amerikanische Journalistin. Gretchen war groß, schlaksig, hatte ein breites, aber fein geschnittenes Gesicht und trug einen etwas zu engen Shalwar Kameez, die hier übliche Kleidung, bestehend aus sackförmigen Baumwollhosen, einem langen Hemd bis unter die Knie und einem langen Schal, der den Kopf bedeckte. Doch all das vermochte ihre Größe und ihr auffälliges amerikanisches Äußeres nicht zu verbergen; sie stellte eine Bedrohung für die Lehre der Taliban dar: Frauen sollten weder gesehen noch gehört werden, da sie die Männer angeblich von dem Pfad der Tugend, den der Islam vorschrieb, abbrachten und in Versuchung führten. Sei es nun aus Furcht vor Frauen oder aus Abscheu vor allem Weiblichen, jedenfalls weigerten sich die Führer der Taliban meistens, Journalistinnen Interviews zu geben.
Seit im Winter 1994 die mysteriösen Taliban zum ersten Mal aufgetaucht waren, Kandahar erobert hatten und dann weiter nordwärts gezogen waren, bis sie im September 1996 Kabul einnahmen, hatte ich über das Phänomen der Taliban berichtet und dafür mehr als ein Dutzend Male die Taliban-Hochburgen Kandahar, Herat und Kabul aufgesucht. Immer stärker wurde mein Interesse herauszufinden, wer sie waren, was sie antrieb, wer sie unterstützte und wie sie zu dieser harschen, extremen Auslegung des Islam gekommen waren.
Und nun gab es eine weitere Überraschung durch die Taliban; zwar ein Albtraum, doch für Reporter auch ein Geschenk, ein schreckliches Ereignis, das mich zittern ließ – vor Furcht, aber auch vor Erwartung. In der Zeit des Krieges hatte ich dem Tod oft ins Gesicht blicken müssen, aber diese Tatsache machte es nicht leichter, an der Hinrichtung eines Menschen teilzunehmen, die auch noch als eine Form der Unterhaltung von Tausenden von Menschen betrachtet wurde und zugleich Ausdruck islamischer Justiz und der Kontrolle durch die Taliban war.
Der Taliban am Stadion wollte uns zunächst nicht einlassen. Als ich versprach, reglos an der Seitenlinie stehen zu bleiben und mit niemandem zu sprechen, durfte ich eintreten. Gretchen Peters schlüpfte rasch hinter mir herein, wurde aber umgehend von einer Gruppe hektischer, bewaffneter Wächter durch Kolbenstöße mit ihren Kalaschnikows hinausgedrängt.
Am Nachmittag waren alle Sitze des Stadions belegt – über 10 000 Männer und Kinder drängten sich auf den Plätzen bis hinunter zum Rand des Spielfeldes. Die Kinder versuchten sich darin zu übertreffen, wer am weitesten aufs Spielfeld hinauszulaufen wagte, wo die verärgerten Wächter sie wieder hinter die Seitenlinie schubsten. Anscheinend war die gesamte männliche Bevölkerung erschienen. Frauen war jeder Auftritt in der Öffentlichkeit untersagt.
Plötzlich ebbte der Radau der Menschenmenge ab, als zwei Dutzend bewaffnete Taliban in Plastiklatschen, schwarzem Turban und der männlichen Variante des Shalwar Kameez auf das Spielfeld gestürmt kamen. Sie liefen die Seitenlinie entlang, stießen die spielenden Kinder mit ihren Gewehrläufen zurück auf die Plätze und brüllten die Menschen an, Ruhe zu geben. Die Menge gehorchte augenblicklich, sodass nur noch das Latschengeklapper der Taliban zu hören war.
Wie auf ein Zeichen hin erschienen mehrere zweitürige Datsun-Pick-ups auf dem Spielfeld – das Lieblingstransportmittel der Taliban. An einem von ihnen war einer dieser blechernen Lautsprecher angebracht, die an allen Moscheen in Pakistan und Afghanistan hängen. Ein älterer Mann mit weißem Bart stand auf dem Fahrzeug und begann der Menge vorzulesen. Qazi Khalilullah Ferozi, ein Richter des Obersten Taliban-Gerichtshofes von Kandahar, sprach über eine Stunde lang zu der Menschenmenge, pries die Tugenden der Taliban-Bewegung an, die Vorzüge islamischer Bestrafung und las die Geschichte des Falls.
