Fallgeschichten
auf Leben und Tod
Ein Kardiologe erzählt
C.H.Beck
Eine Nacht am Bett einer Patientin, die ständig mit Elektroschocks am Leben erhalten werden muss. Ihr Leben hängt von der Wachsamkeit und Besonnenheit des Arztes ab.
Um den Tumor am Herzen operieren zu können, muss eine schwangere Frau ihr Kind opfern. Wie ihr das erklären?
Als Mike Schäfer am Morgen aufwacht, ist seine rechte Körperhälfte gelähmt, und er ist unfähig, sich sprachlich zu artikulieren. Was ist geschehen?
Die großen menschlichen Dramen spielen sich auf zwei Bühnen ab: im Gerichtssaal – und im Krankenhaus. Prof. Dr. med. Thomas Meinertz ist Kardiologe und war bis vor kurzem Chefarzt an der Hamburger Universitätsklinik. Das Schreckliche ist bei ihm der Normalfall. Zu ihm kommen Patienten mit reißenden Schmerzen im Brustkorb, mit stotterndem Herzen oder tödlichem Kammerflimmern, mit einem Tumor am Herzen oder langwierigen Voroperationen. Er ist ihr erster Ansprechpartner und nicht selten ihre letzte Hoffnung. In den 19 authentischen Geschichten dieses Buches erzählt Meinertz von seinen dramatischsten und ungewöhnlichsten Begegnungen mit Patienten – so einfühlsam wie schnörkellos und gerade deswegen mit großer Intensität.
Herzangelegenheiten ist das eindringliche Plädoyer eines Arztes dafür, jeden Patienten als Einzelfall, als Herzensangelegenheit zu behandeln. Das wäre gut für den erkrankten und leidenden Menschen – und für die Entwicklung der Medizin.
Prof. Dr. med. Thomas Meinertz, geb. 1944, war nach Stationen an den Universitätskliniken Mainz und Freiburg und dem Krankenhaus St. Georg in Hamburg von 1994 bis 2011 Direktor am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, zuletzt als Leiter der Klinik und Poliklinik für Kardiologie und Angiologie des Universitären Herzzentrums. Seit 2010 ist er Vorstandsvorsitzender der Deutschen Herzstiftung. Prof. Meinertz ist Herausgeber zahlreicher medizinischer Lehrbücher und Verfasser von über 400 Fachpublikationen. 2011 erhielt er die Carl-Ludwig-Ehrenmedaille, die höchste Auszeichnung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie.
Vorwort
Mein erster Patient
Unheilbar
Stolperherz
Elektrischer Sturm
Ein gesunder junger Mann
Am seidenen Faden
Verletzungspech
«Unsere Ursel»
Ein kleiner Defekt mit bösen Folgen
Eine lange Geschichte
Zu spät
Extrasystolen im Kopf
Der Natur ins Handwerk gepfuscht
Infiziert!
Ahnungslos
Ein gewisses Lächeln
Eine Herzensangelegenheit
Eine starke Frau
Vater
Nachwort
Danksagung
Anhang
Schaubilder
Glossar
Am Anfang dieses Buches stand eine abgegriffene blaue Mappe mit Auszügen aus Krankenakten, handgeschriebenen Zetteln, Röntgenbildern und EKG-Streifen. Als diese mir vor einigen Jahren beim Aufräumen meines Arbeitszimmers in die Hände fiel, entging sie nur knapp dem Papierkorb. In diesem Moment ahnte ich noch nicht, wie wertvoll ihr Inhalt für mich werden würde. Diese unscheinbare blaue Mappe bot mir die Möglichkeit, in meine medizinische Vergangenheit zurückzureisen.
