Kay Peter Jankrift
Artus ohne Tafelrunde
Herrscher des Mittelalters - Legenden und Wahrheit
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© 2008 Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Redaktion: Ricarda Berthold, Freiburg
eBook ISBN 978-3-8062-2357-6 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-8062- 2028-5
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Vorwort
Einführung – „Ruhmvolle Leben“ und die „Nacht der Vergessenheit“
Eine Frage der Propaganda
Sehnsucht nach einer besseren Zeit
Die Tafelrunde von Hollywood
Der Kreis legendärer Herrscher
Die Nibelungen – Siegfried der Drachentöter und das Rheingold
Die dunklen Jahrhunderte
Zwischen Worms und Stalingrad. Das „National-Epos der Deutschen“
Das Nibelungenlied
Geschichte hinter den Geschichten
Ein ostgotischer König bei den Hunnen
Attila, die „Geißel Gottes“
Das Rheingold
Siegfried, der Drachentöter
König Artus und die Ritter der Tafelrunde – Das Schwert im Stein
Von Tintagel nach Avalon
Artus ohne Tafelrunde
Die Tafelrunde, königliches Selbstverständnis und ein Ausflug zur „Glasinsel“
Karl der Große – ein Herrscher mit tausend Gesichtern
König der Suchmaschinen
Sprechende Knochen, ein zeitgenössischer Biograf und der Reiter aus Metz
Karl und die Sachsen
Zwischen „Rolandslied“ und „Tausendundeiner Nacht“. Karls Begegnung mit der islamischen Welt
Weihnachten 800. Ein Kaiser wird gekrönt
Der „Erfinder der Schule“. Wissenschaft und Bildung am Hof Karls des Großen
… und Europa?
Friedrich I. – der Kaiser mit dem roten Bart
Der schlafende Kaiser
Vivit et non vivit. Er lebt und er lebt nicht – Prophezeiungen für einen Falschen
Richard Löwenherz – der „gerechte“ Kreuzfahrer
Ein Fremder auf dem englischen Thron
Friedrich II. – das Staunen der Welt
Ein legendärer Herrscher zwischen Okzident und Orient
Ein Kaiser, seine Falken und die Wissenschaften oder Ein mittelalterlicher „Dr. Frankenstein“ auf dem Prüfstand
Ein kreuzfahrender Herrscher und seine andersgläubigen Untertanen
Legendäre und „heilige“ Herrscher
Auswahlbibliografie
Anmerkungen
Register
[Informationen zum Buch]
[Informationen zum Autor]
Gespenstisch ragen die Externsteine bei Horn aus dem Boden. Die unheimliche Faszination des Ortes hat die Menschen seit jeher in ihren Bann gezogen. Reich sind entsprechend die Mythen und Legenden, die sich um die bizarren Sandsteine ranken. Eine der bekanntesten Sagen verbindet sie mit Karl dem Großen und der Taufe des Sachsenherzogs Wittekind. Dieser zufolge leisteten einzig Wittekind und seine Getreuen den Franken noch Widerstand, als ihm eines Nachts der Teufel erschien. Er versprach Wittekind, ihm einen heidnischen Tempel zu bauen, „der so gewaltig sein solle, dass ihn der starke Karl wohl müsste stehen lassen.“1 Die Anhänger der alten Götter sollten sich an diesem Heiligtum versammeln. Auch viele, die sich unlängst zum christlichen Glauben bekehrt hatten, würden angesichts dieses Zeichens dem Christengott abschwören, versicherte der Höllenfürst. Für seinen Dienst müsse sich Wittekind lediglich verpflichten, dem heidnischen Glauben seiner Vorväter niemals zu entsagen. Erfreut nahm der Sachsenherzog das Angebot an, und der Teufel machte sich daran, sein Versprechen bis zur nächsten Vollmondnacht in die Tat umzusetzen. Durch den Teufelspakt wendete sich alsbald Wittekinds Waffenglück. Tag für Tag vermehrte sich zudem seine Anhängerschaft, so wie der Teufel es verheißen hatte. Derweil hatte sich der Höllenfürst an den Bau des Heiligtums gemacht. Aus allen Teilen der Welt schleppte er riesige Steinbrocken zusammen, die er zu himmelhohen Hallen auftürmte. Doch nicht nur der Teufel, auch Gott wirkte auf Wittekind ein. Nun erkannte der Sachsenherzog seinen Irrtum. „Eiligst ging er hin in des starken Karls Lager und ließ sich reumütig taufen.“ Als der Teufel davon erfuhr, riss er sein fast vollendetes Bauwerk wütend auseinander. Mit aller Gewalt schleuderte er die Felsen umher. Die Externsteine zeugen bis heute von dieser Begebenheit.