Abdullah Afghan, ein junger Mann von Anfang zwanzig, hatte angeblich Abdul Wali, einem Bauern aus demselben Dorf bei Kabul, Medizin gestohlen. Als Wali Widerstand leistete, erschoss ihn Abdullah. Nachdem man ihn mehrere Wochen lang vergebens gesucht hatte, spürten Walis Verwandte ihn schließlich auf, nahmen ihn fest und brachten ihn vor das Gericht der Taliban. Abdullah wurde der Prozess gemacht, er wurde zum Tode verurteilt, zunächst vom Hohen Islamischen Gerichtshof in Kandahar, dann in der Berufung vom Höchsten Gericht der Taliban. Diese Prozesse finden ohne Rechtsanwalt statt; der Angeklagte gilt von vornherein als schuldig und muss sich selbst verteidigen.
Die Taliban-Auslegung der Scharia fordert die Hinrichtung des Mörders von der Hand der Familie des Opfers; doch in letzter Minute muss der Richter bei den Verwandten des Opfers Berufung einlegen und ihnen empfehlen, den Mörder zu verschonen. Lässt die Familie des Opfers Gnade walten, erhält sie ein Blutgeld oder eine andere Entschädigung. Wie viel von der Auslegung des islamischen Gesetzes durch die Taliban aber auf die Scharia zurückgeht und wie viel auf einen Verhaltenskodex der Paschtunen, ist bei vielen muslimischen Theologen innerhalb und außerhalb Afghanistans umstritten.
Inzwischen waren ungefähr zwanzig männliche Verwandte des Opfers aufs Spielfeld getreten, und der Qazi wandte sich ihnen zu. Er hob die Arme gen Himmel und appellierte an sie, Abdullahs Leben zu schonen und ein Blutgeld anzunehmen.
«Zehnmal werdet ihr nach Mekka kommen, wenn ihr diesen Mann verschont. Unsere Führer haben versprochen, euch eine große Summe aus dem Baitul Mal (islamischen Fonds) zu zahlen, wenn ihr ihm vergebt», sagte er zu den Verwandten. Doch die Verwandten schüttelten alle den Kopf, und die Taliban-Wachen richteten ihre Gewehre auf die Menschenmenge und warnten, sie würden jeden, der sich bewegte, erschießen. Auf den Plätzen herrschte tiefes Schweigen.
Abdullah, der während des ganzen Verfahrens in einem der bewachten Pick-ups gesessen hatte, wurde jetzt herausgelassen. Er trug ein leuchtend gelbes Käppchen und neue Kleidung. Seine Füße waren in schwere Ketten gelegt und seine Arme auf dem Rücken aneinandergekettet. Man befahl ihm, zu den Torpfosten am anderen Ende des Stadions hinüberzugehen. Seine Beine zitterten sichtbar vor Angst, als er über das Spielfeld schlurfte, während die Ketten klirrend im Sonnenlicht blinkten. Als er beim Tor ankam, ließ man ihn auf dem Boden niederknien, das Gesicht von der Zuschauermenge abgewandt. Einer der Wächter raunte ihm zu, er könne jetzt sein letztes Gebet sprechen.
Ein anderer Wächter reichte einem der Verwandten des Ermordeten eine Kalaschnikow. Dieser ging raschen Schrittes hinüber zu Abdullah, lud die Automatik durch und schoss ihm aus ein paar Schritt Entfernung dreimal in den Rücken. Als Abdullah hintenüberfiel, trat sein Henker neben den zuckenden Körper und versetzte ihm aus kürzester Entfernung noch drei weitere Schüsse in die Brust. Ein paar Sekunden darauf wurde der Körper auf die Ladefläche eines Pick-ups geworfen und weggefahren. Die schweigende Menschenmenge löste sich rasch auf. Als wir zurückfuhren, stiegen aus den Tee- und Kebabständen im Basar, in Vorbereitung der abendlichen Geschäfte, die ersten dünnen Rauchfäden auf.
In einer Mischung aus Angst, Akzeptanz und Resignation nach all den verheerenden Kriegsjahren, die mehr als 1,5 Millionen Opfer gefordert haben, nehmen viele Afghanen die Rechtsprechung nach Art der Taliban hin. Am nächsten Tag wurde in einem Dorf bei Kabul eine Frau von einer Menschenmenge in die Enge getrieben und zu Tode gesteinigt, nachdem man sie dafür verurteilt hatte, mit einem Mann, der kein Blutsverwandter von ihr war, einen Fluchtversuch aus Afghanistan unternommen zu haben. Das Abhacken einer Hand oder eines Fußes oder beider Gliedmaßen ist eine verbreitete Strafe der Taliban, wenn es um Diebstahl geht. Als die Taliban 1996 Kabul einnahmen, wurden sie anfangs freudig als Befreier empfangen, doch in Kabul und auf der ganzen Welt wandten sich viele entsetzt von ihnen ab, als sie den früheren Präsidenten und Exkommunisten Nadschibullah, der vier Jahre lang unter dem Schutz der UN in einer UN-Siedlung gelebt hatte, folterten und öffentlich hängten.
