image

Elmar Budde

SCHUBERTS
LIEDERZYKLEN

Ein musikalischer Werkführer

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

image

C.H.Beck Wissen – Musik

Die C.H.Beck Wissen-Bände aus dem Themenbereich Musik wollen umfassende Informationen zum Werk bedeutender Komponisten der Musikgeschichte anhand einer für ihr Schaffen repräsentativen musikalischen Gattung bieten. Der Leser lernt auf diese Weise nicht nur Stil, Kompositionstechnik und Interpretation einzelner Werke kennen, sondern erhält die Möglichkeit, den betreffenden Komponisten, seine kompositorische Entwicklung und ebenso die jeweilige Gattung und ihre Entwicklung in der Musikgeschichte einzuordnen. Aspekte der Wirkungsgeschichte und der Aufführungspraxis runden die allgemeinverständlich gehaltenen Darstellungen ab. Die regelmäßig in der enzyklopädischen Reihe C.H.Beck Wissen erscheinenden Themenbände zur Musik sollen sich für Kenner und Liebhaber zu einer Bibliothek musikalischer Werkführer, nach zentralen Gattungen gegliedert, entwickeln.

Der Herausgeber

Siegfried Mauser, Jahrgang 1954, gibt in der Reihe C.H.Beck Wissen die Themenbände zur Musik heraus. Er hat an der Musikhochschule Würzburg und an der Universität ‹Mozarteum› in Salzburg gelehrt. Seit 2002 ist er Professor für Historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik und Theater in München, seit 2003 auch deren Rektor. Er hat zahlreiche Publikationen zur Musik der Zweiten Wiener Schule sowie zur Musikgeschichte und Ästhetik des 18. bis 20. Jahrhunderts vorgelegt und ist Herausgeber der ‹Schriften zur musikalischen Hermeneutik› und des ‹Handbuchs der musikalischen Gattungen›. Als konzertierender Pianist ist er durch Auftritte im In- und Ausland und eine rege Aufnahmetätigkeit bekannt geworden.

Zum Buch

Es gibt wohl kaum einen Komponisten, mit dem man in solchem Maße die musikalische Gattung der Liedkomposition verbindet, wie dies bei Franz Schubert der Fall ist. Insgesamt sind mehr als 600 seiner Lieder erhalten. Der Versuch einer Einführung in diesen Teil seines Werkes mußte sich also notwendigerweise beschränken. Die Konzentration auf die Liederzyklen scheint freilich nicht zuletzt deshalb angemessen, als etwa seine beiden Liederzyklen ‹Die schöne Müllerin› und ‹Winterreise› für ein Jahrhundert die Entwicklungsgeschichte der deutschen Lyrik maßgeblich mitgeprägt haben. An ihnen lassen sich ebenso wie an dem sogenannten ‹Schwanengesang›, der erst posthum von Schuberts Bruder Ferdinand und seinem Verleger Haslinger zusammengestellt wurde, zeigen, welche lyrisch-musikalische Ausdruckskraft Schubert auszeichnete und weshalb seine Lieder zu den zeitlosen Schätzen der Musikgeschichte zählen.

Über den Autor

Der Autor Elmar Budde, Jahrgang 1935, lehrte von 1972 bis 2001 als Ordentlicher Professor für Musikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin. Das musikalische Schaffen Franz Schuberts bildet einen seiner Forschungsschwerpunkte. Gemeinsam mit Kammersänger Dietrich Fischer-Dieskau hat er eine vierbändige textkritische Neuausgabe der Lieder Schuberts vorgelegt.

 

Für Dietrich Fischer-Dieskau in alter Freundschaft

Inhalt

Vorwort

  I. Zur Rezeptionsgeschichte des Schubert-Lieds

 II. Der Liederzyklus ‹Die schöne Müllerin› op. 25 (D 795)

1. Die Vorgeschichte der ‹Schönen Müllerin›

2. Die musikalisch-kompositorische Gestaltung der ‹Schönen Müllerin›

III. Der Liederzyklus ‹Winterreise› op. 89 (D 911)

1. Schuberts ‹Winterreise› und der Gedichtzyklus von Wilhelm Müller – Die Problematik der Entstehung der endgültigen Fassung