Gespannt habe ich als Viertklässler diese und andere Sagen um Karl den Großen und den Sachsenherzog Wittekind im Unterricht aufgesogen, von denen viele mit meinem heimatlichen Osnabrücker Land verbunden sind. Gleichsam greifbar werden dort die materiellen Überreste, die im Volksmund mit dem Wirken der beiden Herrscher in Verbindung gebracht werden. Etwa die sogenannten Karlssteine, ein Großsteingrab im Hone auf dem Weg nach Bramsche. Die mittleren Decksteine sind geborsten. Hier knüpft eine andere sagenhafte Version von der Bekehrung des Sachsenherzogs an. Nach dieser in mehreren Varianten überlieferten Sage schlug der fränkische Herrscher mit einer Pappelgerte auf die Opfersteine und sprach: „Gleich unmöglich ist es, diesen Stein und die harten Nacken der Sachsen zu brechen!“2 Der Stein zerbarst, Wittekind ließ sich taufen. Die Erzählungen machten mich neugierig, die Stätten aufzusuchen. An einem trüben Herbstsonntag besuchten meine Eltern mit ihrem wissbegierigen Sprössling die sogenannte „Wittekindsburg“ im Wald bei Rulle. Der Besuch war eine Enttäuschung. Ich hatte mir, wie wohl jeder Junge in diesem Alter, eine „richtige“ Burg mit Türmen und zinnenbewährten Mauern oder zumindest deren sichtbare Ruinen vorgestellt. Aber die Wittekindsburg reduzierte sich leider auf Erdwälle und Erhebungen im Boden, die für Laien als bauliche Überreste nur schwer erkennbar sind. Das war meine erste Begegnung mit der mittelalterlichen Geschichte. Ich war um eine Illusion ärmer und zugleich um eine Erfahrung reicher. Kurze Zeit später stieß ich auf Hal Fosters „Prinz Eisenherz“-Comics, in denen der junge Held mit der Pagenfrisur als Ritter der Tafelrunde des legendären Königs Artus atemberaubende Abenteuer erlebt. Mich faszinierte der Mut der einzelnen Streiter sowie der Zusammenhalt und die Ideale, die sie miteinander teilten. Dass Artus zu Beginn seines Auftretens in der Geschichte noch ganz ohne diese Runde dastand und erst im Verlauf des Mittelalters zu seinen Gefährten kam, ahnte ich zu dieser Zeit noch nicht. Doch die Legenden und besonders ihr historischer Kern begeistern mich seit dieser Zeit noch immer.
Dankbar war ich deswegen über die Anregung Stefan Brückners, für den Theiss Verlag ein Buch über legendäre Herrscher zu verfassen. Es bietet mir Gelegenheit, neben den Legenden um andere Herrscher auch den Karl meiner Kindheit noch einmal mit den Augen des erwachsenen Historikers zu betrachten. Mein Dank gebührt zudem Ricarda Berthold und Eva Hagen für ihr umsichtiges Lektorat sowie ihre Geduld mit dem Autor. Kein Buch kann wohl ohne den Zuspruch, die stete Ermunterung und das Verständnis der Familie entstehen, die den Autor für eine gewisse Zeit der Klausur vor seinem Computer überlassen muss. In diesem Sinne danke ich einmal mehr meiner Frau Isabelle sowie meinen Kindern Neele und Raphael. Gewidmet ist dieses Buch meinen Eltern Egon und Christa Jankrift – in Erinnerung an einen trüben Herbsttag in Rulle und eine unbeschwerte Kindheit.