Seit dem Ende des Kalten Krieges hat keine andere politische Bewegung in der islamischen Welt so viel Aufmerksamkeit erregt wie die Taliban in Afghanistan. Bei manchem Bürger im Land wurde von den Taliban die Hoffnung geweckt, es handle sich um eine von einfachen Koranschülern angeführte Bewegung, die sich Frieden auf die Fahnen geschrieben habe und vielleicht endlich die einander bekriegenden Gruppen zur Räson brächte, die seit dem Sturz des kommunistischen Regimes in Kabul im April 1992 das Leben aller zur Hölle machten. Andere befürchteten hingegen, die Taliban-Bewegung würde schnell zu einer weiteren kriegerischen Splittergruppe degenerieren, entschlossen, dem glücklosen afghanischen Volk ihre despotischen Regeln aufzuzwingen.
Das Vorgehen der Paschtunen-Taliban hat die Frage der Beziehungen zwischen den verschiedenen Volksgruppen in diesem Vielvölkerstaat in den Vordergrund gerückt. Auch andere Themen wie die Rolle des Islam hinsichtlich der Clan-, Stammes- und Feudalstrukturen und die Frage der Modernisierung und wirtschaftlichen Entwicklung in einer konservativen islamischen Gesellschaft haben an Bedeutung gewonnen. Das Phänomen Taliban zu verstehen wird zusätzlich durch bewusst vor der Öffentlichkeit verborgen gehaltene politische Strukturen, durch den Führungsstil und die Entscheidungsprozesse erschwert. Weder geben die Taliban Presseerklärungen ab, noch beziehen sie eindeutige politische Positionen. Aufgrund des von ihnen erlassenen Foto- und Fernsehverbots weiß niemand, wie ihre Führer überhaupt aussehen. Der einäugige Führer Mullah Mohammed Omar bleibt ein Mysterium. Nach den Roten Khmer in Kambodscha sind die Taliban heute die geheimnisvollste politische Bewegung der Welt.
Doch ungewollt haben die Taliban den islamischen Radikalismus erneut auf die Tagesordnung der ganzen Region gesetzt und Afghanistans Nachbarstaaten einen Schock versetzt. Es überrascht daher nicht, dass der Iran, die Türkei, Indien, Russland und vier der fünf Republiken Zentralasiens – Usbekistan, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan – die «Nördliche Anti-Taliban-Allianz» mit Waffen und Geld unterstützt haben, um den Vormarsch der Taliban aufzuhalten. Im Gegensatz dazu haben Pakistan und Saudi-Arabien die Taliban unterstützt. In der Zeit nach dem Kalten Krieg hat dies zu einer nie da gewesenen Polarisierung in der Region geführt. Die Siegeszüge der Taliban in Nordafghanistan im Sommer 1998 und ihre Kontrolle über 90 Prozent des Landes lösten einen noch heftigeren Konflikt aus. Der Iran drohte, Afghanistan zu besetzen, und beschuldigte Pakistan, die Taliban zu unterstützen.
Kernstück dieses Regionalkonflikts ist der Kampf um die riesigen Öl- und Gasvorkommen Zentralasiens – die letzten unangezapften Energiereserven der Welt. Von ebenso großer Bedeutung ist der Konkurrenzkampf der Regionalstaaten und der westlichen Mineralölkonzerne untereinander. Es geht um den Bau der lukrativen Pipeline für den Transport der Energiestoffe zu den Märkten Europas und Asiens. Diese Rivalitäten sind buchstäblich zum neuen Spiel der Großmächte geworden, wirken wie ein Rückfall ins 19. Jahrhundert, als Russland und Großbritannien ihr großes Spiel um Kontrolle und Vorherrschaft in Zentralasien und Afghanistan ausfochten.