2. Die musikalisch-kompositorische Gestaltung der ‹Winterreise›

IV. Der ‹Schwanengesang› (D 957)

1. Die Entstehung der Lieder und die zyklische Anlage

2. Die Rellstab-Lieder

3. Die Heine-Lieder

Glossar

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Personenregister

Vorwort

Die Liederzyklen Franz Schuberts haben in der Schubert-Literatur einen merkwürdig zwiespältigen Stellenwert. Über einzelne Lieder, anekdotische Hintergründe und biographische Parallelen ist viel geschrieben worden, doch detaillierte Untersuchungen, die sich den Zyklen insgesamt widmen, finden sich selten; die wenigen herausragenden Ausnahmen bestätigen das Gesamtbild. Dem steht spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eine musikalische Wirklichkeit, das heißt ein privates und öffentliches Musikleben, gegenüber, aus dem die Schubert-Zyklen nicht wegzudenken sind. Das war nicht immer so; noch bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein waren die Aufführungen eines gesamten Liederzyklus selten; statt dessen wurden einzelne Lieder oder auch Gruppierungen von Liedern als Teil eines Liederabends vorgetragen. Eine solche Liederauswahl ist heute nicht mehr vorstellbar. Wie ist diese seltsame Inkongruenz zwischen Beliebtheit auf der einen und analytischer Zurückhaltung auf der andern Seite zu verstehen und zu erklären? Eine Antwort ist wohl vor allem darin zu suchen, daß die Schubert-Literatur eher an einzelnen Problemen der Liedkomposition interessiert ist, so etwa an dem Problem der Textdeklamation und deren Auswirkung auf den musikalischen Satz sowie die musikalisch-kompositorische Ausdeutung der Gedichtvorlagen, weniger an den Fragen des zyklischen Zusammenhangs, die selten gestellt und beantwortet wurden.

Die vorliegende Einführung in Schuberts Liederzyklen richtet ihr Augenmerk vornehmlich auf den musikalisch-zyklischen Zusammenhang und auf die musikalisch-kompositorische Erfassung des Sinngefüges der Gedichte. Fragen und Probleme der Textdeklamation und der metrisch-rhythmischen Struktur der einzelnen Lieder bleiben weitgehend unberücksichtigt; es sei auf die grundlegenden Untersuchungen hierzu von Thr. Georgiades und A. Feil verwiesen. Wichtig bei der Beantwortung der Frage nach dem zyklischen Zusammenhang ist die Disposition der Tonarten; in ihrer Aufeinanderfolge und ihrer wechselseitigen Beziehung bestimmen die Tonarten gewissermaßen den ‹Weg› des jeweiligen Zyklus. Im Blick auf das Sinngefüge der Gedichte ist darüber hinaus der Charakter der Tonart, in der Schubert ein Gedicht vertont, von nicht zu unterschätzender Bedeutung; denn erst im Wechselspiel von Tonartdisposition und Tonartcharakter werden die übergreifenden musikalisch-kompositorischen Zusammenhänge deutlich. Gleichwohl sind Tonart und Tonartdisposition nur grobe Orientierungspunkte; entscheidend ist die spezifische Komposition eines Gedichts im Kontext von Tonartcharakter und Tonartdisposition.

Schuberts Komponieren ist wesentlich instrumental bestimmt. Seine Liedkompositionen sind nicht musikalische Akkompagnements der Gedichte, sondern kompositorische Deutungen und damit zugleich Aneignungen der Gedichte mit den Mitteln und Möglichkeiten der musikalischen Sprache, wie sie sich seit der Frühzeit der musikalischen Klassik entfaltet und entwickelt hatte. Dabei sind es insbesondere die musikalischen Charaktere und Figuren, durch die in einem musikalisch autonomen und doch zugleich semantisch bestimmten Sinne die Gedichte erfaßt und in einen ausschließlich musikalisch zu verstehenden Zusammenhang gestellt werden. An ausgewählten Beispielen aus den Zyklen wird zu zeigen versucht, 1. wie die musikalischen Charaktere gestaltet sind, 2. wie sie sich auf das zugrundeliegende Gedicht beziehen und 3. wie sie dennoch als autonome musikalische Konfigurationen über den unmittelbaren Sinn des Gedichts hinausweisen, so daß der Eindruck entsteht, daß sie von den lyrischen Vorgaben gänzlich unbeeinflußt zu sein scheinen.