Bewegt studierte ich die bereits vergilbten Akten. Allmählich wurden für mich die Patienten mit ihren Schicksalen wieder lebendig, die ich vor Jahren und Jahrzehnten über Tage und Wochen als Arzt betreut und begleitet hatte. Je intensiver ich mich in den einzelnen Fall vertiefte, desto mehr kam die Erinnerung zurück. Nach und nach stand mir der Patient als Mensch und Persönlichkeit wieder so vor Augen, als wäre die Begegnung mit ihm erst gestern gewesen. Selbst Einzelheiten seiner Gesichtszüge, seiner Gesten und seiner Sprache glaubte ich wieder zu erinnern, obwohl diese Schicksale so weit zurücklagen. Einige Patienten waren bereits verstorben, andere hatten überlebt, von wieder anderen erhielt ich auch nach Jahren immer noch Lebenszeichen.
Als ich die blaue Mappe in den Händen hielt, setzte sich zunehmend die Idee bei mir fest, die Krankengeschichten meiner Patienten genau so aufzuschreiben, wie es sich aus den Aufzeichnungen ergab und ich selbst die Begebenheiten erinnerte. Nichts wollte ich hinzufügen, unterschlagen oder gar beschönigen.
Die nachfolgenden Geschichten reichen von Mitte der 1970er Jahre, die ich als Wissenschaftlicher Assistent und später als Oberarzt am Klinikum der Universität Mainz erlebte, bis zu meiner Zeit an der Klinik und Poliklinik für Kardiologie und Angiologie des Universitären Herzzentrums Hamburg-Eppendorf im Jahr 2011.
In diesem Zeitraum meiner ärztlichen Tätigkeit hat sich die Medizin auf dem Herz- und Kreislaufsektor enorm entwickelt. Viele der früher vorzeitig verstorbenen Patienten hätten mit dem Stand der Medizin von heute gerettet werden können. Einige dieser Schicksale finden auch in diesem Buch Erwähnung. Die Therapie des akuten Herzinfarktes ist ein eindrucksvolles Beispiel für den Fortschritt in der Medizin in den letzten zwei Jahrzehnten; deshalb konnte ich auf eine Fallgeschichte zu dieser bekanntesten und weiterhin häufigsten Herzerkrankung verzichten. Ein weiteres Beispiel ist die Entwicklung der Herzchirurgie im Neugeborenen- und Säuglingsalter. Die neuen Behandlungstechniken haben dazu geführt, dass in beiden Patientengruppen die Sterblichkeit auf bemerkenswerte Weise rückläufig ist und gleichzeitig die Lebensqualität der Überlebenden deutlich verbessert werden konnte.
Jede der hier erzählten Geschichten ist ein Lehrstück, das durch den ganz eigenen Verlauf der Krankheit eines einzelnen Patienten geprägt ist. Die Patienten mit ihren Erkrankungen sind unsere Lehrmeister. Selbst der Tod eines Patienten kann uns vieles lehren. So standen nicht ohne Grund über dem Sektionssaal des Freiburger Pathologischen Institutes die Worte: «Hic mortui vivos docent» (Hier belehren die Toten die Lebenden).
Hinter der Besonderheit und Tragik des Einzelschicksals steht zunächst immer ein ganz «normaler Fall». So werden in diesem Buch «gewöhnliche Fälle» geschildert, die dann jedoch einen besonderen Verlauf nehmen: plötzlicher Herztod, Lungenarterienverschluss, Schlaganfall und Tumorerkrankungen. Selbst der Mediziner kann immer wieder aus solchen Fallbeispielen lernen. Diese decken das Spektrum häufiger Erkrankungen des Herz- und Kreislaufsystems nahezu ab und zeigen sich in immer wieder neuen Varianten.
Mit diesem Buch möchte ich auch dazu beitragen, ärztliche Entscheidungswege verständlicher zu machen. Ärztliche Tätigkeit ist weitgehend eine Sache der Erfahrung. Es soll gezeigt werden, in welchem Ausmaß ärztliche Entscheidungen trotz aller offiziell geltenden Leitlinien immer wieder eine Frage des Ermessens sind. Unterschiedliche Aspekte eines Krankheitsverlaufes müssen mit Sorgfalt gegeneinander abgewogen werden, um die richtige Entscheidung zum Wohle des Patienten zu treffen. An diesem Vorgehen wird deutlich, dass viele ärztliche Entscheidungen nicht allein auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Letztlich bestimmen die individuellen Erfahrungen eines Arztes sein persönliches Handeln.