Kay Peter Jankrift
Augsburg im Oktober 2007
„Ruhmvolle Leben“ und die „Nacht Vergessenheit“
„So glaubte ich denn, mich von meinem Vorhaben nicht abhalten lassen zu dürfen. Zumal, da ich mir bewusst war, niemand könne so wahr und getreu wie ich das aufzeichnen, was ich selbst miterlebte, was ich mit eigenen Augen sah und da ich überdies nicht wissen konnte, ob es wirklich auch von einem anderen aufgezeichnet werden würde oder nicht. Und ich erachtete es für besser, noch neben anderen den selben Gegenstand zu behandeln und ihn auf die Nachwelt zu bringen, als das ruhmvolle Leben und die herrlichen Taten des ausgezeichnetsten und größten Königs seiner Zeit in die Nacht des Vergessens sinken zu lassen “,
heißt es in der Vorrede zur Vita Karoli Magni.1 Unverkennbar ist in diesen Worten die Absicht ihres Verfassers Einhard, die Erinnerung an das herausragende Wirken des Herrschers und gleichsam an dessen Person für alle Zeit zu sichern. Umso glaubwürdiger mussten späteren Lesern des Werkes dessen Ausführungen erscheinen, wenn der Autor sich als Augenzeuge der berichteten Ereignisse zu erkennen gab und für deren Wahrheitsgehalt bürgte. Desto gewichtiger war zugleich sein Urteil über den König und die Bewertung von dessen Taten. An seinem Vorbild sollten sich seine königlichen Nachfolger orientieren.
Einhard, um 770 geboren und im Kloster Fulda erzogen, lässt sich seit 794 am Hof Karls des Großen in Aachen nachweisen.2 Nachrichten über ihn bezeugen, dass die Natur den kleinwüchsigen, oft dem verhaltenem Spott seines Umfeldes ausgesetzten Einhard mit außergewöhnlicher Gelehrsamkeit und künstlerischen Fähigkeiten gesegnet hatte.3 So wirkte er als geachteter Ratgeber, häufiger Begleiter und enger Vertrauter des Herrschers. Nach Karls Tod im Jahre 814 gelang es Einhard als einem von wenigen, seine einflussreiche Stellung bei Hofe zu halten. Ludwig der Fromme, Karls Sohn und Nachfolger auf dem Thron, übertrug ihm die Leitung der bedeutenden Klöster St. Peter und St. Bavo im flandrischen Gent, St. Wandrille in der Normandie, St. Servatius in Maastricht sowie später St. Cloud in Paris. Irgendwann in den 820er Jahren zog sich Einhard vom Hof zurück. An den Machtspielen um das Erbe Ludwigs des Frommen mochte er nicht mehr teilhaben. Etwa um diese Zeit entstand die Vita Karoli Magni. Noch im fortgeschrittenen Alter von rund 60 Jahren kam er jedoch weiterhin seinen Diensten für den Herrscher pflichteifrig nach. Dies bezeugt unter anderem ein um 830 verfasster Brief an die Kaiserin Judith, die Gemahlin Ludwigs des Frommen.4 Darin entschuldigt sich Einhard, aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit den Herrscher derzeit nicht aufsuchen zu können. Zum Zweck der Genesung wolle er sich per Schiff nach St. Bavo begeben und sein Versäumnis nachholen, sobald sein Gesundheitszustand dies erlaube, versichert er. Doch seine Beschwerden plagten Einhard spätestens ab dieser Zeit derart, dass er sich schließlich mit seiner Gattin Imma auf seine Besitzungen im Odenwald zurückzog. Dort verbrachte er die letzten Jahre seines Lebens. In Steinbach, unweit von Michelstadt, hatte das Ehepaar eine Kirche gestiftet. Später folgte eine Klosterstiftung in Mühlheim im Maingau. Im Jahre 840 starb der Biograf Karls des Großen. In Seligenstadt fand er seine letzte Ruhe.