Nach einem einführenden Kapitel in die Rezeptionsgeschichte der Schubert-Lieder, das zugleich auf den zyklischen Charakter der von Schubert zur Veröffentlichung zusammengestellten Lieder verweist, widmen sich die beiden anschließenden Kapitel der ‹Schönen Müllerin› und der ‹Winterreise›. Das Kapitel über ‹Die schöne Müllerin› umgreift auch die Vorgeschichte des ‹Müllerin›-Stoffs; denn ohne diese Vorgeschichte, die zugleich ein gesellschaftliches Spiegelbild der Zeit darstellt, sind weder die Gedichte Wilhelm Müllers noch die Kompositionen Franz Schuberts angemessen zu verstehen. Im selben Kapitel werden auch Fragen nach Tonartcharakter, musikalischen Charakteren und Figuren erörtert. Überschneidungen mit Ausführungen im Kapitel über die ‹Winterreise› waren nicht zu vermeiden, da jedes Kapitel als ein in sich abgeschlossenes Ganzes zu verstehen ist. Im vierten Kapitel wird die Problematik des nachgelassenen ‹Schwanengesangs› diskutiert. Insbesondere aufgrund der Kriterien, die die zyklische Anlage der ‹Schönen Müllerin› und der ‹Winterreise› bestimmen, wird eine gegenüber dem Erstdruck und den heute üblichen Ausgaben andere Möglichkeit der zyklischen Zusammenstellung der Lieder aufgezeigt und diskutiert.

Der Verfasser ist sich bewußt, daß die Art und Weise, wie er sich in seinen Ausführungen den Schubertschen Liedkompositionen zu nähern versucht, einem heute vielleicht als überholt geltenden hermeneutischen Denkmodell verpflichtet ist. Gleichwohl ist er überzeugt, daß nur ein grundlegendes Verständnis der Musik des 18. und des frühen 19. Jahrhunderts die Voraussetzung dafür bildet, Schuberts Musik in ihrem Selbstverständnis und ihrem Anspruch angemessen zu erleben und zu verstehen. Schließlich ist noch anzumerken, daß den Leserinnen und Lesern der Einführung empfohlen wird, während der Lektüre nach Möglichkeit auch in die Noten der Liederzyklen zu schauen, um sich der einführenden Hinweise im Kontext der Komposition zu vergewissern.

I. Zur Rezeptionsgeschichte des Schubert-Lieds

In der jüngeren Geschichte der europäischen Musik dürfte es kaum einen anderen Komponisten geben, dessen Biographie und dessen Werk so sehr durch Klischeevorstellungen verzerrt und entstellt worden ist wie das des Franz Peter Schubert, der am 31. Januar 1797 in der Wiener Vorstadt Himmelpfortgrund in der Nußdorfer Straße geboren wurde und der 31 Jahre später, am 19. November 1828, in der Wiener Vorstadt Neu-Wieden in der Kettenbrückengasse starb. Spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben sich Trivialliteratur und Unterhaltungsindustrie des Komponisten bemächtigt und ihn zu jenem weltfremden und verträumten Genie degradiert, das unaufhörlich Lieder erfindet. Die trivialisierte Aneignung des Komponisten sagt indessen nichts über die historische Person Schubert aus; vielmehr ist sie ein Spiegelbild der Menschen und der Zeit, die sich dieser Aneignung schuldig machten. Gleichwohl müssen wir uns eingestehen, daß auch unser gegenwärtiges Schubert-Verständnis nicht unbeeinflußt ist von jenen Klischeevorstellungen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Schubert-Bild geprägt haben. Dieser Einfluß zeigt sich zum Beispiel in der spezifischen Charakterisierung des Komponisten Schubert und seines kompositorischen Schaffens, eine Charakterisierung, die im wesentlichen auch heute noch, von erfreulichen Ausnahmen abgesehen, reproduziert wird. Schubert gilt, im Sinne dieser Charakterisierung, als der Inbegriff des genialen, ständig schöpferisch tätigen Komponisten. Seine Genialität zeigt sich jedoch nicht in der kompositorischen Komplexität und Differenziertheit seiner Werke – wie sie zum Beispiel in den Werken Bachs, Haydns oder Beethovens abzulesen ist –, sondern in deren unreflektierter, gleichsam naturhafter Hervorbringung. Schuberts Kompositionen scheinen nicht gebaut und konstruiert zu sein; sie sind der Inbegriff von Einfall und Unmittelbarkeit. Freilich galt und gilt diese Einschätzung nicht für sämtliche Kompositionen Schuberts; sie bezieht sich nahezu ausschließlich auf seine Lieder. Schubert und Lied sind synonyme Begriffe geworden; wer ‹Lied› sagt, meint Schubert, und wer von Schubert spricht, redet spätestens nach zwei Sätzen vom Schubert-Lied. Es sind also wohl die Lieder, die, weil sie so vollkommen scheinen, nicht der kompositorischen Intelligenz und Anstrengung bedurften; die Lieder sind nicht gemacht, sie sind gleichsam von vornherein da. Schon zu Schuberts Lebzeiten, vor allem aber dann im Verlauf des 19. Jahrhunderts, verfestigte sich dieses Diktum zu einem kaum noch zu erschütternden Urteil. Schuberts Freunde, von denen einige den Komponisten um Jahrzehnte überlebten, haben an dieser Einschätzung zum Teil kräftig mitgewirkt, indem sie die Idylle jugendlicher Bohème aus der Sicht des Alters nostalgisch verklärten.