Der eigentliche Sinn einer nachträglichen Aufarbeitung von Patientenschicksalen liegt für mich in der Betrachtung und Klärung der besonderen Bindung des Arztes zu seinem Patienten, die sich durch die existentielle Notlage seiner Erkrankung entwickeln kann. Mir wurde diese Bindung mit jedem geschriebenen Satz deutlicher: Jedes hier geschilderte Patientenschicksal kreist um das Leiden eines Menschen und damit eng verbunden um die Macht bzw. Ohnmacht seiner behandelnden Ärzte. In diesem Spannungsfeld am Krankenbett entscheidet sich der Arzt, ob er überwiegend medizinischer Fachmann oder auch mitfühlender Begleiter sein will; und der Patient, ob er seinem Arzt vertraut oder ihn nur duldet. Nur wenn beide Seiten sich engagieren, entsteht etwas Berührendes: Aus der «Herzangelegenheit» wird eine «Herzensangelegenheit».
Dieses Buch ist keine Sammlung von Sensationsgeschichten, kein Arztroman und erst recht keine Autobiographie. Die Geschichten führen uns die ärztliche Kunst, aber auch die ärztlichen Unzulänglichkeiten und Fehler vor Augen. Sie erzählen von der Auseinandersetzung mit dem Schicksal, das sich zuweilen korrigieren lässt, sich jedoch ebenso häufig unserem Einfluss entzieht. Dabei zeigen sie auch, wie Menschen wahre Größe gewinnen, indem sie ein unabwendbares Leiden annehmen oder aber sich mit ganzem Mut dagegen auflehnen. Dem Leser wird auf diese Weise bewusst, wie wir «mitten im Leben vom Tod umfangen» sind und wie sehr – angesichts dieser Schicksale – jeder Lebenstag ein Geschenk ist.
Obwohl ich aus einer Arztfamilie stamme, konnte ich mich in meiner Jugend mehr für Musik und Philosophie als für die Medizin begeistern. Mein frühestes medizinisches Erlebnis waren die sonntäglichen Visiten, zu denen ich meinen Vater, einen Chirurgen an der Universitätsklinik in Münster, ins Krankenhaus begleiten durfte. Weite Säle mit vielen Krankenbetten, an denen Name und Alter der Patienten auf großen Schildern angebracht waren, blieben in meinem Gedächtnis haften. Außerdem erinnere ich den Geruch von Desinfektionsmitteln und Weihrauch sowie blasse und streng blickende Ordensschwestern. Das war in der Tat nicht die Atmosphäre, um die Neigung zur Medizin in mir zu wecken.
Noch bedrückender waren die äußeren Umstände, in denen meine Großmutter ihre Medizin praktizierte. Als Pathologin hauste sie in trüb beleuchteten Kellerräumen des alten Wormser Stadtkrankenhauses, wo sie von in Glasgefäßen schwimmenden Organen und Kästen mit mikroskopischen Präparaten umgeben war. Der beißende Geruch von Präparations- und Sterilisationsmitteln hing über allem und verstärkte meine Abneigung gegen diese trostlose Umgebung und alles Medizinische.
Allein mein Großvater, Internist und Psychoanalytiker – ein gebildeter, ja weiser Mann –, war in der Lage, mein Interesse für die Medizin zu wecken. Gemeinsam war uns die Liebe zu Philosophie und Musik. Er nahm meine Interessen und Neigungen ernst und versuchte erst gar nicht, mir die Medizin als Berufswahl zu empfehlen. Er führte mich behutsam zu den größeren Zusammenhängen von Naturwissenschaft, Philosophie und Geschichte. Die Naturwissenschaft sei, so mein Großvater, die Basis der Medizin; ärztliches Handeln aber gehe weit darüber hinaus. So vereitelte er geschickt meinen damaligen Plan, Philosophie und Geschichte zu studieren. Zunächst müsse ich das Medizinstudium absolvieren, später sei die Ausweitung auf den größeren Zusammenhang möglich und sinnvoll. Vor Beginn des Studiums aber solle ich – so empfahl es mein Großvater mit Nachdruck – zunächst einmal ganz unvoreingenommen und ohne jede medizinische Vorbildung im Krankenhaus arbeiten. So geschah es. Dort begegnete ich meinem ersten Patienten.