Orientierte sich Einhard bei der Abfassung seiner Vita Karoli Magni am Vorbild von Suetons im ersten Viertel des 2. Jahrhunderts entstandenen Lebensbeschreibungen römischer Herrscher von Gaius Julius Caesar bis hin zu Domitian, so folgte sein Werk doch anderen Zielen. Nicht die Geschichtsschreibung als solche, die Bewahrung von Karls Andenken stand für ihn unverkennbar im Mittelpunkt. Durch die Überhöhung von dessen Taten als gleichsam unerreichbar, wird der Herrscher bereits in die Nähe eines Heiligen gerückt – auch wenn Einhard ausschließlich dessen irdisches Wirken würdigen wollte und sich bemüht, seine Distanz zur zeitgenössischen Hagiografie zu betonen.5 Seinen Zweck, Karls Ruhm nicht „in die Nacht der Vergessenheit sinken zu lassen“, erfüllt Einhards Werk seit Jahrhunderten und zweifelsohne bis heute. Gemeinsam mit einer Reihe zeitgenössischer Annalenwerke bildet es den Grundstock einer literarischen Tradition um Karl den Großen, in deren weiterer Entwicklung die historischen Ereignisse immer stärker von Legenden überlagert wurden.
Gegen Ende des 9. Jahrhunderts verfasste Notker der Stammler aus St. Gallen seine Taten Karls (Gesta Karoli Magni).6 Kaum zwei Generationen nach Einhard prägen darin bereits Anekdoten und Legenden das Bild des Herrschers. Notkers Ausführungen verklären Karl zum idealen Herrscher. Doch die Bilder sind wohl nicht allein der Fantasie des Autors entsprungen. Gespeist wurden sie vielmehr durch eine nicht zu unterschätzende, in ihren Inhalten allerdings noch kaum greifbare mündliche und im Volk weit verbreitete Überlieferung. Sie wurde dadurch begünstigt, dass Karl der Große seiner Zeit wie kaum ein anderer Herrscher einen nachhaltig sichtbaren Stempel aufgedrückt hatte. Die Reformen der Schrift, des Kloster- und Bildungswesens wie auch der Verwaltung wirkten sich auf das tägliche Leben aus. Ebenso präsent war den Menschen die Schaffung des fränkischen Großreiches, die Christianisierung und die Integration der Sachsen. All dies hielt die Erinnerung an das Wirken Karls wach und inspirierte nachfolgende Generationen zu einer legendären Ausschmückung solch bahnbrechender Leistungen. So nimmt es nicht wunder, dass Notkers Werk darauf abzielte, Kritik an den Zuständen seiner eigenen Zeit zu üben und die Zeitgenossen mahnend an die großen Taten Karls zu erinnern. Schon bei ihm erfüllt der König die Rollen eines Förderers von Kirche und Bildung, eines schlagkräftigen Feldherrn und wohlmeinenden Hausvaters.7 Im 12. Jahrhundert, dem Zeitalter der Kreuzzüge in den Vorderen Orient und der fortschreitenden Reconquista der Iberischen Halbinsel, trat als weiteres Bild das des göttlichen Streiters wider die Mauren in der literarischen Tradition hinzu. Bilder und Kunstobjekte setzten diese Vorstellungen von Karl dem jeweiligen Zeitgeist entsprechend visuell um. Die Verformung der ursprünglichen Gestalt und ihres Wirkens setzte sich unvermindert fort, um im ausgehenden 19. Jahrhundert zunächst zum nationalistischen Zankapfel zwischen Frankreich und Deutschland und einige Jahrzehnte später von den NS-Ideologen zum „Sachsenschlächter“ verfremdet zu werden. Heute herrscht das Bild Karls als „Vater Europas“ vor, das nicht zuletzt mit der alljährlichen Verleihung des Aachener Karlspreises für Verdienste um die europäische Verständigung sorgsam gepflegt wird.8 Hinzu kommt eine lange, vor allem mündliche und bis heute weithin bekannte Sagentradition.