Wie kommt, so wollen wir zunächst fragen, die Vorstellung zustande, daß Schuberts Lieder den Inbegriff des Lieds darstellen? Welche inhaltlichen Implikationen liegen in ihr verborgen? Die Vorstellung hat ihre Geschichte; sie spiegelt jenes allgemeine Bewußtsein von Kunst und Musik wider, das sich im 19. Jahrhundert ausbildete und das den Künstler zum träumenden Genie, die Kunst zu einem bedeutungsschweren metaphysischen Gebilde stilisierte. In dieses trivial-ästhetische Definitionsschema wird sowohl der Mensch Schubert mit seiner Biographie als auch der Komponist Schubert ideologisch eingepaßt. Gerade als Komponist von Liedern scheint Schubert sich diesem trivialästhetischen Bewußtsein von Kunst und Künstler bruchlos zu fügen. ‹Lied› bedeutet nicht nur den Inbegriff des natürlichen Singens; ‹Lied› assoziiert zugleich die Vorstellung des Volksliedes, das heißt des natürlich gewordenen Lieds. Spätestens seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts wird das deutschsprachige Lied durchweg im Sinne des Einfachen, des Natürlichen und schließlich des Volkstümlichen musikalisch und ästhetisch definiert. Das Lied erfordert, wie es im Artikel ‹Lied› in J. G. Sulzers ‹Allgemeiner Theorie der schönen Künste› unmißverständlich heißt, «weder schwere Künsteleyen des Gesanges, noch die Wissenschaft, alle Schwierigkeiten, die sich bey weit ausschweifenden Modulationen zeigen, zu überwinden. Aber es ist darum nichts geringes, durch eine sehr einfache und kurze Melodie den geradesten Weg nach dem Herzen zu finden. Den hier kommt es nicht auf die Belustigung des Ohres an, nicht auf die Bewunderung der Kunst, nicht auf die Überraschung durch künstliche Harmonien und schwere Modulationen; sondern lediglich auf Rührung.»[1] Das Lied strömt kunstlos aus der Seele; nur so vermag es die Seele des anderen zu rühren.