Seit Ende 1995 hat Washington das Vorhaben der US-amerikanischen Firma Unocal unterstützt, eine Gas-Pipeline von Turkmenistan nach Pakistan durch das von den Taliban kontrollierte Afghanistan zu bauen. Doch da tauchte unerwartet ein weiterer Mitspieler auf.
Am Tag nach der Hinrichtung kam ich für ein Interview in den Palast von Mullah Mohammed Hassan, des Gouverneurs von Kandahar. Als ich an den schwer bewaffneten Taliban-Wachen vorbei die Auffahrt hinaufgegangen war, blieb ich plötzlich wie angewurzelt stehen. Aus dem Büro des Gouverneurs kam ein eleganter Geschäftsmann in tadellosem blauem Blazer mit Goldknöpfen, gelber Seidenkrawatte und italienischen Halbschuhen. Bei ihm waren zwei andere, ebenso tadellos gekleidete Geschäftsleute, die prall gefüllte Aktenkoffer trugen. Sie hätten eher zur Wall Street gepasst anstatt hierher zu obskuren Verhandlungen mit einer Bande islamischer Guerilleros in den staubigen Gassen von Kandahar. Der Geschäftsmann war Carlos Bulgheroni, Vorsitzender von Bridas Corporation, einer argentinischen Mineralölfirma, die seit 1994 heimlich Verhandlungen mit den Taliban und der Nordallianz führte – ebenfalls wegen dieser Gas-Pipeline. Bridas befand sich in bitterem Wettstreit mit Unocal und hatte sogar in Kalifornien gegen die Firma prozessiert, weil diese ihnen angeblich das Geschäft vor der Nase weggeschnappt hatte.
Ein Jahr lang versuchte ich herauszufinden, welches Interesse eine argentinische Firma, die zudem in diesem Teil der Welt völlig unbekannt war, haben mochte, in einem Land mit so hohem Risikofaktor zu investieren. Doch sowohl Bridas als auch Unocal hüllten sich in Schweigen. Das Letzte, was sich Carlos Bulgheroni also wünschen konnte, war, beim Verlassen des Büros eines Taliban-Führers auf einen Journalisten zu treffen. Knapp entschuldigte er sich, sein Firmenflugzeug warte auf ihn, um ihn nach Mazar-i-Sharif, die Hauptstadt der Nordallianz, zu bringen.
Als der Kampf um Pipelines aus Zentralasien härter wurde, fragten sich die islamische Welt und der Westen besorgt, ob die Taliban die neue Zukunft des islamischen Fundamentalismus repräsentierten – aggressiv, expansionistisch und kompromisslos in ihrem puristischen Anspruch, die afghanische Gesellschaft in das imaginäre Modell eines Arabien zu Zeiten des Propheten Mohammed zurückzuverwandeln. Zudem fürchtete der Westen die Auswirkungen des immer weiter um sich greifenden Drogenhandels in Afghanistan und der Aktivitäten von Terroristen wie des saudiarabischen Extremisten Osama Bin Laden, dessen Gruppe Al-Qaida die verheerenden Bombenattentate auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania im August 1998 zu verantworten hat.
Darüber hinaus fragten sich Experten, ob die auf die Ursprünge islamischer Ideale ausgerichteten Taliban die schrecklichen Vorhersagen amerikanischer Intellektueller wahrmachten, als neue militante islamische Einheit dem Westen entgegentreten und somit eine neue Variante des Kalten Krieges schaffen würden, welche die verschiedenen Zivilisationen erneut aufeinanderprallen ließe.1
Es ist nichts Neues, Afghanistan im Mittelpunkt eines solchen Konfliktes zu sehen. Die heutigen Taliban sind die vorerst Letzten in einer langen Reihe von Eroberern, Kriegsherren, Predigern, Heiligen und Philosophen, die durch den afghanischen Korridor gefegt kamen und alte Zivilisationen und Religionen zerstört haben, um neue einzuführen. Die Könige der alten Welt glaubten daran, dass die Region, in der Afghanistan liegt, der absolute Mittelpunkt der Welt sei, und diese Ansicht hat sich bis in die moderne Zeit hinein gehalten. Der berühmte indische Poet Mohammed Eqbal beschrieb Afghanistan als das «Herz Asiens», während Lord Curzon, der britische Vizekönig Indiens im frühen 20. Jahrhundert, Afghanistan den «Hahnenkampfplatz Asiens» nannte.2
Es gibt nur wenige Länder auf der Welt, in denen sich Geschichte, Politik und Charakter der Bevölkerung so stark aus seiner Geographie heraus bestimmen. Afghanistans geostrategische Lage an der Kreuzung zwischen Iran, dem Arabischen Meer und Indien, zwischen Zentralasien und Südasien hat dem Territorium und den Bergpässen seit den frühesten Invasionen der Arier vor 6000 Jahren eine große Bedeutung gegeben. Afghanistans raues, zerklüftetes und dürres Wüstengelände hat die besten und zähesten Krieger der Welt hervorgebracht, während die atemberaubend schönen, kargen Gebirgslandschaften mit üppig grünen Tälern voller Obstbäume schon immer Poeten inspiriert haben.