Als Pflegepraktikant wurde ich gleich am ersten Arbeitstag mit der Betreuung eines Patienten mit einem nicht mehr operablen Blasentumor betraut. Ich wusste weder genau, wo die Blase im Unterbauch lag, noch, wie sie funktionierte. Das Einzige, was ich sah und mitfühlte, waren die unerträglichen Schmerzen eines todkranken Mannes. Wie sollte ich diesem Patienten ohne jede medizinische Vorkenntnisse und pflegerische Erfahrung helfen? Unter Anleitung von Oberpfleger Gottfried, einem handfesten und herzensguten Menschen, wurde mir die Situation des Patienten in der Alltagsrealität bewusst. «Dem kann man nicht mehr helfen, die Ärzte haben ihn schon aufgegeben, wir haben ihn aus dem Krankensaal in das Zweibettzimmer verlegt. Hier soll er in Ruhe sterben können.»
So wurden mir schon weit vor Beginn meiner ärztlichen Tätigkeit die Ohnmacht und die Grenzen ärztlichen Handelns vor Augen geführt. Die Ärzte bei der Visite ließen den Kranken in Blicken, Worten und Gesten nicht aus, beachteten ihn aber dennoch nicht wirklich, da er aus ihrer Sicht nicht mehr erfolgreich behandelbar war. Er war damit ihrem Fokus entglitten. Trotzdem war Herr Müller, so hieß mein erster Patient, für jedes Wort seiner Ärzte in noch so allgemeiner und unverbindlicher Art dankbar. Der eigentliche Arzt für diesen Patienten waren aber Oberpfleger Gottfried und ich als dessen Adlatus. Mir wollte es nicht in den Kopf: Hier liegt ein Kranker, der in Kürze sterben wird, ohne dass die Ärzte helfen können. Trotz allem verlief die Visite bei diesem Kranken nicht anders als bei den übrigen Patienten.
Was wusste Herr Müller? Spürte er, wie wenig wir für ihn tun konnten? Seine Krebserkrankung schritt unaufhaltsam voran und hatte mittlerweile von seinem ganzen Körper Besitz ergriffen. Er zerfiel von innen. Sein Äußeres – wie eine Eierschale weiß und zerbrechlich – verdeckte nur mit Mühe den inneren Zerfall.
Was konnten wir noch für ihn tun? Wie sollten wir ihm die noch verbleibenden Tage erleichtern? Wie konnte man ihm eine noch so kleine Freude machen? Immer wieder zog es mich in sein Krankenzimmer, ohne zu wissen, weshalb. Ich lächelte ihm zu, nahm seine Hand und redete leise auf ihn ein. Wir verstanden uns mit Blicken und Berührungen. Nein, wir konnten ihm nicht mehr helfen. Es kommt der Augenblick im Leben, da bleibt man ganz allein und niemand kann mehr helfen.
Und er war allein, so mutterseelenallein. Doch wie kann man so allein sein? Keine Ehefrau, keine Kinder, die ihn besucht hätten. Auch keine Freunde. Irgendetwas stimmte da nicht. Den Ärzten fiel das nicht auf. Auch Pfleger Gottfried war viel zu sehr mit seinen Alltagsproblemen beschäftigt, um dies zu bemerken. Warum wurde Herr Müller eigentlich nicht besucht? Ich wagte nicht zu fragen – nach der Familie, nach den Freunden. Dabei hätten sie ihm sicher jetzt helfen können. Doch niemand kam. Und er fragte auch nicht. Hatte er nie Familie und Freunde gehabt oder hatte er beides im Verlauf seines Lebens verloren?