So musikalisch treffend und ästhetisch umfassend diese Definition der Gattung ‹Lied› für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ist, so ungenau und ideologisch verschwommen geriet sie im 19. Jahrhundert. Von der ursprünglichen Definition bleiben die Einfachheit der musikalischen Anlage (Strophe, Strophenlied) und die Unmittelbarkeit der Melodie als wesentliche Bestimmung des Lieds übrig. Beide Bestimmungen wurden jedoch in einem weit höheren Maße als im 18. Jahrhundert in den ideologischen Kontext von Volkstümlichkeit und Natürlichkeit eingebunden. 1837 schreibt F. Hand in seiner ‹Ästhetik der Tonkunst›, daß nur eine einfache Musik, das heißt ein einfaches Lied, unmittelbar zum Herzen spreche. Weiter heißt es, daß nur eine Musik, die zum Herzen spricht, in ihrem innersten Wesen auch wahr sei. Einfachheit, Unmittelbarkeit und Wahrheit stehen also in direktem Bezug zueinander. «Nicht die Reflexion soll bethätigt, nicht die Phantasie in höhern Schwung versetzt werden; die Sprache zum Herzen übt die Natur in einfachen Lauten», [2] das heißt, eine Musik (gemeint ist das Lied), in der Einfachheit und Unmittelbarkeit sich zusammenfinden, gilt nicht nur als wahr, sie wird mit der Natur gleichgesetzt; eine solche Musik ist in einem überindividuellen Sinne natürlich.

Einfach gestaltete Musik glaubte man in Schuberts Liedern zu erkennen, und es ist nicht von der Hand zu weisen, daß eine Vielzahl der Schubertschen Liedvertonungen aufgrund ihrer klanglichen und formalen äußeren Form den Schein des Einfachen suggerieren. Bis heute scheint die Vorstellung unausrottbar zu sein, daß dem Komponisten Schubert unaufhörlich Melodien zuströmten, wenn er nur ein Gedicht zu Gesicht bekam. Schubert war indessen nicht nur ein kritischer Komponist, der wußte, was er komponierte, er war auch in der Wahl der zu vertonenden Gedichte von kaum zu überschätzender Sorgfalt. Sicherlich finden wir unter den über 600 Liedern, die überliefert sind, Gelegenheitskompositionen, das läßt sich nicht abstreiten; doch im Mittelpunkt seiner Liedkompositionen stehen durchweg Gedichte, die – selbst wenn ihr literarischer Rang weniger bedeutend ist – dem Komponisten immer die Möglichkeit gaben, spezifisch lyrisch-musikalische Ausdrucksbereiche unverwechselbar zu gestalten. Schuberts großes Interesse an Literatur, das wir an seinen Liedkompositionen ablesen können, wurde mit Sicherheit auch von seinem Freundeskreis ständig wachgehalten. Seit seiner Konviktzeit war der Kreis der Freunde so etwas wie die Lebensmitte Schuberts; ohne seine Freunde war ihm das Leben vergällt. In diesem Kreis wurde nicht nur musiziert, sondern vor allem Literatur, insbesondere literarische Neuerscheinungen, gelesen und diskutiert. Neben den Neuerscheinungen, zu denen unter anderem die Werke von Goethe, Wilhelm Müller, Heinrich Heine, Walter Scott und Schiller gehörten, sowie den wöchentlich oder den monatlich erscheinenden Almanachen und literarischen Zeitschriften, die man studierte, wurden auch die eigenen literarischen und musikalischen Erzeugnisse vorgestellt. In einem Brief vom 7. Dezember 1822 an den Freund Josef von Spaun schreibt Schubert: «Unser Zusammenleben in Wien ist jetzt recht angenehm, wir halten bei Schober wöchentlich 3mahl Lesungen, u. eine Schubertiade.»[3] Die Gedichte der Freunde Franz von Schober und Johann Mayrhofer sowie schließlich die Liedkompositionen Franz Schuberts fanden im Freundeskreis ihre ersten Zuhörer. Der finanziell besser gestellte Franz von Schober war es, der nicht nur seine Bibliothek zur Verfügung stellte, sondern der auch die wichtigsten literarischen Neuerscheinungen besorgte, so etwa die Gedichte von Wilhelm Müller, die den beiden großen Schubert-Zyklen zugrunde liegen. Mit Sicherheit hat Schubert bei diesen intensiven Lese- und Diskussionsabenden nicht nur seinen literarischen Horizont ständig erweitert, er hat darüber hinaus – gleichsam automatisch – ein vertieftes Verständnis für Dichtung und Literatur entwickelt, und zwar in durchaus professionellem Sinne. Durch seine literarisch gebildeten Freunde kannte Schubert die Regeln und Gesetzmäßigkeiten der literarischen Poetik; er wußte, wie ein Gedicht gemacht war. Und so sind seine Liedkompositionen – allein schon aufgrund der ständigen Gespräche und Diskussionen mit den Freunden – von Anfang an mehr als bloße Sprachvertonungen. Sie sind musikalisch-kompositorische Reflexionen von Dichtung, die als solche den sprachlosen Innenraum von Dichtung, das heißt das, worauf Dichtung durch Überschreiten der Sprache zielt, erlebbar machen. Um Dichtung zum musikalischen Erlebnis werden zu lassen, bedürfen die Lieder der Zuhörer, die zur Zwiesprache mit den Liedern fähig sind. Diese Zuhörer fand Schubert in seinen Freunden, die wiederum auf ihre Weise dem Komponisten Schubert die vielfältigen Erscheinungsformen von Lyrik und Dichtung nahebrachten.