Exemplarisch lassen sich anhand dieser Entwicklung zwei Grundvoraussetzungen erkennen, um einen zu seiner eigenen Zeit wirkmächtigen Herrscher früher oder später in einen „legendären“ zu verwandeln. Dabei meint „legendär“ hier nicht „bedeutend“. Vielmehr charakterisiert der qualifizierende Zusatz im Rahmen des vorliegenden Buches solche Herrscher, für deren Bild in der Nachwelt bis in unsere Gegenwart hinein dem engeren Wortsinn gemäß „Legenden“ und „Fiktionen“ von maßgeblicher Bedeutung waren und sind. In keinem anderen Fall ist die Legendentradition dabei so motiv- und kontrastreich wie in dem Karls des Großen. Andere legendäre Herrscher des Mittelalters müssen sich mit deutlich weniger begnügen. Erste Bedingung zur Sicherung eines langlebigen, legendären Nachruhms ist eine erfolgreiche zeitgenössische „Propaganda“. Nicht allen mittelalterlichen Autoren war in dieser Hinsicht solches Glück beschieden wie Einhards Vita Karoli Magni. Das Mittelalter kannte noch keine Ermittlung von Verkaufszahlen, Literaturbesprechungen in Feuilletons oder gar Bestsellerlisten. Einen wichtigen Anhaltspunkt für den Verbreitungsgrad eines Werkes liefert die Zahl der heute hiervon erhaltenen Manuskripte. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Bücher bis zu Johannes Gutenbergs bahnbrechender Erfindung des Druckens mit beweglichen Lettern zur Mitte des 15. Jahrhunderts mühsam von Hand abgeschrieben werden mussten. Nicht minder zeitraubend war die Herstellung des Beschreibstoffes, des Pergaments. Bücher waren entsprechend teuer, wahre Kostbarkeiten und nur für Wohlhabende erschwinglich. Hinzu kommt, dass eine unbekannte Zahl aller je gefertigten Kopien eines Werkes im Strudel der Zeiten verloren ging. Von Einhards Werk haben nicht weniger als 50 Handschriften die Jahrhunderte überdauert.9 Damit war die Vita Karoli Magni zweifelsfrei ein mittelalterlicher „Bestseller“. Noch weiter oben auf der Liste rangieren mit rund 150 Exemplaren die Werke des sogenannten Pseudo-Turpin, übertroffen von der sagenhaften „Geschichte der Briten“ (Historia Brittonum oder Historia Regum Brittaniae) des Geoffrey von Monmouth mit über 200 mittelalterlichen Abschriften.10 Bezeichnenderweise spielen beide eine gewichtige Rolle für die Etablierung legendärer Herrscher. Das um 1140 entstandene Werk Pseudo-Turpins berichtet glorifizierend von Karls Feldzug auf die Iberische Halbinsel im Jahre 778, dem Hinterhalt an dem Pyrenäenpass bei Roncesvalles und den damit verbundenen Heldentaten des Paladins Roland. Geoffrey von Monmouths Historia Brittonum, in den 1130er Jahren verfasst, prägte maßgeblich die Überlieferung um den sagenumwobenen König Artus.
Nicht zu verkennen sind die Umstände, unter denen ein solches Werk zum ersten Mal erscheint. Es kam Einhards Intention, Karls Taten vor dem Vergessen zu bewahren, zugute, dass er über den Tod des Herrschers hinaus am Hofe wirkte. So sicherte er die Memoria seines Königs in der Folgegeneration und legte zugleich einen Grundstein für die weitere Entwicklung. Auf einer zweiten Ebene der Propaganda wirkte neben der schriftlichen die mündliche Tradition, die weite Kreise der Bevölkerung erreichte und dort bisweilen ihre eigenen Wege nahm. Der Herrscher wird darin in gleichsam märchenhafter Weise verantwortlich für alle möglichen Ereignisse, die in der vor allem politisch motivierten Literatur keinen Platz gefunden haben. So war etwa Karl der Große dem Aachener Sagenschatz zufolge in den Zeiten des Schwarzen Todes (der allerdings erst zur Mitte des 14. Jahrhunderts, also mehr als 500 Jahre nach Karls Tod weite Teile der Welt heimsuchte!) Gründer des Leprosenhauses Melaten, auf dessen