Vor vielen Jahren erzählte mir einmal ein weiser alter afghanischer Mudschahid die mystische Geschichte von Gottes Erschaffung Afghanistans.
«Als Allah die Welt geschaffen hatte, sah Er, dass eine ganze Menge Schutt übrig geblieben war; Bruchstücke, die nirgendwohin passten. Er sammelte sie ein und schleuderte sie einfach auf die Erde. Das war dann Afghanistan», sagte der alte Mann.
Das moderne Afghanistan erstreckt sich über 652 000 Quadratkilometer. Durch die massive Bergkette des Hindukusch wird es in einen Nord- und einen Südteil unterteilt. Südlich des Hindukusch sind mehrheitlich Paschtunen und einige Persisch sprechende Volksgruppen, im Norden Perser und turksprachige Stämme zu finden. Der Hindukusch selbst wird von Persisch sprechenden Hasaras und Tadschiken bevölkert. Im äußersten Nordosten erstreckt sich das Pamirgebirge, das Marco Polo «das Dach der Welt» nannte, über Tadschikistan und Teile Chinas und Pakistans.3 Aufgrund der Unzugänglichkeit des Pamir gibt es nur wenig Kommunikation zwischen den zahlreichen Volksgruppen der hoch gelegenen, verschneiten Täler.
In den südlichen Ausläufern des Hindukusch liegt Kabul. Die angrenzenden Täler bilden die landwirtschaftlich produktivste Region des Landes. Der Westen und Süden Afghanistans sind durch das östliche Ende des iranischen Hochplateaus gekennzeichnet. Es ist flach, karg und dürr, weist nur wenige Städte auf und ist dünn besiedelt. Der größte Teil dieser Region wird von den dort lebenden Afghanen einfach «Wüste» genannt. Ausgenommen davon ist ein über 3000 Jahre altes Zivilisationszentrum, die Oasenstadt Herat.
Nördlich des Hindukusch beginnt die karge Steppe Zentralasiens, die sich über Tausende von Meilen nordwärts bis nach Sibirien erstreckt. Aufgrund der extremen Beschaffenheit von Klima und Boden gilt die turkstämmige Bevölkerung im Norden als eine der zähesten der Welt, die grimmigste Krieger hervorbringt. Im Osten Afghanistans liegen kleinere Gebirgsketten, darunter das Sulemangebirge, das sich über die Grenze nach Pakistan erstreckt und zu beiden Seiten von Paschtunen bevölkert ist. Die Pässe dieses Gebirges, beispielsweise der berühmte Khaiberpass, waren im Laufe der Jahrhunderte für Eroberer das Tor zu den fruchtbaren Tiefebenen Indiens.
Nur zehn bis zwölf Prozent des afghanischen Bodens sind nutzbar, und die meisten landwirtschaftlichen Betriebe an den abschüssigen Berghängen erfordern einen außerordentlich großen Arbeitsaufwand. Bis in die 1970er Jahre hinein war das Nomadentum mit Ziegen und Karakulschafen die hauptsächliche Quelle für den Lebenserhalt. Jedes Jahr zogen die Kochi-Nomaden Tausende von Meilen durch Pakistan, Iran und Afghanistan auf der Suche nach gutem Weideland. Zwar wurden in den 80er Jahren im Krieg gegen die Sowjetunion Kultur und Lebenserhalt der Kochi zerstört, aber nach wie vor sorgen Viehherden für den grundlegenden Lebensunterhalt der armen Bauern. Die Nomaden Afghanistans von gestern sind heute Händler und LKW-Fahrer, die mit ihren Schmugglertouren quer durchs Land die wichtigste Versorgungsgrundlage und Einkommensquelle der Taliban stellen.