Mein Gefühl sagte mir, er habe sie verloren. Er machte einen so traurigen Eindruck und schien auf dieser Welt so einsam und verlassen.
Um seine Schmerzen zu lindern, wurde Herrn Müller in mehrstündigen Intervallen eine dunkelgrüne, ölige Flüssigkeit mit örtlicher, schmerzstillender Wirkung über die Harnröhre in die Blase eingespritzt. Das ohnehin schon von Schmerzen gezeichnete Gesicht des Patienten schien zu erstarren. Das Beklemmende für mich in dieser Situation war, nicht wirklich helfen zu können. Meinen zaghaft ausgesprochenen Trost quittierte Herr Müller mit einem gequälten Lächeln. Ich nahm ihn in den Arm, strich über seinen Kopf und drückte so fest wie möglich seine Hände. Er schien mein Mitleiden zu spüren. Es schien, als schaffe ihm meine Nähe Erleichterung.
Eines Morgens jedoch war sein Bett leer. Ich wagte nicht nachzufragen. Aber ich ahnte es: Herr Müller war über Nacht gestorben. Ganz heimlich und leise hatte er diese Welt verlassen, ohne sich von mir zu verabschieden.
Damals kam ich zu folgendem Schluss: So konnte und durfte die Situation für Patienten mit Blasenkarzinom oder einer anderen schweren Erkrankung in Zukunft nicht bleiben. Ich war fest entschlossen, Medizin zu studieren, um diesen Patienten später besser helfen zu können und ihnen ein derartiges Schicksal zu ersparen. Für mich stand eindeutig fest: Die pflegerische Behandlung schwerstkranker Patienten war zwar gut gemeint, aber dringend verbesserungsbedürftig. So konnte man diesen todkranken Menschen im Krankenhaus nicht gerecht werden. Die ärztliche Betreuung von Herrn Müller war völlig unzureichend. Dieser Kranke hatte lediglich das große Glück, von einem menschenfreundlichen Pfleger liebevoll betreut zu werden. Ansonsten war der Umgang mit diesem Patienten nur schrecklich und wenig einfühlsam. Ich war hochmotiviert, alles besser zu machen.
Mit allem hatte Frau Roth am Morgen dieses Herbsttages gerechnet, aber nicht damit. Sie hatte wie immer am Vormittag ihre Einkäufe erledigt und war jetzt dabei, das Mittagessen für ihren Mann und sich zu richten. Plötzlich – ohne jeden Anlass, ohne jede Ursache – ein reißender Schmerz vorne im Brustkorb. Als würde ihr jemand bei lebendigem Leibe das Herz aus der Brust reißen. Sie spürte, wie ihr schlecht wurde, wagte nicht durchzuatmen und ließ sich langsam zu Boden gleiten. Sie war schweißgebadet und dachte nur noch: Jetzt ist es vorbei, hoffentlich geht es ganz schnell. Der Schmerz war so durchdringend und überwältigend, dass sie nicht einmal das Telefon erreichen konnte. So blieb sie einfach am Boden liegen und wartete auf das, was kommen würde.
Es geschah nichts, nur das Reißen im Brustkorb breitete sich auch in Hals und Rücken aus. Der Oberkörper fühlte sich an wie eine einzige große Wunde.
Sie musste eine gute halbe Stunde so dagelegen haben, bis ihr Mann nichtsahnend nach Hause kam. Geistesgegenwärtig alarmierte er sofort den Notarzt. Ein Herzinfarkt sei ein ungewöhnliches Ereignis bei einer zweiunddreißigjährigen Frau, auch der Arzt war zunächst ratlos. Unter seiner Obhut erreichte die Patientin die Intensivstation des nahe gelegenen Krankenhauses.
Innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte waren eine ganze Reihe von Familienmitgliedern aus voller Gesundheit plötzlich und unerwartet an akuten Herzproblemen gestorben. War das Zufall? Oder lag tatsächlich eine familiäre Erkrankung vor? Bis zu diesem Herbst hatte Frau Roth vor einem Rätsel gestanden. Eine Diagnose hatte man bei ihr bislang nicht gestellt.
Ein Herzinfarkt konnte durch mehrfach abgeleitete EKGs ausgeschlossen werden. Als es auch nach Stunden zu keiner wirklichen Besserung der Schmerzen kam und eine Diagnose immer noch nicht feststand, entschloss man sich, Frau Roth notfallmäßig nach Mainz zu verlegen. Nach meiner Erinnerung war die Patientin eine der Ersten, die als Herznotfall mit einem Hubschrauber in die Mainzer Universitätsklinik gebracht wurde.
Ich selbst sah die Patientin zum ersten Mal während meines Nachtdienstes auf der kardiologischen Überwachungsstation. Durch stark wirkende Schmerzmittel (Opiate) hatte man sie ruhigstellen können und die Schmerzen offensichtlich einigermaßen erträglich gemacht.
Mir fiel sofort die ungewöhnliche Erscheinung der Patientin auf – hochgewachsen, langgliedrige Arme, Beine und Finger sowie die auffällige Form des Brustkorbes mit Trichterbrust. In der Erinnerung an mein Lehrbuch der inneren Medizin und auch nach ersten persönlichen Erfahrungen bei anderen Patienten schoss es mir durch den Kopf: Die Patientin hat vielleicht ein Marfan-Syndrom – eine angeborene Bindegewebsschwäche, die Knochen, Augen und Gefäße befällt. Als ich diese Verdachtsdiagnose stellte, überkam mich ein Gefühl der Genugtuung. Ich war stolz auf mich selbst, auf diese Vermutungsdiagnose gekommen zu sein. Eine Diagnose allerdings, die für die Patientin alles andere als günstig war. Ich war wohl der Erste, der dies bei der Patientin bzw. deren Familie erkannt hatte. Bedroht sind diese Patienten durch eine ungewöhnliche Erweiterung der Körperschlagader (Aortenaneurysma) mit Neigung zum Einreißen der Wand (Aortendissektion). Sollten die Beschwerden unserer Patientin Ausdruck einer Dissektion der Aorta sein? In diesem Falle stünde es schlimm um sie. Alternative Erklärungen für die Beschwerden der Patientin gab es so gut wie keine. Allerdings war damals die Diagnose einer Aortendissektion nicht so einfach. Die Computertomographie steckte noch in den Kinderschuhen. Die transösophageale Echokardiographie, die Ultraschalluntersuchung des Herzens durch die Speiseröhre, war noch nicht erfunden. So war die Aortenangiographie, die Röntgendarstellung der Aorta mit Kontrastmittel, das einzig sichere Verfahren, um die Diagnose einer Aortendissektion zu stellen. Allerdings war diese Prozedur nicht ohne Risiko. Mit diesem Verfahren konnten wir die Diagnose «Aortendissektion» bei der Patientin sichern, ohne in der Lage zu sein, deren Ausdehnung genau festzulegen.
Wir versuchten stattdessen mit Hilfe der normalen Ultraschalluntersuchung von der Brustwand aus, die damals gerade verfügbar war, die Dissektion in den verschiedenen Abschnitten der Aorta zu lokalisieren. Sie ließ sich im aufsteigenden Teil der Aorta nachweisen. Erstmalig gelang auch der Nachweis einer Dissektion im Aortenbogen durch Anlotung dieses Gefäßes von der Jugulargrube (Halsregion oberhalb des Brustbeines) aus. Hier sahen wir die Dissektion als flatternde Membran im Blutstrom der Körperschlagader.