einstigem Grund heute das Aachener Klinikum steht.11 Die Sage vom Ring im Fisch, die unmittelbar mit dem karolingischen Herrschaftsanspruch verbunden ist und von Karls Stammvater Bischof Arnulf von Metz handelt, fand in einer Variation unter anderem Eingang in den westfälischen Sagenkreis – allerdings mit anderem Ausgang. Der gelehrte Langobarde Paulus Diaconus, der am Hof Karls des Großen wirkte und in dessen Auftrag die Taten der Metzer Bischöfe aufzeichnete, berichtet, der heilige Arnulf habe zum Zeichen der Buße seinen Ring in die Mosel geworfen. Er habe dabei um Vergebung für seine Sünden gebeten, wobei die selbstauferlegte Bedingung für die Absolution ein Wunder bedeutete. Arnulf erklärte nämlich, erst von aller Schuld gereinigt zu sein, wenn der Ring zu ihm zurückkehrte. Vier Jahre später fand Arnulfs Koch eben diesen Ring im Bauch eines Fisches, den er für seinen Herrn zubereiten wollte. Gott höchstselbst hatte Arnulf mit diesem Wunder seine Sünden vergeben und sein Geschlecht auserwählt.12 In der westfälischen Variante hingegen war es Übermut, der der sagenhaften Überlieferung zufolge die reiche Gräfin zu Nienburg dazu trieb, ihren Ring in den Schlossgraben zu werfen. Dabei sprach sie: „So unmöglich es ist, dass ich diesen Ring wiedererhalte, so unmöglich ist es, dass ich jemals arm werde.“13 In diesem Fall dauerte es nicht Jahre, sondern nur ein paar Stunden bis der Koch den Ring im Bauch des von ihm für das gräfliche Mahl zubereiteten Fisches wiederentdeckte. Die Strafe für die Vermessenheit ließ nicht auf sich warten. Binnen eines Jahres war die Gräfin bettelarm.
Nicht nur positive, auch negative zeitgenössische Propaganda kann einem Herrscher dauer- und in diesem Fall zweifelhaften, legendären Nachruhm sichern. Die hieraus resultierenden Legenden scheinen ein noch stärkeres Eigenleben zu entwickeln als im Falle positiver Herrschaftsbewertungen. Hierfür stehen beispielhaft der „Hunnenkönig“ Attila oder der walachische Fürst Vlad Tepes, genannt „der Pfähler“, der aufgrund der ihm zugeschriebenen Gräueltaten untrennbar mit den Vampirlegenden des Balkans verbunden ist. Er wurde zum Vorbild für Bram Stokers 1897 in London erstmals erschienen, berühmten Roman Dracula.14 Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm „Nosferatu – eine Symphonie des Grauens“ aus dem Jahre 1922 bescherte dem blutdürstenden „Grafen“ auf der Leinwand schließlich im wahrsten Sinne des Wortes die Unsterblichkeit. Es folgte in den 1930er und 1940er Jahren eine Reihe von Filmen, in denen Bela Lugosi den Vampir verkörperte. Dieser identifizierte sich mit seiner Rolle so sehr, dass er sogar darum bat, in seinem rot-schwarzen Umhang beigesetzt zu werden. In den englischen Hammer-Studios entstand Ende der 1950er Jahre eine weitere Serie von Dracula-Filmen mit Christopher Lee in der Hauptrolle. Jüngere Hollywood-Produktionen wie Francis Ford Coppolas „Bram Stoker’s Dracula“ und Neil Jordans „Interview mit einem Vampir“ knüpften Anfang der 1990er Jahre an das Genre an und gingen künstlerisch eigene Wege. Aber weder der düstere Gary Oldman aus Coppolas Film noch der „interviewte Vampir“ Brad Pitt wirkten auf die heutige Vorstellung des Dracula alias Vlad Tepes. Das zeitgenössische Porträt des walachischen Woiwoden zeigt einen Mann mit eingefallenen Wangen, einem dunklen Schnurrbart über den schmalen Lippen, einer markanten Adlernase und stechenden, dunklen Augen. Überlagert wird dieses Gesicht heute von den Zügen Bela Lugosis und Christopher Lees. Mit letzterem schließt sich auf illustre Weise auch wieder der Kreis. So behauptete Lee stets, seinen Stammbaum bis auf Karl den Großen zurückführen zu können.