Wie bedeutsam für Schubert Lyrik als Textvorlage war, zeigt sich in der Sorgfalt, mit der er seine Kompositionen veröffentlichte. Er hat die Lieder, die zu seinen Lebzeiten im Druck erschienen sind, nicht nur sehr bedacht ausgewählt, auch gerade auf die Zusammenstellung der Lieder zu Liedgruppen hat er immer großes Gewicht gelegt. Zwischen 1821 und 1828, dem Todesjahr Schuberts, erschienen insgesamt 108 Opera; für einen Zeitraum von sieben Jahren ist die Zahl der Veröffentlichungen erstaunlich groß. Insgesamt bilden die Lieder unter den Veröffentlichungen den Hauptschwerpunkt; 189 Lieder von Schubert wurden in diesen sieben Jahren publiziert. Schubert hat die zur Veröffentlichung bestimmten Lieder immer unter einer Opus-Zahl, unabhängig von der zeitlichen Entstehung der Lieder, zusammengestellt. Dabei war immer ein übergreifender Gedanke bestimmend. So sind zum Beispiel vier Goethe-Gedichte zum Opus 3 (D – für Deutsch-Verzeichnis – 121, D 216, D 257, D 368) zusammengefaßt. In einer der ersten Besprechungen dieses Liederhefts, die am 22. Mai 1821 in der ‹Wiener Allgemeinen Theaterzeitung› erschien, wurde das Charakteristische dieser Zusammenstellung der Gedichte zu einem musikalischen Ganzen vom Rezensenten besonders gewürdigt. Dort lesen wir: «Bei Cappi und Diabelli sind soeben wieder neu erschienen: Schäfers Klagelied, Heidenröslein, Jägers Abendlied und Meeresstille, vier Gedichte von Goethe, in Musik gesetzt von Franz Schubert. Jedes dieser Lieder hat nach dem Sinne des großen Dichters auch seinen eigenen Charakter; liebliche Melodien und edle Simplizität, abwechselnd mit origineller Erhabenheit und Kraftgefühl, verbinden dieselben zu einem herrlichen Liederkranz.»[4]

Aus der Fülle der Beispiele seien zwei weitere unter einer Opus-Zahl veröffentlichte Liedgruppen herausgegriffen, die auf besonders eindrucksvolle Weise Schuberts Absicht, die Lieder unter einem gedanklich übergreifenden Gesichtspunkt zusammenzustellen, deutlich machen. Das im September 1826 erschienene Liederheft op. 59 besteht aus vier Liedern. Dem ersten Lied, ‹Du liebst mich nicht› (D 756), liegt ein Gedicht von August Graf von Platen-Hallermünde zugrunde, die drei weiteren Lieder, ‹Daß sie hier gewesen› (D 775), ‹Du bist die Ruh› (D 776) und ‹Lachen und Weinen› (D 777), beruhen auf Gedichten von Friedrich Rückert. Obwohl das dritte Lied dieses Liederhefts, ‹Du bist die Ruh›, zu den verbreitetsten und am meisten gesungenen Liedern Schuberts zählt, ist doch die Zusammenstellung der Lieder zu einem Liederheft heute nur den wenigsten bekannt. Im Kontext der übrigen drei Lieder des Liederhefts wird indessen der tiefere Sinn dieses Lieds erst offenkundig. Das erste Lied (a-Moll) singt von der verschmähten Liebe; die Worte «Du liebst mich nicht» sind gleichsam sein Cantus firmus.5