Zum damaligen Zeitpunkt war eine akute Dissektion der aufsteigenden Aorta und des gesamten Aortenbogens im Grunde ein Todesurteil. Mehr als dreiviertel aller Patienten überlebten die ersten achtundvierzig Stunden nach der Diagnosestellung nicht. Die Übrigen starben innerhalb der nächsten Tage und Wochen, nur ganz wenige überlebten über Jahre. Die einzige Chance bestünde in einer chirurgischen Maßnahme mit Ersatz der aufsteigenden Körperschlagader durch eine Kunststoffprothese und eine Teilreparatur des Aortenbogens.
Wir setzten alles in Bewegung, um ein chirurgisches Zentrum im In- oder Ausland zu finden, das zu einer Operation der Patientin bereit war. Dabei ging es um jede Stunde. Wir versuchten, die Patientin unsere Anspannung nicht merken zu lassen und die psychischen und physischen Belastungen so gering wie möglich zu halten, indem wir Frau Roth von der Außenwelt abschirmten.
Und trotzdem, unausgesprochen standen Fragen im Raum, die zu stellen auch die Patientin kaum wagte: «Wird es mir so gehen wie den anderen aus meiner Familie? Oder bin ich hier in der Klinik jetzt sicher? Kann man mir eher helfen als den anderen, die ohne ärztliche Hilfe gestorben sind?» Eines Morgens bei der Visite brachen diese Fragen wie aufgestaut aus ihr heraus. Wir hatten diese Fragen unter uns Ärzten immer wieder besprochen. Unsere Mienen mussten auf die Patientin eher besorgt als zuversichtlich gewirkt haben. Frau Roth erwartete nun eine Antwort, die ehrlich war und ihr zugleich Hoffnung gab. «Sie haben eine viel größere Chance! Wir wissen ja, wo Ihr Problem liegt, und das wusste man bei Ihren Angehörigen nicht. Da wir das Problem kennen, haben wir auch die Möglichkeit, gezielt einzugreifen. Wir werden Ihnen helfen! Bei uns sind Sie sicher!»
Ich redete mit einer solchen Inbrunst, dass ich nicht nur die Patientin, sondern auch mich selbst – wider besseres Wissen – überzeugte. Über ihr Gesicht flog so etwas wie ein Lächeln, ihre Züge entspannten sich. Keine Nachfrage, keine Bitte um Konkretisierung. Die Patientin wollte nichts als einen Schimmer Hoffnung.
Je länger das Leben der Patientin andauerte, desto mehr klammerten wir uns an den Strohhalm einer doch noch möglichen Operation. Von keinem der angefragten Zentren erhielten wir eine Zusage: «Die stirbt uns auf dem Operationstisch, eine Operation wäre ein nicht zu verantwortendes Experiment.» So lautete der Tenor der meisten Antworten.
Wir begannen zu glauben, dass sie vielleicht doch zu den wenigen Patienten gehören könnte, die eine akute Aortendissektion überleben. Und mit jedem Tag nahm ja die Überlebenschance ein wenig zu.
Als wir uns schon auf ihr Überleben einzurichten begannen und nicht mehr tagtäglich mit einem dramatischen Ereignis rechneten, passierte es: Während der Visite im Beisein von Ärzten und Schwestern seufzte die Patientin tief, verdrehte ihre Augen, warf ihren Kopf zurück und sank in sich zusammen. Niemand der Anwesenden bewegte sich, alle standen still und verharrten beinahe ehrfürchtig vor ihrem Bett. Allen waren Ohnmacht und Hilflosigkeit ins Gesicht geschrieben.
Jeder hier im Zimmer wusste, was passiert war. Die Körperschlagader war jetzt vollständig zerrissen und das Blut in den Körper ausgelaufen. Die lebenswichtigen Organe wurden nicht mehr versorgt, auch das Gehirn nicht, die Patientin bekam daher nichts mehr mit. Allen im Zimmer war klar, hier gab es keine Möglichkeit mehr zu helfen. Der einzige Trost: Der Tod war blitzschnell innerhalb weniger Sekunden eingetreten, vermutlich ohne dass sich die Patientin dessen bewusst geworden war.