Die zweite Voraussetzung für die Legendenbildung baut auf dem Fundament der positiven Propaganda auf. So wird in vermeintlich schwierigen Zeiten an bessere Tage unter der Herrschaft eines guten Königs erinnert. Häufig ist diese Erinnerung gar mit einer Art Endzeiterwartung verknüpft. Nach diesen Vorstellungen ist der Herrscher nicht tot. Er schläft nur in einem Berg oder ist sonstwie in unnahbare Ferne entrückt, woher er zurückkehrt und die Herrschaft wieder übernimmt. Dieses Bild wird geprägt von der Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Frieden sowie wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Stabilität, die eine „gute“ Herrschaft ausmachen. Deutlich wird dies in der Vorrede zu den Gesta Friderici I., den „Taten Friedrichs I.“ aus der Feder des Bischofs Otto von Freising. Darin heißt es:
„Da sich nun die Dinge zum Besseren gewendet haben, nach den Zeiten des Weinens die Zeit des Lachens, nach der Zeit des Krieges die Zeit des Friedens jetzt gekommen ist, so erachte ich es für unwürdig, herrlichster Kaiser, Friedrich, nachdem ich die Taten der anderen Könige und Kaiser der Reihe nach erzählte, die deinen mit Stillschweigen zu übergehen. Ja, um mehr der Wahrheit gemäß zu sprechen, ich hielt es für das Würdigste, den Tugenden früherer Fürsten die deinen wie dem Gold die Edelsteine voranzustellen.“15
Als der Verfasser im Jahre 1160 seinem königlichen Neffen das Werk überreichte, waren in der Tat schwierige Jahre vorüber. Sie waren unter anderem geprägt von dem glücklosen zweiten Kreuzzug, an dem Friedrichs Vorgänger auf dem Thron, Kaiser Konrad III. (1093/94–1152), 1147/48 teilgenommen hatte, sowie von der langen Auseinandersetzung der Staufer mit Heinrich dem Löwen um das Herzogtum Bayern. Da Ottos Werk in den ersten Regierungsjahren Friedrich Barbarossas entstand, wirkte seine Vorrede gleichsam programmatisch. Sie hat noch im ausgehenden 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund nationalstaatlichen Gedankengutes das Bild von einer stabilen, „guten“ Stauferherrschaft geprägt.
Die Sehnsucht nach einem guten König zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des mittelalterlichen Abendlandes. In Zeiten der Krise taucht das Motiv immer wieder auf. So etwa während der Herrschaft König Philipps IV., des Schönen, von Frankreich zu Beginn des 14. Jahrhunderts, als im Volk angesichts der voranschreitenden Münzverschlechterung der Wunsch der Rückkehr zum „guten“ Geld von Philipps Großvater Ludwig IX., dem Heiligen, laut wurde. Eine besondere, in ihren Motiven nicht vorrangig auf irdische Führungskraft gestützte Legendenbildung umrankt solche heiligen Herrscher. Mit ihnen gelangte das legendäre Element zu einem Höhepunkt. Immerhin ist die Heiligsprechung unmittelbar mit Wundertätigkeit verknüpft. Der heilige König wird dadurch vom irdischen Herrscher zum himmlischen Heiler. Der sakrale Aspekt des mittelalterlichen Königtums, der in unterschiedlicher Ausprägung zwischen Zeremoniell und Symbolik – wie etwa den langen Haaren der Merowingerkönige oder der vermeintlichen Kraft zur Heilung der Skrofulose der französischen und englischen Könige durch Handauflegung – gelangt mit dem heiligen König gewissermaßen zur Vollendung.16 Der Kult um den Herrscher sichert ein weit verbreitetes und ewiges Andenken. Zudem trieb er die weitere Legendenbildung voran, wann immer über neue Wunder an der Grablege des Herrschers berichtet wurde.
Dies ist nur eines von vielen Beispielen dafür, wie sich jede Generation ihr eigenes Geschichts- und Herrscherbild schafft. Im Falle der legendären Herrscher wirkt dieser Umstand in unserer Gegenwart auf besondere Weise. Historische Romane, mehr oder weniger wissenschaftliche Fernsehdokumentationen, Spielfilme und Internetseiten prägen gängige Vorstellungen vom Mittelalter im Allgemeinen und von seinen Herrschern im Besonderen.