Von Urzeit an gab es in Afghanistan Landstraßen. Auf dem landumschlossenen Territorium kreuzten sich die Straßen Asiens aus allen Himmelrichtungen und wurden zum Schlachtfeld für zwei große Zivilisationswellen: das urbane Persische Reich nach Westen hin und das turkstämmige Nomadenreich nördlich in Zentralasien. Infolgedessen ist Afghanistan unermesslich reich an archäologischen Funden.
Für jede dieser beiden alten Zivilisationen, die zu ihrer historisch gegebenen Zeit Größe und Macht demonstrierten, war die Kontrolle über Afghanistan von vitaler Bedeutung. Zu anderer Zeit diente Afghanistan als Puffer, um diese beiden Reiche voneinander zu trennen, und dann wieder wurde es als Korridor benutzt, durch den Heere von Nord nach Süd und von West nach Ost marschierten, um Indien zu besetzen, wo die ersten alten Religionen des Zarathustra, der Manichäer und des Buddha erblühten. Nach Angaben der UNESCO ist die Stadt Balkh, deren Ruinen noch heute ein paar Meilen entfernt von Mazar-i-Sharif zu besichtigen sind, eine der ältesten Städte der Welt und war einst ein prächtiges Zentrum buddhistischer, persischer und turkestanischer Kunst und Architektur.
Über die alte Seidenstraße trugen Pilger und Händler den Buddhismus über Afghanistan nach China und Japan. Im Jahre 329 v.Chr. eroberten die Mazedonier unter Alexander dem Großen Afghanistan und Zentralasien, ehe sie nach Indien weiterzogen. Sie hinterließen im Hindukusch ein neues, vibrierendes buddhistisch-griechisch geprägtes Königreich – die einzige bekannte historische Verschmelzung europäischer Kunst mit der asiatischen.
Im Jahr 654 durchquerten arabische Heere Afghanistan und gelangten bis zum Oxus-Fluss an der Grenze zu Zentralasien. Sie brachten eine neue Religion namens Islam mit, die Gleichheit und Gerechtigkeit predigte und sich rasch über die ganze Region ausbreitete. Unter der persischen Saminiden-Dynastie, die von 874 bis 999 dauerte, hatte Afghanistan teil an einer Renaissance der Künste und Literatur Persiens. Die Ghaznaviden-Dynastie regierte von 999 bis 1186 und riss den nordwestindischen Punjab sowie Teile Ostirans an sich.
Im Jahr 1219 zogen die Mongolen unter Dschingis Khan durch Afghanistan, zerstörten Städte wie Balkh und Herat und hinterließen wahre Leichenberge. Auch die Mongolen leisteten ihren Beitrag: Sie hinterließen der modernen Zeit die Hasaras – das Ergebnis zahlreicher Vermählungen mit einheimischen Stämmen.
Im darauf folgenden Jahrhundert erschuf Taimur – oder Tamerlan, wie er im Westen genannt wird –, ein Abkömmling von Dschingis Khan, ein neues Riesenreich, das sich über Russland und Persien erstreckte und aus seiner Hauptstadt Samarkand im heutigen Usbekistan regiert wurde. Taimur eroberte Herat 1381, und sein Sohn Schah Rukh verlegte 1405 die Hauptstadt des Timuridenreiches nach Herat. Die Timuriden, ein Turkvolk, brachten die turkische Nomadenkultur von Zentralasien in den Machtbereich der persischen Zivilisation und machten Herat zu einer der kulturell aktivsten Städte der Welt. Die Verschmelzung der Kulturen Zentralasiens und Persiens war ein bedeutendes Vermächtnis für Afghanistan. Als hundert Jahre später Kaiser Babur, ein Abkömmling von Taimur, Herat besuchte, schrieb er: «In der gesamten bewohnbaren Welt gibt es keine Stadt wie Herat.»4
Während der darauf folgenden 300 Jahre fielen die ostafghanischen Stämme immer wieder in Indien ein, eroberten Delhi und schufen riesige indo-afghanische Reiche. Die afghanische Lodhi-Dynastie regierte Delhi von 1451 bis 1526. Im Jahr 1500 wurde Taimurs Nachkomme Babur aus seinem Haus im Ferghana-Tal in Usbekistan vertrieben. Er eroberte 1504 erst Kabul, dann Delhi. Er etablierte die Mogul-Dynastie, die Indien bis zur Ankunft der Briten regierte. Gleichzeitig zerfiel die Macht Persiens im Westen, und Herat wurde von den usbekischen Shaybani-Khans erobert. Im 16. Jahrhundert fiel der Westen Afghanistans zurück an die persische Herrschaft unter der Safaviden-Dynastie.