Warum konnten wir das Leben unserer Patientin nicht retten? Wir hatten doch die Diagnose gestellt und die Gefährlichkeit der Situation erkannt. Zu spät, um der Patientin noch helfen zu können!
Dem Einriss der Wand geht bei diesen Patienten meist eine Erweiterung der Körperschlagader voraus. Bei zunehmender Erweiterung können diese Patienten heute und an wenigen Zentren auch damals vorbeugend operiert werden, das heißt, die Körperschlagader kann, bevor sie einreißt, durch ein Kunststoffrohr ersetzt werden. Dies gelingt zumindest im Bereich der aufsteigenden Aorta. Nach der Familiengeschichte lag es nahe anzunehmen, dass eine erblich bedingte Schwäche der Aortenwand auch bei unserer Patientin vorlag. Das zugrunde liegende Krankheitsbild geht auf eine Texturstörung des Bindegewebes auch in der Körperschlagader zurück und wurde schon im 19. Jahrhundert beschrieben.
Frau Roth ertrug die umfangreiche Diagnostik bei aller Angst um ihr Leben mit bewundernswerter Ruhe, ja geradezu stoisch. Bei allem Willen zu überleben lag etwas merkwürdig Resignierendes in ihrer Grundeinstellung – eine Vorahnung des Unvermeidlichen? Sie wusste vom Tod ihrer Familienangehörigen. Sie wusste, dass sich eine ausgedehnte Aortendissektion, wie bei ihr nachgewiesen, operativ nicht beseitigen lässt. Und trotzdem fühlte sie sich bei unserer Fürsorge und Zuwendung wohl und fragte niemals nach Rückverlegung in ihr Heimatkrankenhaus. «Wenn mir irgendwo geholfen werden kann, dann hier in der Klinik.» Hier hatte man ihr Hoffnung gegeben – und wenn es nur ein Fünkchen war. Und hier musste man ihr – so schwer es fiel – auch eine Chance geben zu sterben, ohne aussichtlose Wiederbelebungsmaßnahmen, in Ruhe und in Frieden. Ihr Vertrauen war grenzenlos.
Zweifellos war Herr Walter krank: Bluthochdruck, Einschränkung der Nierenfunktion, Herzschwäche, Zuckerkrankheit und Herzrhythmusstörungen.
Mein Weg zu Herrn Walter führte über die Stromkurve seines Herzens. Als Assistenten der Kardiologie waren wir beauftragt, alle EKGs der Klinik zu befunden. Bei der Beurteilung seiner EKGs fiel mir auf, wie häufig und regelmäßig ventrikuläre Extrasystolen (Stolperschläge) auftraten. Ja, ich war geradezu von der Häufigkeit und Regelmäßigkeit dieser Unregelmäßigkeiten fasziniert. Für mich stand damals außer Frage: Derart häufig auftretende Rhythmusstörungen (Arrhythmien) können nicht günstig sein, sind möglicherweise Vorboten des plötzlichen Herztodes und sollten nach Möglichkeit unterdrückt werden. Diese Vorstellung entsprach nicht nur meinem Gefühl, sondern auch der damaligen Lehrmeinung.
Zunächst versuchten wir herauszufinden, wo die Ursache dieser häufigen Herzrhythmusstörungen lag. Ursache schien die deutliche Zunahme der Muskelmasse des Herzens bei der nicht ausreichend behandelten Bluthochdruckerkrankung zu sein. Allerdings war der Patient durch seine Rhythmusstörungen in seinem Alltag nicht beeinträchtigt. Nur auf intensives Befragen gab er widerwillig zu, gelegentlich durch diese Arrhythmien – insbesondere beim Liegen auf der linken Seite – irritiert zu sein. Dies sei besonders abends vor dem Einschlafen der Fall. Herr Walter ertrug seine Erkrankungen wie seine Arrhythmien mit vorbildlicher Geduld und Gelassenheit. Er gehörte zu dem damals noch existenten Typ von Patient, der seinem Arzt vollständig vertraute und keinerlei Erklärung für ärztliches Handeln einforderte.