Bei dem Gedanken an den sagenhaften König Artus sehen viele das markante Antlitz des Schauspielers Sean Connery mit seinem ergrauten Bart vor ihrem geistigen Auge. In dem Film „Der erste Ritter“ steht seine Tafelrunde in einem disneylandgleichen Camelot. Zudem lieh er sein Gesicht aber auch Richard Löwenherz, der sich am Ende von Kevin Kostners Streifen „König der Diebe“ dem getreuen Robin Hood und seinen Mannen zu erkennen gibt. Ein Gesicht für zwei Herrscher; zugleich ein Gesicht, das dem Zeitgeist entspricht. Ein ganz anderer Artus tritt uns zu Beginn der 1980er Jahre in dem düsteren Szenario von „Excalibur“ gegenüber. Von einer Schlacht zur nächsten geht es im nebeldurchzogenen Halbdunkel bis zum blutigen Ende von Mordred. Wie viel sympathischer ist da doch der Zeichentrick-Artus in Walt Disneys Klassiker „Die Hexe und der Zauberer“ oder der Comic-Adaption von Hal Fosters „Prinz Eisenherz“. In unserer Medienwelt fließen diese Bilder ineinander, um neue zu schaffen. Dabei lässt sich insgesamt feststellen, dass nahezu ausschließlich die angelsächsischen Herrscher ihren Weg nach Hollywood gefunden haben. Die Zahl der Spielfilme um König Artus, den Zauberer Merlin, die Ritter der Tafelrunde und ihre Suche nach dem Heiligen Gral ist groß. Übertroffen wird sie zweifelsohne von den unzähligen Verfilmungen des Robin-Hood-Stoffes. Obwohl Richard Löwenherz hier lediglich ein kurzer „Gastauftritt“ am Ende der Geschichte zugestanden wird, ist dieser doch von herausragender Bedeutung für das Herrscherbild. Wie ein roter Faden zieht sich der Wunsch nach der Rückkehr des „guten“, gerechten Herrschers durch den Stoff. Obwohl selbst ein Normanne, soll er der normannischen Willkür gegenüber den eingeborenen Angelsachsen wieder ein Ende setzen. Schließlich wird der lange Zeit virtuelle, als guter Herrscher aufgebaute König in Gestalt des rückgekehrten Kreuzfahrers leibhaftig. Und auch der Begründer des historischen Romans, Sir Walter Scott, hat mit seinen Werken Ivanhoe und Der Talisman einiges zum gegenwärtigen Bild des Richard Löwenherz beigetragen. Andere als angelsächsische Herrscher hat Hollywood – wohl im Hinblick auf die Interessen des Publikums – bislang nicht für sich entdeckt. Es gibt trotz aller Legenden (zumindest meines Wissens nach!) keinen amerikanischen Spielfilm über Karl den Großen. Trotz seines Nachruhms bringt es der Frankenkönig lediglich auf einen Fernsehmehrteiler aus den 1970er Jahren. Friedrich Barbarossa und sein Nachfahre Friedrich II. konnten die Kinoleinwand noch nicht für sich erobern. Einzig der Drachentöter Siegfried und die sagenumwobenen Nibelungen haben es zu einigem Leinwand- sowie Bayreuther Opernruhm gebracht und inzwischen in Worms auch das Theater für sich gewinnen können. Dieser deutliche Unterschied im Umgang mit legendären Herrschern liegt vielleicht darin begründet, dass es in den Vereinigten Staaten naturgemäß keine Überreste aus dem (abendländischen) Mittelalter gibt und man so auf eine virtuelle Realität zurückgreifen muss. Hierzulande kann man die Überreste des „Karlsgrabens“, der Fossa Carolina, oder des Klosters Lorsch, Aachen und andere Wirkungsstätten Karls des Großen besuchen. Gleiches gilt im Hinblick auf andere Herrscher. Es sind offenbar diese Zeugnisse gepaart mit den spannenden Sagen und Wissensfragmenten aus dem schulischen Geschichtsunterricht die hierzulande das Bild dieser von Hollywood ignorierten, legendären Herrscher prägen. An diesem Punkt sind wir nun zum Kern des vorliegenden Buches vorgestoßen.